REZENSIONEN
Lob der Leichtigkeit
Von Gerald Schmickl. Edition Atelier
Wien 2011
Alltagsphilosophisch: Gerald Schmickls Essayband „Lob der Leichtigkeit“ hellt das Lebensdrama der Schwere auf.
Als ich von Gerald Schmickls Buch las, ohne es noch zu kennen, musste ich spontan an Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ denken, der auf Deutsch 1984 erschienen ist. Dort findet sich der bedeutungsschwere Satz: „Das Drama eines menschlichen Lebens kann man immer mit der Metapher der Schwere ausdrücken.“
Hingegen legt Schmickl ein – das Lebensdrama der Schwere aufhellendes – „Lob der Leichtigkeit“ vor, das Julia Kaldori kongenial in einer passenden Umschlagillustration paraphrasiert. Wie es der Zufall will, gibt es mehr als einen assoziativen Bezug zwischen Kunderas Werk und Schmickls amüsanten Essays. So wusste ich etwa nicht, dass Hansers Verlagsteam in einem ehemaligen Schwimmbad tagte, was Grund für eine Schwimmphobie der solcherart einst Zwangsbeglückten sein dürfte. Mit der schnoddrig-lapidaren Bemerkung, dass Journalisten nicht schwimmen, sondern schreiben sollen, versah ein Hanser-Funktionär einst den Autor Schmickl. „Welch Unsinn!“ (natürlich nur des Buffetspruchs, nicht des Buchzitats), möchte man da ausrufen und an John Cheevers Roman über den Schwimmer denken, der sich in den Kopf setzte, alle Pools einer Siedlung gegen den Willen der Eigentümer an einem Abend zu durchschwimmen.
Da es unmöglich und untunlich ist, alle Details des besprochenen Werks vorzutragen, bleibe ich bei dem, was mich am meisten fasziniert hat. Das sind Schmickls Ausführungen, die auf Arthur Koestlers Studien über „sinnvolle Zufälle“ (aus 1974) beruhen. Er verfügt über eine köstliche Sammlung von Zufällen, die das Leben so schreibt: Ein Krenfleck auf der Hose wird vor einem Plakatdes Künstlers Kren entfernt; an einem Tag geht Gerald S. mit Doris in die Diana-Bar, am nächsten sieht er im Hafen zwei Schiffe mit denselben Namen und so weiter.
Dieser Essay nimmt dann übrigens höchst philosophische Dimensionen an und ist, wie das gesamte Buch, gründlich recherchiert und mit Zitaten versehen. Und wieder schießt mir spontan in den Kopf, dass ich, als ich das Buch noch nicht genauer kannte, ein Interview mit dem österreichischen EU-Kommissar Hahn im Fernsehen sah und hörte, worin dieser, reichlich genervt über neuerliche Plagiatsvorwürfe, den Journalisten erklärte, er habe in seiner Dissertation einen „essayistischen Ansatz“ gewählt, aber nichtsdestoweniger seine Quellen korrekt zitiert. Das mag schon so stimmen. Aber viel lieber als die essayistische Qualifikationsarbeit ist mir die vorliegende Sammlung von Essays in einem schönen Band, in dem der Autor auch über die Kunst des Zitats reflektiert. Gleich am Beginn findet sich das Motto, das dem polnischen Schriftsteller Stanislaw Jerzy Lec zuzuschreiben ist: „Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig. Also warum nicht gleich Zitate schreiben?“
Schmickl führt seit Jahren Zitatenbücher und kann aus diesem persönlichen Schatz für dieses Buch reichlich schöpfen. Der Leser begleitet somit einen höchst belesenen und musikalischen Menschen, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, auf seinen Wegen. Besonders sympathisch erscheint hier der korrekte Umgang mit Anregungen oder Ideen Dritter, wie zum Beispiel jenen Trouvaillen des Zufallsforschers Peter Jungwirth, der bei Karl Kraus die in der Tat frappierende Entdeckung eines Zitats machte, in dem zuerst der Ausdruck agassieren (eingedeutscht aus dem Französischen: agacer = ärgern) und dann ein Diner mit „Steffi“ vorkam, was den Autor und seinen Mail-Freund Schmickl zu der bangen Frage anregte, wie denn Kraus die Tennis-Ehe von André Agassi und Steffi Graf um zirka 70 Jahre voraussehen konnte.
Bekanntlich entstanden die „Letzten Tageder Menschheit“ im Ersten Weltkrieg, wobei der Epilog, den Kraus in der Schweiz (in Tierfehd am Tödi, Kanton Glarus) schrieb, ziemlich genau mit 1917 datierbar ist, weil der Autor selbst über dessen Entstehung Aufschluss gibt. Ginge es hier also nicht um Kraus, sondern um den Zeitgenossen und „Litteratur-Demolirer“ Schnitzler, dann hätte ich einfach auf Arthurs junge Tennispartnerin Steffi Bachrach getippt, die – wie es der traurige Zufall will – um die Zeit Selbstmord beging, zu der Kraus das Drama fertig schrieb, der sich allerdings in der Gesellschaft einer gewissen Simone befand.
Nun, mich haben Jungwirth und Schmickl bereits angesteckt, ich laufe sofort, wie einst Thomas Bernhard in „Holzfällen“ nach seinem „Gentzgassenwohnungserlebnis“ schrieb, nach Hause und schreibe das alles auf und beginne eine Sammlung unerklärlicher Zufälle. Aber vorher lese ich dieses wirklich gelungene Buch noch einmal und mit neuerlichem Genuss.
ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Strejcek
Als ich von Gerald Schmickls Buch las, ohne es noch zu kennen, musste ich spontan an Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ denken, der auf Deutsch 1984 erschienen ist. Dort findet sich der bedeutungsschwere Satz: „Das Drama eines menschlichen Lebens kann man immer mit der Metapher der Schwere ausdrücken.“
Hingegen legt Schmickl ein – das Lebensdrama der Schwere aufhellendes – „Lob der Leichtigkeit“ vor, das Julia Kaldori kongenial in einer passenden Umschlagillustration paraphrasiert. Wie es der Zufall will, gibt es mehr als einen assoziativen Bezug zwischen Kunderas Werk und Schmickls amüsanten Essays. So wusste ich etwa nicht, dass Hansers Verlagsteam in einem ehemaligen Schwimmbad tagte, was Grund für eine Schwimmphobie der solcherart einst Zwangsbeglückten sein dürfte. Mit der schnoddrig-lapidaren Bemerkung, dass Journalisten nicht schwimmen, sondern schreiben sollen, versah ein Hanser-Funktionär einst den Autor Schmickl. „Welch Unsinn!“ (natürlich nur des Buffetspruchs, nicht des Buchzitats), möchte man da ausrufen und an John Cheevers Roman über den Schwimmer denken, der sich in den Kopf setzte, alle Pools einer Siedlung gegen den Willen der Eigentümer an einem Abend zu durchschwimmen.
Da es unmöglich und untunlich ist, alle Details des besprochenen Werks vorzutragen, bleibe ich bei dem, was mich am meisten fasziniert hat. Das sind Schmickls Ausführungen, die auf Arthur Koestlers Studien über „sinnvolle Zufälle“ (aus 1974) beruhen. Er verfügt über eine köstliche Sammlung von Zufällen, die das Leben so schreibt: Ein Krenfleck auf der Hose wird vor einem Plakatdes Künstlers Kren entfernt; an einem Tag geht Gerald S. mit Doris in die Diana-Bar, am nächsten sieht er im Hafen zwei Schiffe mit denselben Namen und so weiter.
Dieser Essay nimmt dann übrigens höchst philosophische Dimensionen an und ist, wie das gesamte Buch, gründlich recherchiert und mit Zitaten versehen. Und wieder schießt mir spontan in den Kopf, dass ich, als ich das Buch noch nicht genauer kannte, ein Interview mit dem österreichischen EU-Kommissar Hahn im Fernsehen sah und hörte, worin dieser, reichlich genervt über neuerliche Plagiatsvorwürfe, den Journalisten erklärte, er habe in seiner Dissertation einen „essayistischen Ansatz“ gewählt, aber nichtsdestoweniger seine Quellen korrekt zitiert. Das mag schon so stimmen. Aber viel lieber als die essayistische Qualifikationsarbeit ist mir die vorliegende Sammlung von Essays in einem schönen Band, in dem der Autor auch über die Kunst des Zitats reflektiert. Gleich am Beginn findet sich das Motto, das dem polnischen Schriftsteller Stanislaw Jerzy Lec zuzuschreiben ist: „Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig. Also warum nicht gleich Zitate schreiben?“
Schmickl führt seit Jahren Zitatenbücher und kann aus diesem persönlichen Schatz für dieses Buch reichlich schöpfen. Der Leser begleitet somit einen höchst belesenen und musikalischen Menschen, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, auf seinen Wegen. Besonders sympathisch erscheint hier der korrekte Umgang mit Anregungen oder Ideen Dritter, wie zum Beispiel jenen Trouvaillen des Zufallsforschers Peter Jungwirth, der bei Karl Kraus die in der Tat frappierende Entdeckung eines Zitats machte, in dem zuerst der Ausdruck agassieren (eingedeutscht aus dem Französischen: agacer = ärgern) und dann ein Diner mit „Steffi“ vorkam, was den Autor und seinen Mail-Freund Schmickl zu der bangen Frage anregte, wie denn Kraus die Tennis-Ehe von André Agassi und Steffi Graf um zirka 70 Jahre voraussehen konnte.
Bekanntlich entstanden die „Letzten Tageder Menschheit“ im Ersten Weltkrieg, wobei der Epilog, den Kraus in der Schweiz (in Tierfehd am Tödi, Kanton Glarus) schrieb, ziemlich genau mit 1917 datierbar ist, weil der Autor selbst über dessen Entstehung Aufschluss gibt. Ginge es hier also nicht um Kraus, sondern um den Zeitgenossen und „Litteratur-Demolirer“ Schnitzler, dann hätte ich einfach auf Arthurs junge Tennispartnerin Steffi Bachrach getippt, die – wie es der traurige Zufall will – um die Zeit Selbstmord beging, zu der Kraus das Drama fertig schrieb, der sich allerdings in der Gesellschaft einer gewissen Simone befand.
Nun, mich haben Jungwirth und Schmickl bereits angesteckt, ich laufe sofort, wie einst Thomas Bernhard in „Holzfällen“ nach seinem „Gentzgassenwohnungserlebnis“ schrieb, nach Hause und schreibe das alles auf und beginne eine Sammlung unerklärlicher Zufälle. Aber vorher lese ich dieses wirklich gelungene Buch noch einmal und mit neuerlichem Genuss.
ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Strejcek
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Der Staat der Mitte.
Verfassungsgeschichte der
Bundesrepublik
Deutschland.
Von Jörn Ipsen. Verlag C. H. BeckMünchen 2009
Das Bonner Grundgesetz als 60-jähriges
Erfolgsmodell
Neuerdings gerät das bundesdeutsche Staatsrecht wieder in den Fokus des österreichischen Interesses, vor allem was die Sichtweise der Europäischen Integration seitens des BVerfG (Urteil v 30. 6. 2009, 2 BvE 2/ 08 ua) betrifft. Daher soll hier etwas ausführlicher auf ein neues verfassungshistorisches Überblickswerk zum Bonner Grundgesetz eingegangen werden. Der Autor, Professor für Staatsrecht in Osnabrück (geboren 1944, berufen 1981), amtiert seit 2007 auch als Präsident des niedersächsischen Staatsgerichts und ist im Kreis der deutschen Staatsrechtslehrer natürlich keinUnbekannter.Das hier angezeigte Buch erschien zu einem editorisch sinnvoll gewählten Zeitpunkt anlässlich der 60-Jahr-Feier zum Bonner Grundgesetz, die am 23. 5. 2009 stattfand. Obwohl vielfach als Provisorium angesehen, vom Freistaat Bayern seinerzeit sogar abgelehnt, erwies sich das Bonner GG als dauerhaft und gut geeignet, um als Konstitution für einen, auf 70 Mio Einwohnern gewachsenen Bundesstaat zu dienen. Dabei kommt die Verfassung des Nachbarn im Wesentlichen ohne plebiszitäre Elemente (ausgenommen bei Grenzänderungen) aus, verfügt über einen indirekt gewählten Bundespräsidenten und einen Bundestag, der in einem gemischtenWahlsystem nach Hare-Niemeyer kreiert wird und dessen genaue Mandatszahl immer erst nach der Wahl feststeht. Verantwortlich dafür sind so genannte Überhangmandate, während in Österreich die fixe Zahl von 183 laut NRWO in einem bundesweiten Proportionalausgleich vergeben bzw auf die Wahlparteien aufgeteilt wird. Anders als in der bisher immermaskulin regierte Republik Österreich konnte mit der geborenen Hamburgerin Angela Merkel erstmals eine Frau das Berliner Kanzleramt erobern. In mancher Hinsicht erweist sich die BRD auch als ausgeprägt föderal, etwa was den Sitz der Höchstgerichte in diversen Städten (ua Karlsruhe, Leipzig), die Zweifelsregel zugunsten der Länder in der Justiz und den Status der Länder betrifft. Dafür ist das Landesrecht nach dem B-VG insofern stärker, als es grundsätzlich gleichrangig mit dem Bundesrecht ist und keiner derogatorischen Regel der Verfassung unterliegt, da erst die Kompetenzfeststellung des VfGH neues Bundesverfassungsrecht schafft, Bundesrecht aber nicht Landesrecht „bricht“.
Ipsen reflektiert nicht nur die verfassungsrechtlichen Aspekte des Bonner GG, sondern – wie der Titel schon impliziert – auch die politischen Auswirkungen der Konstitution, vor allem auf Regierung und Staatlichkeit. Eine vorrangige Rolle nimmt dabei die Nutzung des Instruments der Vertrauensfrage ein; anders als in Österreich dem NR fehlt dem deutschen Bundestag das Recht der Selbstauflösung, weshalb die Kanzler vielfach Vertrauensfragen stellen, um den Bundespräsidenten zur Auflösung (binnen 21 Tagen) zu bewegen. Dass eine Regierung durch den Bundstag zu Fall kam, ist noch in Erinnerung, als Kanzler Schmidt das Vertrauen verlor. Alle anderen Vertrauensfragen waren aber taktischer Natur und dienten gewillkürten Neuwahlen oder der Disziplinierung von Regierungsmitgliedern. Dass das gegenbeteiligte Staatsoberhaupt in die Neuwahlplanung selten eingebunden wurde, macht das deutsche Verfassungsleben nicht einfacher, wenn auch lebendiger. Als Grenzorgan und Korrektiv fungiert das Bundesverfassungsgericht, das im Organstreitverfahren auch von Regierungsmitgliedern angerufen werden kann, was indes im Rahmen der Richtlinienkompetenz des Kanzlers/der Kanzlerin eher theoretischer Natur ist. Hingegen haben schon des Öfteren Abgeordnete des Bundestags ihre drohende Abwahl (bzw nicht erfolgende Kandidatur bei Neuwahlen) verhindern wollen, indem sie dem BVerfG die Frage der Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung vorlegten, wenn auch ohne Erfolg.
Für österreichische Verfassungsrechtsexperten sind die soeben aufgezeigten Besonderheiten des GG eher exotische Fragen, doch mögen diese Schachzüge historisch-politisch von Interesse sein. Unterschiedlich sind indes die methodischen Voraussetzungen und die Spielregeln der Konstitutionen. Dementsprechend sind auch Bücher über Verfassungsgeschichte (zB von Berchtold, Brauneder, Olechowski) hierzulande stärker am positiven Recht orientiert und geben keine „Staatspraxis“ wieder. Während in der Republik Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg das B-VG idF 1929 wieder in Kraft trat und lediglich durch bestimmte Sonderregelungen (neben Überleitungsregeln ua ein umfassendes Wahl-BVG, das NS-VerbotsG usw) ergänzt wurde, kam in der von den drei Westalliierten besetzten deutschen Bundesrepublik ein neuer Ansatz zum Tragen. Man wollte die Lehren aus den vielfach analysierten „Fehlern“ der Weimarer Reichsverfassung – WRV – ziehen; diese Fehler sah man besonders in der übermächtigen Machtposition des Reichspräsidenten und in der Patt-Stellung, welche durch (destruktive) Misstrauensvoten gegenüber dem Reichskanzler seitens des Reichstags erzeugt werden konnte. Es sollte nicht mehr in der Hand einer einzelnen Person liegen, den Kanzler zu ernennen oder zu entlassen; de facto war der Reichspräsident ja auch kein Übermensch, sondern beeinflussbar durch Hofschranzen und Günstlinge, welche zuvor die personelle Auswahl des Kanzlers dem Reichspräsidenten nahe zu legen pflegten. Neben der Abschwächung präsidialer Elemente, die Hans Kelsen schon 1920 (Vom Wesen und Wert der Demokratie1 [1920] 20 f) suspekt waren, sollte durch das GG 1949 auch das Fortbestehen der parlamentarischen Demokratie besser abgesichert werden. Außerdem sollte auf Ebene desWahlsystems größere Beweglichkeit für die Bundestagswahl bestehen, eine Abkehr von System der reinen Verhältniswahl wurde angestrebt und realisiert. Alles in allem sind diese Reformen als gelungen einzustufen.
Das Werk richtet sich an einen größeren Adressatenkreis, es ist von seiner Konzeption nicht ausschließlich als wissenschaftlichesWerk anzusehen. So gesehen erscheint es als gerechtfertigt, dass lediglich zwei Seiten ausgewählter Literatur angegeben werden, wenn hier auch zB das Fehlen von Peter Baduras „Staatsrecht“, das sogar im selben Verlag erschienen ist, auffällt. Das Werk ist sehr genau dokumentiert, einem recht ausgedehnten Anmerkungsteil (385 – 459) folgen diverse Register. Besonders informativ ist die Zeittafel seit dem ZweitenWeltkrieg, aus der hervorgeht, dass alsbald auch ein 60-Jahr-Jubiläum bevorsteht, welches einen untergegangenen deutschen Staat betrifft, die DDR, die mittlerweile manche „Ostalgiker“ beschäftigt. Für das sehr flüssig verfasste Buch ist eine Kauf- und Leseempfehlung zu geben, auch das gute Preis-Leistungs-Verhältnis bei nahezu bibliophiler Ausstattung ist hervorzuheben.
Zfg-Redaktion
ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Strejcek
Neuerdings gerät das bundesdeutsche Staatsrecht wieder in den Fokus des österreichischen Interesses, vor allem was die Sichtweise der Europäischen Integration seitens des BVerfG (Urteil v 30. 6. 2009, 2 BvE 2/ 08 ua) betrifft. Daher soll hier etwas ausführlicher auf ein neues verfassungshistorisches Überblickswerk zum Bonner Grundgesetz eingegangen werden. Der Autor, Professor für Staatsrecht in Osnabrück (geboren 1944, berufen 1981), amtiert seit 2007 auch als Präsident des niedersächsischen Staatsgerichts und ist im Kreis der deutschen Staatsrechtslehrer natürlich keinUnbekannter.Das hier angezeigte Buch erschien zu einem editorisch sinnvoll gewählten Zeitpunkt anlässlich der 60-Jahr-Feier zum Bonner Grundgesetz, die am 23. 5. 2009 stattfand. Obwohl vielfach als Provisorium angesehen, vom Freistaat Bayern seinerzeit sogar abgelehnt, erwies sich das Bonner GG als dauerhaft und gut geeignet, um als Konstitution für einen, auf 70 Mio Einwohnern gewachsenen Bundesstaat zu dienen. Dabei kommt die Verfassung des Nachbarn im Wesentlichen ohne plebiszitäre Elemente (ausgenommen bei Grenzänderungen) aus, verfügt über einen indirekt gewählten Bundespräsidenten und einen Bundestag, der in einem gemischtenWahlsystem nach Hare-Niemeyer kreiert wird und dessen genaue Mandatszahl immer erst nach der Wahl feststeht. Verantwortlich dafür sind so genannte Überhangmandate, während in Österreich die fixe Zahl von 183 laut NRWO in einem bundesweiten Proportionalausgleich vergeben bzw auf die Wahlparteien aufgeteilt wird. Anders als in der bisher immermaskulin regierte Republik Österreich konnte mit der geborenen Hamburgerin Angela Merkel erstmals eine Frau das Berliner Kanzleramt erobern. In mancher Hinsicht erweist sich die BRD auch als ausgeprägt föderal, etwa was den Sitz der Höchstgerichte in diversen Städten (ua Karlsruhe, Leipzig), die Zweifelsregel zugunsten der Länder in der Justiz und den Status der Länder betrifft. Dafür ist das Landesrecht nach dem B-VG insofern stärker, als es grundsätzlich gleichrangig mit dem Bundesrecht ist und keiner derogatorischen Regel der Verfassung unterliegt, da erst die Kompetenzfeststellung des VfGH neues Bundesverfassungsrecht schafft, Bundesrecht aber nicht Landesrecht „bricht“.
Ipsen reflektiert nicht nur die verfassungsrechtlichen Aspekte des Bonner GG, sondern – wie der Titel schon impliziert – auch die politischen Auswirkungen der Konstitution, vor allem auf Regierung und Staatlichkeit. Eine vorrangige Rolle nimmt dabei die Nutzung des Instruments der Vertrauensfrage ein; anders als in Österreich dem NR fehlt dem deutschen Bundestag das Recht der Selbstauflösung, weshalb die Kanzler vielfach Vertrauensfragen stellen, um den Bundespräsidenten zur Auflösung (binnen 21 Tagen) zu bewegen. Dass eine Regierung durch den Bundstag zu Fall kam, ist noch in Erinnerung, als Kanzler Schmidt das Vertrauen verlor. Alle anderen Vertrauensfragen waren aber taktischer Natur und dienten gewillkürten Neuwahlen oder der Disziplinierung von Regierungsmitgliedern. Dass das gegenbeteiligte Staatsoberhaupt in die Neuwahlplanung selten eingebunden wurde, macht das deutsche Verfassungsleben nicht einfacher, wenn auch lebendiger. Als Grenzorgan und Korrektiv fungiert das Bundesverfassungsgericht, das im Organstreitverfahren auch von Regierungsmitgliedern angerufen werden kann, was indes im Rahmen der Richtlinienkompetenz des Kanzlers/der Kanzlerin eher theoretischer Natur ist. Hingegen haben schon des Öfteren Abgeordnete des Bundestags ihre drohende Abwahl (bzw nicht erfolgende Kandidatur bei Neuwahlen) verhindern wollen, indem sie dem BVerfG die Frage der Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung vorlegten, wenn auch ohne Erfolg.
Für österreichische Verfassungsrechtsexperten sind die soeben aufgezeigten Besonderheiten des GG eher exotische Fragen, doch mögen diese Schachzüge historisch-politisch von Interesse sein. Unterschiedlich sind indes die methodischen Voraussetzungen und die Spielregeln der Konstitutionen. Dementsprechend sind auch Bücher über Verfassungsgeschichte (zB von Berchtold, Brauneder, Olechowski) hierzulande stärker am positiven Recht orientiert und geben keine „Staatspraxis“ wieder. Während in der Republik Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg das B-VG idF 1929 wieder in Kraft trat und lediglich durch bestimmte Sonderregelungen (neben Überleitungsregeln ua ein umfassendes Wahl-BVG, das NS-VerbotsG usw) ergänzt wurde, kam in der von den drei Westalliierten besetzten deutschen Bundesrepublik ein neuer Ansatz zum Tragen. Man wollte die Lehren aus den vielfach analysierten „Fehlern“ der Weimarer Reichsverfassung – WRV – ziehen; diese Fehler sah man besonders in der übermächtigen Machtposition des Reichspräsidenten und in der Patt-Stellung, welche durch (destruktive) Misstrauensvoten gegenüber dem Reichskanzler seitens des Reichstags erzeugt werden konnte. Es sollte nicht mehr in der Hand einer einzelnen Person liegen, den Kanzler zu ernennen oder zu entlassen; de facto war der Reichspräsident ja auch kein Übermensch, sondern beeinflussbar durch Hofschranzen und Günstlinge, welche zuvor die personelle Auswahl des Kanzlers dem Reichspräsidenten nahe zu legen pflegten. Neben der Abschwächung präsidialer Elemente, die Hans Kelsen schon 1920 (Vom Wesen und Wert der Demokratie1 [1920] 20 f) suspekt waren, sollte durch das GG 1949 auch das Fortbestehen der parlamentarischen Demokratie besser abgesichert werden. Außerdem sollte auf Ebene desWahlsystems größere Beweglichkeit für die Bundestagswahl bestehen, eine Abkehr von System der reinen Verhältniswahl wurde angestrebt und realisiert. Alles in allem sind diese Reformen als gelungen einzustufen.
Das Werk richtet sich an einen größeren Adressatenkreis, es ist von seiner Konzeption nicht ausschließlich als wissenschaftlichesWerk anzusehen. So gesehen erscheint es als gerechtfertigt, dass lediglich zwei Seiten ausgewählter Literatur angegeben werden, wenn hier auch zB das Fehlen von Peter Baduras „Staatsrecht“, das sogar im selben Verlag erschienen ist, auffällt. Das Werk ist sehr genau dokumentiert, einem recht ausgedehnten Anmerkungsteil (385 – 459) folgen diverse Register. Besonders informativ ist die Zeittafel seit dem ZweitenWeltkrieg, aus der hervorgeht, dass alsbald auch ein 60-Jahr-Jubiläum bevorsteht, welches einen untergegangenen deutschen Staat betrifft, die DDR, die mittlerweile manche „Ostalgiker“ beschäftigt. Für das sehr flüssig verfasste Buch ist eine Kauf- und Leseempfehlung zu geben, auch das gute Preis-Leistungs-Verhältnis bei nahezu bibliophiler Ausstattung ist hervorzuheben.
Zfg-Redaktion
ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Strejcek