ARTIKEL/PRINTMEDIEN
Gerhard Strejcek
Der Standard, 03.06.2022
Umstrittener Straßenbau: Bloß kein ewiges Moratorium
Der Ausbau einer EU-konformen Verkehrsinfrastruktur und hochrangiger Straßenbauprojekte benötigt rasch einen rechtskonformen Kompromiss
Der Ausbau einer EU-konformen Verkehrsinfrastruktur und hochrangiger Straßenbauprojekte benötigt rasch einen rechtskonformen Kompromiss
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 21.05.2022
Österreichs "Verfassungskanzler"
Vor 100 Jahren starb Michael Mayr, in dessen Regierungsära das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 beschlossen wurde.
Vor 100 Jahren starb Michael Mayr, in dessen Regierungsära das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 beschlossen wurde.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 06.05.2022
Warum das Vogerl einen Käfig braucht
Über Glücksspiel, Zufall und Recht: Eine Tour d’Horizon mit historischen und literarischen Abstechern.
Über Glücksspiel, Zufall und Recht: Eine Tour d’Horizon mit historischen und literarischen Abstechern.
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Gerhard Strejcek
Wespennest, 06.05.2022
Glücksspiel, Zufall und Recht
Eine Tour d’Horizon durch die Welt der Normen mit einem literarischen Abstecher
Eine Tour d’Horizon durch die Welt der Normen mit einem literarischen Abstecher
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 30.04.2022
Kafkas Lehrer und Roths Mitschüler
Über altösterreichische Universitäten und illustre Professoren, Dichter und Militärs im Raum Galizien.
Über altösterreichische Universitäten und illustre Professoren, Dichter und Militärs im Raum Galizien.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, ALBUM, 16.04.2022
Robert Musil: Tod am Hochzeitstag
Am 15. April vor 80 Jahren starb Robert Musil, Autor des Monumentalepos "Der Mann ohne Eigenschaften", in Genf
Am 15. April vor 80 Jahren starb Robert Musil, Autor des Monumentalepos "Der Mann ohne Eigenschaften", in Genf
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 27.03.2022
Abschied von einem großen Tonkünstler
Vor 125 Jahren starb Johannes Brahms - sein Leichenbegängnis wurde zur Reverenz an den Klassiker aus Hamburg.
Vor 125 Jahren starb Johannes Brahms - sein Leichenbegängnis wurde zur Reverenz an den Klassiker aus Hamburg.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 15.02.2022
Die Schattenseiten der Judikative
Informelle Vereinbarungen und Intrigen rund um den Verfassungsgerichtshof haben eine lange Geschichte. Das sollte man nicht leugnen
Informelle Vereinbarungen und Intrigen rund um den Verfassungsgerichtshof haben eine lange Geschichte. Das sollte man nicht leugnen
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Gerhard Strejcek
Die Presse, Spectrum, 5.2.2022
Niemand verriet Anne Frank
Willkürverbot und Vertretbarkeitskontrolle in der EMRK im Lichte der Rechtsprechung des EGMR
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 24.01.2022, Buchkritik
Janko Ferk - Auf Rilkes Spuren
Über zwei neue Bücher des Kärntner Schriftstellers.
Über zwei neue Bücher des Kärntner Schriftstellers.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 23.01.2022
Bundeskanzler für einen Tag
Erinnerung an den österreichischen Politiker, der als Kurzzeitkanzler und Langzeit-Experte fungierte.
Erinnerung an den österreichischen Politiker, der als Kurzzeitkanzler und Langzeit-Experte fungierte.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 17.01.2022
Existenzialismus am Rand der Wüste
Dino Buzzati - Der italienische Journalist und Autor ("Die Tatarenwüste") starb vor 50 Jahren. Eine Erinnerung.
Dino Buzzati - Der italienische Journalist und Autor ("Die Tatarenwüste") starb vor 50 Jahren. Eine Erinnerung.
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 20.12.2021
Willkür statt Rechtsstaat in der Lobau
Gerhard Strejcek
Der Standard, ALBUM, 18.12.2021
Großmeister der Wiener Stiege: Doderer in neuem Gewand
Vor 70 Jahren erschien Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege". Die Jubiläumsausgabe des Wienromans glänzt nun mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, einer historischen Wien-Karte und topografischen Erklärungen von Stefan Winterstein
Vor 70 Jahren erschien Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege". Die Jubiläumsausgabe des Wienromans glänzt nun mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, einer historischen Wien-Karte und topografischen Erklärungen von Stefan Winterstein
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 17.12.2021
Dichterfürst im Hradschin
Vor zehn Jahren, am 18. Dezember 2011, starb der Dissident, Autor und Präsident. Sein Erbe ist ein literarisches.
Vor zehn Jahren, am 18. Dezember 2011, starb der Dissident, Autor und Präsident. Sein Erbe ist ein literarisches.
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Gerhard Strejcek
Salzburger Nachrichten, 25.11.2021
Neues Buch und Filme über Sisi - Schattierungen einer Kaiserin
Siiisi! Frrranz! Zur Neuauflage der Sisi-Filme erschien eine seriöse Biografie der Kaiserin als junge Frau.
Artikel Die Leiden der jungen Elisabeth als pdf
Siiisi! Frrranz! Zur Neuauflage der Sisi-Filme erschien eine seriöse Biografie der Kaiserin als junge Frau.
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Gerhard Strejcek
Kleine Zeitung, 19.10.2021
Sein letztes Telefonat
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 17.10.2021
Schnitzlers Bühnen- und Lebenstragödie
Vor 100 Jahren sorgte der "Reigen", das Stück des vor 90 Jahren verstorbenen Wiener Autors, für Skandale, Aufruhr und Prozesse.
Vor 100 Jahren sorgte der "Reigen", das Stück des vor 90 Jahren verstorbenen Wiener Autors, für Skandale, Aufruhr und Prozesse.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 27.9.2021
Urteil des Höchstgerichts verschärft Kampf um umsatzstarke Trafiken
Die jüngste VwGH-Entscheidung, wonach das Vergaberecht auch bei Konzessionen für Trafiken greift, stärkt die Position unterlegener Bewerber für Konzessionen.
Die jüngste VwGH-Entscheidung, wonach das Vergaberecht auch bei Konzessionen für Trafiken greift, stärkt die Position unterlegener Bewerber für Konzessionen.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 18.9.2021
Historische Radgeschichten
Das Tourenradfahren erlebte um 1900 einen Boom - auch bei Ex-Burgtheaterdirektor Max Burckhard.
Das Tourenradfahren erlebte um 1900 einen Boom - auch bei Ex-Burgtheaterdirektor Max Burckhard.
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 15.9.2021
Unterrichten zu Hause sollte weiter „frei“ bleiben
Gerhard Strejcek
Der Standard, 25.8.2021
Streit um den Lobautunnel: Ein Stadtteil in Zwangslage
Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs dürfte einem neuen Stadtgebiet wie der Seestadt Aspern kein hochrangiger Verkehrsanschluss verweigert werden
Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs dürfte einem neuen Stadtgebiet wie der Seestadt Aspern kein hochrangiger Verkehrsanschluss verweigert werden
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 14.8.2021
Klimaschutz und Wahlkampf
Die großen urbanen Treibhausgasemittenten der Welt liegen außerhalb Europas. Wer das Weltklima retten will, sollte nachhaltige Entwicklungsmaßnahmen fördern.
Die großen urbanen Treibhausgasemittenten der Welt liegen außerhalb Europas. Wer das Weltklima retten will, sollte nachhaltige Entwicklungsmaßnahmen fördern.
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 9.8.2021
Über den Sinn der ORF-Wahl
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 8.8.2021
Wie Milena Jesenská die Welt sah
Eine Erinnerung an die vielseitige Feuilletonistin und Autorin, die vor 125 Jahren in Prag geboren wurde.
Eine Erinnerung an die vielseitige Feuilletonistin und Autorin, die vor 125 Jahren in Prag geboren wurde.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 4.7.2021, Buchkritik
Literarisch die Natur verstehen
Barbara Frischmuth begeht ihren 80. Geburtstag - eine Würdigung im Licht ihres neuen Essays.
Barbara Frischmuth begeht ihren 80. Geburtstag - eine Würdigung im Licht ihres neuen Essays.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 26.6.2021
Jim Morrison als Justizopfer
Über einige Ungereimtheiten rund um den Tod des Doors-Sängers vor 50 Jahren, am 3. Juli 1971
Über einige Ungereimtheiten rund um den Tod des Doors-Sängers vor 50 Jahren, am 3. Juli 1971
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 15.6.2021
Wie bei Österreichs Seilbahnen die Sicherheit gewährleistet wird
Die Deaktivierung der Sicherheitseinrichtung, die das Seilbahnunglück beim Lago Maggiore ausgelöst hat, ist hierzulande angesichts von Vorschriften und Kontrollen kaum vorstellbar
Die Deaktivierung der Sicherheitseinrichtung, die das Seilbahnunglück beim Lago Maggiore ausgelöst hat, ist hierzulande angesichts von Vorschriften und Kontrollen kaum vorstellbar
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Gerhard Strejcek
12.06.2021
Eine Begegnung mit H.C. Artmann
Am 11. September 1983 hielt H.C. Artmann eine Lesung im Salettl in der Döblinger Hartäcker Straße unweit des Döblinger Friedhofs. Unweit dem vielen Gästen als "Pavillon" bekannten Lokal mit dem aussichtsreichen Gastgarten, ruht der Autor Ferdinand von Saar (1833-1906), der die "Wiener Elegien" schrieb. Artmann, der am 12. Juni 1921 in Wien-Breitensee zur Welt kam und in der nahen St.-Josephskirche getauft wurde, war polyglott, vielsprachig und ein begnadeter Lehrer der Dichtung.
Die Kienmayrgasse, in der sein Vater Johann als Schuhmacher wirkte, lag damals in Hietzing, gehört aber seit längerem zum 14. Gemeindebezirk (Wien-Penzing). Artmann zum Gedenken befindet sich dort ein nach ihm benannter Beserl-Park. Als er Hauptschüler und nachmaliger Kaufmannslehrling in Wien-Neubau war, verinnerlichte er viele Idiome, darunter das Tschechisch der Schustergesellen, das Wienerische seiner Gefährten und die lombardischen Phrasen, die sein Vater auf der Waltz gelernt hatte. So begann die Karriere eines vielseitigen Sprachbegabten, der im Weltkrieg beinahe wegen Desertion und Fahnenflucht hingerichtet worden wäre. Noch im Alter zeigte Artmann sein pädagogisches Talent. Seine Schüler ließ er beispielsweise Szenen aus dem Comic "Asterix auf großer Fahrt" ins Wienerische übersetzen. Die Eleven der "Schule für Dichtung", wo auch Falco und Wolfgang Bauer lehrten, mussten die Phrase "Gib' mir die Perlen zum Einschmeicheln", die ein vom Wikingerschiff springender Eroberer von sich gibt, auf Wienerisch übersetzen. Versuchen Sie es selbst - hier ein Vorschlag: "Loss umewoxn de Böaln zum Eineweimbaln". Vermutlich wäre der am 4.12.2000 verstorbene Meister nicht zufrieden gewesen, hätte das aber auf eine umgängliche Art vermittelt. Hingegen konnte Artmann auch grantig werden, wenn sich jemand über ihn erhob wie Hans Weigel, der ihm empfahl statt "Gedichte aus Breitsense" den Titel "Verscherln aus Breitensee" zu verwenden. "Meine Ferscherln san da undn", sagte Artmann und zeigte auf seine Füße.
Doch zurück zum "Pavillon", wo Artmann vor bald 38 Jahren las und einmal mehr den mordenden Schausteller vom Prater oder von der Schmelz (wo einst auch ein Ringelspiel stand) in gruseliger Weise zitierte "i bin a ringlschbübsitza | und i schlof in da nocht nua bei licht | wäu i mi vur de dodn fraun fiacht", so klang es an die Ohren des damals noch 19jährigen Jus-Studenten Gerhard Strejcek. Die Stimmung war einzigartig, nur ein paar Dutzend Gäste hatten im Salettl Platz, was niemanden störte. In der intimen Atmosphäre des architektonischen Versatzstücks aus der k.u.k. Monarchie fühlte sich der in Wien-Breitensee aufgewachsene Hans Carl Artmann wohl. Damals zählte er 62 Jahre, er stand als Dichter und Übersetzer von Komödien, die er mit Verve und eigenen Dialogen prägte (es sind eigentlich geniale Nachdichtungen von Lope de Vega bis Molière), auf dem Zenith seines Schaffens. Souverän absolvierte er ein launiges Heimspiel nur ein paar Kilometer von seinem Heimatbezirk entfernt, den er als Weitgereister, der zeitweise in Malmö, Berlin, Graz und Salzburg wohnte, längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Allerdings verbrachte Artmann seinen Lebensabend mit Gattin Rosa und der filmschaffenden Tochter Emily Griseldis in Wien-Josefstadt unweit des Theaters. Dort hat ihn Michael Horowitz mehrfach interviewt und fotografiert, dort entstand auch eine Filmdokumentation seiner Tochter, wogegen die ebenfalls sehr lesens- und sehenswerte Sammlung des ORF-Journalisten Kurt Hofmann viele Salzburger Bilder zeigt.
Noch ein zweiter Könner untermalte den damaligen Auftritt: Ronald Iraschek, jener illustre Musiker, dessen künstlerisches Spektrum von vertonten Konrad Bayer-Versen bis zu einem spezifisch Wiener Punk reicht. "Ronnie Urini Iraschek Superstar", wie der Künstlername des Meidlingers lautet, sang auch bei einem Treffen mit Nancy Sinatra den "Sommerwind" im Wiener Lokal "Salz&Pfeffer". Spontan übernahm der Komponist und Performer jenen Part, der einst Lee Hazelwood vorbehalten blieb. Kein Wunder, dass Artmann auf Irascheks Dienste inmitten des idyllischen Salettls setzte.
Nun saß man nach getaner Arbeit auf ein paar Glaserln zusammen und Ronnie lächelte ein wenig grimmig als sich ein lästiger Gast, der Autor dieser Zeilen nämlich, in Richtung Artmann bewegte, der soeben seinen wohl verdienten G'spritzten zum Mund führen wollte. Es entspann sich folgender Dialog: "Herr Artmann, könnten Sie mir, bitte, eine irrwitzige Widmung schreiben?" Das Ersuchen wurde unter gleichzeitiger Darreichung des Taschenbuchs "Nachrichten aus nord und süd" vorgebracht. Darauf Artmann: "Irrwitzig wäre es, wenn ich den Abschuss eines südkoreanischen Jumbos gutheißen würde." Diese Bemerkung bezog sich auf einen Zwischenfall aus dem Spätsommer 1983. Soeben war ein Passagierflugzeug der Type Boeing-747 mit hunderten Fluggästen nach einem Angriff durch sowjetische Abfangjäger, die es für ein Spionageflugzeug hielten, abgeschossen worden. Angeblich hatte der Pilot nicht auf Funksprüche oder Signale reagiert. Falls jemand sich an Vorgänge in Minsk erinnert fühlt, erscheint das legitim. Das Ganze war und ist ein Drama und die Belehrung Artmanns zeigt, dass er "Irrwitz" von Wiener Schmäh trennte. Doch es ging dem 19jährigen Zuhörer um die Zueignung des Bewunderten, weshalb der Hartnäckige bat: "Dann bitte nur eine witzige Widmung". Artmann schrieb: "Gerhard soy froh, dass wir nicht mit dem automobile zugange seynit. Wien 8.9.1683, H.C. Artmann."
1683 - das war das Jahr der zweiten Türkenbelagerung, im September zogen Entsatzheere vom Kahlenberg Richtung Stadt und befreiten die Wiener, die sich gegenüber dem Polenkönig Jan Sobieski nicht gerade dankbar verhielten, so wie auch der Kaiser Leopold, der nicht einmal vom Pferd gestiegen sein soll, als er Sobieski, seinen Retter und dessen Sohn traf. Aber das war lange vorbei. Nun aber sah man, 300 Jahre später, den Kahlenberg im Dunkel der Nacht herüberschimmern, als ob er "med ana schwoazn dintn" gemalt worden sei.
Gerhard Strejcek
Am 11. September 1983 hielt H.C. Artmann eine Lesung im Salettl in der Döblinger Hartäcker Straße unweit des Döblinger Friedhofs. Unweit dem vielen Gästen als "Pavillon" bekannten Lokal mit dem aussichtsreichen Gastgarten, ruht der Autor Ferdinand von Saar (1833-1906), der die "Wiener Elegien" schrieb. Artmann, der am 12. Juni 1921 in Wien-Breitensee zur Welt kam und in der nahen St.-Josephskirche getauft wurde, war polyglott, vielsprachig und ein begnadeter Lehrer der Dichtung.
Die Kienmayrgasse, in der sein Vater Johann als Schuhmacher wirkte, lag damals in Hietzing, gehört aber seit längerem zum 14. Gemeindebezirk (Wien-Penzing). Artmann zum Gedenken befindet sich dort ein nach ihm benannter Beserl-Park. Als er Hauptschüler und nachmaliger Kaufmannslehrling in Wien-Neubau war, verinnerlichte er viele Idiome, darunter das Tschechisch der Schustergesellen, das Wienerische seiner Gefährten und die lombardischen Phrasen, die sein Vater auf der Waltz gelernt hatte. So begann die Karriere eines vielseitigen Sprachbegabten, der im Weltkrieg beinahe wegen Desertion und Fahnenflucht hingerichtet worden wäre. Noch im Alter zeigte Artmann sein pädagogisches Talent. Seine Schüler ließ er beispielsweise Szenen aus dem Comic "Asterix auf großer Fahrt" ins Wienerische übersetzen. Die Eleven der "Schule für Dichtung", wo auch Falco und Wolfgang Bauer lehrten, mussten die Phrase "Gib' mir die Perlen zum Einschmeicheln", die ein vom Wikingerschiff springender Eroberer von sich gibt, auf Wienerisch übersetzen. Versuchen Sie es selbst - hier ein Vorschlag: "Loss umewoxn de Böaln zum Eineweimbaln". Vermutlich wäre der am 4.12.2000 verstorbene Meister nicht zufrieden gewesen, hätte das aber auf eine umgängliche Art vermittelt. Hingegen konnte Artmann auch grantig werden, wenn sich jemand über ihn erhob wie Hans Weigel, der ihm empfahl statt "Gedichte aus Breitsense" den Titel "Verscherln aus Breitensee" zu verwenden. "Meine Ferscherln san da undn", sagte Artmann und zeigte auf seine Füße.
Doch zurück zum "Pavillon", wo Artmann vor bald 38 Jahren las und einmal mehr den mordenden Schausteller vom Prater oder von der Schmelz (wo einst auch ein Ringelspiel stand) in gruseliger Weise zitierte "i bin a ringlschbübsitza | und i schlof in da nocht nua bei licht | wäu i mi vur de dodn fraun fiacht", so klang es an die Ohren des damals noch 19jährigen Jus-Studenten Gerhard Strejcek. Die Stimmung war einzigartig, nur ein paar Dutzend Gäste hatten im Salettl Platz, was niemanden störte. In der intimen Atmosphäre des architektonischen Versatzstücks aus der k.u.k. Monarchie fühlte sich der in Wien-Breitensee aufgewachsene Hans Carl Artmann wohl. Damals zählte er 62 Jahre, er stand als Dichter und Übersetzer von Komödien, die er mit Verve und eigenen Dialogen prägte (es sind eigentlich geniale Nachdichtungen von Lope de Vega bis Molière), auf dem Zenith seines Schaffens. Souverän absolvierte er ein launiges Heimspiel nur ein paar Kilometer von seinem Heimatbezirk entfernt, den er als Weitgereister, der zeitweise in Malmö, Berlin, Graz und Salzburg wohnte, längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Allerdings verbrachte Artmann seinen Lebensabend mit Gattin Rosa und der filmschaffenden Tochter Emily Griseldis in Wien-Josefstadt unweit des Theaters. Dort hat ihn Michael Horowitz mehrfach interviewt und fotografiert, dort entstand auch eine Filmdokumentation seiner Tochter, wogegen die ebenfalls sehr lesens- und sehenswerte Sammlung des ORF-Journalisten Kurt Hofmann viele Salzburger Bilder zeigt.
Noch ein zweiter Könner untermalte den damaligen Auftritt: Ronald Iraschek, jener illustre Musiker, dessen künstlerisches Spektrum von vertonten Konrad Bayer-Versen bis zu einem spezifisch Wiener Punk reicht. "Ronnie Urini Iraschek Superstar", wie der Künstlername des Meidlingers lautet, sang auch bei einem Treffen mit Nancy Sinatra den "Sommerwind" im Wiener Lokal "Salz&Pfeffer". Spontan übernahm der Komponist und Performer jenen Part, der einst Lee Hazelwood vorbehalten blieb. Kein Wunder, dass Artmann auf Irascheks Dienste inmitten des idyllischen Salettls setzte.
Nun saß man nach getaner Arbeit auf ein paar Glaserln zusammen und Ronnie lächelte ein wenig grimmig als sich ein lästiger Gast, der Autor dieser Zeilen nämlich, in Richtung Artmann bewegte, der soeben seinen wohl verdienten G'spritzten zum Mund führen wollte. Es entspann sich folgender Dialog: "Herr Artmann, könnten Sie mir, bitte, eine irrwitzige Widmung schreiben?" Das Ersuchen wurde unter gleichzeitiger Darreichung des Taschenbuchs "Nachrichten aus nord und süd" vorgebracht. Darauf Artmann: "Irrwitzig wäre es, wenn ich den Abschuss eines südkoreanischen Jumbos gutheißen würde." Diese Bemerkung bezog sich auf einen Zwischenfall aus dem Spätsommer 1983. Soeben war ein Passagierflugzeug der Type Boeing-747 mit hunderten Fluggästen nach einem Angriff durch sowjetische Abfangjäger, die es für ein Spionageflugzeug hielten, abgeschossen worden. Angeblich hatte der Pilot nicht auf Funksprüche oder Signale reagiert. Falls jemand sich an Vorgänge in Minsk erinnert fühlt, erscheint das legitim. Das Ganze war und ist ein Drama und die Belehrung Artmanns zeigt, dass er "Irrwitz" von Wiener Schmäh trennte. Doch es ging dem 19jährigen Zuhörer um die Zueignung des Bewunderten, weshalb der Hartnäckige bat: "Dann bitte nur eine witzige Widmung". Artmann schrieb: "Gerhard soy froh, dass wir nicht mit dem automobile zugange seynit. Wien 8.9.1683, H.C. Artmann."

1683 - das war das Jahr der zweiten Türkenbelagerung, im September zogen Entsatzheere vom Kahlenberg Richtung Stadt und befreiten die Wiener, die sich gegenüber dem Polenkönig Jan Sobieski nicht gerade dankbar verhielten, so wie auch der Kaiser Leopold, der nicht einmal vom Pferd gestiegen sein soll, als er Sobieski, seinen Retter und dessen Sohn traf. Aber das war lange vorbei. Nun aber sah man, 300 Jahre später, den Kahlenberg im Dunkel der Nacht herüberschimmern, als ob er "med ana schwoazn dintn" gemalt worden sei.
Gerhard Strejcek
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 8.4.2021
Werbeverbot für Glücksspiel wäre kontraproduktiv
Auch künftige Glücksspielkonzessionäre sollen ihr Angebot bewerben dürfen, da nur so der Spieltrieb in legale Bahnen gelenkt werden kann
Auch künftige Glücksspielkonzessionäre sollen ihr Angebot bewerben dürfen, da nur so der Spieltrieb in legale Bahnen gelenkt werden kann
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 3.4.2021, Buchkritik
Dismas - ein bekehrter Verbrecher
Martin Bolz wandelt auf den Spuren einer biblischen Gestalt, die man von Kreuzigungsdarstellungen her kennt und die er den "mörderischen Heiligen" nennt.
Martin Bolz wandelt auf den Spuren einer biblischen Gestalt, die man von Kreuzigungsdarstellungen her kennt und die er den "mörderischen Heiligen" nennt.
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 24.3.2021
Unwürdiger Streit um das Bundesumweltamt
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 13.3.2021
Arthur Schnitzlers frühe Geliebte
Die Gesangslehrerin Marie "Mizi" Reinhard wurde vor 150 Jahren, am 13. März 1871, geboren - und starb am 18. März 1899 unter ungeklärten Umständen.
Die Gesangslehrerin Marie "Mizi" Reinhard wurde vor 150 Jahren, am 13. März 1871, geboren - und starb am 18. März 1899 unter ungeklärten Umständen.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 20.2.2021
Blanche Aubry - eine Schweizerin, die Wien liebte
Aus Anlass ihres 100. Geburtstages eine Erinnerung an die Schauspielerin, die vor allem in Musicals große Erfolge an Wiener Bühnen feierte.
Aus Anlass ihres 100. Geburtstages eine Erinnerung an die Schauspielerin, die vor allem in Musicals große Erfolge an Wiener Bühnen feierte.
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Gerhard Strejcek
Salzburger Nachrichten, 9.1.2021
Die Angst vor dem Betrug: Wenn Wahlen angezweifelt werden
Gerhard Strejcek
Der Standard, 16.12.2020
Konzessionslose Glücksspielanbieter müssen Verluste zurückzahlen
Österreichs Justiz hält moderate Werbung der zugelassenen Glücksspielkonzerne für zulässig und ahndet das konzessionslose Online-Glücksspiel konsequent
Österreichs Justiz hält moderate Werbung der zugelassenen Glücksspielkonzerne für zulässig und ahndet das konzessionslose Online-Glücksspiel konsequent
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung extra, 5.12.2020
Im Chefsessel der Republik - Karl Renner
Vor 150 Jahren in Untertannowitz in Südmähren geboren, amtierte das "rote Urgestein" Karl Renner mehrmals als österreichischer Staatskanzler und in der Zweiten Republik als Bundespräsident.
Vor 150 Jahren in Untertannowitz in Südmähren geboren, amtierte das "rote Urgestein" Karl Renner mehrmals als österreichischer Staatskanzler und in der Zweiten Republik als Bundespräsident.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 1.12.2020
Ziviltechniker fürchten um Unabhängigkeit
Der Entwurf des neuen Ziviltechnikergesetzes erfüllt die im Vorjahr festgeschriebenen Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs, geht aber nach Ansicht der Betroffenen in der Öffnung zu weit
Der Entwurf des neuen Ziviltechnikergesetzes erfüllt die im Vorjahr festgeschriebenen Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs, geht aber nach Ansicht der Betroffenen in der Öffnung zu weit
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 8.11.2020
Anne Frank und die Wiener
Eine Heldin aus Meidling, ein Polizist aus Favoriten, die Hietzinger Stiefschwester und der Dornbacher Reichskommissär - sie alle spielten eine Rolle im Leben der Tagebuch-Autorin. Eine Spurensuche.
Eine Heldin aus Meidling, ein Polizist aus Favoriten, die Hietzinger Stiefschwester und der Dornbacher Reichskommissär - sie alle spielten eine Rolle im Leben der Tagebuch-Autorin. Eine Spurensuche.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 1.11.2020
Visitenkarten aus dem Jenseits
Grabmäler und Inschriften transportieren vielfältige Botschaften. Eine Rundschau zwischen posthumer Inszenierung, letzten Grüßen - und etwas Ironie.
Grabmäler und Inschriften transportieren vielfältige Botschaften. Eine Rundschau zwischen posthumer Inszenierung, letzten Grüßen - und etwas Ironie.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 26.10.2020
Elizabeth Scheu Close - Wiener Spuren in Minnesota
Die in Österreich geborene Architektin prägte gemeinsam mit ihrem Gatten Winston Close das bauliche Antlitz von Minneapolis-Saint Paul.
Die in Österreich geborene Architektin prägte gemeinsam mit ihrem Gatten Winston Close das bauliche Antlitz von Minneapolis-Saint Paul.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 30.9.2020
Tonträger werden bei der Umsatzsteuer diskriminiert
Dass in der Corona-Krise nur die Abgaben auf Bücher und Hörbücher reduziert wurden, ist gleichheits- und verfassungswidrig
Dass in der Corona-Krise nur die Abgaben auf Bücher und Hörbücher reduziert wurden, ist gleichheits- und verfassungswidrig
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Gerhard Strejcek
NZZ, 13.9.2020
Eine Wiener Pionierin führte in Minneapolis die moderne Architektur ein
Gerhard Strejcek
Die Presse, Sprectrum, 5.9.2020
Kafka als „Presse“-Inserent und Liebesbriefe aus dem Büro
Gerhard Strejcek
ROTWEISSROT, 2/2020
100 Jahre Österreichische Bundesverfassung
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 17.8.2020
Thomas Mann und die Wiener Freunde
Der Literaturnobelpreisträger hielt sich oft und gern in Österreich auf - und interessierte sich auch für die österreichische Staatsbürgerschaft.
Der Literaturnobelpreisträger hielt sich oft und gern in Österreich auf - und interessierte sich auch für die österreichische Staatsbürgerschaft.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 16.7.2020, Gastkommentar
(Nachdruck in IGBO-Nachrichten, Ausgabe 03/2020)
Fliegende Nachbarschaftshilfe
Das Heer muss der Verfassung entsprechen – und diese schützen. Darüber hinaus darf es in der Debatte keine Denkverbote geben. Der Ministerin sollte man noch eine Chance geben.
Das Heer muss der Verfassung entsprechen – und diese schützen. Darüber hinaus darf es in der Debatte keine Denkverbote geben. Der Ministerin sollte man noch eine Chance geben.
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 10.7.2020
Kobolde, Elfen und Bucklige
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 6.7.2020
Ein unbekannter Kanzler: Michael Mayr
Der christlich-soziale Politiker amtierte ab 7. Juli 1920 als Vorsitzender einer Proporzregierung und wurde am 20. November vom Nationalrat zum ersten Bundeskanzler der Republik Österreich gewählt.
Der christlich-soziale Politiker amtierte ab 7. Juli 1920 als Vorsitzender einer Proporzregierung und wurde am 20. November vom Nationalrat zum ersten Bundeskanzler der Republik Österreich gewählt.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 23.6.2020
Wann Pauschalreisen wegen Corona kostenfrei stornierbar sind
Der Wegfall der Geschäftsgrundlage für eine bereits gebuchte Reise und die kostenlose Stornierung sind auch nach dem neuen Reiserecht möglich
Der Wegfall der Geschäftsgrundlage für eine bereits gebuchte Reise und die kostenlose Stornierung sind auch nach dem neuen Reiserecht möglich
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 14.6.2020, Buchkritik
"Eine Tür aus Glas, weit offen": eine Würdigung für Christoph Meckel
Posthum ist ein Prosa-Band mit gesammelten Texten des am 29. Jänner verstorbenen Autors und Grafikers erschienen.
Posthum ist ein Prosa-Band mit gesammelten Texten des am 29. Jänner verstorbenen Autors und Grafikers erschienen.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung extra, 13.6.2020
Der Autor hinter der Glastür
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 8.5.2020
1945: Als Österreich wieder hochgefahren wurde
Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg - und die Zweite Republik begann, unter mancherlei Schwierigkeiten, sich zu formieren. Ein differenzierter historischer Rückblick.
Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg - und die Zweite Republik begann, unter mancherlei Schwierigkeiten, sich zu formieren. Ein differenzierter historischer Rückblick.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 25.4.2020
Lesen in Zeiten der Cholera
Camus, Kafka, Marquez & Co: Eine Tour d’Horizon durch die literarische Seuchen-Welt
Camus, Kafka, Marquez & Co: Eine Tour d’Horizon durch die literarische Seuchen-Welt
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 5.4.2020
Franz Schindl, ein spätes Opfer des Krieges
In "Die Verspätung" erforscht Andreas Schindl das Leben seines Großvaters, von dem seit April 1945 jede Spur fehlt.
In "Die Verspätung" erforscht Andreas Schindl das Leben seines Großvaters, von dem seit April 1945 jede Spur fehlt.
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Gerhard Strejcek
Der Standard, 25.3.2020
Ein Krisenfonds mit Startproblemen
Statt bewährte Kanäle zu nutzen, bürokratisiert das Covid-19-Gesetz die Abläufe und macht es betroffenen Unternehmen schwerer – eine kritische Bewertung
Statt bewährte Kanäle zu nutzen, bürokratisiert das Covid-19-Gesetz die Abläufe und macht es betroffenen Unternehmen schwerer – eine kritische Bewertung
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 28.2.2020, Literatur
Lust und Leid Schreibender
Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 18.1.2020
Gregor Sebba, der Mann in Doderers Schatten
Der von den Nationalsozialisten vertriebene Autor und Wissenschafter wohnte einst in jenem Atelier, in dem Heimito von Doderer die "Strudlhofstiege" schrieb. Eine Recherche.
Der von den Nationalsozialisten vertriebene Autor und Wissenschafter wohnte einst in jenem Atelier, in dem Heimito von Doderer die "Strudlhofstiege" schrieb. Eine Recherche.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung, 12.1.2020, Buchkritik
Franz Kafka, neu ausgelegt von Janko Ferk
Der Richter und Literaturwissenschafter kommentiert zwei Erzählungen Kafkas sowie dessen letzten Willen aus juristischer Perspektive.
Der Richter und Literaturwissenschafter kommentiert zwei Erzählungen Kafkas sowie dessen letzten Willen aus juristischer Perspektive.
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Gerhard Strejcek
Wiener Zeitung extra, 28.12.2019
Meisterleistung eines Kinderarztes
Gerhard Strejcek
Amerikanische Hilfe rettete nach dem Ersten Weltkrieg eine Generation Österreicher vor dem Hungertod
NZZ, 28.12.2019
Nach einer schlechten Ernte und den Verheerungen des Kriegs drohten im Winter vor hundert Jahren Tausende von Kindern im Osten Österreichs zu verhungern. Die vom späteren Präsidenten
Herbert Hoover geleitete amerikanische Ernährungshilfe wurde zu einer logistischen Mammutaufgabe.
Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das traditionell im Musikvereinssaal stattfindet, gehört zu den bekanntesten Exportartikeln Österreichs. Millionen von Zuschauern verfolgen alljährlich die Höhepunkte der Walzerkultur via Fernsehen, denn Karten sind knapp und teuer. Gleichwohl ist es ein besonderes Erlebnis, den vom dänischen Architekten Theophil Hansen geplanten Prunkraum, dessen Akustik gerühmt wird, zu besuchen. Luxus und Elend liegen indessen oft nahe beieinander: Nur wenige Meter vom Portal der Kulturstätte im historisierenden Stil der Wiener Ringstrasse befand sich im Winter 1919/20 eine Grossküche für die «Kinderausspeisung», die von der amerikanischen Ernährungshilfe (American Relief Administration – ARA) betrieben wurde.
150 000 warme Mahlzeiten täglich
In jenem Winter war es bitterkalt, die Temperaturen verblieben fast permanent unter dem Gefrierpunkt. Zahlreiche Haushalte konnten bestenfalls einen einzigen Raum beheizen, und so erschien wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag als eine Überlebensfrage. Alle Kinder unter 15 Jahren konnten das Angebot unentgeltlich nutzen. Auf dem Speiseplan standen vor allem Milch und Kohlenhydrate. Ein Wochenplan vom Dezember 1919 sah unter anderem Milchreis und Semmelknödel vor. Fleisch kam selten auf den Teller, obwohl die USA fast vierzig Tonnen Schweinefleisch allein nach Österreich lieferten, wo die Stadt Wien mehr als die Hälfte der Nahrungshilfe erhielt und je rund 15 Prozent an die drei grossen Bundesländer im Osten des Landes gingen. Dagegen konnte sich der Westen Österreichs grösstenteils selbst ernähren oder wurde von der Schweiz unterstützt.
Die logistische und ernährungswissenschaftliche Grundlage für den Menuplan lieferte der Wiener Kinderarzt Clemens Pirquet. Die meisten Kinder befanden sich in einem bedenklichen Zustand und galten nach seiner vierstufigen Skala als unterernährt. Die Aktion der Amerikaner lief im Mai 1919 an und sollte ursprünglich nur drei Monate bis zur Ernte dauern. Schon im Juni gab die Küche in der Wiener Innenstadt 500 Essensportionen täglich aus. Bald ernährten die 23 an allen Ecken der Zweimillionenstadt errichteten amerikanischen Grossküchen jedoch eine vielfache Menge an Kindern. 150 000 warme Mahlzeiten wurden schliesslich jeden Tag bereitgestellt, wobei der Nährwert auf die Patienten abgestimmt werden musste.
Dass dies tagtäglich funktionierte, ist das Verdienst einer Organisation, die heute in Vergessenheit zu geraten droht. Die vom späteren Präsidenten Herbert Hoover geleitete American Relief Administration hatte nicht nur für die ehemalige Metropole des Habsburgerreichs, sondern für ganz Europa die Mammutaufgabe der Ernährung Bedürftiger übernommen. Ein Jahrzehnt nach seiner Präsidentschaft, die nur eine Wahlperiode (1929–1933) währte, gab Hoover in einer Publikation mit dem Titel «We will have to feed the world again» Rechenschaft über die Aktionen der ARA und präsentierte die Schlüsse, die aus dem Ersten für den damals noch tobenden Zweiten Weltkrieg gezogen werden könnten.
Hoover kann als Mastermind der amerikanischen Ernährungshilfe in Europa bezeichnet werden, der in grossen Dimensionen dachte und eine philanthropische Einstellung ohne Ressentiments aufwies. Er hatte unter Präsident Woodrow Wilson nach dem Kriegseintritt der USA 1917 drei wichtige Ämter inne: Zunächst sollte er die Ernährung der nach der deutschen Besetzung schwer leidenden belgischen Bevölkerung sicherstellen, sodann die Verpflegung der amerikanischen Truppen in Europa organisieren und schliesslich für nicht weniger als 375 Millionen Menschen in 28 Nationen Europas amerikanische Nahrung bereitstellen. Obwohl die ARA auf Kredit arbeitete und somit die Lebensmittel und Speisen an die betroffenen Länder verkaufte, handelte es sich um eine humanitäre Grosstat, welche ein Massensterben der durch den Krieg und die Spanische Grippe geschwächten Bevölkerung verhindern konnte. Sowohl die Hygiene- als auch die Ernährungsstandards der amerikanischen Küchen übertrafen die Infrastruktur in den Gastländern beträchtlich.
Grossküchen in den Schlössern der Habsburger
Die in Wien verbliebenen Kinder, die keine Möglichkeit hatten, zu Verwandten aufs Land zu ziehen oder an einem Ferienaufenthalt teilzunehmen, befanden sich nach einer mageren Ernte 1919 in Gefahr, zu verhungern. In den Arbeiterbezirken, aber auch in den Flüchtlingsheimen erwies sich die Lage als dermassen prekär, dass der Kinderarzt Pirquet bei 93 Prozent der von ihm untersuchten Kinder Mangelerscheinungen und eine «starke Blässe» sowie Unterernährung diagnostizierte.
Die in Paris ansässige ARA hatte in allen betroffenen europäischen Ländern Aussenstellen, welche von Hoover gemeinsam mit dem späteren Senator Robert Taft koordiniert wurden. Die Lage in Wien erwies sich als so desaströs, dass die Amerikaner kurzerhand auch die Habsburgerschlösser in Schönbrunn und im Augarten in Grossküchen umwandelten. In beiden ehemals kaiserlichen Gärten müssen sich in der warmen Jahreszeit pittoreske Szenen abgespielt haben, weil unter Pirquets Leitung die Kinder zum Dank an die Spender Reigentänze veranstalteten.
Pirquet hatte eine eigene Formel entwickelt, mit welcher er den Status der Mangelernährung und den Kalorienbedarf berechnen konnte. Der damaligen Zeit entsprechend, ging es vor allem um Äquivalente für den Nährwert von Milch, wofür Pirquets NEM-Formel (Nahrungs-Einheit-Milch) stand. In Serbien oder der Tschechoslowakei konnten die Amerikaner zwar auf Ärzte zählen, die in Wien ausgebildet worden waren, fanden aber keine der von Pirquet geleiteten Kinderklinik vergleichbare Universitätseinrichtung zur logistischen Abwicklung der Ernährungshilfe vor.
Abgeschnitten von den Kornkammern der Monarchie
Die Massnahmen der Amerikaner, welche Tausende von Tonnen Fleisch, Fette und Kondensmilch nach Mitteleuropa transportierten und sich Gemüse aus dem regionalen Angebot verschafften, retteten der um 1910 geborenen Generation im Osten Österreichs das Leben. Abgeschnitten von den Kornkammern der einstigen Agrarregionen in der Monarchie, konnte die ehemalige Reichshauptstadt, die von Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina überging, nicht auf die Unterstützung der westlichen Nachbarn zurückgreifen, die selbst Not hatten, ihre Bevölkerung und einige Besatzungstruppen zu ernähren. Bis zum Staatsvertrag von Saint-Germain blieb auch die englische Blockade aufrecht, womit sich ein Hungerwinter 1919/20 abzeichnete, in dem es zudem kaum Heizmittel gab. Während das Defizit an Brennstoffen durch Kohleschmuggler und Wärmestuben mehr schlecht als recht behoben wurde, wäre ohne die amerikanische Kinderhilfsaktion der ARA die Ernährung in Wien zusammengebrochen.
Pirquets zu wissenschaftlichen Publikationen verdichtete Erkenntnisse über die amerikanische Ernährungshilfe bildeten auch noch Jahrzehnte später die Basis für eine medizinisch fundierte und logistisch ausgereifte Massenernährung. Der Republikaner Hoover, der heute wegen seiner Zollpolitik als protektionistisches Vorbild für Donald Trump hingestellt wird, leistete als Kopf einer 9000 Mitarbeiter umfassenden Organisation humanitäre Arbeit, die ihn als Wohltäter für Kinder in ganz Europa ausweist – gleichgültig, auf welcher Seite der Front ihre Väter gekämpft hatten.
Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das traditionell im Musikvereinssaal stattfindet, gehört zu den bekanntesten Exportartikeln Österreichs. Millionen von Zuschauern verfolgen alljährlich die Höhepunkte der Walzerkultur via Fernsehen, denn Karten sind knapp und teuer. Gleichwohl ist es ein besonderes Erlebnis, den vom dänischen Architekten Theophil Hansen geplanten Prunkraum, dessen Akustik gerühmt wird, zu besuchen. Luxus und Elend liegen indessen oft nahe beieinander: Nur wenige Meter vom Portal der Kulturstätte im historisierenden Stil der Wiener Ringstrasse befand sich im Winter 1919/20 eine Grossküche für die «Kinderausspeisung», die von der amerikanischen Ernährungshilfe (American Relief Administration – ARA) betrieben wurde.
150 000 warme Mahlzeiten täglich
In jenem Winter war es bitterkalt, die Temperaturen verblieben fast permanent unter dem Gefrierpunkt. Zahlreiche Haushalte konnten bestenfalls einen einzigen Raum beheizen, und so erschien wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag als eine Überlebensfrage. Alle Kinder unter 15 Jahren konnten das Angebot unentgeltlich nutzen. Auf dem Speiseplan standen vor allem Milch und Kohlenhydrate. Ein Wochenplan vom Dezember 1919 sah unter anderem Milchreis und Semmelknödel vor. Fleisch kam selten auf den Teller, obwohl die USA fast vierzig Tonnen Schweinefleisch allein nach Österreich lieferten, wo die Stadt Wien mehr als die Hälfte der Nahrungshilfe erhielt und je rund 15 Prozent an die drei grossen Bundesländer im Osten des Landes gingen. Dagegen konnte sich der Westen Österreichs grösstenteils selbst ernähren oder wurde von der Schweiz unterstützt.
Die logistische und ernährungswissenschaftliche Grundlage für den Menuplan lieferte der Wiener Kinderarzt Clemens Pirquet. Die meisten Kinder befanden sich in einem bedenklichen Zustand und galten nach seiner vierstufigen Skala als unterernährt. Die Aktion der Amerikaner lief im Mai 1919 an und sollte ursprünglich nur drei Monate bis zur Ernte dauern. Schon im Juni gab die Küche in der Wiener Innenstadt 500 Essensportionen täglich aus. Bald ernährten die 23 an allen Ecken der Zweimillionenstadt errichteten amerikanischen Grossküchen jedoch eine vielfache Menge an Kindern. 150 000 warme Mahlzeiten wurden schliesslich jeden Tag bereitgestellt, wobei der Nährwert auf die Patienten abgestimmt werden musste.
Dass dies tagtäglich funktionierte, ist das Verdienst einer Organisation, die heute in Vergessenheit zu geraten droht. Die vom späteren Präsidenten Herbert Hoover geleitete American Relief Administration hatte nicht nur für die ehemalige Metropole des Habsburgerreichs, sondern für ganz Europa die Mammutaufgabe der Ernährung Bedürftiger übernommen. Ein Jahrzehnt nach seiner Präsidentschaft, die nur eine Wahlperiode (1929–1933) währte, gab Hoover in einer Publikation mit dem Titel «We will have to feed the world again» Rechenschaft über die Aktionen der ARA und präsentierte die Schlüsse, die aus dem Ersten für den damals noch tobenden Zweiten Weltkrieg gezogen werden könnten.
Hoover kann als Mastermind der amerikanischen Ernährungshilfe in Europa bezeichnet werden, der in grossen Dimensionen dachte und eine philanthropische Einstellung ohne Ressentiments aufwies. Er hatte unter Präsident Woodrow Wilson nach dem Kriegseintritt der USA 1917 drei wichtige Ämter inne: Zunächst sollte er die Ernährung der nach der deutschen Besetzung schwer leidenden belgischen Bevölkerung sicherstellen, sodann die Verpflegung der amerikanischen Truppen in Europa organisieren und schliesslich für nicht weniger als 375 Millionen Menschen in 28 Nationen Europas amerikanische Nahrung bereitstellen. Obwohl die ARA auf Kredit arbeitete und somit die Lebensmittel und Speisen an die betroffenen Länder verkaufte, handelte es sich um eine humanitäre Grosstat, welche ein Massensterben der durch den Krieg und die Spanische Grippe geschwächten Bevölkerung verhindern konnte. Sowohl die Hygiene- als auch die Ernährungsstandards der amerikanischen Küchen übertrafen die Infrastruktur in den Gastländern beträchtlich.
Grossküchen in den Schlössern der Habsburger
Die in Wien verbliebenen Kinder, die keine Möglichkeit hatten, zu Verwandten aufs Land zu ziehen oder an einem Ferienaufenthalt teilzunehmen, befanden sich nach einer mageren Ernte 1919 in Gefahr, zu verhungern. In den Arbeiterbezirken, aber auch in den Flüchtlingsheimen erwies sich die Lage als dermassen prekär, dass der Kinderarzt Pirquet bei 93 Prozent der von ihm untersuchten Kinder Mangelerscheinungen und eine «starke Blässe» sowie Unterernährung diagnostizierte.
Die in Paris ansässige ARA hatte in allen betroffenen europäischen Ländern Aussenstellen, welche von Hoover gemeinsam mit dem späteren Senator Robert Taft koordiniert wurden. Die Lage in Wien erwies sich als so desaströs, dass die Amerikaner kurzerhand auch die Habsburgerschlösser in Schönbrunn und im Augarten in Grossküchen umwandelten. In beiden ehemals kaiserlichen Gärten müssen sich in der warmen Jahreszeit pittoreske Szenen abgespielt haben, weil unter Pirquets Leitung die Kinder zum Dank an die Spender Reigentänze veranstalteten.
Pirquet hatte eine eigene Formel entwickelt, mit welcher er den Status der Mangelernährung und den Kalorienbedarf berechnen konnte. Der damaligen Zeit entsprechend, ging es vor allem um Äquivalente für den Nährwert von Milch, wofür Pirquets NEM-Formel (Nahrungs-Einheit-Milch) stand. In Serbien oder der Tschechoslowakei konnten die Amerikaner zwar auf Ärzte zählen, die in Wien ausgebildet worden waren, fanden aber keine der von Pirquet geleiteten Kinderklinik vergleichbare Universitätseinrichtung zur logistischen Abwicklung der Ernährungshilfe vor.
Abgeschnitten von den Kornkammern der Monarchie
Die Massnahmen der Amerikaner, welche Tausende von Tonnen Fleisch, Fette und Kondensmilch nach Mitteleuropa transportierten und sich Gemüse aus dem regionalen Angebot verschafften, retteten der um 1910 geborenen Generation im Osten Österreichs das Leben. Abgeschnitten von den Kornkammern der einstigen Agrarregionen in der Monarchie, konnte die ehemalige Reichshauptstadt, die von Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina überging, nicht auf die Unterstützung der westlichen Nachbarn zurückgreifen, die selbst Not hatten, ihre Bevölkerung und einige Besatzungstruppen zu ernähren. Bis zum Staatsvertrag von Saint-Germain blieb auch die englische Blockade aufrecht, womit sich ein Hungerwinter 1919/20 abzeichnete, in dem es zudem kaum Heizmittel gab. Während das Defizit an Brennstoffen durch Kohleschmuggler und Wärmestuben mehr schlecht als recht behoben wurde, wäre ohne die amerikanische Kinderhilfsaktion der ARA die Ernährung in Wien zusammengebrochen.
Pirquets zu wissenschaftlichen Publikationen verdichtete Erkenntnisse über die amerikanische Ernährungshilfe bildeten auch noch Jahrzehnte später die Basis für eine medizinisch fundierte und logistisch ausgereifte Massenernährung. Der Republikaner Hoover, der heute wegen seiner Zollpolitik als protektionistisches Vorbild für Donald Trump hingestellt wird, leistete als Kopf einer 9000 Mitarbeiter umfassenden Organisation humanitäre Arbeit, die ihn als Wohltäter für Kinder in ganz Europa ausweist – gleichgültig, auf welcher Seite der Front ihre Väter gekämpft hatten.
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Gerhard Strejcek
Wie die Zersiedelung gebremst werden kann
Der Standard, 2.12.2019
Die Raumplanung liegt in Österreichs Gemeinden oft im Argen, was der Umwelt und dem Klima schadet. Die nächste Bundesregierung ist hier gefordert
Wo immer man in Österreich hinblickt, merkt man die Folgen der Zersiedelung. Täglich wälzt sich eine Kolonne von Autofahrern aus ihren Einfamilienhäusern im Speckgürtel Richtung Stadtzentren. In den schönsten Bergregionen wie dem Salzburger Pinzgau werden riesige Chaletsiedlungen errichtet.
Fernab städtischer und dörflicher Zentren entstehen Streusiedlungen ohne Infrastruktur, aber mit massiver Bodenversiegelung. Das Thema Raumordnung ist zwar weitgehend Landessache, muss aber auch in die Klimapolitik des Bundes einfließen.
Zwar gibt es auf dem Papier rechtliche Kontrollmechanismen, aber sie funktionieren schlecht. Projekte findiger Immobilienentwickler werden von den Gemeinderäten durch Widmungsänderungen abgesegnet, den zur Aufsicht berufenen Ämtern der Landesregierung fehlt es oft an notwendigen Informationen, um mehr als eine grobe Prüfung anhand der gesetzlichen Vorgaben durchzuführen.
Durch beschleunigte Genehmigungsverfahren werden betroffene Anrainer auch baurechtlich überfahren. Sobald die Aufschließungsabgaben an die Gemeinden bezahlt sind, fahren die Bagger auf. Für den Preis einer Straßensanierung durch private Projektwerber verkaufen manche Bürgermeister die Zukunft ihrer Gemeinde.
Vorgaben einhalten
Diese Vorgangsweise ist gesetzwidrig. Die Gemeinderäte müssten vor einer Umwidmung eine Reihe von Verfahrensschritten einhalten: Pläne und Planänderungen müssen kundgemacht, Einsichts- und Auflagefristen eingehalten, Stellungnahmen abgewartet und behandelt werden, bevor die kommunalen Behörden einen Beschluss fassen.
Um das auch durchzusetzen, sind die Länder gefordert. Sie müssten nicht nur gesetzlich die Planungsziele grob und das Verfahren genau festlegen – was in den neun Raumordnungsgesetzen bundesländerspezifisch geregelt ist –, sondern auch die regionale Gestaltung des Raums durch Verordnungen vorgeben.
Denen müssen die Flächenwidmungs- und Bebauungspläne inhaltlich entsprechen. Vorgaben wie der Erhalt von Ortskernen, Verdichtung der Bauten – eventuell durch Bauklassen, die eine größere Geschoßanzahl im verbauten Gebiet erlauben – und das Verbot großflächiger Grünlandumwidmungen müssen auch faktisch umgesetzt werden. Derzeit ignorieren Gemeinden solche Vorgaben oft aus finanziellen Gründen.
Zu viele gefällte Bäume
Oftmals entstehen die Umweltsünden als Begleiterscheinung von Bauprojekten. So werden unnötigerweise zu viele Bäume gefällt. Größeren Rodungen steht zwar das Forstgesetz entgegen, manche Länder haben auch Baumschutzgesetze. Doch auch hier liegen Welten zwischen der Rechtslage und der Praxis einzelner Bundesländer.
Während in Wien der Magistrat zäh um jeden Baum kämpft, wird einige Kilometer weiter in Niederösterreich mangels Baumschutzgesetz oftmals eine ganze Schwarzkieferninsel für das Einfamilienprojekt eines Bauwerbers abgeholzt. Wer dieser Praxis tatenlos zusieht, macht sich mitschuldig am Entstehen von Hitzeinseln und dem CO2-Anstieg auch am Land.
Die Hauptlast für die rechtliche Überprüfung und Korrektur trägt derzeit der Verfassungsgerichtshof. Flächenwidmungs- und Bebauungspläne beruhen auf Verordnungen, Verwaltungsgerichte spielen erst in der späten Phase der Baugenehmigung eine Rolle. Versagt die Aufsichtsbehörde, kann die Verordnung nur beim VfGH angefochten werden.
Das Höchstgericht prüft die Verfahrensschritte zur Planerlassung und die inhaltliche Konvergenz mit übergeordneten Planungszielen nach. In einigen Fällen wurden Pläne der Gemeinden vom VfGH als gesetzwidrig aufgehoben – wegen mangelnder Grundlagenforschung, einer nicht stringenten Begründung von Änderungen oder der unterlassenen Abwägung von Anrainer- und Umweltinteressen. Dies traf etwa 2015 die oberösterreichische Gemeinde Waldneukirchen (VfSlg 19.980/2015).
Was der Bund tun kann
Doch solche Ex-post-Ahndunden kommen meist zu spät, um die Bodenversiegelung zu stoppen. Die künftige Bundesregierung sollte daher Wege finden, wie sie Länder und Gemeinden in die Pflicht nehmen kann. Der Bund selbst kann aus verfassungsrechtlichen Gründen nur jene Bereiche planerisch erfassen, die in seine Zuständigkeit fallen, also hochrangige Straßen, Eisenbahnen, Kraftwerke an großen Wasserwegen, Flughäfen oder militärische Einrichtungen.
Hingegen pochen die Gemeinden darauf, dass sie nach Art 118 B-VG das Recht haben, die örtliche Raumplanung vorzunehmen, die dann via Flächenwidmung und Bebauungsplänen zur Widmung jeder einzelnen Parzelle führt.
Aber gerade eine türkis-grüne Bundesregierung könnte, wenn sie zustande kommt, mit einer entschlossenen neue Raumplanungspolitik viele Sünden vermeiden. Diese entstehen nicht nur durch Großprojekte, sondern auch durch verfehlte Planung, Nachlässigkeit und eine Vielzahl an Gefälligkeiten zugunsten einflussreicher Bauwerber.
Solche Absprachen werden oftmals erst durch externes Eingreifen, etwa der Unesco, wirksam durchbrochen. Daher müsste die Kontrolle im Vorfeld erweitert werden, sollten bei größeren Projekten frühzeitig die Rechnungshöfe einschreiten und Raumplanungsexperten beigezogen werden. Damit könnte man zahlreiche Konflikte versachlichen und die so schädliche Zersiedelung bremsen.
Wo immer man in Österreich hinblickt, merkt man die Folgen der Zersiedelung. Täglich wälzt sich eine Kolonne von Autofahrern aus ihren Einfamilienhäusern im Speckgürtel Richtung Stadtzentren. In den schönsten Bergregionen wie dem Salzburger Pinzgau werden riesige Chaletsiedlungen errichtet.
Fernab städtischer und dörflicher Zentren entstehen Streusiedlungen ohne Infrastruktur, aber mit massiver Bodenversiegelung. Das Thema Raumordnung ist zwar weitgehend Landessache, muss aber auch in die Klimapolitik des Bundes einfließen.
Zwar gibt es auf dem Papier rechtliche Kontrollmechanismen, aber sie funktionieren schlecht. Projekte findiger Immobilienentwickler werden von den Gemeinderäten durch Widmungsänderungen abgesegnet, den zur Aufsicht berufenen Ämtern der Landesregierung fehlt es oft an notwendigen Informationen, um mehr als eine grobe Prüfung anhand der gesetzlichen Vorgaben durchzuführen.
Durch beschleunigte Genehmigungsverfahren werden betroffene Anrainer auch baurechtlich überfahren. Sobald die Aufschließungsabgaben an die Gemeinden bezahlt sind, fahren die Bagger auf. Für den Preis einer Straßensanierung durch private Projektwerber verkaufen manche Bürgermeister die Zukunft ihrer Gemeinde.
Vorgaben einhalten
Diese Vorgangsweise ist gesetzwidrig. Die Gemeinderäte müssten vor einer Umwidmung eine Reihe von Verfahrensschritten einhalten: Pläne und Planänderungen müssen kundgemacht, Einsichts- und Auflagefristen eingehalten, Stellungnahmen abgewartet und behandelt werden, bevor die kommunalen Behörden einen Beschluss fassen.
Um das auch durchzusetzen, sind die Länder gefordert. Sie müssten nicht nur gesetzlich die Planungsziele grob und das Verfahren genau festlegen – was in den neun Raumordnungsgesetzen bundesländerspezifisch geregelt ist –, sondern auch die regionale Gestaltung des Raums durch Verordnungen vorgeben.
Denen müssen die Flächenwidmungs- und Bebauungspläne inhaltlich entsprechen. Vorgaben wie der Erhalt von Ortskernen, Verdichtung der Bauten – eventuell durch Bauklassen, die eine größere Geschoßanzahl im verbauten Gebiet erlauben – und das Verbot großflächiger Grünlandumwidmungen müssen auch faktisch umgesetzt werden. Derzeit ignorieren Gemeinden solche Vorgaben oft aus finanziellen Gründen.
Zu viele gefällte Bäume
Oftmals entstehen die Umweltsünden als Begleiterscheinung von Bauprojekten. So werden unnötigerweise zu viele Bäume gefällt. Größeren Rodungen steht zwar das Forstgesetz entgegen, manche Länder haben auch Baumschutzgesetze. Doch auch hier liegen Welten zwischen der Rechtslage und der Praxis einzelner Bundesländer.
Während in Wien der Magistrat zäh um jeden Baum kämpft, wird einige Kilometer weiter in Niederösterreich mangels Baumschutzgesetz oftmals eine ganze Schwarzkieferninsel für das Einfamilienprojekt eines Bauwerbers abgeholzt. Wer dieser Praxis tatenlos zusieht, macht sich mitschuldig am Entstehen von Hitzeinseln und dem CO2-Anstieg auch am Land.
Die Hauptlast für die rechtliche Überprüfung und Korrektur trägt derzeit der Verfassungsgerichtshof. Flächenwidmungs- und Bebauungspläne beruhen auf Verordnungen, Verwaltungsgerichte spielen erst in der späten Phase der Baugenehmigung eine Rolle. Versagt die Aufsichtsbehörde, kann die Verordnung nur beim VfGH angefochten werden.
Das Höchstgericht prüft die Verfahrensschritte zur Planerlassung und die inhaltliche Konvergenz mit übergeordneten Planungszielen nach. In einigen Fällen wurden Pläne der Gemeinden vom VfGH als gesetzwidrig aufgehoben – wegen mangelnder Grundlagenforschung, einer nicht stringenten Begründung von Änderungen oder der unterlassenen Abwägung von Anrainer- und Umweltinteressen. Dies traf etwa 2015 die oberösterreichische Gemeinde Waldneukirchen (VfSlg 19.980/2015).
Was der Bund tun kann
Doch solche Ex-post-Ahndunden kommen meist zu spät, um die Bodenversiegelung zu stoppen. Die künftige Bundesregierung sollte daher Wege finden, wie sie Länder und Gemeinden in die Pflicht nehmen kann. Der Bund selbst kann aus verfassungsrechtlichen Gründen nur jene Bereiche planerisch erfassen, die in seine Zuständigkeit fallen, also hochrangige Straßen, Eisenbahnen, Kraftwerke an großen Wasserwegen, Flughäfen oder militärische Einrichtungen.
Hingegen pochen die Gemeinden darauf, dass sie nach Art 118 B-VG das Recht haben, die örtliche Raumplanung vorzunehmen, die dann via Flächenwidmung und Bebauungsplänen zur Widmung jeder einzelnen Parzelle führt.
Aber gerade eine türkis-grüne Bundesregierung könnte, wenn sie zustande kommt, mit einer entschlossenen neue Raumplanungspolitik viele Sünden vermeiden. Diese entstehen nicht nur durch Großprojekte, sondern auch durch verfehlte Planung, Nachlässigkeit und eine Vielzahl an Gefälligkeiten zugunsten einflussreicher Bauwerber.
Solche Absprachen werden oftmals erst durch externes Eingreifen, etwa der Unesco, wirksam durchbrochen. Daher müsste die Kontrolle im Vorfeld erweitert werden, sollten bei größeren Projekten frühzeitig die Rechnungshöfe einschreiten und Raumplanungsexperten beigezogen werden. Damit könnte man zahlreiche Konflikte versachlichen und die so schädliche Zersiedelung bremsen.
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Gerhard Strejcek
Die vergessenen Soldaten Österreich-Ungarns
Wiener Zeitung, 17.11.2019
Heimito von Doderer und viele andere Kriegsgefangene der k.u.k. Armee saßen 1919/20 in Russland fest.
Wir schreiben November 1919, in dem sich bereits ein strenger Winter ankündigt. Viele Zivilisten und ehemalige Soldaten werden, bedingt durch Hunger, Gewalt und Infektionen, ihr Leben lassen müssen. In Zentraleuropa herrscht nach den Friedensverträgen der Pariser Vororte ein fragiler Frieden. Aber noch befinden sich tausende Soldaten der ehemaligen Mittelmächte fern der Heimat in sibirischen Lagern in Orten wie Krasnojarsk oder Nowosibirsk (damals: Nowonikolajewsk).
Manche von ihnen versuchen, sich auf abenteuerlichen Wegen in Richtung Westen durchzuschlagen, und geraten in die Fänge des russischen Bürgerkriegs. Die Angehörigen und Frauen vermissen ihre Verwandten und Partner. Die österreichische Regierung des Staatskanzlers Renner in Wien kann den in Sibirien festsitzenden Kriegsgefangenen kaum helfen. Diese sind auf Besuche von skandinavischen Delegierten, wie etwa dem für Dänemark tätigen Xaver Schaffgotsch und guten Geistern wie Elsa Brandström, angewiesen.
Alliierte Interessen
Die österreichische Regierung hingegen kämpft selbst mit elementaren Problemen wie dem Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoff. Immer noch schwelen Konflikte auf Kärntner Boden und im späteren Burgenland. Im Lichte dieser Kulisse geraten die ehemaligen k.u.k. Soldaten im fernen Osten in Vergessenheit.
Nicht alle Kriegsgefangenen waren damals in Lagern interniert, in Sibirien und Transbaikalien kämpften zur Jahreswende 1919/20 auch österreichische und deutsche Soldaten an unklaren Fronten und für fragwürdige Ziele. Viele von ihnen hatten zunächst mehrere Jahre in zaristischen Lagern zugebracht, wo zwar Flecktyphus und Ruhr grassierten, aber der kriegsrechtliche Status eindeutig war. Als sich das Ende der Kampfhandlungen an den Weltkriegsfronten näherte, gab es Hoffnung auf mehr Freizügigkeit, die Internierten durften die Lager zu Ausgängen und Arbeiten verlassen.
Doch als der Bürgerkrieg zwischen Rot und Weiß tobte, gerieten die "Plennys" (russisch für Kriegsgefangene) in Gefahr. Die lokalen Kommandeure missachteten das Völkerrecht, es kam zu Zwangsrekrutierungen und einer weiteren Verschlechterung der Versorgung. Wer im Lager verblieb oder weiter nach Osten getrieben wurde, stand nun unter der Aufsicht von Deportationstruppen oder Legionären.
Schon vor der Revolution hatten russische Kommandeure das militärische Potenzial entdeckt, das in Überläufern und in jenen Gefangenen steckte, die sie wegen der Namen für Slawen hielten. Diese galt es, freiwillig oder (häufiger) mit Gewalt dazu zu bringen, wieder an die Front zurückzukehren und gegen die einstigen Kameraden zu kämpfen.
Als Vorbild diente die Tschechische Legion, die bald 80.000 Soldaten und Offiziere umfasste und zunächst Seite an Seite mit den russischen "Brüdern" kämpfte; das änderte sich schlagartig, als die Revolution 1917 ausbrach und die neuen bolschewistisch-kommunistischen Machthaber im Frühjahr 1918 einen Waffenstillstand und später Frieden mit den Mittelmächten schlossen, um ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen. Die Tschechische Legion hätte gerne ihre militärischen Erfolge im Westen Russlands fortgesetzt und weiter gekämpft, um dann siegreich in einen eigenen Staat heimzukehren, der im November 1918 Wirklichkeit wurde.
Doch als der Krieg im Osten mit den später revidierten Abmachungen von Brest-Litowsk endete, sollte die Legion entwaffnet werden, wogegen sie sich heftig wehrte; so entstand in den Köpfen der Kommandeure, darunter der berüchtigte General Gajda, die von der Entente unterstützte Idee, statt unbewaffnet in die CSR zu ziehen, die Waffen zu behalten und Richtung Osten bis Wladiwostok oder in den Norden nach Archangelsk zu marschieren oder per Bahn zu fahren, um sich den Expeditionstruppen der Engländer, Franzosen, Amerikaner oder Japaner anzuschließen.
Die Alliierten hatten unterschiedliche Interessen und waren sich nur in der Strategie einig, möglichst nicht in den bewaffneten Konflikt hineingezogen zu werden. Frankreich, das durch den Sieg an der Westfront wieder erstarkt war, entsandte General Janin mit Interventionstruppen nach Russland. Amerikaner standen in Wladiwostok und am Eismeer (Archangelsk) bereit, wo auch britische Schiffe landeten.
Den Japanern ging es im Osten des riesigen, ehemaligen Zarenreiches um Bodenschätze und strategische Investitionen. Dass sich japanische Topografen und das Militär ungehindert in Transbaikalien bewegen konnten, nutzten die kriegserfahrenen Asiaten, die im Ersten Weltkrieg auf Seite der Alliierten kämpften, zur Einflussnahme in dieser Region.
Geschildertes Grauen
Offiziell standen sie hinter dem "weißen" General Semjonow und dem dubiosen deutschstämmigen Adeligen Ungern-Sternberg, doch hinter den Kulissen hielten sie den Konflikt am Kochen und motivierten die Bevölkerung, sich gegen die "weiße Tscheka" (Geheimpolizei) aufzulehnen. Die Briten erhofften sich wirtschaftliche Vorteile und Konzessionen für den Abbau in der an Bodenschätzen reichen Region.
Offiziell förderten sie die Demokratisierung und einen neuerlichen Umsturz zugunsten einer dem Westen geneigten Regierung, wie dies Alexander Fjodorowitsch Kerenski oder ein sich in der Stadt Ufa bildendes Komitee versprachen, die sich aber allesamt nicht durchsetzen konnten. Der antibolschewistische Admiral Koltschak riss die Macht in Sibirien an sich und setzte das Komitee kurzerhand ab. Er hielt sich als "starker Mann" bis Anfang 1920 an der Macht, ehe er von seinen Verbündeten verraten und im Februar 1920 in Irkutsk von Rotarmisten hingerichtet wurde.
Der später NS-affine Autor Edwin Erich Dwinger, der selbst für die "Weißen" kämpfte, schilderte, wie der von seinen Anhängern verehrte Koltschak selbst den Schussbefehl erteilte. In seinem Roman "Zwischen Weiß und Rot" gab Dwinger aber eine Schilderung der humanitären Lage ab, die das Grauen des Bürgerkriegs ermessen lässt.
Auf den Schienen verkehrten Panzerzüge, die Massaker anrichteten, aber keine Gefangenen heimbrachten. Um ihren Rückzug zu sichern, besetzten die tschechischen Truppen die strategisch wichtigen Bahnhöfe der Transsibirischen Eisenbahn. Diese Aktion wurde den nach Freilassung oder Flucht zurückreisenden Österreichern und Deutschen zum Verhängnis, da sie zwar Zentralrussland erreichten, dann aber von Tschechen und sich formierenden "weißen" Truppenteilen an der Weiterreise gehindert wurden.
Wer noch in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager saß, wie der Autor Heimito von Doderer, versuchte entweder Arbeit vor Ort zu finden oder sich auf eigene Faust Richtung Westen durchzuschlagen. Aus jener Zeit stammen Doderers Berichte vom Holzfällen in Sibirien, das ihm die Rekrutierung ersparte. Die körperliche Hauptarbeit leistete zwar, folgt man Biograf Wolfgang Fleischer, ein türkischer Kamerad mit Urkräften und ausgefeilter Technik. Dennoch konnte sich der angehende Autor, ein Ex-Dragoner-Fähnrich, bei der Arbeit bewähren.
Die Strategie der ausgemergelten und heimkehrwilligen, ehemaligen k.u.k. Soldaten und deren Offiziere, sich nach dem Westen durchzuschlagen, scheiterte. War es zunächst die Sorge, wieder an eine (andere) Weltkriegsfront zurückkehren zu müssen, so standen nun die Tschechische Legion und "weiße" Armeen an den meisten Fluchtpunkten einer Rückkehr im Weg. Die mongolische oder chinesische Route barg große Gefahren, ansonsten gab es kein Weiterkommen.
Im Norden operierte General Miller, in Transbaikalien der grausame Ataman Semjonow. In Omsk regierte Admiral Koltschak, auf der Krim formierten sich Donkosaken unter Denikin, General Judenitsch drängte Richtung Petersburg und Moskau. Die Niederlage der Bolschewiken und ihrer "roten" Armee schien nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Die Alliierten verkauften Waffen, darunter neue Tanks (Panzer), mischten sich aber sonst kaum in den Bürgerkrieg ein.
Ehemalige zaristische Kavallerie und Kosaken schüchterten die roten Truppen durch spontane Angriffe ein. Und zwischen den Fronten saßen die Kriegsgefangenen, die nun immer stärker den Wunsch verspürten, nach Jahren endlich wieder ihre Angehörigen und die Heimat zu sehen.
Sie litten an Krankheiten, zudem drohte verschärfte Lagerhaft in der "Katorga", wie der spätere Gulag damals hieß. Wer den brutalen Aufsehern Widerstand entgegensetzte, wurde deportiert oder erschlagen. In den sibirischen Lagern kamen die Gefangenen mit den Einheimischen besser zurecht als mit den zunehmend Bewachungsaufgaben übernehmenden tschechischen Legionären, die vor allem ihre ehemaligen Vorgesetzten drangsalierten und demütigten.
Heimkehr via Baltikum
Die Rote Armee siegte letztlich gegen die uneinigen und grausamen "weißen" Truppen. Diese hatten sich selbst diskreditiert. Bald wollte auch die Landbevölkerung nichts mehr von Abenteurern, einer zaristischen Restauration und dem Bürgerkrieg wissen und nahm das vermeintlich kleinere Übel der Bolschewisierung hin.
Die vergessenen Österreicher profitierten von der neuen Lage. Allmählich konnten die Kriegsgefangenen im Frühjahr und Sommer 1920 via Baltikum heimkehren. Wie die sibirischen Tagebücher Heimito von Doderers zeigen, schweißte die Lagerhaft zusammen, aber sie war auch Nährboden für seine Radikalisierung und Affinität zu den Rechten. Denn viele der Spätheimkehrer, wie auch der bald 25-jährige Veteran, fanden sich in der Heimat schwer zurecht.
Die Republik durfte nur mehr ein kleines Berufsheer unterhalten, das Soldatenleben war zu Ende. Es blieben nur Erinnerungen und Reminiszenzen: Der Autor, der in einer zerlumpten englischen Uniform in Wien-Landstraße ankam, wo ihn das Hausmädchen kaum wiedererkannte, traf seine "Sibiriaken" bis zu seinem Tod 1966 wieder, sofern sie im Westen wohnten. Diejenigen, welche das Schicksal traf, hinter dem Eisernen Vorhang zu leben, konnten nur selten oder gar nicht an Veteranentreffen teilnehmen.
Literatur:
Wolfgang Fleischer: Heimito von Doderer
Das verleugnete Leben
Kremayr & Scheriau, 1996
Heimito von Doderer: Die sibirische Klarheit
Texte aus der Gefangenschaft
Biederstein, 1991
Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution
Russland und das 20. Jahrhundert
Hanser, 2015
Edwin Erich Dwinger: Zwischen Weiß und Rot
Die russische Tragödie.
Leopold Stocker, 2001
(Der Roman ist authentisch und spannend, stammt aber aus der Feder eines späteren NS-Apologeten.)
Wir schreiben November 1919, in dem sich bereits ein strenger Winter ankündigt. Viele Zivilisten und ehemalige Soldaten werden, bedingt durch Hunger, Gewalt und Infektionen, ihr Leben lassen müssen. In Zentraleuropa herrscht nach den Friedensverträgen der Pariser Vororte ein fragiler Frieden. Aber noch befinden sich tausende Soldaten der ehemaligen Mittelmächte fern der Heimat in sibirischen Lagern in Orten wie Krasnojarsk oder Nowosibirsk (damals: Nowonikolajewsk).
Manche von ihnen versuchen, sich auf abenteuerlichen Wegen in Richtung Westen durchzuschlagen, und geraten in die Fänge des russischen Bürgerkriegs. Die Angehörigen und Frauen vermissen ihre Verwandten und Partner. Die österreichische Regierung des Staatskanzlers Renner in Wien kann den in Sibirien festsitzenden Kriegsgefangenen kaum helfen. Diese sind auf Besuche von skandinavischen Delegierten, wie etwa dem für Dänemark tätigen Xaver Schaffgotsch und guten Geistern wie Elsa Brandström, angewiesen.
Alliierte Interessen
Die österreichische Regierung hingegen kämpft selbst mit elementaren Problemen wie dem Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoff. Immer noch schwelen Konflikte auf Kärntner Boden und im späteren Burgenland. Im Lichte dieser Kulisse geraten die ehemaligen k.u.k. Soldaten im fernen Osten in Vergessenheit.
Nicht alle Kriegsgefangenen waren damals in Lagern interniert, in Sibirien und Transbaikalien kämpften zur Jahreswende 1919/20 auch österreichische und deutsche Soldaten an unklaren Fronten und für fragwürdige Ziele. Viele von ihnen hatten zunächst mehrere Jahre in zaristischen Lagern zugebracht, wo zwar Flecktyphus und Ruhr grassierten, aber der kriegsrechtliche Status eindeutig war. Als sich das Ende der Kampfhandlungen an den Weltkriegsfronten näherte, gab es Hoffnung auf mehr Freizügigkeit, die Internierten durften die Lager zu Ausgängen und Arbeiten verlassen.
Doch als der Bürgerkrieg zwischen Rot und Weiß tobte, gerieten die "Plennys" (russisch für Kriegsgefangene) in Gefahr. Die lokalen Kommandeure missachteten das Völkerrecht, es kam zu Zwangsrekrutierungen und einer weiteren Verschlechterung der Versorgung. Wer im Lager verblieb oder weiter nach Osten getrieben wurde, stand nun unter der Aufsicht von Deportationstruppen oder Legionären.
Schon vor der Revolution hatten russische Kommandeure das militärische Potenzial entdeckt, das in Überläufern und in jenen Gefangenen steckte, die sie wegen der Namen für Slawen hielten. Diese galt es, freiwillig oder (häufiger) mit Gewalt dazu zu bringen, wieder an die Front zurückzukehren und gegen die einstigen Kameraden zu kämpfen.
Als Vorbild diente die Tschechische Legion, die bald 80.000 Soldaten und Offiziere umfasste und zunächst Seite an Seite mit den russischen "Brüdern" kämpfte; das änderte sich schlagartig, als die Revolution 1917 ausbrach und die neuen bolschewistisch-kommunistischen Machthaber im Frühjahr 1918 einen Waffenstillstand und später Frieden mit den Mittelmächten schlossen, um ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen. Die Tschechische Legion hätte gerne ihre militärischen Erfolge im Westen Russlands fortgesetzt und weiter gekämpft, um dann siegreich in einen eigenen Staat heimzukehren, der im November 1918 Wirklichkeit wurde.
Doch als der Krieg im Osten mit den später revidierten Abmachungen von Brest-Litowsk endete, sollte die Legion entwaffnet werden, wogegen sie sich heftig wehrte; so entstand in den Köpfen der Kommandeure, darunter der berüchtigte General Gajda, die von der Entente unterstützte Idee, statt unbewaffnet in die CSR zu ziehen, die Waffen zu behalten und Richtung Osten bis Wladiwostok oder in den Norden nach Archangelsk zu marschieren oder per Bahn zu fahren, um sich den Expeditionstruppen der Engländer, Franzosen, Amerikaner oder Japaner anzuschließen.
Die Alliierten hatten unterschiedliche Interessen und waren sich nur in der Strategie einig, möglichst nicht in den bewaffneten Konflikt hineingezogen zu werden. Frankreich, das durch den Sieg an der Westfront wieder erstarkt war, entsandte General Janin mit Interventionstruppen nach Russland. Amerikaner standen in Wladiwostok und am Eismeer (Archangelsk) bereit, wo auch britische Schiffe landeten.
Den Japanern ging es im Osten des riesigen, ehemaligen Zarenreiches um Bodenschätze und strategische Investitionen. Dass sich japanische Topografen und das Militär ungehindert in Transbaikalien bewegen konnten, nutzten die kriegserfahrenen Asiaten, die im Ersten Weltkrieg auf Seite der Alliierten kämpften, zur Einflussnahme in dieser Region.
Geschildertes Grauen
Offiziell standen sie hinter dem "weißen" General Semjonow und dem dubiosen deutschstämmigen Adeligen Ungern-Sternberg, doch hinter den Kulissen hielten sie den Konflikt am Kochen und motivierten die Bevölkerung, sich gegen die "weiße Tscheka" (Geheimpolizei) aufzulehnen. Die Briten erhofften sich wirtschaftliche Vorteile und Konzessionen für den Abbau in der an Bodenschätzen reichen Region.
Offiziell förderten sie die Demokratisierung und einen neuerlichen Umsturz zugunsten einer dem Westen geneigten Regierung, wie dies Alexander Fjodorowitsch Kerenski oder ein sich in der Stadt Ufa bildendes Komitee versprachen, die sich aber allesamt nicht durchsetzen konnten. Der antibolschewistische Admiral Koltschak riss die Macht in Sibirien an sich und setzte das Komitee kurzerhand ab. Er hielt sich als "starker Mann" bis Anfang 1920 an der Macht, ehe er von seinen Verbündeten verraten und im Februar 1920 in Irkutsk von Rotarmisten hingerichtet wurde.
Der später NS-affine Autor Edwin Erich Dwinger, der selbst für die "Weißen" kämpfte, schilderte, wie der von seinen Anhängern verehrte Koltschak selbst den Schussbefehl erteilte. In seinem Roman "Zwischen Weiß und Rot" gab Dwinger aber eine Schilderung der humanitären Lage ab, die das Grauen des Bürgerkriegs ermessen lässt.
Auf den Schienen verkehrten Panzerzüge, die Massaker anrichteten, aber keine Gefangenen heimbrachten. Um ihren Rückzug zu sichern, besetzten die tschechischen Truppen die strategisch wichtigen Bahnhöfe der Transsibirischen Eisenbahn. Diese Aktion wurde den nach Freilassung oder Flucht zurückreisenden Österreichern und Deutschen zum Verhängnis, da sie zwar Zentralrussland erreichten, dann aber von Tschechen und sich formierenden "weißen" Truppenteilen an der Weiterreise gehindert wurden.
Wer noch in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager saß, wie der Autor Heimito von Doderer, versuchte entweder Arbeit vor Ort zu finden oder sich auf eigene Faust Richtung Westen durchzuschlagen. Aus jener Zeit stammen Doderers Berichte vom Holzfällen in Sibirien, das ihm die Rekrutierung ersparte. Die körperliche Hauptarbeit leistete zwar, folgt man Biograf Wolfgang Fleischer, ein türkischer Kamerad mit Urkräften und ausgefeilter Technik. Dennoch konnte sich der angehende Autor, ein Ex-Dragoner-Fähnrich, bei der Arbeit bewähren.
Die Strategie der ausgemergelten und heimkehrwilligen, ehemaligen k.u.k. Soldaten und deren Offiziere, sich nach dem Westen durchzuschlagen, scheiterte. War es zunächst die Sorge, wieder an eine (andere) Weltkriegsfront zurückkehren zu müssen, so standen nun die Tschechische Legion und "weiße" Armeen an den meisten Fluchtpunkten einer Rückkehr im Weg. Die mongolische oder chinesische Route barg große Gefahren, ansonsten gab es kein Weiterkommen.
Im Norden operierte General Miller, in Transbaikalien der grausame Ataman Semjonow. In Omsk regierte Admiral Koltschak, auf der Krim formierten sich Donkosaken unter Denikin, General Judenitsch drängte Richtung Petersburg und Moskau. Die Niederlage der Bolschewiken und ihrer "roten" Armee schien nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Die Alliierten verkauften Waffen, darunter neue Tanks (Panzer), mischten sich aber sonst kaum in den Bürgerkrieg ein.
Ehemalige zaristische Kavallerie und Kosaken schüchterten die roten Truppen durch spontane Angriffe ein. Und zwischen den Fronten saßen die Kriegsgefangenen, die nun immer stärker den Wunsch verspürten, nach Jahren endlich wieder ihre Angehörigen und die Heimat zu sehen.
Sie litten an Krankheiten, zudem drohte verschärfte Lagerhaft in der "Katorga", wie der spätere Gulag damals hieß. Wer den brutalen Aufsehern Widerstand entgegensetzte, wurde deportiert oder erschlagen. In den sibirischen Lagern kamen die Gefangenen mit den Einheimischen besser zurecht als mit den zunehmend Bewachungsaufgaben übernehmenden tschechischen Legionären, die vor allem ihre ehemaligen Vorgesetzten drangsalierten und demütigten.
Heimkehr via Baltikum
Die Rote Armee siegte letztlich gegen die uneinigen und grausamen "weißen" Truppen. Diese hatten sich selbst diskreditiert. Bald wollte auch die Landbevölkerung nichts mehr von Abenteurern, einer zaristischen Restauration und dem Bürgerkrieg wissen und nahm das vermeintlich kleinere Übel der Bolschewisierung hin.
Die vergessenen Österreicher profitierten von der neuen Lage. Allmählich konnten die Kriegsgefangenen im Frühjahr und Sommer 1920 via Baltikum heimkehren. Wie die sibirischen Tagebücher Heimito von Doderers zeigen, schweißte die Lagerhaft zusammen, aber sie war auch Nährboden für seine Radikalisierung und Affinität zu den Rechten. Denn viele der Spätheimkehrer, wie auch der bald 25-jährige Veteran, fanden sich in der Heimat schwer zurecht.
Die Republik durfte nur mehr ein kleines Berufsheer unterhalten, das Soldatenleben war zu Ende. Es blieben nur Erinnerungen und Reminiszenzen: Der Autor, der in einer zerlumpten englischen Uniform in Wien-Landstraße ankam, wo ihn das Hausmädchen kaum wiedererkannte, traf seine "Sibiriaken" bis zu seinem Tod 1966 wieder, sofern sie im Westen wohnten. Diejenigen, welche das Schicksal traf, hinter dem Eisernen Vorhang zu leben, konnten nur selten oder gar nicht an Veteranentreffen teilnehmen.
Literatur:
Wolfgang Fleischer: Heimito von Doderer
Das verleugnete Leben
Kremayr & Scheriau, 1996
Heimito von Doderer: Die sibirische Klarheit
Texte aus der Gefangenschaft
Biederstein, 1991
Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution
Russland und das 20. Jahrhundert
Hanser, 2015
Edwin Erich Dwinger: Zwischen Weiß und Rot
Die russische Tragödie.
Leopold Stocker, 2001
(Der Roman ist authentisch und spannend, stammt aber aus der Feder eines späteren NS-Apologeten.)
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Gerhard Strejcek
Verfassung und "Menschenwürde"
Die Presse, 18.10.2019
Der österreichische Grundrechtskatalog könnte ergänzt werden, aber besser in eine andere (ökologische) Richtung.
Schonungsvoll und kundig hat mein Kollege Hannes Tretter („Die Presse“, 4.10.) die relevanten Rechtsquellen aufgezeigt und die interessante grundrechtspolitische Frage behandelt, warum in Österreichs Verfassung der Schutz der Menschenwürde, anders als im Bonner Grundgesetz, nicht verankert ist. Im Ergebnis schloss er sich dann, wie ich meine ein wenig überraschend, dem flammenden Appell der Kolumnistin Andrea Schurian („Die Presse“ v. 1.10.) an, die „Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde“ nach dem Vorbild ausländischer Konstitutionen auch hierzulande in der Bundesverfassung zu verankern. Tretter meint, dass damit in „Zeiten wie diesen“ ein wichtiges Signal gesetzt werden könnte.
Nun muss man wissen, dass der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seitens der UN-Vollversammlung vom 10.12.1948 sowie im Bonner Grundgesetz im Jahr darauf nachdrücklich formulierte Schutz der Menschenwürde zweifellos eine Reaktion auf die damals nur knapp zurückliegenden Gräuel von Holocaust, Massenmord und Sterben im Zweiten Weltkrieg darstellte. Im Lichte dieser Ereignisse und deren bis heute spürbaren Wucht glaube ich nicht, dass nun wieder Zeiten wie „diese“ angebrochen sind, in denen es actualiter zur totalen Negierung der Menschenrechte und der –würde in Europa kommt. Zwischen einer zeitweise ruppigen und missglückten Migrationspolitik, die aber in aller Regel Todesopfer nicht in Kauf nimmt und dem systematischen Morden der NS-Ära liegen im Lichte der menschenrechtlichen Standards Welten. Und die über Fachkreise hinaus bekannten EMRK-Grundrechte wie vor allem das Folterverbot, das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit, aber auch der Schutz des Lebens, der Privatheit und des Familienlebens decken ohnehin jene Aspekte ab, die das wichtigste Substrat der Menschenwürde ausmachen.
„Mehrwert“ kritisch hinterfragen
Deshalb wäre auch der „Mehrwert“ einer plakativen und ausdrücklichen Verankerung der Menschenwürde im B-VG oder dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger kritisch zu hinterfragen. In Deutschland, wo die EMRK formell nicht im Verfassungsrang steht, die Grundrechtecharta der EU genauso wie bei uns gilt und das Grundgesetz als ausschließliche Konstitutionsurkunde mit einem modernen Grundrechtsteil beginnt, ist dieses „Kleinod des menschlichen Zusammenlebens“ (so Felix Ermacora im Jahr 1963) im Effekt auch nicht besser geschützt als bei uns, obwohl unsere Nachbarn sehr stolz auf ihren Katalog sind. Das hängt damit zusammen, dass der Begriff der Menschenwürde, der zweifellos auch im ABGB angesprochen wird, was Hannes Tretter auch erwähnt hat, insgesamt schwer auslotbar ist.
So wertvoll der Diskurs über Menschenrechte und deren Positivierung ist, darf auch nicht übersehen werden, dass in Schurians „Doppelschlag“ zum Thema Menschenwürde offenkundig ein weiterer Irrtum Pate stand. Anlassfall war, wie in Erinnerung zu rufen ist, der verbale Ausritt eines Politikers im Wahlkampf gegen eine unbeteiligte Mäzenin. Die Autorin war legitimer Weise, bemüht, den Schutz der Würde der Milliardärin H., (die sich allerdings auch gerichtlich gegen beleidigende Anwürfe zur Wehr setzen könnte, ohne in den Privatkonkurs zu verfallen), einzufordern. Aber das ist, rechtswissenschaftlich betrachtet, gar keine Frage der Menschenwürde, sondern der Grenzen der Informationsfreiheit. Dass im Effekt Kränkungen die Würde eines Menschen berühren ändert an dieser Verortung nichts, weshalb die von Schurian und Tretter geforderte Änderung in diesem Punkt auch der Betroffenen gar nicht bringen würde. Hier geht es eher um die Grenzen legitimer und adäquater Kritik, die auch im Fall Glawischning (EuGH 3.10.2019, C-18/18) eine Rolle gespielt haben. Die Elle ist hier doch bereits viel feiner geworden, wenn der EuGH (das ist der Gerichtshof der EU in Luxemburg) bereits die globale Löschung beleidigender Postings und sogar gleichlautender oder ähnlicher Kränkungen einfordert, die somit gerichtlich durchsetzbar sind. Es ist hier nicht der Ort, dieses Urteil, das womöglich in den Anforderungen an die Host-Provider zu weit geht und womöglich auch satirische und ironische Kommentare verhindert, zu kritisieren. Es genügt, darauf hinzuweisen dass gemeinsam mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Tamner (unangemessene Beleidigung einer Politikergattin) oder Caroline von Hannover in Strassburg, Luxemburg und bei den heimischen Gerichten ein effektiver Schutz vor verbalen Würdeverletzungen besteht. Und jene rechtlichen Mechanismen, welche die körperliche Integrität schützen, müssen hier gar nicht näher erklärt werden, weil sie ohnehin jeder kennt.
Mit einer Verankerung des Schutzes der Menschenwürde als „verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht“ wäre also in dieser Allgemeinheit nichts gewonnen. Weitaus sinnvoller wäre es, statt der als „common heritage“ ohnehin verankerten Menschenwürde konkrete Ausprägungen dieses schwer definierbaren Rechtsgutes zu verankern, denn Gummi-Formulierungen auf Verfassungsebene nutzen niemandem. Die EMRK samt Zusatzprotokollen und die zahlenmäßig eher geringen Grundrechtsnormen des B-VG (Gleichheit, Anspruch auf den gesetzlichen Richter im Lichte der Rechtsstaatlichkeit, Auskunftsrechte, politische Grundrechte) sowie die Europäische Grundrechtecharta der EU reichen grundsätzlich aus. Jene hat zwar nicht den Rang von Verfassungsrecht, aber materiell dieselbe Funktion, was laut VfGH (in einer umstrittenen Klarstellung aus 2012) auch bedeutet, dass man sich auf die GRC auch innerstaatlich wie auf ein „verfassungsgesetzlich gewährleistetes“ Recht berufen kann.
Wenn also die ironische Bemerkung erlaubt ist: Österreich hat quellenmäßig nicht zu wenig Grundrechte, sondern zu viele. Auch aus dem BVG Kinderrechte aus 2011 sind, der Formulierung nach, von der Justiz noch nicht ganz ausgelotete und solcherart noch zu „entdeckende“ Grundrechte ablesbar. Mitunter gewinnt ein Grundrecht erst durch dessen neue Interpretation Gestalt und wird solcherart „justiziabel“, wie die Rechtsprechung des VfGH zu Erwerbs- und Berufswahlfreiheit sowie zum Auskunftsrecht zeigt. Viele dieser Rechte enthalten wichtige Aspekte der Menschenwürde, die bei uns auch ohne plakative „Verankerung“ ausreichend verfassungsrechtlich geschützt ist.
Zeitgemäße Grundrechte neu zu fassen und zu kodifizieren wäre aber keineswegs abwegig. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, einen neuen, modernen Katalog aufzusetzen, wie ihn die Schweiz in ihre (neue) Bundesverfassung der Jahrtausendwende aufgenommen hat. Bekanntlich sind in der Zweiten Republik die Bemühungen um einen neuen Grundrechtskatalog gescheitert. Lediglich punktuelle Ergänzungen des „alten“, aber bewährten Kanons oder Modernisierungen (zB des Freiheitschutzes) gelangen im Parlament. Heute aber gibt es neue Herausforderungen an die Rechtsordnung, die etwa in der Ignoranz im Umgang mit dem Klimawandel und der Zerstörung des Ökosystems zu sehen sind. Eine Ausweitung ökologischer Rechte auf Grundrechtsebene sowie des subjektiv-rechtlichen Anspruchs auf Nachhaltigkeit, welche die Erfolgschance von „Klimaklagen“ eröffnen würden, wäre im Lichte von Greta Thunbergs Bemühungen, den Schülerprotesten und der von Bundespräsident Van der Bellen eingeforderten Zielsetzung der nächsten Bundesregierung als Ausbauplan der Grundrechtskataloge anzudenken. Nur müssen hier zunächst Vorarbeiten stattfinden, weil Schnellschüsse in der Verfassung oft Schaden oder kaum Nutzen stiften. Vor einer Kodifikation muss immer erwogen werden, ob es sich um justiziable Rechte handelt, sonst bleibt es bei Lippenbekenntnissen. Ein moderner Grundrechtskatalog, der auch subjektive Nachhaltigkeitsrechte enthält, wäre eine Option der nahen Zukunft. Das wäre auch, sowohl global als auch national betrachtet, ein wichtiges Grundrechtsthema der Gegenwart.
Schonungsvoll und kundig hat mein Kollege Hannes Tretter („Die Presse“, 4.10.) die relevanten Rechtsquellen aufgezeigt und die interessante grundrechtspolitische Frage behandelt, warum in Österreichs Verfassung der Schutz der Menschenwürde, anders als im Bonner Grundgesetz, nicht verankert ist. Im Ergebnis schloss er sich dann, wie ich meine ein wenig überraschend, dem flammenden Appell der Kolumnistin Andrea Schurian („Die Presse“ v. 1.10.) an, die „Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde“ nach dem Vorbild ausländischer Konstitutionen auch hierzulande in der Bundesverfassung zu verankern. Tretter meint, dass damit in „Zeiten wie diesen“ ein wichtiges Signal gesetzt werden könnte.
Nun muss man wissen, dass der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seitens der UN-Vollversammlung vom 10.12.1948 sowie im Bonner Grundgesetz im Jahr darauf nachdrücklich formulierte Schutz der Menschenwürde zweifellos eine Reaktion auf die damals nur knapp zurückliegenden Gräuel von Holocaust, Massenmord und Sterben im Zweiten Weltkrieg darstellte. Im Lichte dieser Ereignisse und deren bis heute spürbaren Wucht glaube ich nicht, dass nun wieder Zeiten wie „diese“ angebrochen sind, in denen es actualiter zur totalen Negierung der Menschenrechte und der –würde in Europa kommt. Zwischen einer zeitweise ruppigen und missglückten Migrationspolitik, die aber in aller Regel Todesopfer nicht in Kauf nimmt und dem systematischen Morden der NS-Ära liegen im Lichte der menschenrechtlichen Standards Welten. Und die über Fachkreise hinaus bekannten EMRK-Grundrechte wie vor allem das Folterverbot, das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit, aber auch der Schutz des Lebens, der Privatheit und des Familienlebens decken ohnehin jene Aspekte ab, die das wichtigste Substrat der Menschenwürde ausmachen.
„Mehrwert“ kritisch hinterfragen
Deshalb wäre auch der „Mehrwert“ einer plakativen und ausdrücklichen Verankerung der Menschenwürde im B-VG oder dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger kritisch zu hinterfragen. In Deutschland, wo die EMRK formell nicht im Verfassungsrang steht, die Grundrechtecharta der EU genauso wie bei uns gilt und das Grundgesetz als ausschließliche Konstitutionsurkunde mit einem modernen Grundrechtsteil beginnt, ist dieses „Kleinod des menschlichen Zusammenlebens“ (so Felix Ermacora im Jahr 1963) im Effekt auch nicht besser geschützt als bei uns, obwohl unsere Nachbarn sehr stolz auf ihren Katalog sind. Das hängt damit zusammen, dass der Begriff der Menschenwürde, der zweifellos auch im ABGB angesprochen wird, was Hannes Tretter auch erwähnt hat, insgesamt schwer auslotbar ist.
So wertvoll der Diskurs über Menschenrechte und deren Positivierung ist, darf auch nicht übersehen werden, dass in Schurians „Doppelschlag“ zum Thema Menschenwürde offenkundig ein weiterer Irrtum Pate stand. Anlassfall war, wie in Erinnerung zu rufen ist, der verbale Ausritt eines Politikers im Wahlkampf gegen eine unbeteiligte Mäzenin. Die Autorin war legitimer Weise, bemüht, den Schutz der Würde der Milliardärin H., (die sich allerdings auch gerichtlich gegen beleidigende Anwürfe zur Wehr setzen könnte, ohne in den Privatkonkurs zu verfallen), einzufordern. Aber das ist, rechtswissenschaftlich betrachtet, gar keine Frage der Menschenwürde, sondern der Grenzen der Informationsfreiheit. Dass im Effekt Kränkungen die Würde eines Menschen berühren ändert an dieser Verortung nichts, weshalb die von Schurian und Tretter geforderte Änderung in diesem Punkt auch der Betroffenen gar nicht bringen würde. Hier geht es eher um die Grenzen legitimer und adäquater Kritik, die auch im Fall Glawischning (EuGH 3.10.2019, C-18/18) eine Rolle gespielt haben. Die Elle ist hier doch bereits viel feiner geworden, wenn der EuGH (das ist der Gerichtshof der EU in Luxemburg) bereits die globale Löschung beleidigender Postings und sogar gleichlautender oder ähnlicher Kränkungen einfordert, die somit gerichtlich durchsetzbar sind. Es ist hier nicht der Ort, dieses Urteil, das womöglich in den Anforderungen an die Host-Provider zu weit geht und womöglich auch satirische und ironische Kommentare verhindert, zu kritisieren. Es genügt, darauf hinzuweisen dass gemeinsam mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Tamner (unangemessene Beleidigung einer Politikergattin) oder Caroline von Hannover in Strassburg, Luxemburg und bei den heimischen Gerichten ein effektiver Schutz vor verbalen Würdeverletzungen besteht. Und jene rechtlichen Mechanismen, welche die körperliche Integrität schützen, müssen hier gar nicht näher erklärt werden, weil sie ohnehin jeder kennt.
Mit einer Verankerung des Schutzes der Menschenwürde als „verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht“ wäre also in dieser Allgemeinheit nichts gewonnen. Weitaus sinnvoller wäre es, statt der als „common heritage“ ohnehin verankerten Menschenwürde konkrete Ausprägungen dieses schwer definierbaren Rechtsgutes zu verankern, denn Gummi-Formulierungen auf Verfassungsebene nutzen niemandem. Die EMRK samt Zusatzprotokollen und die zahlenmäßig eher geringen Grundrechtsnormen des B-VG (Gleichheit, Anspruch auf den gesetzlichen Richter im Lichte der Rechtsstaatlichkeit, Auskunftsrechte, politische Grundrechte) sowie die Europäische Grundrechtecharta der EU reichen grundsätzlich aus. Jene hat zwar nicht den Rang von Verfassungsrecht, aber materiell dieselbe Funktion, was laut VfGH (in einer umstrittenen Klarstellung aus 2012) auch bedeutet, dass man sich auf die GRC auch innerstaatlich wie auf ein „verfassungsgesetzlich gewährleistetes“ Recht berufen kann.
Wenn also die ironische Bemerkung erlaubt ist: Österreich hat quellenmäßig nicht zu wenig Grundrechte, sondern zu viele. Auch aus dem BVG Kinderrechte aus 2011 sind, der Formulierung nach, von der Justiz noch nicht ganz ausgelotete und solcherart noch zu „entdeckende“ Grundrechte ablesbar. Mitunter gewinnt ein Grundrecht erst durch dessen neue Interpretation Gestalt und wird solcherart „justiziabel“, wie die Rechtsprechung des VfGH zu Erwerbs- und Berufswahlfreiheit sowie zum Auskunftsrecht zeigt. Viele dieser Rechte enthalten wichtige Aspekte der Menschenwürde, die bei uns auch ohne plakative „Verankerung“ ausreichend verfassungsrechtlich geschützt ist.
Zeitgemäße Grundrechte neu zu fassen und zu kodifizieren wäre aber keineswegs abwegig. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, einen neuen, modernen Katalog aufzusetzen, wie ihn die Schweiz in ihre (neue) Bundesverfassung der Jahrtausendwende aufgenommen hat. Bekanntlich sind in der Zweiten Republik die Bemühungen um einen neuen Grundrechtskatalog gescheitert. Lediglich punktuelle Ergänzungen des „alten“, aber bewährten Kanons oder Modernisierungen (zB des Freiheitschutzes) gelangen im Parlament. Heute aber gibt es neue Herausforderungen an die Rechtsordnung, die etwa in der Ignoranz im Umgang mit dem Klimawandel und der Zerstörung des Ökosystems zu sehen sind. Eine Ausweitung ökologischer Rechte auf Grundrechtsebene sowie des subjektiv-rechtlichen Anspruchs auf Nachhaltigkeit, welche die Erfolgschance von „Klimaklagen“ eröffnen würden, wäre im Lichte von Greta Thunbergs Bemühungen, den Schülerprotesten und der von Bundespräsident Van der Bellen eingeforderten Zielsetzung der nächsten Bundesregierung als Ausbauplan der Grundrechtskataloge anzudenken. Nur müssen hier zunächst Vorarbeiten stattfinden, weil Schnellschüsse in der Verfassung oft Schaden oder kaum Nutzen stiften. Vor einer Kodifikation muss immer erwogen werden, ob es sich um justiziable Rechte handelt, sonst bleibt es bei Lippenbekenntnissen. Ein moderner Grundrechtskatalog, der auch subjektive Nachhaltigkeitsrechte enthält, wäre eine Option der nahen Zukunft. Das wäre auch, sowohl global als auch national betrachtet, ein wichtiges Grundrechtsthema der Gegenwart.
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Gerhard Strejcek
Wie Österreichs Gesetze klimafreundlicher werden können
Der Standard, Wirtschaft & Recht Journal, 17.10.2019
Für eine effektive Klimapolitik müssen die Gesetzgeber im Bund, Land und Gemeinden beginnen, jeden Beschluss auf seine Umweltauswirkungen zu prüfen
Wie immer man das Ergebnis der Nationalratswahl interpretiert: Der Auftrag für eine Nachschärfung der Klimagesetze erscheint unbestreitbar. Ökologische Anliegen, die Verbesserung des Rechts für Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP), aber auch die mögliche Verankerung von Nachhaltigkeits-Grundrechten in der Verfassung, sollte das Kabinett Kurz II ins Auge fassen – egal, wer die zukünftige Koalition bildet.
Im Kampf gegen den Klimawandel sind alle drei Staatsfunktionen – Justiz, Gesetzgebung und Verwaltung – künftig viel stärker gefragt als bisher. Im Herbst stehen die ersten "Klimaklagen" gegen bereits geltende Gesetze beim Verfassungsgerichtshof an. Doch kann sich der VfGH tatsächlich als Klimagericht etablieren?
Hürden für Klimaklagen
Von Expertenseite gibt es massive Zweifel an der Zulässigkeit von Anträgen, die sich auf das Recht der Allgemeinheit stützen, möglichst ohne schädliche Umweltbeeinträchtigungen zu leben und langfristig gesund zu bleiben.
Nur eine Person, die aktuell und unmittelbar in ihren Rechten – Leben oder Eigentum – betroffen ist, hat eine realistische Chance, ein Gesetz, das direkt in die Grundrechtssphäre eingreift, zu Fall zu bringen.
Hingegen kann sich der VfGH, selbst wenn die Richter stärkeres Engagement zeigen wollten, nicht mit Auswirkungen einer verfehlten Steuerbegünstigung – etwa für Flugbenzin oder Diesel – befassen. Es fehlt schlicht an der verfahrensrechtlichen Verknüpfung, die es Einzelnen oder Umweltorganisationen erlauben würde, den VfGH als Umwelt- und Nachhaltigkeitsgericht zu befassen.
Das heißt nicht, dass die Justiz keine Rolle spielt. Gerichte können die bestehenden Gesetze zweifellos umweltfreundlicher auslegen, vor allem das UVP-Gesetz 2000, bei dem bisher nur das Bundesverwaltungsgericht die Rolle eines Umweltschutzgerichts übernommen hat.
Auch wenn die Entscheidung zur dritten Piste des Flughafens Wien in einzelnen Punkten kritikwürdig schien, so war dies doch der richtige justizielle Weg in die Richtung Nachhaltigkeit.
Blick in die Bundesverfassung
Dennoch: Umwelt- und Klimaschutz ist primär nicht die Aufgabe der Justiz, sondern des Gesetzgebers. Das steht so in der Bundesverfassung im BVG Umwelt, das sehr detaillierte inhaltliche Schutzziele vorgibt.
Es scheint aber so, dass die bestehenden Vorgaben nicht ausreichend genutzt werden, um jede gesetzgeberische Maßnahme auch auf ihrer Umweltauswirkung zu überprüfen. Was für die finanziellen Auswirkungen eines neuen Gesetzes längst üblich ist, fehlt für die weittragenden Klimaauswirkungen eines Gesetzes.
Wenn der Gesetzgeber zum Beispiel darauf verzichtet, den CO2-Ausstoß und die Stickoxide, die großvolumige SUVs ausstoßen, bei einer Reform der motorbezogenen Versicherungssteuer (Nova) zu berücksichtigen, sollte der Nationalrat das zwingend begründen müssen.
Dasselbe gilt für den Landesgesetzgeber: Wie kann es sein, dass in Wien, wo für die Parkraumbewirtschaftung immer das Umweltargument herhalten muss, gar keine umweltspezifische Abgabenstaffelung besteht? Warum müssen Kleinwagen und Elektromobile dieselben Parkometerabgaben entrichten wie SUVs mit Achtzylindermotoren und einem Volumen von Kleinbussen?
Es wäre viel leichter, solche unsachlichen Gesetze künftig zu Fall zu bringen, wenn der Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene alle seine Rechtsnormen umweltspezifisch evaluieren müsste.
Der neu gewählte Nationalrat ist gefordert, diese Ziele parteiübergreifend ernst zu nehmen und so weit wie möglich umzusetzen. Das gilt auch für den Bundesrat, in dem die Grünen nach 2017 vertreten blieben, und für die Landtage, in denen sie ebenfalls sitzen.
Aber haben nicht alle Parteien vor der jüngsten Wahl erklärt, dass es künftig Konsens über den Klimaschutz geben muss? Bald stehen Landtagswahlen in Vorarlberg, Steiermark, Burgenland und Wien an, in Niederösterreich werden die Gemeinderäte neu gewählt.
In all diesen Wahlkämpfen müsste der Umweltschutz eine zentrale Rolle spielen. Schließlich haben auch Landesmaterien – etwa Naturschutz, Luftreinhaltung oder Tierhaltung – wesentliche Auswirkungen auf die Umwelt.
Veränderte Geschäftsordnung
Vor allem aber müssten Umweltaspekte stärker im Gesetzgebungsverfahren beachtet werden, bei den Ausschussberatungen genauso wie bei Plenarbeschlüssen. Die Umweltverträglichkeit und Klimafolgen eines Gesetzes müssen berücksichtigt und bewusste Unterlassungen begründet werden. Der richtige Ort, um dies zu regeln, ist das Geschäftsordnungsgesetz (GOG) des Nationalrats und die entsprechenden Regeln im Bundesrat, den Landtagen und den Gemeinderäten.
Das GOG enthält, was wenig bekannt ist, bereits jetzt relevante Vorschriften, etwa die Verpflichtung des Nationalrats, sich mit parlamentarischen Bürgerinitiativen und Petitionen zu befassen. Diese sind viel einfacher ins Parlament zu bringen als Volksbegehren. Sie können gemäß §§ 100 ff GOG auch von einzelne Abgeordnete betrieben werden.
Die Möglichkeit, sich als Umweltkammer zu profilieren, hat auch der Bundesrat. Was wenig bekannt ist: Es braucht nur ein Drittel der dortigen Mandatare, um einen Gesetzesantrag zu formulieren. Dies könnte etwa im Sinne der Umwelt und des Klimaschutzes geschehen. Das wurde bisher nicht genutzt.
Stattdessen begnügt sich der Bundesrat mit der bequemen Funktion als weniger wichtige Kammer, die Gesetzesvorhaben bloß aufschiebt oder höchstens bei Einschränkungen von Landeskompetenzen aktiv wird. Angesichts der Gefahren, die durch den Klimawandel auf uns alle zukommen, ist dies einfach nicht genug.
Die Bundesverfassung gibt es her
Falls die Abgeordneten von National- und Bundesrat Zweifel hegen, wie weit sie gehen können, um bei umweltrelevanten Gesetzen Österreich zu einem Klima-Musterland zu machen, sollten sie sich die Ziele der beiden Bundesverfassungsgesetze Umwelt und atomfreies Österreich anschauen.
Diese galten bisher nur für UVP-pflichtige Vorhaben als relevant. Aber jedes Gesetz, das mögliche Auswirkungen auf Menschen, Tiere, Pflanzen und deren Lebensräume; auf Boden, Wasser, Luft und Klima; auf die Landschaft und/oder auf Sach- und Kulturgüter hat, muss demnach künftig in einer Umweltrelevanz bereits vom Gesetzgeber selbst begründet werden.
Und es muss auch in den Materialien dargelegt werden warum bestimmte Maßnahmen nicht erfolgen. Dazu zählen die Abschaffung der Privilegien für den Flugverkehr und das Ende der – indirekten – Förderung von SUVs im Stadtverkehr.
Dies lässt sich mit einer Anpassung der Geschäftsordnungsgesetze erreichen. Geschieht das nicht, bleibt die Möglichkeit eines Volksbegehrens, um eine UVP für alle Gesetzgebungsmaßnahmen einzuführen. Der Widerstand dagegen wäre groß. Aber wie sonst soll die Klimawende in Österreich realisiert werden?
Wie immer man das Ergebnis der Nationalratswahl interpretiert: Der Auftrag für eine Nachschärfung der Klimagesetze erscheint unbestreitbar. Ökologische Anliegen, die Verbesserung des Rechts für Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP), aber auch die mögliche Verankerung von Nachhaltigkeits-Grundrechten in der Verfassung, sollte das Kabinett Kurz II ins Auge fassen – egal, wer die zukünftige Koalition bildet.
Im Kampf gegen den Klimawandel sind alle drei Staatsfunktionen – Justiz, Gesetzgebung und Verwaltung – künftig viel stärker gefragt als bisher. Im Herbst stehen die ersten "Klimaklagen" gegen bereits geltende Gesetze beim Verfassungsgerichtshof an. Doch kann sich der VfGH tatsächlich als Klimagericht etablieren?
Hürden für Klimaklagen
Von Expertenseite gibt es massive Zweifel an der Zulässigkeit von Anträgen, die sich auf das Recht der Allgemeinheit stützen, möglichst ohne schädliche Umweltbeeinträchtigungen zu leben und langfristig gesund zu bleiben.
Nur eine Person, die aktuell und unmittelbar in ihren Rechten – Leben oder Eigentum – betroffen ist, hat eine realistische Chance, ein Gesetz, das direkt in die Grundrechtssphäre eingreift, zu Fall zu bringen.
Hingegen kann sich der VfGH, selbst wenn die Richter stärkeres Engagement zeigen wollten, nicht mit Auswirkungen einer verfehlten Steuerbegünstigung – etwa für Flugbenzin oder Diesel – befassen. Es fehlt schlicht an der verfahrensrechtlichen Verknüpfung, die es Einzelnen oder Umweltorganisationen erlauben würde, den VfGH als Umwelt- und Nachhaltigkeitsgericht zu befassen.
Das heißt nicht, dass die Justiz keine Rolle spielt. Gerichte können die bestehenden Gesetze zweifellos umweltfreundlicher auslegen, vor allem das UVP-Gesetz 2000, bei dem bisher nur das Bundesverwaltungsgericht die Rolle eines Umweltschutzgerichts übernommen hat.
Auch wenn die Entscheidung zur dritten Piste des Flughafens Wien in einzelnen Punkten kritikwürdig schien, so war dies doch der richtige justizielle Weg in die Richtung Nachhaltigkeit.
Blick in die Bundesverfassung
Dennoch: Umwelt- und Klimaschutz ist primär nicht die Aufgabe der Justiz, sondern des Gesetzgebers. Das steht so in der Bundesverfassung im BVG Umwelt, das sehr detaillierte inhaltliche Schutzziele vorgibt.
Es scheint aber so, dass die bestehenden Vorgaben nicht ausreichend genutzt werden, um jede gesetzgeberische Maßnahme auch auf ihrer Umweltauswirkung zu überprüfen. Was für die finanziellen Auswirkungen eines neuen Gesetzes längst üblich ist, fehlt für die weittragenden Klimaauswirkungen eines Gesetzes.
Wenn der Gesetzgeber zum Beispiel darauf verzichtet, den CO2-Ausstoß und die Stickoxide, die großvolumige SUVs ausstoßen, bei einer Reform der motorbezogenen Versicherungssteuer (Nova) zu berücksichtigen, sollte der Nationalrat das zwingend begründen müssen.
Dasselbe gilt für den Landesgesetzgeber: Wie kann es sein, dass in Wien, wo für die Parkraumbewirtschaftung immer das Umweltargument herhalten muss, gar keine umweltspezifische Abgabenstaffelung besteht? Warum müssen Kleinwagen und Elektromobile dieselben Parkometerabgaben entrichten wie SUVs mit Achtzylindermotoren und einem Volumen von Kleinbussen?
Es wäre viel leichter, solche unsachlichen Gesetze künftig zu Fall zu bringen, wenn der Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene alle seine Rechtsnormen umweltspezifisch evaluieren müsste.
Der neu gewählte Nationalrat ist gefordert, diese Ziele parteiübergreifend ernst zu nehmen und so weit wie möglich umzusetzen. Das gilt auch für den Bundesrat, in dem die Grünen nach 2017 vertreten blieben, und für die Landtage, in denen sie ebenfalls sitzen.
Aber haben nicht alle Parteien vor der jüngsten Wahl erklärt, dass es künftig Konsens über den Klimaschutz geben muss? Bald stehen Landtagswahlen in Vorarlberg, Steiermark, Burgenland und Wien an, in Niederösterreich werden die Gemeinderäte neu gewählt.
In all diesen Wahlkämpfen müsste der Umweltschutz eine zentrale Rolle spielen. Schließlich haben auch Landesmaterien – etwa Naturschutz, Luftreinhaltung oder Tierhaltung – wesentliche Auswirkungen auf die Umwelt.
Veränderte Geschäftsordnung
Vor allem aber müssten Umweltaspekte stärker im Gesetzgebungsverfahren beachtet werden, bei den Ausschussberatungen genauso wie bei Plenarbeschlüssen. Die Umweltverträglichkeit und Klimafolgen eines Gesetzes müssen berücksichtigt und bewusste Unterlassungen begründet werden. Der richtige Ort, um dies zu regeln, ist das Geschäftsordnungsgesetz (GOG) des Nationalrats und die entsprechenden Regeln im Bundesrat, den Landtagen und den Gemeinderäten.
Das GOG enthält, was wenig bekannt ist, bereits jetzt relevante Vorschriften, etwa die Verpflichtung des Nationalrats, sich mit parlamentarischen Bürgerinitiativen und Petitionen zu befassen. Diese sind viel einfacher ins Parlament zu bringen als Volksbegehren. Sie können gemäß §§ 100 ff GOG auch von einzelne Abgeordnete betrieben werden.
Die Möglichkeit, sich als Umweltkammer zu profilieren, hat auch der Bundesrat. Was wenig bekannt ist: Es braucht nur ein Drittel der dortigen Mandatare, um einen Gesetzesantrag zu formulieren. Dies könnte etwa im Sinne der Umwelt und des Klimaschutzes geschehen. Das wurde bisher nicht genutzt.
Stattdessen begnügt sich der Bundesrat mit der bequemen Funktion als weniger wichtige Kammer, die Gesetzesvorhaben bloß aufschiebt oder höchstens bei Einschränkungen von Landeskompetenzen aktiv wird. Angesichts der Gefahren, die durch den Klimawandel auf uns alle zukommen, ist dies einfach nicht genug.
Die Bundesverfassung gibt es her
Falls die Abgeordneten von National- und Bundesrat Zweifel hegen, wie weit sie gehen können, um bei umweltrelevanten Gesetzen Österreich zu einem Klima-Musterland zu machen, sollten sie sich die Ziele der beiden Bundesverfassungsgesetze Umwelt und atomfreies Österreich anschauen.
Diese galten bisher nur für UVP-pflichtige Vorhaben als relevant. Aber jedes Gesetz, das mögliche Auswirkungen auf Menschen, Tiere, Pflanzen und deren Lebensräume; auf Boden, Wasser, Luft und Klima; auf die Landschaft und/oder auf Sach- und Kulturgüter hat, muss demnach künftig in einer Umweltrelevanz bereits vom Gesetzgeber selbst begründet werden.
Und es muss auch in den Materialien dargelegt werden warum bestimmte Maßnahmen nicht erfolgen. Dazu zählen die Abschaffung der Privilegien für den Flugverkehr und das Ende der – indirekten – Förderung von SUVs im Stadtverkehr.
Dies lässt sich mit einer Anpassung der Geschäftsordnungsgesetze erreichen. Geschieht das nicht, bleibt die Möglichkeit eines Volksbegehrens, um eine UVP für alle Gesetzgebungsmaßnahmen einzuführen. Der Widerstand dagegen wäre groß. Aber wie sonst soll die Klimawende in Österreich realisiert werden?
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Gerhard Strejcek
Salzburger Nachrichten, 12.10.2019
Facebook an die Leine
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Die Presse, 6.10.2019
Wehrlos ums Wahlrecht umgefallen
Gerhard Strejcek
Die Presse, Spectrum, 20.9.2019
Ökonomen und die Berechnung des Jenseits
Gerhard Strejcek
Nach 1919 mussten Italien und Österreich eine neue gemeinsame Grenze erfinden
NZZ, 10.09.2019
Der Staatsvertrag von Saint-Germain erforderte die Festlegung von über 1670 Kilometern Staatsgrenzen rund um Österreich. Vor allem an der alpinen Südgrenze war das teilweise schwierig und
hatte kuriose Folgen.
Gehörte Ötzi, der Mann aus dem Eis, eigentlich den Italienern oder den Österreichern? Als man seinen mumifizierten Leichnam 1991 unweit des Similaun-Gletschers fand, war das eine offene Frage. Heute liegt er im Bozener Archäologiemuseum. Nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain, der die Wasserscheide als Alpengrenze bestimmte, lag der Fundort am Tisenjoch in Österreich.
Doch der italienisch-österreichische Grenzregelungsausschuss, der nach 1919 die Grenze festlegen musste, wich gerade an dieser Stelle vom Vertrag ab, zog eine gerade Linie oberhalb des Gletscherschneefelds und erklärte sie zur Staatsgrenze. Diesen Grenzverlauf bekräftigten in den Jahren 1929 und 2006 Vereinbarungen zwischen Italien und Österreich.
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gab es ein derartiges Einvernehmen mit den Nachbarn nicht. Zu tief waren die Wunden des Krieges. Die als ungerecht empfundene Zerreissung Tirols sowie die Verkleinerung Kärntens und der südlichen Steiermark war für viele demütigend. Doch nun mussten nicht weniger als 1672 Kilometer an neuer Grenze rund um den Rumpfstaat festgelegt werden, was eine direkte Folge des Staatsvertrags von Saint-Germain vom 10. September 1919 war.
An diesem Tag unterzeichnete Staatskanzler Renner den Vertrag, den die Wiener konstituierende Nationalversammlung nolens volens genehmigt hatte. Der Staatsvertrag trat am 16. Juli 1920 in Kraft, das italienische Annexionsgesetz sodann am 10. Oktober. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mussten die Arbeiten an der neuen Grenze ihren Lauf nehmen.
Wo ist die Wasserscheide?
Gemischte Grenzregelungsausschüsse unter alliiertem Vorsitz begingen von der Schweizer Grenze beim Unterengadiner Piz Lad ausgehend die Alpen und arbeiteten sich vom Reschenpass über die Ötztaler und Zillertaler Alpen bis nach Osttirol auf beschwerlichen Wegen vor. Unweit von Lienz und Hermagor übernahm eine weitere Gruppe die Arbeiten an der Kärntner Grenze zu Italien. Das in den Karnischen Alpen operierende italienisch-österreichische Duo geriet allerdings heftig in Streit, wogegen die Arbeiten des Tiroler Grenzregelungsausschusses meist konsensual, wenn auch nicht ohne Kontroversen verliefen.
Der Vertrag von Saint-Germain legte in den Alpen die Wasserscheide als natürliche Grenze zwischen Nord und Süd fest, ermächtigte aber die Grenzregelungsausschüsse zu Abweichungen. Bei genauerer Betrachtung erwies sich die Wasserscheide nicht als wirklich operationales Kriterium für eine Grenzziehung im Hochgebirge. Der Begriff gab vor allem dort Anlass zu Auslegungsproblemen, wo kein Wasser oberirdisch sichtbar war, wie in den damals weit ausgedehnteren Gletscherregionen am Similauner und Tribulauner Feld.
Was auf dem Verhandlungstisch hinsichtlich der Auffindbarkeit in der Natur als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, erwies sich in der Realität als Sisyphusarbeit und oftmals als Stein des Anstosses. Dies umso mehr, als die beteiligten Akteure eben noch verfeindet waren und nun um jeden Meter Geröllhalde, Weideland, um Quellen, Schneefelder, Gipfelkreuze und Schutzhütten rangen.
Die Hauptarbeit hatten die beiden Kontrahenten mit ihren Hilfskräften zu leisten, das waren der italienische Oberst Alberto Pariani, der ab 1943 unter faschistischer Herrschaft Gouverneur von Tirana und später in deutscher und in alliierter Haft war, sowie der österreichische Oberstleutnant Alphons Bernhard, der einen Leidensweg ab 1938 in Gestapo-Haft und in den KZ Buchenwald und Dachau bis Mai 1944 erleben musste und schwer krank das NS-System überlebte.
Vor allem aber bedeutete das Festlegen der Grenze mühsame Arbeiten im Gelände, archivarische Recherchen und Befragungen der Ortsansässigen. Dies führte mitunter zu kuriosen Ergebnissen. So verlief nach glaubhaften Angaben die Grenze am Brenner den Dachfirst des Postgasthofs entlang. Angeblich war diese von Menschen beeinflusste Wasserscheide schon in Zeiten der k. u. k. Monarchie eine Sehenswürdigkeit, weil Regentropfen, die auf die nördliche Dachseite fielen, Richtung Inn, Donau und Schwarzes Meer entwässerten, jene im Süden hingegen in die Adria.
Der österreichische Vertreter im Grenzregelungsausschuss setzte alles daran, die Ortschaft Brenner für Österreich zu erhalten, Politiker sicherten den Ortsansässigen Straffreiheit hinsichtlich Schmuggel und Zolldelikten zu, aber letztlich entschied die vom Staatsvertrag ermächtigte Kommission anders, und sowohl der Bahnhof als auch der Gasthof und das Postgebäude wurden italienisch. Die geplagten Anwohner eines Dorfteils (Weiler Kerschbaum), der österreichisch blieb, baten später darum, auch dem Königreich im Süden zugeordnet zu werden, weil Schikanen wie Drahtverhaue mitten in den Weiden und das Verbot des Grenzübertritts den Alltag vergifteten.
Eine Hütte und zwei Eingänge
Zu einer weiteren Kuriosität führte die Lage der Landshuter Hütte in den Zillertaler Alpen, sie stand direkt auf der Wasserscheide. Die Grenze wäre durch den Gastraum verlaufen, der Hüttenzugang in Italien gelegen, die Wasserquelle aber in Österreich. Hier fand der Grenzregelungsausschuss eine Lösung, die man fast als salomonisch bezeichnen könnte. Die Hütte wurde vorerst geteilt, erhielt aber einen Anbau und einen zweiten Eingang im Norden. Noch heute wird die Hütte von zwei Alpenvereinen bewirtschaftet, dem Südtiroler und dem österreichischen.
Weniger gut erging es allerdings der Helmhütte bei Sillian, die an einem markanten Aussichtspunkt lag und zur Gänze an Italien fiel. Die Grenzwächter demontierten die originale Plattform auf dem Dach, welche in k. u. k. Zeiten den Blick ins nunmehr italienische Pustertal, aber auch in die anderen Himmelsrichtungen ermöglicht hatte. Eine strategisch derartig wichtige Plattform wollte der italienische Oberst Pariani nicht dulden. Nach Jahrzehnten militärischer Nutzung verfiel die Hütte. In Sichtweite baute der österreichische Alpenverein die grosse Sillianer Hütte. Von hier aus erschien die Helmhütte zumal bei Nebel wie ein Mahnmal.
Gehörte Ötzi, der Mann aus dem Eis, eigentlich den Italienern oder den Österreichern? Als man seinen mumifizierten Leichnam 1991 unweit des Similaun-Gletschers fand, war das eine offene Frage. Heute liegt er im Bozener Archäologiemuseum. Nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain, der die Wasserscheide als Alpengrenze bestimmte, lag der Fundort am Tisenjoch in Österreich.
Doch der italienisch-österreichische Grenzregelungsausschuss, der nach 1919 die Grenze festlegen musste, wich gerade an dieser Stelle vom Vertrag ab, zog eine gerade Linie oberhalb des Gletscherschneefelds und erklärte sie zur Staatsgrenze. Diesen Grenzverlauf bekräftigten in den Jahren 1929 und 2006 Vereinbarungen zwischen Italien und Österreich.
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gab es ein derartiges Einvernehmen mit den Nachbarn nicht. Zu tief waren die Wunden des Krieges. Die als ungerecht empfundene Zerreissung Tirols sowie die Verkleinerung Kärntens und der südlichen Steiermark war für viele demütigend. Doch nun mussten nicht weniger als 1672 Kilometer an neuer Grenze rund um den Rumpfstaat festgelegt werden, was eine direkte Folge des Staatsvertrags von Saint-Germain vom 10. September 1919 war.
An diesem Tag unterzeichnete Staatskanzler Renner den Vertrag, den die Wiener konstituierende Nationalversammlung nolens volens genehmigt hatte. Der Staatsvertrag trat am 16. Juli 1920 in Kraft, das italienische Annexionsgesetz sodann am 10. Oktober. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mussten die Arbeiten an der neuen Grenze ihren Lauf nehmen.
Wo ist die Wasserscheide?
Gemischte Grenzregelungsausschüsse unter alliiertem Vorsitz begingen von der Schweizer Grenze beim Unterengadiner Piz Lad ausgehend die Alpen und arbeiteten sich vom Reschenpass über die Ötztaler und Zillertaler Alpen bis nach Osttirol auf beschwerlichen Wegen vor. Unweit von Lienz und Hermagor übernahm eine weitere Gruppe die Arbeiten an der Kärntner Grenze zu Italien. Das in den Karnischen Alpen operierende italienisch-österreichische Duo geriet allerdings heftig in Streit, wogegen die Arbeiten des Tiroler Grenzregelungsausschusses meist konsensual, wenn auch nicht ohne Kontroversen verliefen.
Der Vertrag von Saint-Germain legte in den Alpen die Wasserscheide als natürliche Grenze zwischen Nord und Süd fest, ermächtigte aber die Grenzregelungsausschüsse zu Abweichungen. Bei genauerer Betrachtung erwies sich die Wasserscheide nicht als wirklich operationales Kriterium für eine Grenzziehung im Hochgebirge. Der Begriff gab vor allem dort Anlass zu Auslegungsproblemen, wo kein Wasser oberirdisch sichtbar war, wie in den damals weit ausgedehnteren Gletscherregionen am Similauner und Tribulauner Feld.
Was auf dem Verhandlungstisch hinsichtlich der Auffindbarkeit in der Natur als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, erwies sich in der Realität als Sisyphusarbeit und oftmals als Stein des Anstosses. Dies umso mehr, als die beteiligten Akteure eben noch verfeindet waren und nun um jeden Meter Geröllhalde, Weideland, um Quellen, Schneefelder, Gipfelkreuze und Schutzhütten rangen.
Die Hauptarbeit hatten die beiden Kontrahenten mit ihren Hilfskräften zu leisten, das waren der italienische Oberst Alberto Pariani, der ab 1943 unter faschistischer Herrschaft Gouverneur von Tirana und später in deutscher und in alliierter Haft war, sowie der österreichische Oberstleutnant Alphons Bernhard, der einen Leidensweg ab 1938 in Gestapo-Haft und in den KZ Buchenwald und Dachau bis Mai 1944 erleben musste und schwer krank das NS-System überlebte.
Vor allem aber bedeutete das Festlegen der Grenze mühsame Arbeiten im Gelände, archivarische Recherchen und Befragungen der Ortsansässigen. Dies führte mitunter zu kuriosen Ergebnissen. So verlief nach glaubhaften Angaben die Grenze am Brenner den Dachfirst des Postgasthofs entlang. Angeblich war diese von Menschen beeinflusste Wasserscheide schon in Zeiten der k. u. k. Monarchie eine Sehenswürdigkeit, weil Regentropfen, die auf die nördliche Dachseite fielen, Richtung Inn, Donau und Schwarzes Meer entwässerten, jene im Süden hingegen in die Adria.
Der österreichische Vertreter im Grenzregelungsausschuss setzte alles daran, die Ortschaft Brenner für Österreich zu erhalten, Politiker sicherten den Ortsansässigen Straffreiheit hinsichtlich Schmuggel und Zolldelikten zu, aber letztlich entschied die vom Staatsvertrag ermächtigte Kommission anders, und sowohl der Bahnhof als auch der Gasthof und das Postgebäude wurden italienisch. Die geplagten Anwohner eines Dorfteils (Weiler Kerschbaum), der österreichisch blieb, baten später darum, auch dem Königreich im Süden zugeordnet zu werden, weil Schikanen wie Drahtverhaue mitten in den Weiden und das Verbot des Grenzübertritts den Alltag vergifteten.
Eine Hütte und zwei Eingänge
Zu einer weiteren Kuriosität führte die Lage der Landshuter Hütte in den Zillertaler Alpen, sie stand direkt auf der Wasserscheide. Die Grenze wäre durch den Gastraum verlaufen, der Hüttenzugang in Italien gelegen, die Wasserquelle aber in Österreich. Hier fand der Grenzregelungsausschuss eine Lösung, die man fast als salomonisch bezeichnen könnte. Die Hütte wurde vorerst geteilt, erhielt aber einen Anbau und einen zweiten Eingang im Norden. Noch heute wird die Hütte von zwei Alpenvereinen bewirtschaftet, dem Südtiroler und dem österreichischen.
Weniger gut erging es allerdings der Helmhütte bei Sillian, die an einem markanten Aussichtspunkt lag und zur Gänze an Italien fiel. Die Grenzwächter demontierten die originale Plattform auf dem Dach, welche in k. u. k. Zeiten den Blick ins nunmehr italienische Pustertal, aber auch in die anderen Himmelsrichtungen ermöglicht hatte. Eine strategisch derartig wichtige Plattform wollte der italienische Oberst Pariani nicht dulden. Nach Jahrzehnten militärischer Nutzung verfiel die Hütte. In Sichtweite baute der österreichische Alpenverein die grosse Sillianer Hütte. Von hier aus erschien die Helmhütte zumal bei Nebel wie ein Mahnmal.
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Gerhard Strejcek
Nach St. Germain: Feilschen um jeden Meter
Wiener Zeitung, 08.09.2019
Landvermesser und Grenzregelungsausschüsse mussten die im Freidensvertrag nur grob festgelegten Grenzen markieren – eine Fortsetzung des Krieges mit subtilen Mitteln.
In Franz Kafkas Romanfragment "Das Schloss" erscheint eines Tages ein Landvermesser in einem verschneiten Dorf. Trotz seines selbstbewussten Auftretens und seiner Bemühungen, Informationen über die gräfliche Herrschaft und seine Aufgabe einzuholen, bleibt ihm der Eintritt in das Schloss verwehrt. Der Landvermesser erhält Gehilfen "von oben" zugeordnet, die sich als unfähig erweisen. Letztlich bleibt ihm ein klarer Auftrag versagt. Die Dorfbewohner fühlen es: Der Landvermesser hat wenig Macht, er kann seine Ansprüche nicht durchsetzen. In das Schloss wird er nie aufgenommen.
Ähnliche Erlebnisse wie Kafkas Landvermesser in der böhmischen Winterlandschaft hatten die Mitglieder der international zusammengesetzten Grenzregelungsausschüsse in der Ersten Republik. Insgesamt ging es um mehr als 1670 Kilometer an neuen Grenzen, die es zwischen 1921 und 1924 festzulegen und zu vermessen galt. Die sogenannten boundary commissions, die Anfang der Zwanzigerjahre die neuen Grenzabschnitte markierten und aufzeichneten, hatten die undankbare Aufgabe, die im Staatsvertrag von Saint Germain grob festgelegte Grenzlinie in oftmals unwegsamen Geländeabschnitten zu begehen und mit Grenzsteinen in Sichtweite voneinander festzulegen.
Originelle Designs
Die Italiener hatten sich originelle Designs überlegt, wie sie ihre neue "heilige" Grenze dokumentieren wollten, so etwa am Grenzstein e-49 am Brenner, der einen besonders eleganten "cippo" erhielt und dessen Inschrift auf die von oben erhörte Stimme der Mutter Rom Bezug nahm. Ähnliche Monumente stehen am Reschenpass, an der Draugrenze und am Ofenpass (Pec). Die Arbeiter, Vermesser und Helfer vor Ort hatten hingegen weniger ästhetische Bedürfnisse, sondern kämpften gegen Unwetter, steile Rinnen und Gletscherspalten.
Ihre Rechte waren zwar verbrieft, wurden aber von mürrischen Zöllnern und Finanzwächtern oft missachtet, wenn die ranghohen Offiziere nicht vor Ort waren. Auch die Einwohner, welche die Kommissionen unterstützen sollten, betrachteten die exotischen Gäste, die allerlei Gerät in Rucksäcken und Kraxen auf lichte Höhen schleppten, mit Misstrauen. Zudem musste der neue Grenzabschnitt von Bäumen befreit und ausgelichtet werden.
Besonderes Aufsehen erregte es, wenn eine Grenzlinie eine Schutzhütte halbierte (wie bei der Landshuter Hütte), am Dachfirst eines Gebäudes verlief, wie am Brenner-Postgebäude, oder zum Verfall einer preisgegebenen Hütte führte, wie am Helmspitz bei Sillian. All diese Vorgänge fanden in den letzten Jahren ihre wissenschaftliche Aufarbeitung, beginnend mit einer Expertenstudie des Technikers Heinz König 2004, einer bemerkenswerten Innsbrucker Diplomarbeit von Philipp Egger 2018 und einem instruktiven historischen Bildband von Marion Dotter und Stefan Wedrac, der im Vorjahr erschienen ist.
Hier aber soll es um eine Facette gehen, welche das Schicksal der Mitglieder der Grenzregelungsausschüsse und ihre verdienstvolle Arbeit beleuchtet, die nicht ausreichend gewürdigt wurde. Besonders der später von den NS-Schergen verfolgte Oberst Alphons Bernhard und sein Nachfolger Carl Hervay sowie der Kärntner "Unterkommissär" Franz Karl Kohla sowie der im Burgenland tätige Beamte Stefan Neugebauer erbrachten bemerkenswerte diplomatische Leistungen im Dienste Österreichs.
Für Kommissionsentscheidungen galt das Mehrheitsprinzip, wobei aber die Alliierten das Sagen hatten - die fünfköpfigen Ausschüsse standen unter britischer, französischer oder (im Burgenland) italienischer Leitung, ein japanischer Offizier ergänzte den Reigen der einstigen "Feinde". Somit hatten die österreichischen Mitglieder nur eine Stimme (gegen vier) und verfügten in einem kafkaesken Sinn zwar über das Recht zu verhandeln und wichtige Interessen der Heimat zu verteidigen, gingen damit aber oft unter, wie der Verlust von Schutzhütten und ganzen Ortsteilen zeigte.
Die besser ausgerüsteten Nachbarn sahen die Grenzziehung auch als strategische Aufgabe an, um ihren neuen Besitzstand zu sichern. Auf den für Italien wichtigen Passhöhen zeigten sie nur wenig Kompromissbereitschaft, für Bahnhöfe galt eine Sonderbestimmung, sodass die Station am Brenner schließlich italienisch wurde. Noch im März 1921 bereiste der deutsche Diplomat Harry Graf Kessler den Pass und berichtete von einer blutigen Schlägerei zwischen einem Tiroler Wirt und betrunkenen Angehörigen des Eisenbahn-Personals.
Karten und Geometer
In mancherlei Hinsicht erinnerte die Grenzfestlegung an eine Fortsetzung des Kriegs mit subtileren Mitteln. Zu ihrer Unterstützung erhielten die Delegationsmitglieder von beiden Seiten Kartenmaterial und Geometer, die das Gelände tachymetrisch aufnahmen und Reliefs zeichneten. Zudem leisteten drei Landesgrenzkommissionen "Propaganda"-Arbeit und sicherten den künftigen Bewohnern von Grenzorten ihre Unterstützung zu, was bei Zeugenbefragungen vor Ort nützlich war. Wer wegen Schmuggel oder illegalen Grenzübergängen verfolgt wurde, konnte sich womöglich einen Straferlass herausverhandeln.
Wer künftig in welchem Land leben sollte, war trotz bestehender Gemeinde- und Katastralgrenzen unklar; für die Grenzland-Bauern bedeuteten Dreimeterzäune auf der Weide und das Verbot, die Almen in Gehweite zu nutzen, schwere Schikanen. Die Österreicher, denen die Niederlage nach viereinhalb Jahren Krieg noch in den Knochen steckte, mussten sich zudem über den genauen Verlauf der Grenze mit den anderen Mitgliedern der gemischten Ausschüsse vor Ort einigen. Sie litten unter materieller Unterversorgung, miserablen Bergschuhen sowie Kompetenzstreitigkeiten, die in der jungen Republik auf der Tagesordnung standen. Seit 1919 bestanden drei Zentralgrenzkommissionen mit Sitz in Innsbruck, Graz und Wien, die sich als übergeordnete Behörden empfanden und ihre Vorstellungen gegenüber den österreichischen Vertretern der bevollmächtigten Ausschüsse durchsetzen wollten.
Das ging nur solange gut, bis eines Tages der interne Streit eskalierte und einer der prominentesten Kommissäre im westlichen Abschnitt, Oberstleutnant Alphons Bernhard, das Handtuch warf. Er wurde durch den Angehörigen einer bekannten Familie, Oberst Carl Hervay (früher Carl Chevalier de Hervay-Kirchberg) ersetzt. Einst hatte der Bruder des Weltkriegs-Fliegers Egon Hervay und des von Karl Kraus 1904 publizistisch hart angefassten steirischen Bezirkshauptmannes Franz Hervay im Bigamieprozess von Leoben aussagen müssen.
In Militärkreisen galt der Wiener Kavalleriekommandant Hervay, dessen Unterschrift auf den Grenzplänen aufscheint, aber als erste "k.u.k." Wahl. Nun diente er nolens volens der Republik. Auch Bernhard, der nach der Pensionierung 1921 zum Titularoberst befördert wurde, erwies sich als Legitimist, der sein Engagement für Habsburg und die "Vaterländischen" bitter bezahlen musste.
Bernhard & Pariani
Wie in Brouceks dreibändiger Biografie des Generals und NS-affinen Ministers Glaise-Horstenau zu lesen ist, verhaftete die Gestapo nur wenige Wochen nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 regimetreue Offiziere, von denen Bernhard zunächst ins KZ Buchenwald und dann bis 1944 ins KZ Dachau verbracht wurde, von wo er schwer krank heimkehrte.
Gerade Bernhard und Hervay, der einen italienischen Orden als "feindliche" Auszeichnung ablehnte, mussten sich mit der Auslegung von unklaren Begriffen wie der "Wasserscheide" (Engl. "water-shed") herumschlagen. Ihnen stand mit dem damaligen Oberst und späteren Generalstabschef Alberto Pariani ein sehr begabter und intelligenter Offizier gegenüber, der später von Mussolini zum Attaché und zum Gouverneur von Tirana ernannt wurde.
Eine der vielen Pointen der Geschichte war, dass der Mailänder Pariani und der in Riva am Gardasee geborene Bernhard miteinander bestens kommunizieren konnten. Seine Italienischkenntnisse erleichterten dem ehemaligen k.u.k. Offizier die Arbeit, bei der er als Einziger immer Zivil trug und korrekt, aber bestimmt und stets mit einem ironischen Lächeln auftrat. Sein umfassendes Wissen nutzte ihm auch bei Interpretationsfragen. Denn der Staatsvertrag von Saint Germain war nur in Französisch, partiell auch in Englisch und Italienisch verbindlich, weshalb die heute noch in der österreichischen Verfassung bestehenden Minderheitenschutzregeln nur Übersetzungen der betreffenden neun Artikel sind.
Alpen-Wasserscheiden
Die damalige Grenzregelung ist nicht mehr gültig, sondern zwischenzeitig durch zwei Verträge aus den Jahren 1929 und 2006 mit Italien amikal geregelt worden. Doch nach dem Ersten Weltkrieg feilschten die Ausschussmitglieder um jeden Meter. Während die Wasserwege in ihrem Verlauf samt den schiffbaren Rinnen präzisiert wurden, sollte die Alpengrenze künftig dort verlaufen, wo die Wasserscheide zwischen den "Bassins" von Inn (Norden) und Etsch (Süden) oder der Drau (Norden) und den Flüssen Piave/Tagliamento (Süden) bestand.
Letztlich landet ein Regentropfen entweder im Schwarzen Meer oder in der Adria, was bis 1919 kein Thema gewesen war, nun aber besonders im Gletschergebiet zu Unklarheiten führte. Da hier der Wasserverlauf oft unsichtbar war, griffen die Ausschüsse zu Kompromisslösungen und Begradigungen, die am Similauner Gletscher dazu führten, dass der am 19. 9. 1991 entdeckte "Ötzi" Italien zugesprochen wurde, obwohl der Fundort am Tisenjoch Richtung Österreich entwässert. Heute gehört er wieder zu Österreich, allerdings ist der Gletscher dort bereits abgeschmolzen und der berühmte Ort, an dem ein mit italienischen Waffen versehener Mensch vor 5000 Jahren den Tod fand, abgesehen von einem Steindenkmal verwaist.
Aber immer noch finden Metallsammler und Raritätensucher Überreste von Soldaten, die für eine durch den EU-Binnenmarkt "devaluierte" Neuordnung der Grenzen ihr Leben geben mussten.
Literaturhinweis:
Marion Dotter/Stefan Wedrac
Der hohe Preis des Friedens
Geschichte der Teilung Tirols 1918 bis 1922
Tyrolia/Athesia, Innsbruck/Bozen, 2. Aufl. 2019, 296 Seiten
In Franz Kafkas Romanfragment "Das Schloss" erscheint eines Tages ein Landvermesser in einem verschneiten Dorf. Trotz seines selbstbewussten Auftretens und seiner Bemühungen, Informationen über die gräfliche Herrschaft und seine Aufgabe einzuholen, bleibt ihm der Eintritt in das Schloss verwehrt. Der Landvermesser erhält Gehilfen "von oben" zugeordnet, die sich als unfähig erweisen. Letztlich bleibt ihm ein klarer Auftrag versagt. Die Dorfbewohner fühlen es: Der Landvermesser hat wenig Macht, er kann seine Ansprüche nicht durchsetzen. In das Schloss wird er nie aufgenommen.
Ähnliche Erlebnisse wie Kafkas Landvermesser in der böhmischen Winterlandschaft hatten die Mitglieder der international zusammengesetzten Grenzregelungsausschüsse in der Ersten Republik. Insgesamt ging es um mehr als 1670 Kilometer an neuen Grenzen, die es zwischen 1921 und 1924 festzulegen und zu vermessen galt. Die sogenannten boundary commissions, die Anfang der Zwanzigerjahre die neuen Grenzabschnitte markierten und aufzeichneten, hatten die undankbare Aufgabe, die im Staatsvertrag von Saint Germain grob festgelegte Grenzlinie in oftmals unwegsamen Geländeabschnitten zu begehen und mit Grenzsteinen in Sichtweite voneinander festzulegen.
Originelle Designs
Die Italiener hatten sich originelle Designs überlegt, wie sie ihre neue "heilige" Grenze dokumentieren wollten, so etwa am Grenzstein e-49 am Brenner, der einen besonders eleganten "cippo" erhielt und dessen Inschrift auf die von oben erhörte Stimme der Mutter Rom Bezug nahm. Ähnliche Monumente stehen am Reschenpass, an der Draugrenze und am Ofenpass (Pec). Die Arbeiter, Vermesser und Helfer vor Ort hatten hingegen weniger ästhetische Bedürfnisse, sondern kämpften gegen Unwetter, steile Rinnen und Gletscherspalten.
Ihre Rechte waren zwar verbrieft, wurden aber von mürrischen Zöllnern und Finanzwächtern oft missachtet, wenn die ranghohen Offiziere nicht vor Ort waren. Auch die Einwohner, welche die Kommissionen unterstützen sollten, betrachteten die exotischen Gäste, die allerlei Gerät in Rucksäcken und Kraxen auf lichte Höhen schleppten, mit Misstrauen. Zudem musste der neue Grenzabschnitt von Bäumen befreit und ausgelichtet werden.
Besonderes Aufsehen erregte es, wenn eine Grenzlinie eine Schutzhütte halbierte (wie bei der Landshuter Hütte), am Dachfirst eines Gebäudes verlief, wie am Brenner-Postgebäude, oder zum Verfall einer preisgegebenen Hütte führte, wie am Helmspitz bei Sillian. All diese Vorgänge fanden in den letzten Jahren ihre wissenschaftliche Aufarbeitung, beginnend mit einer Expertenstudie des Technikers Heinz König 2004, einer bemerkenswerten Innsbrucker Diplomarbeit von Philipp Egger 2018 und einem instruktiven historischen Bildband von Marion Dotter und Stefan Wedrac, der im Vorjahr erschienen ist.
Hier aber soll es um eine Facette gehen, welche das Schicksal der Mitglieder der Grenzregelungsausschüsse und ihre verdienstvolle Arbeit beleuchtet, die nicht ausreichend gewürdigt wurde. Besonders der später von den NS-Schergen verfolgte Oberst Alphons Bernhard und sein Nachfolger Carl Hervay sowie der Kärntner "Unterkommissär" Franz Karl Kohla sowie der im Burgenland tätige Beamte Stefan Neugebauer erbrachten bemerkenswerte diplomatische Leistungen im Dienste Österreichs.
Für Kommissionsentscheidungen galt das Mehrheitsprinzip, wobei aber die Alliierten das Sagen hatten - die fünfköpfigen Ausschüsse standen unter britischer, französischer oder (im Burgenland) italienischer Leitung, ein japanischer Offizier ergänzte den Reigen der einstigen "Feinde". Somit hatten die österreichischen Mitglieder nur eine Stimme (gegen vier) und verfügten in einem kafkaesken Sinn zwar über das Recht zu verhandeln und wichtige Interessen der Heimat zu verteidigen, gingen damit aber oft unter, wie der Verlust von Schutzhütten und ganzen Ortsteilen zeigte.
Die besser ausgerüsteten Nachbarn sahen die Grenzziehung auch als strategische Aufgabe an, um ihren neuen Besitzstand zu sichern. Auf den für Italien wichtigen Passhöhen zeigten sie nur wenig Kompromissbereitschaft, für Bahnhöfe galt eine Sonderbestimmung, sodass die Station am Brenner schließlich italienisch wurde. Noch im März 1921 bereiste der deutsche Diplomat Harry Graf Kessler den Pass und berichtete von einer blutigen Schlägerei zwischen einem Tiroler Wirt und betrunkenen Angehörigen des Eisenbahn-Personals.
Karten und Geometer
In mancherlei Hinsicht erinnerte die Grenzfestlegung an eine Fortsetzung des Kriegs mit subtileren Mitteln. Zu ihrer Unterstützung erhielten die Delegationsmitglieder von beiden Seiten Kartenmaterial und Geometer, die das Gelände tachymetrisch aufnahmen und Reliefs zeichneten. Zudem leisteten drei Landesgrenzkommissionen "Propaganda"-Arbeit und sicherten den künftigen Bewohnern von Grenzorten ihre Unterstützung zu, was bei Zeugenbefragungen vor Ort nützlich war. Wer wegen Schmuggel oder illegalen Grenzübergängen verfolgt wurde, konnte sich womöglich einen Straferlass herausverhandeln.
Wer künftig in welchem Land leben sollte, war trotz bestehender Gemeinde- und Katastralgrenzen unklar; für die Grenzland-Bauern bedeuteten Dreimeterzäune auf der Weide und das Verbot, die Almen in Gehweite zu nutzen, schwere Schikanen. Die Österreicher, denen die Niederlage nach viereinhalb Jahren Krieg noch in den Knochen steckte, mussten sich zudem über den genauen Verlauf der Grenze mit den anderen Mitgliedern der gemischten Ausschüsse vor Ort einigen. Sie litten unter materieller Unterversorgung, miserablen Bergschuhen sowie Kompetenzstreitigkeiten, die in der jungen Republik auf der Tagesordnung standen. Seit 1919 bestanden drei Zentralgrenzkommissionen mit Sitz in Innsbruck, Graz und Wien, die sich als übergeordnete Behörden empfanden und ihre Vorstellungen gegenüber den österreichischen Vertretern der bevollmächtigten Ausschüsse durchsetzen wollten.
Das ging nur solange gut, bis eines Tages der interne Streit eskalierte und einer der prominentesten Kommissäre im westlichen Abschnitt, Oberstleutnant Alphons Bernhard, das Handtuch warf. Er wurde durch den Angehörigen einer bekannten Familie, Oberst Carl Hervay (früher Carl Chevalier de Hervay-Kirchberg) ersetzt. Einst hatte der Bruder des Weltkriegs-Fliegers Egon Hervay und des von Karl Kraus 1904 publizistisch hart angefassten steirischen Bezirkshauptmannes Franz Hervay im Bigamieprozess von Leoben aussagen müssen.
In Militärkreisen galt der Wiener Kavalleriekommandant Hervay, dessen Unterschrift auf den Grenzplänen aufscheint, aber als erste "k.u.k." Wahl. Nun diente er nolens volens der Republik. Auch Bernhard, der nach der Pensionierung 1921 zum Titularoberst befördert wurde, erwies sich als Legitimist, der sein Engagement für Habsburg und die "Vaterländischen" bitter bezahlen musste.
Bernhard & Pariani
Wie in Brouceks dreibändiger Biografie des Generals und NS-affinen Ministers Glaise-Horstenau zu lesen ist, verhaftete die Gestapo nur wenige Wochen nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 regimetreue Offiziere, von denen Bernhard zunächst ins KZ Buchenwald und dann bis 1944 ins KZ Dachau verbracht wurde, von wo er schwer krank heimkehrte.
Gerade Bernhard und Hervay, der einen italienischen Orden als "feindliche" Auszeichnung ablehnte, mussten sich mit der Auslegung von unklaren Begriffen wie der "Wasserscheide" (Engl. "water-shed") herumschlagen. Ihnen stand mit dem damaligen Oberst und späteren Generalstabschef Alberto Pariani ein sehr begabter und intelligenter Offizier gegenüber, der später von Mussolini zum Attaché und zum Gouverneur von Tirana ernannt wurde.
Eine der vielen Pointen der Geschichte war, dass der Mailänder Pariani und der in Riva am Gardasee geborene Bernhard miteinander bestens kommunizieren konnten. Seine Italienischkenntnisse erleichterten dem ehemaligen k.u.k. Offizier die Arbeit, bei der er als Einziger immer Zivil trug und korrekt, aber bestimmt und stets mit einem ironischen Lächeln auftrat. Sein umfassendes Wissen nutzte ihm auch bei Interpretationsfragen. Denn der Staatsvertrag von Saint Germain war nur in Französisch, partiell auch in Englisch und Italienisch verbindlich, weshalb die heute noch in der österreichischen Verfassung bestehenden Minderheitenschutzregeln nur Übersetzungen der betreffenden neun Artikel sind.
Alpen-Wasserscheiden
Die damalige Grenzregelung ist nicht mehr gültig, sondern zwischenzeitig durch zwei Verträge aus den Jahren 1929 und 2006 mit Italien amikal geregelt worden. Doch nach dem Ersten Weltkrieg feilschten die Ausschussmitglieder um jeden Meter. Während die Wasserwege in ihrem Verlauf samt den schiffbaren Rinnen präzisiert wurden, sollte die Alpengrenze künftig dort verlaufen, wo die Wasserscheide zwischen den "Bassins" von Inn (Norden) und Etsch (Süden) oder der Drau (Norden) und den Flüssen Piave/Tagliamento (Süden) bestand.
Letztlich landet ein Regentropfen entweder im Schwarzen Meer oder in der Adria, was bis 1919 kein Thema gewesen war, nun aber besonders im Gletschergebiet zu Unklarheiten führte. Da hier der Wasserverlauf oft unsichtbar war, griffen die Ausschüsse zu Kompromisslösungen und Begradigungen, die am Similauner Gletscher dazu führten, dass der am 19. 9. 1991 entdeckte "Ötzi" Italien zugesprochen wurde, obwohl der Fundort am Tisenjoch Richtung Österreich entwässert. Heute gehört er wieder zu Österreich, allerdings ist der Gletscher dort bereits abgeschmolzen und der berühmte Ort, an dem ein mit italienischen Waffen versehener Mensch vor 5000 Jahren den Tod fand, abgesehen von einem Steindenkmal verwaist.
Aber immer noch finden Metallsammler und Raritätensucher Überreste von Soldaten, die für eine durch den EU-Binnenmarkt "devaluierte" Neuordnung der Grenzen ihr Leben geben mussten.
Literaturhinweis:
Marion Dotter/Stefan Wedrac
Der hohe Preis des Friedens
Geschichte der Teilung Tirols 1918 bis 1922
Tyrolia/Athesia, Innsbruck/Bozen, 2. Aufl. 2019, 296 Seiten
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Gerhard Strejcek
Martin Bolz über Nager, Herrscher und Evangelische
Wiener Zeitung, 24.08.2019
Der protestantische Theologe bietet mit seiner Novellensammlung "Maximilian Mäusekaiser" eine humorvolle Form der Fortbildung.
Dass die unscheinbaren Nager den Menschen gefährlich werden können, davon wissen die Getreidebauern aus den Bezirken Mistelbach und Gänserndorf in diesem Sommer 2019 ein Lied zu singen, der sie mit einer regelrechten Mäuseplage konfrontiert.
Auch in der Weltliteratur hat die Maus ihren fixen Platz erobert, nicht nur in Kafkas "Josefine" oder in Grimms Märchen, die unterschiedliche Lebensmodelle der gar nicht so verschiedenen Stadt- und Feldmaus enthalten, sondern auch in einem wunderbaren schottischen Gedicht, in dem es in existenzialistischer Weise heißt, dass wohl geschmiedete Pläne von Mäusen und Menschen oft ins Leere führen.
Mus musculus
Aus der selbst für Anglophone fremd klingenden lyrischen Formel ("the best laid schemes o’ mice an’ men gang oft agley") des Dichters Robert Burns aus dem Jahr 1786 entstand als Zitat der berühmte Novellentitel von John Steinbeck "Über Mäuse und Menschen" aus dem Jahr 1937, dessen Geschichte zwei Jahre später als Film dramatisiert wurde und ebenso sozialkritisch und gehaltvoll ist wie viele der eindrucksvoll vielseitigen Bolz-Werke.
Der 1945 in Wiesbaden geborene, seit Jahrzehnten in Österreich wirkende evangelische Theologe, Philosoph und ehemalige Schulinspektor stellt in seinen neuen "Spiegelgeschichten" die Gattung mus musculus in den Vordergrund, die wir als mäuseartige Lebewesen kennen, hassen oder wie ein Haustier hätscheln. An jede Geschichte schließt sich eine kurze reflektierende Passage, die den märchenhaften oder historischen Inhalt der recht unterschiedlichen Episoden analysiert.
Die Novellensammlung eignet sich besonders als Kranken-, Fe-rien- oder Reiselektüre, da sich der Mäusekaiser zwar als durchgängiges Band durch das Buch zieht, der Einstieg in das reich illustrierte Werk aber auch mittendrin möglich ist. Bolz unterhält den Betrachter mit historischen Mäuse- und Naturdarstellungen, kolorierten Stichen und stimmungsvollen Fotos, die er meist auf Reisen oder im Tullnerfeld, seiner engeren Heimat, anfertigt.
Wie stets nach Genuss von Bolzens abwechslungsreichen Bänden in der bibliophilen Edition Noack&Block, gerät der Leser ins Reflektieren über die Maus als kleines, aber mächtiges Lebewesen. Der Autor bringt bekannte und unbekannte Seiten des Mäuselebens zutage, das er auch ins italienische Höhlengebiet von Positano verpflanzt. Märchenhaft lässt der Autor den Mäusekaiser entlang von Glasfaserkabeln Informationen aus dem weltweiten Netz absaugen, was nicht nur ein originelles Bild darstellt, sondern auch eine tiefschürfende Metapher der Informationsgesellschaft, die nicht merkt, an welchen Ecken und Enden sich unerwartete Mithörer und -seher in die scheinbar sicheren Kommunikationswege einkoppeln.
Zwischen den Mäusegeschichten, in denen ethische Weisheiten in humorvollen Dosen dargebracht werden, bringt Bolz auch Gedanken und Bilder zur reformatorischen Geschichte Wiens ein, etwa zum Klosterneuburger Blutgericht aus 1522, als acht Evangelische, denen ein Aufstand unterstellt wurde, hingerichtet wurden. Dies geschah in jenem Jahr, in dem noch der Reformator Paulus Speratus im Stephansdom predigte.
Wiener Protestanten
Bolz erinnert an jene Wiener Protestanten, die nach dem Verbot, innerhalb der Stadtmauern evangelische Gottesdienste abzuhalten, in die schön gelegene Burg des reformierten Adeligen Jörger ins damals ländliche Hernals auszogen und dies jeden Sonntag wiederholten, sodass die Gegend rund um den Kalvarienberg nur scheinbar ein Hort des Katholizismus war.
Diese Demütigungen und Erschwernisse in einem Jahr in Erinnerung zu rufen, in dem eine Regierung, in der immerhin drei Evangelische saßen, einen in den 1950er Jahren mit gutem Grund eingeführten hohen Feiertag, den Karfreitag, den evangelischen, altkatholischen und methodistischen Mitbürgern wegnahm, gibt dem kleinen, aber feinen Buch auch eine politische Dimension.
Literaturhinweis:
Martin Bolz
Maximilian Mäusekaiser
Spiegelgeschichten.
Edition Noack & Block in der Frank und Timme GmbH, Berlin 2019, 100 Seiten
Dass die unscheinbaren Nager den Menschen gefährlich werden können, davon wissen die Getreidebauern aus den Bezirken Mistelbach und Gänserndorf in diesem Sommer 2019 ein Lied zu singen, der sie mit einer regelrechten Mäuseplage konfrontiert.
Auch in der Weltliteratur hat die Maus ihren fixen Platz erobert, nicht nur in Kafkas "Josefine" oder in Grimms Märchen, die unterschiedliche Lebensmodelle der gar nicht so verschiedenen Stadt- und Feldmaus enthalten, sondern auch in einem wunderbaren schottischen Gedicht, in dem es in existenzialistischer Weise heißt, dass wohl geschmiedete Pläne von Mäusen und Menschen oft ins Leere führen.
Mus musculus
Aus der selbst für Anglophone fremd klingenden lyrischen Formel ("the best laid schemes o’ mice an’ men gang oft agley") des Dichters Robert Burns aus dem Jahr 1786 entstand als Zitat der berühmte Novellentitel von John Steinbeck "Über Mäuse und Menschen" aus dem Jahr 1937, dessen Geschichte zwei Jahre später als Film dramatisiert wurde und ebenso sozialkritisch und gehaltvoll ist wie viele der eindrucksvoll vielseitigen Bolz-Werke.
Der 1945 in Wiesbaden geborene, seit Jahrzehnten in Österreich wirkende evangelische Theologe, Philosoph und ehemalige Schulinspektor stellt in seinen neuen "Spiegelgeschichten" die Gattung mus musculus in den Vordergrund, die wir als mäuseartige Lebewesen kennen, hassen oder wie ein Haustier hätscheln. An jede Geschichte schließt sich eine kurze reflektierende Passage, die den märchenhaften oder historischen Inhalt der recht unterschiedlichen Episoden analysiert.
Die Novellensammlung eignet sich besonders als Kranken-, Fe-rien- oder Reiselektüre, da sich der Mäusekaiser zwar als durchgängiges Band durch das Buch zieht, der Einstieg in das reich illustrierte Werk aber auch mittendrin möglich ist. Bolz unterhält den Betrachter mit historischen Mäuse- und Naturdarstellungen, kolorierten Stichen und stimmungsvollen Fotos, die er meist auf Reisen oder im Tullnerfeld, seiner engeren Heimat, anfertigt.
Wie stets nach Genuss von Bolzens abwechslungsreichen Bänden in der bibliophilen Edition Noack&Block, gerät der Leser ins Reflektieren über die Maus als kleines, aber mächtiges Lebewesen. Der Autor bringt bekannte und unbekannte Seiten des Mäuselebens zutage, das er auch ins italienische Höhlengebiet von Positano verpflanzt. Märchenhaft lässt der Autor den Mäusekaiser entlang von Glasfaserkabeln Informationen aus dem weltweiten Netz absaugen, was nicht nur ein originelles Bild darstellt, sondern auch eine tiefschürfende Metapher der Informationsgesellschaft, die nicht merkt, an welchen Ecken und Enden sich unerwartete Mithörer und -seher in die scheinbar sicheren Kommunikationswege einkoppeln.
Zwischen den Mäusegeschichten, in denen ethische Weisheiten in humorvollen Dosen dargebracht werden, bringt Bolz auch Gedanken und Bilder zur reformatorischen Geschichte Wiens ein, etwa zum Klosterneuburger Blutgericht aus 1522, als acht Evangelische, denen ein Aufstand unterstellt wurde, hingerichtet wurden. Dies geschah in jenem Jahr, in dem noch der Reformator Paulus Speratus im Stephansdom predigte.
Wiener Protestanten
Bolz erinnert an jene Wiener Protestanten, die nach dem Verbot, innerhalb der Stadtmauern evangelische Gottesdienste abzuhalten, in die schön gelegene Burg des reformierten Adeligen Jörger ins damals ländliche Hernals auszogen und dies jeden Sonntag wiederholten, sodass die Gegend rund um den Kalvarienberg nur scheinbar ein Hort des Katholizismus war.
Diese Demütigungen und Erschwernisse in einem Jahr in Erinnerung zu rufen, in dem eine Regierung, in der immerhin drei Evangelische saßen, einen in den 1950er Jahren mit gutem Grund eingeführten hohen Feiertag, den Karfreitag, den evangelischen, altkatholischen und methodistischen Mitbürgern wegnahm, gibt dem kleinen, aber feinen Buch auch eine politische Dimension.
Literaturhinweis:
Martin Bolz
Maximilian Mäusekaiser
Spiegelgeschichten.
Edition Noack & Block in der Frank und Timme GmbH, Berlin 2019, 100 Seiten
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Gerhard Strejcek
Drago Jancar über hoffnungslose Partisanen-Liebe
Wiener Zeitung, 11.08.2019
In seinem neuen Roman, "Wenn die Liebe ruht", erzählt der Autor und Jurist vom Leid der slowenischen Grenzlandbevölkerung in der NS-Ära und in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Drago Jancar thematisiert in seinem neuen Roman "Wenn die Liebe ruht" das Leid der slowenischen Grenzlandbevölkerung in der NS-Ära und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nach der deutschen Okkupation ab 1941, die von einem größeren Teil der Bevölkerung zunächst begrüßt, ja als mögliche Restauration der "alten", österreichischen Südsteiermark eingestuft wurde, entwickelten die NS-Machthaber gegenüber dem sich intensivierenden Partisanenkrieg ein wahres Schreckensregime, dem unzählige Unschuldige zu Opfer fielen. Junge Männer wurden zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen, andere gingen in die Wälder rund um den Marburger Hausberg Pohorje, um sich dem Widerstand anzuschließen und ihre Heimat von den Besatzern zu befreien.
Zwischen die Fronten gerieten insbesondere jene Bauern in ihren einsamen Grenzlandgehöften, die den Partisanen unter Druck oder aus menschlicher Solidarität Unterschlupf gewährten, dafür bei deutschen Strafaktionen mit dem Leben bezahlten, und deren Hof ein Raub der Flammen wurde. Weibliche Familienangehörige, die angeblich den "Banditen" geholfen hatten, landeten in unmenschlichen KZ, wie insbesondere dem Frauenlager Ravensbrück, oder wurden zu Bordelldiensten deportiert.
Perversion des Krieges
Ein derartiges Schicksal weist der Autor der Romanfigur Sonja, einer unschuldigen Arzttochter und Medizinstudentin in Graz zu, die ihren slowenischen Freund Valentin aus dem Folterkeller der Gestapo retten will und dafür zunächst bei einem SS-Offizier den hohen Preis des körperlichen Missbrauchs zahlen muss, ehe sie nach Rückkehr des Freigelassenen in die Partisanentruppe in eines der "Lager-Nord" deportiert wird.
Die Perversion des Krieges und das gegenseitige Misstrauen innerhalb der Bevölkerungsgruppen brachten es mit sich, dass auch nach 1945 kein Ende des Mordens und Folterns eintrat. Nun drehten die Kommunisten und OZNA-Funktionäre (Titoistischer Geheimdienst, Anm.) den Spieß um: Geheimdienstoffiziere und Politkommissare aus allen Landesteilen verbreiteten im wieder erstandenen Jugoslawien Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung. Wer im Verdacht stand, Kollaborateur oder gar Funktionär des NS-Regimes gewesen zu sein, wurde im Sammellager ternberg unter Prügeln und Zwangsarbeit für einen politischen Prozess "vorbereitet".
Nicht einmal jene Kämpfer blieben vor "Säuberungen" verschont, die ihr Leben in den Wäldern riskiert hatten. Oft genügte ein Amulett oder Heiligenbildchen, wie es die ortsansässigen Bauernburschen zu ihrer Firmung erhielten, um in den Verdacht antikommunistischer Agitation zu geraten.
Die Rolle des Inquisitors, der in den Reihen der Partisanen nach "Verrätern" sucht und wahllos Hinrichtungen befiehlt, weist Jancar einem serbischen Kommandanten namens Borban zu, der letztlich nur durch einen weiteren Mord seitens der Partisanentruppe gestoppt werden kann.
Hingegen verkörpert der Marburger Obersturmbannführer Ludwig "Ludek" Mischkolnig das Böse auf Seiten der Deutschen, wiewohl er selbst slowenische Wurzeln aufweist. Über 700 Gefangene ließ die Gestapo in Maribor hinrichten, die meisten ohne Verfahren und auf Grundlage von Denunziationen oder erpressten Geständnissen.
Realitätsnähe
Die durchaus realitätsnahe Rollenzuweisung hat Rezensenten (etwa in der "Frankfurter Rundschau") auf den Plan gerufen, die Jancar vorwerfen, zu polarisieren und damit Salz in die Wunden der bis heute - hinsichtlich einer "offiziellen" Geschichtsschreibung - gespaltenen Bevölkerung zu streuen. Aber gerade die eingehende Lektüre des überaus spannenden Romans zeigt, dass sich der einundsiebzigjährige Marburger Jurist, der in Ljubljana graduierte und dort auch seinen Wohnsitz hat, viel Mühe gibt, Stereotypen auszuweichen und Raum für differenzierende Zwischentöne zu schaffen.
Nur darf der Leser nicht in die Falle tappen, die psychologisch treffend akzentuierten Rechtfertigungsmuster, die sich alle Beteiligten gebetsmühlenartig verpassen, für bare Münze zu nehmen oder mit der politischen Meinung des Autors zu identifizieren, der im Jahr 1974 selbst wegen "feindlicher Propaganda" in volksdemokratischer Haft war.
Scheinargumente
Die Spirale der Gewalt drehte sich auch deshalb immer schneller, weil viele Akteure stets probate Ausreden für ihr inhumanes Verhalten zur Hand hatten. Sei es das oft gehörte Rechtfertigungsritual des "Pflichterfüllens" und Handelns auf "Befehl" seitens der NS-Täter, sei es die - angeblich nur mit Blut zu schreibende - "Gerechtigkeit", nach welcher die Partisanen dürsteten. In der Entlarvung dieser Scheinargumente hat Jancar, dem zu Recht zahlreiche Preise verliehen wurden, eine literarische Meisterschaft entwickelt.
Dass im Krieg die Liebe Pause macht, verdeutlicht der international gefeierte Autor in einer story, die viele poetische und lyrische Elemente aufweist. Der Leser erfährt einiges über die Seele und die Mentalität der Bevölkerung, die zwischen altösterreichischen, romanisch-illyrischen und slawischen Einflüssen oszilliert. Wenn das eine oder andere slowenische Lied auf Deutsch etwas holprig klingt, so ist das nicht der bemüht werktreuen Übersetzung von Daniela Kocmut vorzuhalten.
Natürlich könnten die mit subtilem Humor gewürzten Dialoge in die Hochsprache oder in einen Allerweltsdialekt übertragen werden, die man auch in bundesdeutschen Gefilden einwandfrei verstünde, doch wäre dies nur um den Preis des Authentizitätverlusts möglich. Wer die Region, die Eigenheiten und den Klang der kärntnerischen, südsteirischen und nordslowenischen Idiome kennt, weiß - oder ahnt zumindest -, wie sehr sich der Autor in die multiethnische Umgebung seiner engeren Heimat hineinversetzt.
Fatalismus
Das gilt ebenso für das akademische Umfeld, das zwischen den Universitäten in Graz und in Ljubljana angesiedelt wird, ebenso wie für die Krankenanstalten und das Personal in Maribor und in Ptuj, einer südlichöstlich gelegenen, reizvollen slowenischen Stadt, in der Jancar die zweite weibliche Hauptperson in Gestalt der Krankenschwester Katica ansiedelt.
Diese muss den Spagat zwischen aktiver Partisanenunerstützung in der Ära der NS-Herrschaft und dem von spontanem Mitleid getragenen Unterschlupf für den aus dem Lager ternberg geflohenen SS-Angehörigen Mischkolnig im Jahr 1945 bewältigen. Doch auch diese kurzfristig aufflackernde Beziehung ist zum Scheitern verurteilt, als sich nämlich herausstellt, dass der "Gerettete" ein Kriegsverbrecher ist, dessen Leben schon bald nach einer Straßenkontrolle ein gewaltsames Ende findet.
Der Leser muss mit dem Fatalismus des Autors zurecht kommen, der ihm keine dauerhafte Idylle oder ein Happy-End zu gönnen scheint. Aber so war nun einmal jene Grenzlandgeschichte, die hauptsächlich "mit Blut" geschrieben wurde, und in der die Humanität und die Liebe längere Pausen einlegten, als es für die Menschen zuträglich gewesen wäre. Alles in allem bietet dieser Roman viel Spannung, eine glaubwürdige Handlung vor slowenischem Lokakolorit in urbaner und regionaler Hinsicht sowie sanft verabreichte Bildungsdosen, welche zur neuerlichen Reflexion des Geschehenen anregen.
Literaturhinweis:
Drago Jancar
Wenn die Liebe ruht
Roman. Übersetzt von Daniela Kocmut.
Zsolnay, Wien 2019, 384 Seiten
Drago Jancar thematisiert in seinem neuen Roman "Wenn die Liebe ruht" das Leid der slowenischen Grenzlandbevölkerung in der NS-Ära und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nach der deutschen Okkupation ab 1941, die von einem größeren Teil der Bevölkerung zunächst begrüßt, ja als mögliche Restauration der "alten", österreichischen Südsteiermark eingestuft wurde, entwickelten die NS-Machthaber gegenüber dem sich intensivierenden Partisanenkrieg ein wahres Schreckensregime, dem unzählige Unschuldige zu Opfer fielen. Junge Männer wurden zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen, andere gingen in die Wälder rund um den Marburger Hausberg Pohorje, um sich dem Widerstand anzuschließen und ihre Heimat von den Besatzern zu befreien.
Zwischen die Fronten gerieten insbesondere jene Bauern in ihren einsamen Grenzlandgehöften, die den Partisanen unter Druck oder aus menschlicher Solidarität Unterschlupf gewährten, dafür bei deutschen Strafaktionen mit dem Leben bezahlten, und deren Hof ein Raub der Flammen wurde. Weibliche Familienangehörige, die angeblich den "Banditen" geholfen hatten, landeten in unmenschlichen KZ, wie insbesondere dem Frauenlager Ravensbrück, oder wurden zu Bordelldiensten deportiert.
Perversion des Krieges
Ein derartiges Schicksal weist der Autor der Romanfigur Sonja, einer unschuldigen Arzttochter und Medizinstudentin in Graz zu, die ihren slowenischen Freund Valentin aus dem Folterkeller der Gestapo retten will und dafür zunächst bei einem SS-Offizier den hohen Preis des körperlichen Missbrauchs zahlen muss, ehe sie nach Rückkehr des Freigelassenen in die Partisanentruppe in eines der "Lager-Nord" deportiert wird.
Die Perversion des Krieges und das gegenseitige Misstrauen innerhalb der Bevölkerungsgruppen brachten es mit sich, dass auch nach 1945 kein Ende des Mordens und Folterns eintrat. Nun drehten die Kommunisten und OZNA-Funktionäre (Titoistischer Geheimdienst, Anm.) den Spieß um: Geheimdienstoffiziere und Politkommissare aus allen Landesteilen verbreiteten im wieder erstandenen Jugoslawien Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung. Wer im Verdacht stand, Kollaborateur oder gar Funktionär des NS-Regimes gewesen zu sein, wurde im Sammellager ternberg unter Prügeln und Zwangsarbeit für einen politischen Prozess "vorbereitet".
Nicht einmal jene Kämpfer blieben vor "Säuberungen" verschont, die ihr Leben in den Wäldern riskiert hatten. Oft genügte ein Amulett oder Heiligenbildchen, wie es die ortsansässigen Bauernburschen zu ihrer Firmung erhielten, um in den Verdacht antikommunistischer Agitation zu geraten.
Die Rolle des Inquisitors, der in den Reihen der Partisanen nach "Verrätern" sucht und wahllos Hinrichtungen befiehlt, weist Jancar einem serbischen Kommandanten namens Borban zu, der letztlich nur durch einen weiteren Mord seitens der Partisanentruppe gestoppt werden kann.
Hingegen verkörpert der Marburger Obersturmbannführer Ludwig "Ludek" Mischkolnig das Böse auf Seiten der Deutschen, wiewohl er selbst slowenische Wurzeln aufweist. Über 700 Gefangene ließ die Gestapo in Maribor hinrichten, die meisten ohne Verfahren und auf Grundlage von Denunziationen oder erpressten Geständnissen.
Realitätsnähe
Die durchaus realitätsnahe Rollenzuweisung hat Rezensenten (etwa in der "Frankfurter Rundschau") auf den Plan gerufen, die Jancar vorwerfen, zu polarisieren und damit Salz in die Wunden der bis heute - hinsichtlich einer "offiziellen" Geschichtsschreibung - gespaltenen Bevölkerung zu streuen. Aber gerade die eingehende Lektüre des überaus spannenden Romans zeigt, dass sich der einundsiebzigjährige Marburger Jurist, der in Ljubljana graduierte und dort auch seinen Wohnsitz hat, viel Mühe gibt, Stereotypen auszuweichen und Raum für differenzierende Zwischentöne zu schaffen.
Nur darf der Leser nicht in die Falle tappen, die psychologisch treffend akzentuierten Rechtfertigungsmuster, die sich alle Beteiligten gebetsmühlenartig verpassen, für bare Münze zu nehmen oder mit der politischen Meinung des Autors zu identifizieren, der im Jahr 1974 selbst wegen "feindlicher Propaganda" in volksdemokratischer Haft war.
Scheinargumente
Die Spirale der Gewalt drehte sich auch deshalb immer schneller, weil viele Akteure stets probate Ausreden für ihr inhumanes Verhalten zur Hand hatten. Sei es das oft gehörte Rechtfertigungsritual des "Pflichterfüllens" und Handelns auf "Befehl" seitens der NS-Täter, sei es die - angeblich nur mit Blut zu schreibende - "Gerechtigkeit", nach welcher die Partisanen dürsteten. In der Entlarvung dieser Scheinargumente hat Jancar, dem zu Recht zahlreiche Preise verliehen wurden, eine literarische Meisterschaft entwickelt.
Dass im Krieg die Liebe Pause macht, verdeutlicht der international gefeierte Autor in einer story, die viele poetische und lyrische Elemente aufweist. Der Leser erfährt einiges über die Seele und die Mentalität der Bevölkerung, die zwischen altösterreichischen, romanisch-illyrischen und slawischen Einflüssen oszilliert. Wenn das eine oder andere slowenische Lied auf Deutsch etwas holprig klingt, so ist das nicht der bemüht werktreuen Übersetzung von Daniela Kocmut vorzuhalten.
Natürlich könnten die mit subtilem Humor gewürzten Dialoge in die Hochsprache oder in einen Allerweltsdialekt übertragen werden, die man auch in bundesdeutschen Gefilden einwandfrei verstünde, doch wäre dies nur um den Preis des Authentizitätverlusts möglich. Wer die Region, die Eigenheiten und den Klang der kärntnerischen, südsteirischen und nordslowenischen Idiome kennt, weiß - oder ahnt zumindest -, wie sehr sich der Autor in die multiethnische Umgebung seiner engeren Heimat hineinversetzt.
Fatalismus
Das gilt ebenso für das akademische Umfeld, das zwischen den Universitäten in Graz und in Ljubljana angesiedelt wird, ebenso wie für die Krankenanstalten und das Personal in Maribor und in Ptuj, einer südlichöstlich gelegenen, reizvollen slowenischen Stadt, in der Jancar die zweite weibliche Hauptperson in Gestalt der Krankenschwester Katica ansiedelt.
Diese muss den Spagat zwischen aktiver Partisanenunerstützung in der Ära der NS-Herrschaft und dem von spontanem Mitleid getragenen Unterschlupf für den aus dem Lager ternberg geflohenen SS-Angehörigen Mischkolnig im Jahr 1945 bewältigen. Doch auch diese kurzfristig aufflackernde Beziehung ist zum Scheitern verurteilt, als sich nämlich herausstellt, dass der "Gerettete" ein Kriegsverbrecher ist, dessen Leben schon bald nach einer Straßenkontrolle ein gewaltsames Ende findet.
Der Leser muss mit dem Fatalismus des Autors zurecht kommen, der ihm keine dauerhafte Idylle oder ein Happy-End zu gönnen scheint. Aber so war nun einmal jene Grenzlandgeschichte, die hauptsächlich "mit Blut" geschrieben wurde, und in der die Humanität und die Liebe längere Pausen einlegten, als es für die Menschen zuträglich gewesen wäre. Alles in allem bietet dieser Roman viel Spannung, eine glaubwürdige Handlung vor slowenischem Lokakolorit in urbaner und regionaler Hinsicht sowie sanft verabreichte Bildungsdosen, welche zur neuerlichen Reflexion des Geschehenen anregen.
Literaturhinweis:
Drago Jancar
Wenn die Liebe ruht
Roman. Übersetzt von Daniela Kocmut.
Zsolnay, Wien 2019, 384 Seiten
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Gerhard Strejcek
Als sich Hermann Hesse hinter einem Pseudonym versteckte
Der Standard, 10.08.2019
Vor hundert Jahren erschien der Roman "Demian" unter dem Pseudonym Emil Sinclair. Ein Jahr und drei Auflagen später verlautbarte der Verlag den richtigen Autor
Selten erfuhr der Roman eines "neuen" Autors so ungeteiltes Lob wie das vermeintliche Erstlingswerk eines gewissen Emil Sinclair, das bei S. Fischer 1919 zunächst unter dem Titel Demian. Die Geschichte einer Jugend erschienen ist. Ein Jahr und drei Auflagen nach der Erstpublikation, als der Autor den Fontane-Preis erhalten und wieder zurückgegeben hatte, ließ der Verlag wahrheitsgemäß Hermann Hesse als Autor firmieren und die Geschichte von "Emil Sinclairs Jugend" erzählen. Das Werk, welches den Aufstieg des Autors und den Übergang in eine reifere Phase nach Erstlingserfolgen (Unterm Rad, Gertrud, Rosshalde) markiert, war zuvor Gegenstand einer bizarren Aufdeckungsgeschichte geworden, die der Schriftsteller nicht vorhergesehen hatte.
Als er um 1917 am Demian schrieb, setzten ihm die Midlife-Crisis und eine rastlose Sinnsuche zu, die ihn auf die Psychoanalyse-Couch des Psychiaters Dr. Lang, eines C.-G.-Jung-Schülers, brachte. Weniger aus schnöden Marketinggründen als zum Schutz seiner Identität und der schärfer werdenden Kriegszensur wegen hatte der 1877 geborene Württemberger ein Pseudonym gewählt. Vermutlich fürchtete Hesse, der in zwei Beziehungen gescheitert war, dass hinter der Geschichte einer Individuation die eigene Psychotherapie zwischen den Zeilen hervorschimmern könnte. Unbeholfen wirkt seine Begründung für das Versteckspiel mit dem Romanhelden Emil Sinclair, der kurzfristig zum Menschen und Autor mutierte: Er habe nicht als "alter Onkel" dastehen wollen, der mit vierzig der Jugend die Welt erklärt.
Hesse riskierte eine Enttarnung
Hesse riskierte mit dieser Volte, von Autorenkollegen entlarvt zu werden. Das Experiment lief aus dem Ruder, als der Rezensent Otto Flake Textvergleiche mit dem Frühwerk Hesses vornahm und der Züricher Literaturexperte Korrodi offen beim Autor nachfragte. Hesse log und erlebte sodann ein "Ibiza-Gate", denn er musste sich im Folgejahr 1920 outen, was auch die oben geschilderte verlagsseitige Umstellung hervorrief. Längerfristig schadete die Aufdeckung dem Autor aber nicht, im Gegenteil, auf den ersten Erfolgsschub sollte Jahrzehnte später eine Hesse-Renaissance folgen, von der neben den Spätwerken wie Das Glasperlenspiel vor allem der Steppenwolf profitierte, mit dem Hesse in den USA zum Kultautor wurde. Fast hundert Auflagen erlebte der Demian bis heute, abzüglich der Kriegsjahre 1939 bis 1945 jährlich eine.
Wer ein an einsamen Mansardenbewohnern und tanzbeinschwingenden Spiegeltrinkern geschulter Hesse-Leser ist, kann anlässlich einer genussvollen Wiederlektüre selbst zum Aufdecker des Demian-Versteckspiels werden. Es ist gar nicht schwer, dahinterzukommen, greift "Sinclair" doch eines seiner Lieblingsthemen auf, die Lebenskrise eines entwurzelten Mannes, der pars pro toto für eine politisch entwurzelte Generation stand. Ein Schelm, wer hier nicht autobiografische Einsprengsel vermutet hätte, die der Autor in die Geschichte einer Jugend einbettete.
Zu auffällig waren die Parallelen zu bereits erschienenen Hesse-Schriften. So gerät der junge Sinclair kräftig "unters Rad" und erlebt eine angsterfüllte Kindheit wie Karl Eugen Eiselein. Bereits die Lektüre weniger Zeilen lässt individuell-biografische Details hervorschimmern, bald wird klar, dass es hier nicht um den Helden Max Demian geht, sondern um die schwierige "Individuation" des Erzählers. Auffällig ist auch das familiäre Umfeld. Wie Sinclair hatte der Autor zahlreiche Geschwister und wuchs als Sohn pietistischer, von ihrem evangelischen Glauben und missionarischen Lebensweg überzeugter Eltern auf. Vermutlich teilte er auch das Schlüsselerlebnis des Romanerzählers: In einem Augenblick der Schwäche begibt sich Sinclair wegen des lässlichen Vergehens eines – erfundenen – Apfeldiebstahls in die Abhängigkeit vom Gassenjungen Kromer.
Ära kollektiver Verzweiflung
Der Retter, der den Rowdy gewaltlos in die Schranken weist, erscheint in Gestalt des reifen jüdischen Mitschülers Max Demian, dessen fiktiver Name an Joseph Roths Regimentsarzt Max Demant im Radetzkymarsch erinnert. Nicht unähnlich dem Abgesang auf die Habsburgermonarchie nähert sich die attraktive Mutter Demians dem adoleszenten Erzähler als erotisierende Eva. Nach einem Kriegseinsatz, in dem die Protagonisten verwundet werden, finden die beiden Freunde einander im Lazarett wieder. Demian erliegt seinen Verletzungen, Sinclair kann sich emanzipiert und eigenständig den Herausforderungen einer neuen, aber verworrenen Zeit stellen. Leitmotive sind die Gottheit "Abraxas", der auch Carlos Santana ein Album widmete, und der Maler Pistorius, an den sich Sinclair kurzfristig anlehnt.
Vermutlich hätte die Thematik, welche Hesse im Steppenwolf zu neuer Meisterschaft entwickelte, niemanden zu Begeisterungsstürmen hingerissen, wäre das Buch nicht in einer Ära kollektiver Verzweiflung erschienen. "Sinclair" legte die Finger in die Wunden einer ganzen Generation, genauso wie Hesse in den 1960ern zum Star einer sinnsuchenden und antimaterialistischen Hippiejugend werden sollte. Das Gespür für den "richtigen" Roman zur passenden Zeit hatte der teils asketische, teils ausschweifende Autor, den es bald ins ruhigere Tessiner Fahrwasser nach Montagnola treiben sollte, bereits in den Kriegsjahren, als er den Demian vollendete. Sensibel sah er den Untergang voraus.
Verlorener Krieg
Der Frühsommer 1919 markierte den Tiefpunkt des nationalen Selbstvertrauens in der Weimarer Republik und in "Deutschösterreich". Hunger und Furcht dominierten den Alltag, die Sorge wegen eines drückenden Siegfriedens wuchs. Alliierte Soldaten und fremde Polizisten wurden zum Sinnbild eines verlorenen Kriegs, auf den eine Reihe von Politmorden folgte. In Innsbruck mussten italienische Soldaten die Ordnung herstellen, als die enervierte und hungrige Bevölkerung Nahrungsmitteldepots des Wiltener Klosters stürmte. Der deutsche Diplomat Harry Graf Kessler, alles andere als ein "rechter" Politiker, verfiel angesichts der Friedensbedingungen von Versailles in eine Depression, die ihn zwei Wochen lang das Tagebuch unterbrechen ließ. Die deutschösterreichische Delegation in St. Germain versuchte verzweifelt, durch schriftliche Eingaben im professoralen Stil Karl Renners das Schlimmste zu verhindern, doch die "Großen vier" lasen die wortreichen Elaborate gar nicht, da sie längst andere Leitlinien für die Neuordnung Europas gezogen hatten.
In genau diese Phase stach Hesse mit seinem Roman, vor dessen psychologisch fein gewobenem Hintergrund er die Problematik einer "lost generation" entwickelte, die orientierungslos nach dem Krieg in Mitteleuropa aufwuchs. Mit dem Schicksal des jungen Mannes, der aus seinem Familienkokon gerissen wird und in die Zeitläufte eines Weltkriegs gerät, konnten sich viele Leser identifizieren. Sinclair überzeugte die Leser zudem als Erzähler und als geheimnisvoller literarischer Shootingstar, den keiner je persönlich gesehen hatte, den aber viele zu kennen oder zu erkennen glaubten.
Positiv fielen die Reaktionen etablierter Kollegen aus. Arthur Schnitzler nahm sich das Buch als Sommerlektüre in einen vom Ehestreit vergifteten Sommer mit und notierte Ende Juli 1919, dass er Sinclairs Demian gelesen hatte und das Buch "interessant" fand. Der Schöpfer des Reigen galt als Experte in psychologisch konnotierten Beziehungsfragen, dem sich junge Frauen und Männer gerne anvertrauten. Er las die Tagebücher der früh gereiften Hedy Kempny, einer sportlichen Bankangestellten, die wechselnde Liebschaften bevorzugte. Jakob Wassermann, Richard Specht und Emil Zuckerkandl weihten ihn in ihre neuen Beziehungen ein, Vilma Lichtenstern klagte ihm ihr Eheleid. Frontsoldaten wie Rudi Olden, der "schöne" Unruh und der zweifelhafte Psychiater Urbantschitsch berichteten ihre erotischen Erlebnisse dem Autor, der keiner Fantasie mehr bedurfte, um seine dramatischen Figuren zu schildern. Das von Sinclair/Hesse geschilderte Liebesverhältnis zur geheimnisvollen Mutter Demians passte in den Liebesreigen, der sich um Schnitzler drehte, die Sorgen der Zeit erlebte er selbst hautnah mit.
Thomas Mann gefiel, wie Sinclair die "Individuation" darstellte, worin er C. G. Jungs Thesen wiedererkannte. Der Lübecker verglich den Demian mit Goethes Werther, der den Nerv der Zeit traf, und er bewertete die psychoanalytischen Komponenten höher als im Zauberberg, seinem Opus magnum. Was Thomas Mann nicht wusste, war, dass "Sinclair" ihm schon länger als Autor bekannt war. Denn Hesse, zeitweise Mitarbeiter der Kriegsgefangenenhilfe, zuvor in Württemberg als Feinhandwerker und Buchhändler tätig, war als Schreibender etabliert. C. G. Jung, der damals in Zürich, später in Basel wirkte und seine Thesen im Demian ausformuliert vorfand, stellte das Buch in seine Patientenbibliothek – er hätte keine bessere Werbeschrift finden können.
Heute dominieren kritische Stimmen. So schrieb der in Bern lehrende Literaturprofessor Yahia Elzaghe, Hesse sei ein "Pubertätsautor", der sich mit dem Demian feig hinter dem Pseudonym "versteckt" habe. Elzaghe stößt sich besonders daran, dass die letzten Worte des Buchs "mein Freund und Führer" lauten, so als ob es sich um einen Vorgriff auf die NS-Terminologie handelte. Im Buch selbst aber prangert der stets pazifistisch eingestellte Hesse das "massenhafte Totschießen" von Menschen an. Unleugbar ist die politische Komponente, denn zwischen den Zeilen zeichnen sich gefährliche Entwicklungen ab, wie der "Führerkult" und eine Hinwendung zu Ersatzreligionen. Diese zu propagieren war von Hesse nicht beabsichtigt, wie jenes Zitat indiziert, das wie eine Vorabentschuldigung des Autors für allfällige Missverständnisse klingt: "Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, das von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?"
Literaturhinweis:
Hermann Hesse
"Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend."
Suhrkamp, Berlin, 193 Seiten
Selten erfuhr der Roman eines "neuen" Autors so ungeteiltes Lob wie das vermeintliche Erstlingswerk eines gewissen Emil Sinclair, das bei S. Fischer 1919 zunächst unter dem Titel Demian. Die Geschichte einer Jugend erschienen ist. Ein Jahr und drei Auflagen nach der Erstpublikation, als der Autor den Fontane-Preis erhalten und wieder zurückgegeben hatte, ließ der Verlag wahrheitsgemäß Hermann Hesse als Autor firmieren und die Geschichte von "Emil Sinclairs Jugend" erzählen. Das Werk, welches den Aufstieg des Autors und den Übergang in eine reifere Phase nach Erstlingserfolgen (Unterm Rad, Gertrud, Rosshalde) markiert, war zuvor Gegenstand einer bizarren Aufdeckungsgeschichte geworden, die der Schriftsteller nicht vorhergesehen hatte.
Als er um 1917 am Demian schrieb, setzten ihm die Midlife-Crisis und eine rastlose Sinnsuche zu, die ihn auf die Psychoanalyse-Couch des Psychiaters Dr. Lang, eines C.-G.-Jung-Schülers, brachte. Weniger aus schnöden Marketinggründen als zum Schutz seiner Identität und der schärfer werdenden Kriegszensur wegen hatte der 1877 geborene Württemberger ein Pseudonym gewählt. Vermutlich fürchtete Hesse, der in zwei Beziehungen gescheitert war, dass hinter der Geschichte einer Individuation die eigene Psychotherapie zwischen den Zeilen hervorschimmern könnte. Unbeholfen wirkt seine Begründung für das Versteckspiel mit dem Romanhelden Emil Sinclair, der kurzfristig zum Menschen und Autor mutierte: Er habe nicht als "alter Onkel" dastehen wollen, der mit vierzig der Jugend die Welt erklärt.
Hesse riskierte eine Enttarnung
Hesse riskierte mit dieser Volte, von Autorenkollegen entlarvt zu werden. Das Experiment lief aus dem Ruder, als der Rezensent Otto Flake Textvergleiche mit dem Frühwerk Hesses vornahm und der Züricher Literaturexperte Korrodi offen beim Autor nachfragte. Hesse log und erlebte sodann ein "Ibiza-Gate", denn er musste sich im Folgejahr 1920 outen, was auch die oben geschilderte verlagsseitige Umstellung hervorrief. Längerfristig schadete die Aufdeckung dem Autor aber nicht, im Gegenteil, auf den ersten Erfolgsschub sollte Jahrzehnte später eine Hesse-Renaissance folgen, von der neben den Spätwerken wie Das Glasperlenspiel vor allem der Steppenwolf profitierte, mit dem Hesse in den USA zum Kultautor wurde. Fast hundert Auflagen erlebte der Demian bis heute, abzüglich der Kriegsjahre 1939 bis 1945 jährlich eine.
Wer ein an einsamen Mansardenbewohnern und tanzbeinschwingenden Spiegeltrinkern geschulter Hesse-Leser ist, kann anlässlich einer genussvollen Wiederlektüre selbst zum Aufdecker des Demian-Versteckspiels werden. Es ist gar nicht schwer, dahinterzukommen, greift "Sinclair" doch eines seiner Lieblingsthemen auf, die Lebenskrise eines entwurzelten Mannes, der pars pro toto für eine politisch entwurzelte Generation stand. Ein Schelm, wer hier nicht autobiografische Einsprengsel vermutet hätte, die der Autor in die Geschichte einer Jugend einbettete.
Zu auffällig waren die Parallelen zu bereits erschienenen Hesse-Schriften. So gerät der junge Sinclair kräftig "unters Rad" und erlebt eine angsterfüllte Kindheit wie Karl Eugen Eiselein. Bereits die Lektüre weniger Zeilen lässt individuell-biografische Details hervorschimmern, bald wird klar, dass es hier nicht um den Helden Max Demian geht, sondern um die schwierige "Individuation" des Erzählers. Auffällig ist auch das familiäre Umfeld. Wie Sinclair hatte der Autor zahlreiche Geschwister und wuchs als Sohn pietistischer, von ihrem evangelischen Glauben und missionarischen Lebensweg überzeugter Eltern auf. Vermutlich teilte er auch das Schlüsselerlebnis des Romanerzählers: In einem Augenblick der Schwäche begibt sich Sinclair wegen des lässlichen Vergehens eines – erfundenen – Apfeldiebstahls in die Abhängigkeit vom Gassenjungen Kromer.
Ära kollektiver Verzweiflung
Der Retter, der den Rowdy gewaltlos in die Schranken weist, erscheint in Gestalt des reifen jüdischen Mitschülers Max Demian, dessen fiktiver Name an Joseph Roths Regimentsarzt Max Demant im Radetzkymarsch erinnert. Nicht unähnlich dem Abgesang auf die Habsburgermonarchie nähert sich die attraktive Mutter Demians dem adoleszenten Erzähler als erotisierende Eva. Nach einem Kriegseinsatz, in dem die Protagonisten verwundet werden, finden die beiden Freunde einander im Lazarett wieder. Demian erliegt seinen Verletzungen, Sinclair kann sich emanzipiert und eigenständig den Herausforderungen einer neuen, aber verworrenen Zeit stellen. Leitmotive sind die Gottheit "Abraxas", der auch Carlos Santana ein Album widmete, und der Maler Pistorius, an den sich Sinclair kurzfristig anlehnt.
Vermutlich hätte die Thematik, welche Hesse im Steppenwolf zu neuer Meisterschaft entwickelte, niemanden zu Begeisterungsstürmen hingerissen, wäre das Buch nicht in einer Ära kollektiver Verzweiflung erschienen. "Sinclair" legte die Finger in die Wunden einer ganzen Generation, genauso wie Hesse in den 1960ern zum Star einer sinnsuchenden und antimaterialistischen Hippiejugend werden sollte. Das Gespür für den "richtigen" Roman zur passenden Zeit hatte der teils asketische, teils ausschweifende Autor, den es bald ins ruhigere Tessiner Fahrwasser nach Montagnola treiben sollte, bereits in den Kriegsjahren, als er den Demian vollendete. Sensibel sah er den Untergang voraus.
Verlorener Krieg
Der Frühsommer 1919 markierte den Tiefpunkt des nationalen Selbstvertrauens in der Weimarer Republik und in "Deutschösterreich". Hunger und Furcht dominierten den Alltag, die Sorge wegen eines drückenden Siegfriedens wuchs. Alliierte Soldaten und fremde Polizisten wurden zum Sinnbild eines verlorenen Kriegs, auf den eine Reihe von Politmorden folgte. In Innsbruck mussten italienische Soldaten die Ordnung herstellen, als die enervierte und hungrige Bevölkerung Nahrungsmitteldepots des Wiltener Klosters stürmte. Der deutsche Diplomat Harry Graf Kessler, alles andere als ein "rechter" Politiker, verfiel angesichts der Friedensbedingungen von Versailles in eine Depression, die ihn zwei Wochen lang das Tagebuch unterbrechen ließ. Die deutschösterreichische Delegation in St. Germain versuchte verzweifelt, durch schriftliche Eingaben im professoralen Stil Karl Renners das Schlimmste zu verhindern, doch die "Großen vier" lasen die wortreichen Elaborate gar nicht, da sie längst andere Leitlinien für die Neuordnung Europas gezogen hatten.
In genau diese Phase stach Hesse mit seinem Roman, vor dessen psychologisch fein gewobenem Hintergrund er die Problematik einer "lost generation" entwickelte, die orientierungslos nach dem Krieg in Mitteleuropa aufwuchs. Mit dem Schicksal des jungen Mannes, der aus seinem Familienkokon gerissen wird und in die Zeitläufte eines Weltkriegs gerät, konnten sich viele Leser identifizieren. Sinclair überzeugte die Leser zudem als Erzähler und als geheimnisvoller literarischer Shootingstar, den keiner je persönlich gesehen hatte, den aber viele zu kennen oder zu erkennen glaubten.
Positiv fielen die Reaktionen etablierter Kollegen aus. Arthur Schnitzler nahm sich das Buch als Sommerlektüre in einen vom Ehestreit vergifteten Sommer mit und notierte Ende Juli 1919, dass er Sinclairs Demian gelesen hatte und das Buch "interessant" fand. Der Schöpfer des Reigen galt als Experte in psychologisch konnotierten Beziehungsfragen, dem sich junge Frauen und Männer gerne anvertrauten. Er las die Tagebücher der früh gereiften Hedy Kempny, einer sportlichen Bankangestellten, die wechselnde Liebschaften bevorzugte. Jakob Wassermann, Richard Specht und Emil Zuckerkandl weihten ihn in ihre neuen Beziehungen ein, Vilma Lichtenstern klagte ihm ihr Eheleid. Frontsoldaten wie Rudi Olden, der "schöne" Unruh und der zweifelhafte Psychiater Urbantschitsch berichteten ihre erotischen Erlebnisse dem Autor, der keiner Fantasie mehr bedurfte, um seine dramatischen Figuren zu schildern. Das von Sinclair/Hesse geschilderte Liebesverhältnis zur geheimnisvollen Mutter Demians passte in den Liebesreigen, der sich um Schnitzler drehte, die Sorgen der Zeit erlebte er selbst hautnah mit.
Thomas Mann gefiel, wie Sinclair die "Individuation" darstellte, worin er C. G. Jungs Thesen wiedererkannte. Der Lübecker verglich den Demian mit Goethes Werther, der den Nerv der Zeit traf, und er bewertete die psychoanalytischen Komponenten höher als im Zauberberg, seinem Opus magnum. Was Thomas Mann nicht wusste, war, dass "Sinclair" ihm schon länger als Autor bekannt war. Denn Hesse, zeitweise Mitarbeiter der Kriegsgefangenenhilfe, zuvor in Württemberg als Feinhandwerker und Buchhändler tätig, war als Schreibender etabliert. C. G. Jung, der damals in Zürich, später in Basel wirkte und seine Thesen im Demian ausformuliert vorfand, stellte das Buch in seine Patientenbibliothek – er hätte keine bessere Werbeschrift finden können.
Heute dominieren kritische Stimmen. So schrieb der in Bern lehrende Literaturprofessor Yahia Elzaghe, Hesse sei ein "Pubertätsautor", der sich mit dem Demian feig hinter dem Pseudonym "versteckt" habe. Elzaghe stößt sich besonders daran, dass die letzten Worte des Buchs "mein Freund und Führer" lauten, so als ob es sich um einen Vorgriff auf die NS-Terminologie handelte. Im Buch selbst aber prangert der stets pazifistisch eingestellte Hesse das "massenhafte Totschießen" von Menschen an. Unleugbar ist die politische Komponente, denn zwischen den Zeilen zeichnen sich gefährliche Entwicklungen ab, wie der "Führerkult" und eine Hinwendung zu Ersatzreligionen. Diese zu propagieren war von Hesse nicht beabsichtigt, wie jenes Zitat indiziert, das wie eine Vorabentschuldigung des Autors für allfällige Missverständnisse klingt: "Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, das von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?"
Literaturhinweis:
Hermann Hesse
"Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend."
Suhrkamp, Berlin, 193 Seiten
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Gerhard Strejcek
Friedrich Hebbel, ein wortgewaltiger Egomane
Wiener Zeitung, 21.07.2019
Monika Ritzer legt eine facettenreiche Biographie des deutschen Dramatikers und Lyrikers vor.
"Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Und waltet erst bei uns das Gleichgewicht, so wird’s auch in der andern wieder licht" - diesen "Prolog zum 26. Februar 1862" hielt Friedrich Hebbel auf der Bühne des alten Opernhauses.
Der feierliche Anlass, zu dem der aus Wesselburen stammende Redner sprach, war die Jahresfeier des Februarpatents, das den Grundstein für Verfassung und Wahlen gelegt hatte. Es war einer der letzten Auftritte des gefeierten Autors der "Nibelungen" und der "Agnes Bernauer", eineinhalb Jahre später erschien der letale "Sichelwagen". Am 13. Dezember 1863 ereilte ihn der Tod, dessen Ursache dank Monika Zicklers monumentaler Biographie deutlich wird: Der Autor erlitt eine Lungenentzündung infolge Osteomalazie, einer heimtückischen Krankheit, welche das Skelett destabilisiert.
Am Sterbehaus in der Liechtensteinstraße 13 befindet sich heute eine Büste mit einer Erinnerungstafel. Neben der Skulptur am Burgtheater und einer Tafel in der Lenaugasse erinnern der Hebbelplatz und der Enghaus-Weg, der nach Hebbels Gattin Christine benannt ist, an das Künstlerehepaar. Die von Hebbel gern als "Engehausen" angeschriebene Gattin starb am 20. Juni 1910 und überlebte ihn um ein halbes Jahrhundert.
Klassische Bildung
Hebbel errang Ansehen, indem er klassische Stoffe wie "Gyges und sein Ring", "Judith" und die "Nibelungen"-Sage in drei Teilen bearbeitete und mit subtilen psychologischen Elementen versah. Um die Burgtheaterbühne musste er hart kämpfen. Ritzer analysiert das schwierige Verhältnis zum gut vernetzten Burgtheaterdirektor Laube. Erst nachdem sich ein Dutzend anderer Bühnen, darunter das Klagenfurter Landestheater, an die Trilogie herangewagt hatten, zog die "Burg" nach und brachte eine von Gabillon inszenierte Aufführung mit Christine Hebbel als Brünhilde.
Den Durchbruch erlebte das Drama erst postum, was der norddeutsche Autor geahnt hatte. Der 1813 geborene Selfmademan erlebte eine schwere Kindheit inmitten feuchter Räume im holsteinischen Wesselburen (Dithmarschen). Nach dem frühen Tod seines despotischen Vaters, eines Maurers, fand er Aufnahme im Haus eines Kirchspielvogtes.
Zwar musste der Vierzehnjährige als Laufbursche dienen, mit einem Schlafplatz unter der Treppe vorliebnehmen und dort neben dem Kutscher ruhen, doch ermöglichten ihm Schulbesuch und die Bibliothek seines Lehrherren, eine klassische Bildung zu erwerben. Nach teilweise erfolglosen Missionen in Hamburg, München, Paris und Neapel erfolgte der Durchbruch ab 1845 in Wien, wo Hebbel zunächst in der Josefstadt wohnte.
Die in Leipzig lehrende Germanistik-Professorin Monika Ritzer setzt sowohl Privatleben als auch Werkentstehung in ein neues, klareres Licht. Nach textkritischen Editionen der Tagebücher und einzelner Dramen spürt die in Leipzig lehrende Philologin auf über achthundert Seiten dem ausgeprägten Individualismus und Sendungsbewusstsein des evangelischen Autors nach. Sie analysiert Hebbels diffiziles Verhältnis zu seiner ersten Partnerin Elise, deren drei Kinder allesamt früh verstarben. In Wien führte der Autor eine harmonische Ehe mit der Schauspielerin Christine Enghaus, die in zahlreichen Fotografien im Theatermuseum präsent ist.
Der Sprachvirtuose hinterließ ein breites, eindrucksvolles Werk, das Eingang in bürgerliche Wohnzimmer fand. Aus Wiener Sicht ist der kometenhafte Aufstieg des Autors in der Residenzstadt der Habsburger von Interesse, in der er abgerissen und verarmt, aber auch familiär entwurzelt im November 1845 angekommen war.
Beinahe hätte Hebbel nach einigen Terminen das Handtuch geworfen, doch eineinhalb Jahrzehnte später stand er als geehrter Nationaldichter mit Zweitwohnsitz in Orth am Traunsee im Zenit der Karriere. Dazwischen lagen auch bittere Tage wie der Verlust seines ersten Sohns Max und weiterer Kinder. Einen frühen Tod fand der während Hebbels Abwesenheit geborene Sohn Christian, der von der früheren Gefährtin Elise stammte und nur wenige Monate vor dem erstgeborenen Sohn Emil seiner Gattin Christine im Winter 1846 starb. Das "Patchwork" verwandelte sich angesichts gemeinsamer Trauer in Freundschaft, Hofschauspielerin Christine erklärte sich bereit, die frühere Gefährtin in Wien aufzunehmen. Damit war auch die Lebenskrise des Autors überwunden.
Selten gespielt
In Wien wird Hebbel nur selten aufgeführt, so etwa die "Maria Magdalena" in der Saison 2013/14 am Burgtheater. Eine komprimierte Fassung der "Nibelungen" zeigten begabte Studierende des Reinhardt-Seminars auf der Probebühne der Josefstadt im Jahr davor. Heute liest kaum jemand mehr die Gedichte und Prosa des Autors, dessen Aphorismen, die er als Tagebücher "tarnte", sehr prägnant sind, wie zum Beispiel die lapidare Feststellung: "Die Masse macht keine Fortschritte".
Monika Ritzers neue Biographie lädt nun dazu ein, Leben, Werk und Zeitgenossen des selbstbewussten Individualisten näher kennenzulernen.
Literaturhinweis:
Monika Ritzer
Friedrich Hebbel - der Individualist und seine Epoche
Biographie
Wallstein, Göttingen 2018, 832 Seiten
"Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Und waltet erst bei uns das Gleichgewicht, so wird’s auch in der andern wieder licht" - diesen "Prolog zum 26. Februar 1862" hielt Friedrich Hebbel auf der Bühne des alten Opernhauses.
Der feierliche Anlass, zu dem der aus Wesselburen stammende Redner sprach, war die Jahresfeier des Februarpatents, das den Grundstein für Verfassung und Wahlen gelegt hatte. Es war einer der letzten Auftritte des gefeierten Autors der "Nibelungen" und der "Agnes Bernauer", eineinhalb Jahre später erschien der letale "Sichelwagen". Am 13. Dezember 1863 ereilte ihn der Tod, dessen Ursache dank Monika Zicklers monumentaler Biographie deutlich wird: Der Autor erlitt eine Lungenentzündung infolge Osteomalazie, einer heimtückischen Krankheit, welche das Skelett destabilisiert.
Am Sterbehaus in der Liechtensteinstraße 13 befindet sich heute eine Büste mit einer Erinnerungstafel. Neben der Skulptur am Burgtheater und einer Tafel in der Lenaugasse erinnern der Hebbelplatz und der Enghaus-Weg, der nach Hebbels Gattin Christine benannt ist, an das Künstlerehepaar. Die von Hebbel gern als "Engehausen" angeschriebene Gattin starb am 20. Juni 1910 und überlebte ihn um ein halbes Jahrhundert.
Klassische Bildung
Hebbel errang Ansehen, indem er klassische Stoffe wie "Gyges und sein Ring", "Judith" und die "Nibelungen"-Sage in drei Teilen bearbeitete und mit subtilen psychologischen Elementen versah. Um die Burgtheaterbühne musste er hart kämpfen. Ritzer analysiert das schwierige Verhältnis zum gut vernetzten Burgtheaterdirektor Laube. Erst nachdem sich ein Dutzend anderer Bühnen, darunter das Klagenfurter Landestheater, an die Trilogie herangewagt hatten, zog die "Burg" nach und brachte eine von Gabillon inszenierte Aufführung mit Christine Hebbel als Brünhilde.
Den Durchbruch erlebte das Drama erst postum, was der norddeutsche Autor geahnt hatte. Der 1813 geborene Selfmademan erlebte eine schwere Kindheit inmitten feuchter Räume im holsteinischen Wesselburen (Dithmarschen). Nach dem frühen Tod seines despotischen Vaters, eines Maurers, fand er Aufnahme im Haus eines Kirchspielvogtes.
Zwar musste der Vierzehnjährige als Laufbursche dienen, mit einem Schlafplatz unter der Treppe vorliebnehmen und dort neben dem Kutscher ruhen, doch ermöglichten ihm Schulbesuch und die Bibliothek seines Lehrherren, eine klassische Bildung zu erwerben. Nach teilweise erfolglosen Missionen in Hamburg, München, Paris und Neapel erfolgte der Durchbruch ab 1845 in Wien, wo Hebbel zunächst in der Josefstadt wohnte.
Die in Leipzig lehrende Germanistik-Professorin Monika Ritzer setzt sowohl Privatleben als auch Werkentstehung in ein neues, klareres Licht. Nach textkritischen Editionen der Tagebücher und einzelner Dramen spürt die in Leipzig lehrende Philologin auf über achthundert Seiten dem ausgeprägten Individualismus und Sendungsbewusstsein des evangelischen Autors nach. Sie analysiert Hebbels diffiziles Verhältnis zu seiner ersten Partnerin Elise, deren drei Kinder allesamt früh verstarben. In Wien führte der Autor eine harmonische Ehe mit der Schauspielerin Christine Enghaus, die in zahlreichen Fotografien im Theatermuseum präsent ist.
Der Sprachvirtuose hinterließ ein breites, eindrucksvolles Werk, das Eingang in bürgerliche Wohnzimmer fand. Aus Wiener Sicht ist der kometenhafte Aufstieg des Autors in der Residenzstadt der Habsburger von Interesse, in der er abgerissen und verarmt, aber auch familiär entwurzelt im November 1845 angekommen war.
Beinahe hätte Hebbel nach einigen Terminen das Handtuch geworfen, doch eineinhalb Jahrzehnte später stand er als geehrter Nationaldichter mit Zweitwohnsitz in Orth am Traunsee im Zenit der Karriere. Dazwischen lagen auch bittere Tage wie der Verlust seines ersten Sohns Max und weiterer Kinder. Einen frühen Tod fand der während Hebbels Abwesenheit geborene Sohn Christian, der von der früheren Gefährtin Elise stammte und nur wenige Monate vor dem erstgeborenen Sohn Emil seiner Gattin Christine im Winter 1846 starb. Das "Patchwork" verwandelte sich angesichts gemeinsamer Trauer in Freundschaft, Hofschauspielerin Christine erklärte sich bereit, die frühere Gefährtin in Wien aufzunehmen. Damit war auch die Lebenskrise des Autors überwunden.
Selten gespielt
In Wien wird Hebbel nur selten aufgeführt, so etwa die "Maria Magdalena" in der Saison 2013/14 am Burgtheater. Eine komprimierte Fassung der "Nibelungen" zeigten begabte Studierende des Reinhardt-Seminars auf der Probebühne der Josefstadt im Jahr davor. Heute liest kaum jemand mehr die Gedichte und Prosa des Autors, dessen Aphorismen, die er als Tagebücher "tarnte", sehr prägnant sind, wie zum Beispiel die lapidare Feststellung: "Die Masse macht keine Fortschritte".
Monika Ritzers neue Biographie lädt nun dazu ein, Leben, Werk und Zeitgenossen des selbstbewussten Individualisten näher kennenzulernen.
Literaturhinweis:
Monika Ritzer
Friedrich Hebbel - der Individualist und seine Epoche
Biographie
Wallstein, Göttingen 2018, 832 Seiten
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Gerhard Strejcek
Otto Hans Resslers Novelle aus der Sicht eines Advokaten
Wiener Zeitung, 14.07.2019
"Die Verleumdung": Die belletristische Aufarbeitung eines historischen Prozesses durch den österreichischen Kunstexperten und Schriftsteller fällt realitätsnah aus.
Otto Hans Resslers Novelle "Die Verleumdung" thematisiert einen Prozess, in dem sich ein jüdischer Waffenhersteller erfolgreich gegen die bösartige Unterstellung wehrt, schadhafte Gewehrverschlüsse an die k.u.k. Armee geliefert zu haben. Diese, von einem alldeutschen Abgeordneten befeuerte Behauptung wird Gegenstand eines politischen Prozesses, der in ähnlicher Form in Berlin stattgefunden hat, vom Autor aber vor Wiener Lokalkolorit um 1900 romanhaft weiterentwickelt wird.
Der Unternehmer erreicht die Verurteilung des polternd-antisemitischen Politikers, der das Gericht zur politischen Bühne umfunktionieren will, jedoch mit dieser Strategie am korrekten Vorsitzenden scheitert. Was der Richter aber nicht verhindern kann, ist eine tendenziöse Berichterstattung und bewusst geschürten Unmut vor den Schranken des Landesgerichts, der pogromartige Szenen auslöst. Dennoch "siegt" die Wahrheit, der Advokat des Unternehmers und sein Mandant könnten sich darüber freuen. Der Prozessausgang erweist sich allerdings als Pyrrhussieg für den Armeelieferanten, sowohl in psychischer Hinsicht als auch was seine physische Integrität betrifft.
Das fulminante und gewaltsame Finale soll hier nicht verraten werden, weil das lesenswerte Werk ja auch Züge eines Kriminalromans trägt, der durch seine Spannung besticht und den Leser durch die Ungewissheit über den Ausgang unterhält.
Ressler, der im Zivilberuf eine Kunst-Auktionsfirma leitet, erweist sich als brillanter Erzähler, der die abwechslungsreiche Story konsequent aus der Sicht eines Advokaten ausbreitet. Dabei kommen auch psychologische Momente nicht zu kurz, eine geheimnisvolle Frau bereichert die Szenerie ebenso wie die kluge Gattin des Anwalts.
Dem Autor, der bereits mit zahlreichen Sachbüchern und biografischen Studien, etwa über den Hofburg-Maler Mikl ("Der Mikl", Edition Va Bene, 2015), sowie mit belletristisch-literarischen Werken an die Öffentlichkeit getreten ist, gelingt somit ein "Wurf" im Genre des historischen Romans, denn der Umfang des recht dicht gedruckten und ästhetisch überaus ansprechenden Buches geht über jenen einer Novelle hinaus.
Jenseits der literarischen Unterhaltung und Zerstreuung hat das Buch aber auch eine bedeutsame, mahnende Funktion, indem es die bereits in der k.u.k. Monarchie um sich greifende antisemitische Agitation aufgreift. Zu Recht dankt der Zeithistoriker und studierte Jurist Oliver Rathkolb dem Autor in seinem Vorwort für die verdienstvolle Umsetzung seiner erzählerischen Idee, denn sie zeigt eine Schattenseite unserer Vergangenheit auf, deren Anfänge in das 19. Jahrhundert zurückreichen. Zwar blieb die k.u.k. Monarchie als Staat gegenüber den heftigen Anwürfen und Auseinandersetzungen neutral, aber dennoch schlich sich die Agitation wie Gift in die Medien und in das Abgeordnetenhaus ein.
Bekanntlich haben sich gerade im beschriebenen Umfeld des Waffenhandels und der heimischen Armeelieferanten geradezu monströse Verleumdungen ereignet, ohne dass es in der österreichischen Reichshälfte zu einer gerichtlichen Ahndung kam.
Reizvolles Lokalkolorit
Prozesse wie der beschriebene fanden hierzulande zumeist gar nicht statt, da sich die Urheber einschlägiger Gerüchte entweder auf ihre Immunität beriefen oder sich nicht zu erkennen gaben. Der Weltkrieg verschlimmerte die Situation noch beträchtlich. Bewusst wahrheitswidrig behaupteten Agitatoren, dass jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg ihre Pflicht nicht getan hätten. Das Gegenteil davon ist wahr, der Blutzoll unter dieser Gruppe, der auch viele Offiziere und Ärzte entstammten, war überdurchschnittlich hoch.
Erzählstoffe, die vor einem tatsächlichen historischen Hintergrund spielen und somit eine "wahre Geschichte" belletristisch aufbereiten, erfreuen sich ebenso großer Beliebtheit wie "Prozessgeschichten" und Krimis. Kritisch ist anzumerken, dass manche der juristischen Fachausdrücke mit dem zeitgenössischen österreichischen Recht nicht zusammenpassen, das sich übrigens gerade im Strafprozess bis heute terminologisch nicht allzu stark verändert hat, weil Gerichtsorganisation und das Verfahrensrecht in wesentlichen Zügen bereits in der Monarchie entstanden sind.
All das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieses Buch höchst lesenswert ist, seine Handlung vor reizvollem Lokalkolorit ausbreitet und auf diese Weise durchaus realitätsnah historisch-authentische Ereignisse behandelt.
Literaturhinweis:
Otto Hans Ressler
Die Verleumdung
Novelle
Edition Splitter, Wien 2019, 128 Seiten
Otto Hans Resslers Novelle "Die Verleumdung" thematisiert einen Prozess, in dem sich ein jüdischer Waffenhersteller erfolgreich gegen die bösartige Unterstellung wehrt, schadhafte Gewehrverschlüsse an die k.u.k. Armee geliefert zu haben. Diese, von einem alldeutschen Abgeordneten befeuerte Behauptung wird Gegenstand eines politischen Prozesses, der in ähnlicher Form in Berlin stattgefunden hat, vom Autor aber vor Wiener Lokalkolorit um 1900 romanhaft weiterentwickelt wird.
Der Unternehmer erreicht die Verurteilung des polternd-antisemitischen Politikers, der das Gericht zur politischen Bühne umfunktionieren will, jedoch mit dieser Strategie am korrekten Vorsitzenden scheitert. Was der Richter aber nicht verhindern kann, ist eine tendenziöse Berichterstattung und bewusst geschürten Unmut vor den Schranken des Landesgerichts, der pogromartige Szenen auslöst. Dennoch "siegt" die Wahrheit, der Advokat des Unternehmers und sein Mandant könnten sich darüber freuen. Der Prozessausgang erweist sich allerdings als Pyrrhussieg für den Armeelieferanten, sowohl in psychischer Hinsicht als auch was seine physische Integrität betrifft.
Das fulminante und gewaltsame Finale soll hier nicht verraten werden, weil das lesenswerte Werk ja auch Züge eines Kriminalromans trägt, der durch seine Spannung besticht und den Leser durch die Ungewissheit über den Ausgang unterhält.
Ressler, der im Zivilberuf eine Kunst-Auktionsfirma leitet, erweist sich als brillanter Erzähler, der die abwechslungsreiche Story konsequent aus der Sicht eines Advokaten ausbreitet. Dabei kommen auch psychologische Momente nicht zu kurz, eine geheimnisvolle Frau bereichert die Szenerie ebenso wie die kluge Gattin des Anwalts.
Dem Autor, der bereits mit zahlreichen Sachbüchern und biografischen Studien, etwa über den Hofburg-Maler Mikl ("Der Mikl", Edition Va Bene, 2015), sowie mit belletristisch-literarischen Werken an die Öffentlichkeit getreten ist, gelingt somit ein "Wurf" im Genre des historischen Romans, denn der Umfang des recht dicht gedruckten und ästhetisch überaus ansprechenden Buches geht über jenen einer Novelle hinaus.
Jenseits der literarischen Unterhaltung und Zerstreuung hat das Buch aber auch eine bedeutsame, mahnende Funktion, indem es die bereits in der k.u.k. Monarchie um sich greifende antisemitische Agitation aufgreift. Zu Recht dankt der Zeithistoriker und studierte Jurist Oliver Rathkolb dem Autor in seinem Vorwort für die verdienstvolle Umsetzung seiner erzählerischen Idee, denn sie zeigt eine Schattenseite unserer Vergangenheit auf, deren Anfänge in das 19. Jahrhundert zurückreichen. Zwar blieb die k.u.k. Monarchie als Staat gegenüber den heftigen Anwürfen und Auseinandersetzungen neutral, aber dennoch schlich sich die Agitation wie Gift in die Medien und in das Abgeordnetenhaus ein.
Bekanntlich haben sich gerade im beschriebenen Umfeld des Waffenhandels und der heimischen Armeelieferanten geradezu monströse Verleumdungen ereignet, ohne dass es in der österreichischen Reichshälfte zu einer gerichtlichen Ahndung kam.
Reizvolles Lokalkolorit
Prozesse wie der beschriebene fanden hierzulande zumeist gar nicht statt, da sich die Urheber einschlägiger Gerüchte entweder auf ihre Immunität beriefen oder sich nicht zu erkennen gaben. Der Weltkrieg verschlimmerte die Situation noch beträchtlich. Bewusst wahrheitswidrig behaupteten Agitatoren, dass jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg ihre Pflicht nicht getan hätten. Das Gegenteil davon ist wahr, der Blutzoll unter dieser Gruppe, der auch viele Offiziere und Ärzte entstammten, war überdurchschnittlich hoch.
Erzählstoffe, die vor einem tatsächlichen historischen Hintergrund spielen und somit eine "wahre Geschichte" belletristisch aufbereiten, erfreuen sich ebenso großer Beliebtheit wie "Prozessgeschichten" und Krimis. Kritisch ist anzumerken, dass manche der juristischen Fachausdrücke mit dem zeitgenössischen österreichischen Recht nicht zusammenpassen, das sich übrigens gerade im Strafprozess bis heute terminologisch nicht allzu stark verändert hat, weil Gerichtsorganisation und das Verfahrensrecht in wesentlichen Zügen bereits in der Monarchie entstanden sind.
All das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieses Buch höchst lesenswert ist, seine Handlung vor reizvollem Lokalkolorit ausbreitet und auf diese Weise durchaus realitätsnah historisch-authentische Ereignisse behandelt.
Literaturhinweis:
Otto Hans Ressler
Die Verleumdung
Novelle
Edition Splitter, Wien 2019, 128 Seiten
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Gerhard Strejcek
Warum das Uber-Gesetz verfassungswidrig sein könnte
Der Standard, 01.07.2019
Die Gesetzesnovelle, die Mietwagenanbietern die gleichen Tarife wie Taxis aufzwingt, verletzt das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit
Mit der durchgepeitschten Novelle des Gelegenheitsverkehrsgesetzes (GelVKG), die am Mittwoch im Nationalrat verabschiedet werden soll, kommt voraussichtlich ab 2020 das Ende für jene Mietwagenunternehmen wie Uber, die mit Apps arbeiten und je nach Dichte und Nachfrage die Tarife flexibel gestalten. Von dieser Lösung haben bisher Jugendliche, Geschäftsleute und Touristen profitiert, die auch künftig nicht zwingend zu Taxikunden werden dürften. Obwohl die zuständige Fachgruppe – bzw. der Fachverband auf Bundesebene – Qualitätsstandards sichern soll und alle Mitglieder vertritt, setzen die Taxivertreter darauf, die unliebsame Konkurrenz zu vernichten. Sie dürften nun mit der "Vereinheitlichung der Tarife" ihr Ziel erreichen, Uber und Co die Geschäftsgrundlage zu entziehen.
Wie die Bedarfsprüfung
Es fragt sich, ob ein bestehendes Gewerbe, das den Erwerbszweig und die Einkunftsquelle für mehrere Tausend Betroffene bildet, ohne einen Verstoß gegen die Verfassung einfach ausradiert werden kann. Im Effekt ist die Neuregelung aus Sicht der Erwerbsfreiheit ein ebenso schwerer Eingriff wie die einstige Bedarfsprüfung, die der Verfassungsgerichtshof im GelVGK und im Güterbeförderungsgesetz (VfSlg 11.483/1987) als verfassungswidrig aufgehoben hat.
Das GelVerkG von 1996 regelt vier "Nebengewerbe" und ist wie die Gewerbeordnung zu behandeln. Neben Ausübungs- und Prüfungsvorschriften gibt es vier konzessionierte Gewerbe, die zur Personenbeförderung ermächtigen. Außer Taxis und Mietwagen dürfen Ausflugsfahrer – etwa Stadtrundfahrten in einer Gemeinde – und Inhaber einer Kraftfahrlinienkonzession Gäste befördern. Alle einschlägigen Gewerbe sind reglementiert und konzessionspflichtig, also erst nach behördlicher Erlaubnis rechtens ausübbar. Eine Verfassungsbestimmung nimmt Fiaker von der Bundeszuständigkeit aus.
Konzessionspflichten sind im Lichte der Erwerbsfreiheit nur dann zulässig, wenn öffentliche Interessen diese rechtfertigen (VfSlg 19.767/2013). Es verwundert nicht, dass der VfGH nach Eliminierung der Bedarfsprüfung noch zweimal Spezialregelungen im GelVKG aufgehoben hat, nämlich 2002 und 2008.
Judikaturwende vor 35 Jahren
In der Bundesverfassung ist das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit in Art. 6 StGG verankert. Lange Zeit wurden die Worte "unter den gesetzlichen Bedingungen (...) frei ausüben" so interpretiert, dass der Gesetzgeber nach Belieben in das Grundrecht eingreifen durfte, solange er die Form eines Gesetzes wahrte. Das betraf die damals bereits bestehende Gewerbeordnung. Doch vor rund 35 Jahren leitete der VfGH mit dem Schrottlenkungserkenntnis VfSlg 10.179/1985; VfSlg 11.625/1987) eine Judikaturwende ein. Seither ist klar, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber materiellen Schranken unterliegt.
Der VfGH prüft seither immer genauer nach, ob in den Gesetzesmaterialien öffentliche Interessen tatsächlich durch geeignete Maßnahmen verfolgt werden – oder ob es sich womöglich um protektionistische Regulative handelt, die vor Konkurrenz schützen sollen, aber zum Schutz der Konsumenten, der Umwelt oder der Verkehrssicherheit gar nicht erforderlich wären.
Die GelVerkG-Novelle müsste demnach wichtigen öffentlichen Interessen dienen, zur Zielerreichung erforderlich und auch verhältnismäßig in den gewählten Mitteln sein. Genau diese Voraussetzung ist aber für den objektiven Beobachter nicht erkennbar.
Wen stört die Flexibilität?
In der oben zitierten Judikatur konnte der VfGH nicht nachvollziehen, dass Bedarfsprüfungen der Verkehrssicherheit – sprich der Leichtigkeit, Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs, wie es in der Straßenverkehrsordnung heißt – dienen sollten. So ähnlich könnte es auch mit Fixtarifen und ähnlichen Modalitäten des GelVerkG sein. Das Interesse des Konsumentenschutzes allein kann Fixtarife nicht rechtfertigen, weil sich die betroffenen Kundenkreise längst an dieses Modell gewöhnt haben und dieses ganz bewusst wählen, um Geld für Fahrtkosten zu sparen. Dass sich eine maßgebliche Zahl von Kunden durch das flexible System über den Tisch gezogen fühlte, kann nicht belegt werden.
Der "Schutz" gilt nicht den Kunden, sondern den Taxifahrern. Dabei handelt es sich aber um kein öffentliches Interesse in einem marktwirtschaftlichen System. Konkurrenzschutz ist allerdings aus Sicht des VfGH verpönt.
Fazit: Wenn der Gesetzgeber eine bestehende Erwerbstätigkeit in der Substanz zerstört, wird das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit verletzt. Die Chancen für einen erfolgreichen Antrag beim VfGH, die Novelle für verfassungswidrig zu erklären, stehen nicht schlecht.
Mit der durchgepeitschten Novelle des Gelegenheitsverkehrsgesetzes (GelVKG), die am Mittwoch im Nationalrat verabschiedet werden soll, kommt voraussichtlich ab 2020 das Ende für jene Mietwagenunternehmen wie Uber, die mit Apps arbeiten und je nach Dichte und Nachfrage die Tarife flexibel gestalten. Von dieser Lösung haben bisher Jugendliche, Geschäftsleute und Touristen profitiert, die auch künftig nicht zwingend zu Taxikunden werden dürften. Obwohl die zuständige Fachgruppe – bzw. der Fachverband auf Bundesebene – Qualitätsstandards sichern soll und alle Mitglieder vertritt, setzen die Taxivertreter darauf, die unliebsame Konkurrenz zu vernichten. Sie dürften nun mit der "Vereinheitlichung der Tarife" ihr Ziel erreichen, Uber und Co die Geschäftsgrundlage zu entziehen.
Wie die Bedarfsprüfung
Es fragt sich, ob ein bestehendes Gewerbe, das den Erwerbszweig und die Einkunftsquelle für mehrere Tausend Betroffene bildet, ohne einen Verstoß gegen die Verfassung einfach ausradiert werden kann. Im Effekt ist die Neuregelung aus Sicht der Erwerbsfreiheit ein ebenso schwerer Eingriff wie die einstige Bedarfsprüfung, die der Verfassungsgerichtshof im GelVGK und im Güterbeförderungsgesetz (VfSlg 11.483/1987) als verfassungswidrig aufgehoben hat.
Das GelVerkG von 1996 regelt vier "Nebengewerbe" und ist wie die Gewerbeordnung zu behandeln. Neben Ausübungs- und Prüfungsvorschriften gibt es vier konzessionierte Gewerbe, die zur Personenbeförderung ermächtigen. Außer Taxis und Mietwagen dürfen Ausflugsfahrer – etwa Stadtrundfahrten in einer Gemeinde – und Inhaber einer Kraftfahrlinienkonzession Gäste befördern. Alle einschlägigen Gewerbe sind reglementiert und konzessionspflichtig, also erst nach behördlicher Erlaubnis rechtens ausübbar. Eine Verfassungsbestimmung nimmt Fiaker von der Bundeszuständigkeit aus.
Konzessionspflichten sind im Lichte der Erwerbsfreiheit nur dann zulässig, wenn öffentliche Interessen diese rechtfertigen (VfSlg 19.767/2013). Es verwundert nicht, dass der VfGH nach Eliminierung der Bedarfsprüfung noch zweimal Spezialregelungen im GelVKG aufgehoben hat, nämlich 2002 und 2008.
Judikaturwende vor 35 Jahren
In der Bundesverfassung ist das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit in Art. 6 StGG verankert. Lange Zeit wurden die Worte "unter den gesetzlichen Bedingungen (...) frei ausüben" so interpretiert, dass der Gesetzgeber nach Belieben in das Grundrecht eingreifen durfte, solange er die Form eines Gesetzes wahrte. Das betraf die damals bereits bestehende Gewerbeordnung. Doch vor rund 35 Jahren leitete der VfGH mit dem Schrottlenkungserkenntnis VfSlg 10.179/1985; VfSlg 11.625/1987) eine Judikaturwende ein. Seither ist klar, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber materiellen Schranken unterliegt.
Der VfGH prüft seither immer genauer nach, ob in den Gesetzesmaterialien öffentliche Interessen tatsächlich durch geeignete Maßnahmen verfolgt werden – oder ob es sich womöglich um protektionistische Regulative handelt, die vor Konkurrenz schützen sollen, aber zum Schutz der Konsumenten, der Umwelt oder der Verkehrssicherheit gar nicht erforderlich wären.
Die GelVerkG-Novelle müsste demnach wichtigen öffentlichen Interessen dienen, zur Zielerreichung erforderlich und auch verhältnismäßig in den gewählten Mitteln sein. Genau diese Voraussetzung ist aber für den objektiven Beobachter nicht erkennbar.
Wen stört die Flexibilität?
In der oben zitierten Judikatur konnte der VfGH nicht nachvollziehen, dass Bedarfsprüfungen der Verkehrssicherheit – sprich der Leichtigkeit, Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs, wie es in der Straßenverkehrsordnung heißt – dienen sollten. So ähnlich könnte es auch mit Fixtarifen und ähnlichen Modalitäten des GelVerkG sein. Das Interesse des Konsumentenschutzes allein kann Fixtarife nicht rechtfertigen, weil sich die betroffenen Kundenkreise längst an dieses Modell gewöhnt haben und dieses ganz bewusst wählen, um Geld für Fahrtkosten zu sparen. Dass sich eine maßgebliche Zahl von Kunden durch das flexible System über den Tisch gezogen fühlte, kann nicht belegt werden.
Der "Schutz" gilt nicht den Kunden, sondern den Taxifahrern. Dabei handelt es sich aber um kein öffentliches Interesse in einem marktwirtschaftlichen System. Konkurrenzschutz ist allerdings aus Sicht des VfGH verpönt.
Fazit: Wenn der Gesetzgeber eine bestehende Erwerbstätigkeit in der Substanz zerstört, wird das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit verletzt. Die Chancen für einen erfolgreichen Antrag beim VfGH, die Novelle für verfassungswidrig zu erklären, stehen nicht schlecht.
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Gerhard Strejcek
Josef Redlich: Im Schatten von Hans Kelsen
Wiener Zeitung, 19.06.2019
Der Staatsrechtslehrer wurde vor 150 Jahren, am 18. Juni 1869, geboren. Er lehrte in Harvard und amtierte zweimal als "Expertenminister".
In den letzten Wochen erfuhr die österreichische Bundesverfassung viel Lob, das im Großen und Ganzen verdient ist, im Detail aber nicht den richtigen Adressaten zugeordnet wurde. Dass Hans Kelsen im Frühjahr und Sommer 1920 als Experte im zuständigen Unterausschuss der Nationalversammlung eine gewaltige Kompilationsleistung vollbrachte, ist unbestritten. Als Verfassungsrechtler muss man das Werk Kelsens und seine große Gelehrsamkeit bewundern, ohne aber dem Irrtum zu verfallen, dem "Architekten" auch die Urheberschaft für Verfassungsnormen beizumessen, die nicht von ihm stammen.
Denn die vor Kurzem spektakulär angewendete Regel des Art. 74 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) bestand bereits wortgleich vor dem B-VG - das Misstrauensvotum war schon im älteren Gesetz über die Staatsregierung vom April 1919 geregelt. Und jene Zuständigkeiten, die Bundespräsident Van der Bellen nach übereinstimmendem Votum zügig und verantwortungsbewusst handhabte, erhielt dieses (neben der Bundesregierung) oberste Staats-Organ erst ein Jahrzehnt nach Kelsens Expertentätigkeit für die konstituierende Nationalversammlung.
Die Neuordnung der Zuständigkeiten in der B-VG-Novelle 1929, deren Berichterstatter im Verfassungsausschuss Kurt Schuschnigg war, wertete den Bundespräsidenten erst zu jenem Organ auf, das als entscheidender Faktor bei der Ernennung der Bundeskanzlerin und - auf deren Vorschlag - der Bundesregierung anzusehen ist. Dabei macht die Verfassung keinen Unterschied zwischen einer "Übergangsregierung", die sich Zurückhaltung auferlegt (self restraint), und einer frisch und frei agierenden Bundesregierung, die sich nach Neuwahlen auf eine sichere Parlamentsmehrheit stützen kann.
Dennoch ist es wichtig, Kelsens Bedeutung zu würdigen, sein Werk neu zu edieren (federführend: Mathias Jestaedt, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen) und in der Bundesstiftung Hans-Kelsen-Institut, die von Robert Walter, Heinz Mayer und dem Vizekanzler Clemens Jabloner geleitet wurde, für die Nachwelt zu bewahren.
Aber man sollte nicht in einen mitunter irrational anmutenden "Kelsen-Kult" verfallen, in dessen Schatten andere bedeutsame Staatsrechtslehrer aus Österreich unterzugehen drohen. Bedenkt man, dass Kelsen nach seiner Emigration in die USA versuchte, in Harvard Fuß zu fassen (nach einer kurzen Lehrtätigkeit im ursprünglich Mädchen vorbehaltenen Wellesley College), ihm aber die Verlängerung einer einjährigen Berufung und die Verleihung einer Professur dort aus welchen Gründen immer verwehrt blieb (er lehrte stattdessen ab 1945 bis zu seinem Tod an der University of California in Berkeley bei San Francisco Politikwissenschaft), so muss es legitim sein, auch jene beiden Altösterreicher zu würdigen, die Professuren an der renommierten Law School in Cambridge/Massachusetts längerfristig ausübten, nämlich Josef Redlich und Felix Frankfurter.
Von beiden Staatsrechtslehrern erfährt ein Jus-Studierender während seines Studiums so gut wie nichts, obwohl Redlich in Wien lehrte (von 1908 bis 1918 als ordentlicher Professor Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Technischen Hochschule Wien) und an der Alma Mater Rudolphina habilitiert war, und Frankfurter am 12. November 1882 in der Habsburger Metropole zur Welt kam. Frankfurters Familie emigrierte aber frühzeitig, sodass er seine akademische Karriere und seine Richterschaft am U.S. Supreme Court 1939-1962 als Amerikaner erlebte. Gleichwohl würdigen ihn alle Biografien korrekt als "Austrian-American".
Hier soll es vorrangig um die Erinnerung an Frankfurters Freund und Harvard-Kollegen Josef Redlich gehen, der vor 150 Jahren, am 18. Juni 1869 in Göding (Mähren, k.u.k. Monarchie, heute Hodonín, CSR) geboren wurde, und der als vergleichend forschender und historisch bestens ausgewiesener Staatsrechtslehrer, aber auch als Politiker wirkte. Obwohl der Parteizugehörigkeit nach "deutschfortschrittlich", kann man Redlich ideologisch nicht klar zuordnen.
Kurzzeit-Finanzminister
Seine Studien über das Staats- und Reichsproblem der Habsburger, die österreichischen Regierungen im Weltkrieg 19141918, seine Franz-Joseph-Biographie und die beiden ausgereiften Erstlingswerke über englische Kommunalverwaltung und das Parlamentsverfahren des britischen Unterhauses sorgten für Aufsehen. Redlichs Werk und Wirken hat ihm in Amerika und im Vereinigten Königreich große Anerkennung eingebracht; im Auftrag einer US-Stiftung analysierte er noch vor dem Krieg die renommiertesten Rechtsschulen. Im Jahr 1919 suchten die von US-Präsident Wilson entsandten Experten, darunter Archibald Coolidge, Bibliothekar aus Harvard, zunächst Redlich als Auskunftsperson in der Döblinger Armbrustergasse 15 auf, ohne dass diese ernsthaft um eine faire Friedenslösung bemühten Experten später in Paris, Versailles oder in St. Germain-en-Laye Gehör bei den Politikern fanden. Nach Missionen zu US-Staatssekretär (später US-Präsident) Hoover, zu Menschenrechtskongressen in Paris und zu seinen Londoner Freunden wirkte Redlich ab Herbst 1926 acht Jahre lang in Harvard als William-Fairchild-Stabbins-Professor im Fach Comparative Law.
Redlich, der in derselben Villa wohnte wie später Bruno Kreisky, amtierte zweimal als Kurzzeit-Finanzminister. Keine der beiden recht kurzen Amtstätigkeiten als "Expertenminister" (Oktober 1918; Juni bis Oktober 1931) war von sonderlichem Erfolg oder überschwänglichem Dank - sieht man von einer geringen Pension und dem "Geheimrats"-Titel ab - begleitet, aber sie zeigten die praktischen Fähigkeiten des Staatsrechtslehrers, der zunächst im "Abwicklungskabinett" seines Fach-Kollegen Heinrich Lammasch wirkte, dem auch Ignaz Seipel als Sozialminister und der spätere VfGH-Präsident Paul v. Vittorelli als Justizminister angehörten. Der zweite Auftritt Redlichs fiel in die Ära des Bundeskanzlers Karl Buresch, dessen erstem Kabinett er angehörte, um als "Troubleshooter" die Währungskrise in den Griff zu bekommen. Doch schon am 4. Oktober 1931 resignierte Redlich, der sich Sorgen um seine Zukunft machte und lieber wieder die Professur in Harvard fortsetzte, als sich im heimischen Politikhickhack zu verheddern.
In Österreich galt Redlich somit lange Zeit als "Personalreserve" für hohe und höchste Ämter, obwohl seine Aktivzeit als Abgeordneter im "alten Österreich" stattfand. Nach seinem Studienabschluss an der rechtswissenschaftlichen Fakultät hatte er sich in der Politik engagiert und wurde als "deutschfortschrittlicher" (liberaler) Abgeordneter 1906 zunächst in den mährischen Landtag und sodann 1907 in das Abgeordnetenhaus gewählt. Als Mitglied des Reichsrats knüpfte er lebenslang wichtige Beziehungen zu allen Lagern und Nationalitäten, denn im "Unterhaus" des altösterreichischen Parlaments waren über fünfhundert Abgeordnete vertreten, die einander in zwölf Sprachen (absichtlich) missverstanden.
In der Ersten Republik nutzte Redlich seine konziliante Haltung gegenüber den Tschechen, die ihm mehrere Ministerämter in der CSR anboten. Aber trotz der lebenslangen Freundschaft zu Präsident Masaryk, der ebenfalls aus Göding (= Hodonín) stammte, und zu anderen einflussreichen tschechoslowakischen Politikern wurde es nichts aus dem Ministeramt in Prag. Im Jahr 1931 wurde er zum Ersatzrichter am Haager Internationalen Gerichtshof ernannt, in der ersten Aufregung übersah er das Wort "deputy" (Stellvertreter) im Ernennungstelegramm und erlebte eine neuerliche Frustration aufgrund der verhaltenen Reaktionen in Wien.
"Nebenbei" verfasste Redlich, der sich dem Schreiben populärer Bücher verweigerte, ein beachtliches, heute aber fast vergessenes Œuvre. Nicht stets traf er dabei, wie sein Freund Hofmannsthal anmerkte, den richtigen Ton, mitunter bezeichnete er Politiker und Kollegen als "Trotteln" und ärgerte sich über Bürokratie und Kleinmütigkeit. Doch als Universalgelehrter im Staatsrecht konnte er Kelsen, der ihn sogar um Begutachtung des B-VG 1920 bat, durchaus das Wasser reichen.
Auch ist auf die biografische Parallele hinzuweisen, dass beide Staatsrechtslehrer ihre Wurzeln in ländlichen Regionen der k.u.k. Monarchie hatten. Kelsens Vorfahren stammten väterlicherseits aus Brody in Galizien, der Heimat des "Radetzkymarsch"- und "Kapuzinergruft"-Autors Joseph Roth, mütterlicherseits aus Nordböhmen. Redlichs Großvater Nathan hatte einst die Mühle in Göding erworben, die den Wohlstand der Familie mitbestimmte. Seine Mutter Rosa Fanto hatte slowakische Wurzeln, ihr Neffe David galt als Petroleummagnat und österreichischer "Rockefeller".
Zwei Konvertiten
Beide Staatsrechtslehrer, die als Schüler das Akademische Gymnasium besucht hatten, entstammten jüdischen Familien und ließen sich als junge Dozenten taufen, Kelsen zunächst 1905 katholisch, dann konvertierte er 1912 zum evangelischen Glauben. Redlich trat im Jahr 1903 der evangelischen Kirche bei und sorgte für die Taufe der männlichen Verwandten. Beide stammten aus Unternehmerfamilien, wobei Kelsens Vater krankheitsbedingt seine Tätigkeit als Gaslampen-Fabrikant in der Wiedener Wohllebengasse aufgeben musste. Redlich wiederum stammte zwar aus wohlhabender Familie, konnte aber nur indirekt von der Ziegelei und der Zuckerfabrik, die sein Bruder Fritz leitete, profitieren. Vom Bauunternehmen Redlich & Berger, das sein Cousin Carl betrieb und das u.a. die Augartenbrücke, Südbahnabschnitte und das Nussdorfer Wehr errichtete, bezog er keine Einkünfte.
Während Kelsen als junger Mann für seine beiden Geschwister sorgte, kam Redlich als Familienvater für den Sohn aus erster Ehe, Hans Ferdinand, seine Gattin Gertrude und deren Familie sowie seine zwei kleinen Töchter unter materiellen Druck. Beide Staatsrechtslehrer mussten somit ihren Lebenserwerb mit Fleiß, Vortrags-Verve und Tinte selbst verdienen.
Literaturhinweise:
Fritz Fellner/Ilse Corradini (Hrsg):
Im langen Atem der Geschichte
Schicksalsjahre Österreichs. Die Aufzeichnungen und Tagebücher Josef Redlichs
Böhlau, Wien/Köln 2011, 3 Bände, 1622 Seiten
Gerhard Strejcek (Hrsg):
Gelebtes Recht.
Österreichische Verlagsgesellschaft, Wien 2013, 358 Seiten
Gerhard Strejcek:
Der unvollendete Staat. Adolf Julius Merkl und die Verfassung der Republik Deutschösterreich.
New Academic Press, 2019, 96 Seiten
In den letzten Wochen erfuhr die österreichische Bundesverfassung viel Lob, das im Großen und Ganzen verdient ist, im Detail aber nicht den richtigen Adressaten zugeordnet wurde. Dass Hans Kelsen im Frühjahr und Sommer 1920 als Experte im zuständigen Unterausschuss der Nationalversammlung eine gewaltige Kompilationsleistung vollbrachte, ist unbestritten. Als Verfassungsrechtler muss man das Werk Kelsens und seine große Gelehrsamkeit bewundern, ohne aber dem Irrtum zu verfallen, dem "Architekten" auch die Urheberschaft für Verfassungsnormen beizumessen, die nicht von ihm stammen.
Denn die vor Kurzem spektakulär angewendete Regel des Art. 74 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) bestand bereits wortgleich vor dem B-VG - das Misstrauensvotum war schon im älteren Gesetz über die Staatsregierung vom April 1919 geregelt. Und jene Zuständigkeiten, die Bundespräsident Van der Bellen nach übereinstimmendem Votum zügig und verantwortungsbewusst handhabte, erhielt dieses (neben der Bundesregierung) oberste Staats-Organ erst ein Jahrzehnt nach Kelsens Expertentätigkeit für die konstituierende Nationalversammlung.
Die Neuordnung der Zuständigkeiten in der B-VG-Novelle 1929, deren Berichterstatter im Verfassungsausschuss Kurt Schuschnigg war, wertete den Bundespräsidenten erst zu jenem Organ auf, das als entscheidender Faktor bei der Ernennung der Bundeskanzlerin und - auf deren Vorschlag - der Bundesregierung anzusehen ist. Dabei macht die Verfassung keinen Unterschied zwischen einer "Übergangsregierung", die sich Zurückhaltung auferlegt (self restraint), und einer frisch und frei agierenden Bundesregierung, die sich nach Neuwahlen auf eine sichere Parlamentsmehrheit stützen kann.
Dennoch ist es wichtig, Kelsens Bedeutung zu würdigen, sein Werk neu zu edieren (federführend: Mathias Jestaedt, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen) und in der Bundesstiftung Hans-Kelsen-Institut, die von Robert Walter, Heinz Mayer und dem Vizekanzler Clemens Jabloner geleitet wurde, für die Nachwelt zu bewahren.
Aber man sollte nicht in einen mitunter irrational anmutenden "Kelsen-Kult" verfallen, in dessen Schatten andere bedeutsame Staatsrechtslehrer aus Österreich unterzugehen drohen. Bedenkt man, dass Kelsen nach seiner Emigration in die USA versuchte, in Harvard Fuß zu fassen (nach einer kurzen Lehrtätigkeit im ursprünglich Mädchen vorbehaltenen Wellesley College), ihm aber die Verlängerung einer einjährigen Berufung und die Verleihung einer Professur dort aus welchen Gründen immer verwehrt blieb (er lehrte stattdessen ab 1945 bis zu seinem Tod an der University of California in Berkeley bei San Francisco Politikwissenschaft), so muss es legitim sein, auch jene beiden Altösterreicher zu würdigen, die Professuren an der renommierten Law School in Cambridge/Massachusetts längerfristig ausübten, nämlich Josef Redlich und Felix Frankfurter.
Von beiden Staatsrechtslehrern erfährt ein Jus-Studierender während seines Studiums so gut wie nichts, obwohl Redlich in Wien lehrte (von 1908 bis 1918 als ordentlicher Professor Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Technischen Hochschule Wien) und an der Alma Mater Rudolphina habilitiert war, und Frankfurter am 12. November 1882 in der Habsburger Metropole zur Welt kam. Frankfurters Familie emigrierte aber frühzeitig, sodass er seine akademische Karriere und seine Richterschaft am U.S. Supreme Court 1939-1962 als Amerikaner erlebte. Gleichwohl würdigen ihn alle Biografien korrekt als "Austrian-American".
Hier soll es vorrangig um die Erinnerung an Frankfurters Freund und Harvard-Kollegen Josef Redlich gehen, der vor 150 Jahren, am 18. Juni 1869 in Göding (Mähren, k.u.k. Monarchie, heute Hodonín, CSR) geboren wurde, und der als vergleichend forschender und historisch bestens ausgewiesener Staatsrechtslehrer, aber auch als Politiker wirkte. Obwohl der Parteizugehörigkeit nach "deutschfortschrittlich", kann man Redlich ideologisch nicht klar zuordnen.
Kurzzeit-Finanzminister
Seine Studien über das Staats- und Reichsproblem der Habsburger, die österreichischen Regierungen im Weltkrieg 19141918, seine Franz-Joseph-Biographie und die beiden ausgereiften Erstlingswerke über englische Kommunalverwaltung und das Parlamentsverfahren des britischen Unterhauses sorgten für Aufsehen. Redlichs Werk und Wirken hat ihm in Amerika und im Vereinigten Königreich große Anerkennung eingebracht; im Auftrag einer US-Stiftung analysierte er noch vor dem Krieg die renommiertesten Rechtsschulen. Im Jahr 1919 suchten die von US-Präsident Wilson entsandten Experten, darunter Archibald Coolidge, Bibliothekar aus Harvard, zunächst Redlich als Auskunftsperson in der Döblinger Armbrustergasse 15 auf, ohne dass diese ernsthaft um eine faire Friedenslösung bemühten Experten später in Paris, Versailles oder in St. Germain-en-Laye Gehör bei den Politikern fanden. Nach Missionen zu US-Staatssekretär (später US-Präsident) Hoover, zu Menschenrechtskongressen in Paris und zu seinen Londoner Freunden wirkte Redlich ab Herbst 1926 acht Jahre lang in Harvard als William-Fairchild-Stabbins-Professor im Fach Comparative Law.
Redlich, der in derselben Villa wohnte wie später Bruno Kreisky, amtierte zweimal als Kurzzeit-Finanzminister. Keine der beiden recht kurzen Amtstätigkeiten als "Expertenminister" (Oktober 1918; Juni bis Oktober 1931) war von sonderlichem Erfolg oder überschwänglichem Dank - sieht man von einer geringen Pension und dem "Geheimrats"-Titel ab - begleitet, aber sie zeigten die praktischen Fähigkeiten des Staatsrechtslehrers, der zunächst im "Abwicklungskabinett" seines Fach-Kollegen Heinrich Lammasch wirkte, dem auch Ignaz Seipel als Sozialminister und der spätere VfGH-Präsident Paul v. Vittorelli als Justizminister angehörten. Der zweite Auftritt Redlichs fiel in die Ära des Bundeskanzlers Karl Buresch, dessen erstem Kabinett er angehörte, um als "Troubleshooter" die Währungskrise in den Griff zu bekommen. Doch schon am 4. Oktober 1931 resignierte Redlich, der sich Sorgen um seine Zukunft machte und lieber wieder die Professur in Harvard fortsetzte, als sich im heimischen Politikhickhack zu verheddern.
In Österreich galt Redlich somit lange Zeit als "Personalreserve" für hohe und höchste Ämter, obwohl seine Aktivzeit als Abgeordneter im "alten Österreich" stattfand. Nach seinem Studienabschluss an der rechtswissenschaftlichen Fakultät hatte er sich in der Politik engagiert und wurde als "deutschfortschrittlicher" (liberaler) Abgeordneter 1906 zunächst in den mährischen Landtag und sodann 1907 in das Abgeordnetenhaus gewählt. Als Mitglied des Reichsrats knüpfte er lebenslang wichtige Beziehungen zu allen Lagern und Nationalitäten, denn im "Unterhaus" des altösterreichischen Parlaments waren über fünfhundert Abgeordnete vertreten, die einander in zwölf Sprachen (absichtlich) missverstanden.
In der Ersten Republik nutzte Redlich seine konziliante Haltung gegenüber den Tschechen, die ihm mehrere Ministerämter in der CSR anboten. Aber trotz der lebenslangen Freundschaft zu Präsident Masaryk, der ebenfalls aus Göding (= Hodonín) stammte, und zu anderen einflussreichen tschechoslowakischen Politikern wurde es nichts aus dem Ministeramt in Prag. Im Jahr 1931 wurde er zum Ersatzrichter am Haager Internationalen Gerichtshof ernannt, in der ersten Aufregung übersah er das Wort "deputy" (Stellvertreter) im Ernennungstelegramm und erlebte eine neuerliche Frustration aufgrund der verhaltenen Reaktionen in Wien.
"Nebenbei" verfasste Redlich, der sich dem Schreiben populärer Bücher verweigerte, ein beachtliches, heute aber fast vergessenes Œuvre. Nicht stets traf er dabei, wie sein Freund Hofmannsthal anmerkte, den richtigen Ton, mitunter bezeichnete er Politiker und Kollegen als "Trotteln" und ärgerte sich über Bürokratie und Kleinmütigkeit. Doch als Universalgelehrter im Staatsrecht konnte er Kelsen, der ihn sogar um Begutachtung des B-VG 1920 bat, durchaus das Wasser reichen.
Auch ist auf die biografische Parallele hinzuweisen, dass beide Staatsrechtslehrer ihre Wurzeln in ländlichen Regionen der k.u.k. Monarchie hatten. Kelsens Vorfahren stammten väterlicherseits aus Brody in Galizien, der Heimat des "Radetzkymarsch"- und "Kapuzinergruft"-Autors Joseph Roth, mütterlicherseits aus Nordböhmen. Redlichs Großvater Nathan hatte einst die Mühle in Göding erworben, die den Wohlstand der Familie mitbestimmte. Seine Mutter Rosa Fanto hatte slowakische Wurzeln, ihr Neffe David galt als Petroleummagnat und österreichischer "Rockefeller".
Zwei Konvertiten
Beide Staatsrechtslehrer, die als Schüler das Akademische Gymnasium besucht hatten, entstammten jüdischen Familien und ließen sich als junge Dozenten taufen, Kelsen zunächst 1905 katholisch, dann konvertierte er 1912 zum evangelischen Glauben. Redlich trat im Jahr 1903 der evangelischen Kirche bei und sorgte für die Taufe der männlichen Verwandten. Beide stammten aus Unternehmerfamilien, wobei Kelsens Vater krankheitsbedingt seine Tätigkeit als Gaslampen-Fabrikant in der Wiedener Wohllebengasse aufgeben musste. Redlich wiederum stammte zwar aus wohlhabender Familie, konnte aber nur indirekt von der Ziegelei und der Zuckerfabrik, die sein Bruder Fritz leitete, profitieren. Vom Bauunternehmen Redlich & Berger, das sein Cousin Carl betrieb und das u.a. die Augartenbrücke, Südbahnabschnitte und das Nussdorfer Wehr errichtete, bezog er keine Einkünfte.
Während Kelsen als junger Mann für seine beiden Geschwister sorgte, kam Redlich als Familienvater für den Sohn aus erster Ehe, Hans Ferdinand, seine Gattin Gertrude und deren Familie sowie seine zwei kleinen Töchter unter materiellen Druck. Beide Staatsrechtslehrer mussten somit ihren Lebenserwerb mit Fleiß, Vortrags-Verve und Tinte selbst verdienen.
Literaturhinweise:
Fritz Fellner/Ilse Corradini (Hrsg):
Im langen Atem der Geschichte
Schicksalsjahre Österreichs. Die Aufzeichnungen und Tagebücher Josef Redlichs
Böhlau, Wien/Köln 2011, 3 Bände, 1622 Seiten
Gerhard Strejcek (Hrsg):
Gelebtes Recht.
Österreichische Verlagsgesellschaft, Wien 2013, 358 Seiten
Gerhard Strejcek:
Der unvollendete Staat. Adolf Julius Merkl und die Verfassung der Republik Deutschösterreich.
New Academic Press, 2019, 96 Seiten
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Maja Haderlaps Klartextrede nun auch als Text
Wiener Zeitung, 24.05.2019
Die Ansprache der Kärnter Slowenin zum Festakt anlässlich 100 Jahre Republik ist auch im Druck von größter Aktualität.
Am 12. November des Vorjahrs hielt die Kärntner Slowenin Maja Haderlap die Festrede anlässlich des Staatsaktes zur Gründung der Republik in der Wiener Staatsoper. Wer immer die Idee hatte, die an der Wiener Universität promovierte Theaterwissenschafterin und Germanistin im offiziellen Rahmen zu Wort kommen zu lassen (offiziell luden die "triumviri rei publicae", Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Bundeskanzler Sebastian Kurz und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, zum Staatsakt in die ehemalige Hofoper) und welche Motive die Akteure (darunter auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl als damaliger Vorsitzender der Landeshauptleute-Konferenz) geleitet haben mögen, - das literarische Ergebnis spricht für sich, wie auch das akustische Erlebnis des Vortrags dieser großen Autorin beeindruckend war.
Appell
Eindrucksvoll warnte Haderlap davor, die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und der liberal-rechtsstaatlichen Demokratie preiszugeben oder sich gegen die Integration in ein friedliches, vereintes Europa zu stemmen. Erinnert sei daran, dass auch Holocaust-Überlebende sowie Schülerinnen und Schüler der Rede und dem von den Wiener Philharmonikern musikalisch begleiteten Staatsakt samt Politikerreden beiwohnten und solcherart die Opfer der NS-Politik unter Beteiligung von in Österreich Geborenen, aber auch die Zukunft unseres Staates repräsentierten. Eingebettet war der Vortrag der Autorin in einen Reigen von offiziellen Ansprachen. Die gesamten Reden können über die Homepage des Bundespräsidenten heruntergeladen werden, in der vorliegenden Broschüre aber findet sich, singulär und lesenswert, die Festrede von Maja Haderlap.
Gemeinsam mit Florjan Lipus und Janko Ferk repräsentiert die aus Bad Eisenkappel/Železna Kapla stammende Dichterin drei große literarische Vertreter dieser autochthonen Volksgruppe. Gerade die Angehörigen von Minderheiten, deren Schutz der Republik zweifach (im Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye 1919 und im Staatsvertrag von Wien 1955) aufgetragen wurde, bereichern unsere Kultur in besonderem Maße. Und sie sorgen dafür, dass unsere spezifische, österreichische Identität auch jenseits der Grenzen besser verstanden wird.
Maja Haderlaps "Im langen Atem der Geschichte" beginnt mit einem stürmischen Ingeborg-Bachmann-Zitat aus "Große Landschaft bei Wien"; diese als Lyrikerin, Hörspielautorin und Erzählerin gleichermaßen erfolgreiche Autorin symbolisiert in vielerlei Hinsicht das neue Österreich der Zweiten Republik.
Kollektives Gewissen
Kärntnerin wie Haderlap und wie auch jener heute vergessene Mann aus Dellach im Gailtal (der im Wahlbezirk Hermagor/Arnoldstein 1911 in das Abgeordnetenhaus gewählte Dr. Viktor Waldner), der die provisorische Nationalversammlung im Oktober 1918 für den 21. 10. in das niederösterreichische Landhaus in der Herrengasse einlud, zog es Ingeborg Bachmann in den dritten Wiener Gemeinde-Bezirk, wo sie in der Ungargasse wohnte und zeitweise mit Hans Weigel liiert war.
Unmittelbar nach Kriegsende studierte sie in Innsbruck, dann in Graz. Seit über 40 Jahren wird jährlich in Klagenfurt der Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben, den Maja Haderlap 2011 erhielt, um den Kreis zu schließen. Und vor 66 Jahren übernahm Bachmann den Literaturpreis der "Gruppe 47", der sie motivierte und beflügelte. Leider blieb ihr Leben eine unvollendete Symphonie; sie liegt seit dem Oktober 1973 am Friedhof in Klagenfurt-Annabichl begraben.
Ihre kongeniale Nachfolgerin Haderlap jedoch, die als Chefdramaturgin am Landestheater Klagenfurt unter der Intendanz von Dietmar Pflegerl (bis 2007) und zuvor als Regisseurin in Laibach/Ljubljana wirkte und zudem an der Alpen-Adria-Universität Lehrveranstaltungen für Vergleichende Literaturwissenschaft hielt, spricht uns weiterhin an. Und sie kann ihrerseits als überaus sympathische Ausprägung unseres kollektiven Gewissens angesehen werden.
Maja Haderlap, die seit 1983 Lyrikbände veröffentlicht, aber vor allem durch ihren berührenden Roman "Engel des Vergessens" (2011) einer breiteren, lesebegeisterten Öffentlichkeit bekannt wurde, beginnt ihre Rede mit Bachmann und endet mit Oskar Kokoschka, der aus dem niederösterreichischen Pöchlarn stammte und unweit von Mon-treux starb, so wie sich Bachmanns Lebenskreis in Rom vollendete.
Wider den Populismus
Haderlap zitiert treffsicher einen unbequemen, ruppigen Künstler, der postuliert hat, dass Demokratie so sicher führen (muss) wie Instinkt, und, nota bene! - kein einziger Politiker, keine Politikerin kommt in ihrer parteipolitisch neutralen Rede vor. Aber die Autorin, deren Familie unter dem NS-Terror leiden musste, bezieht deutlich Stellung zugunsten wichtiger Wertentscheidungen unserer Republik.
Sie votiert für die faktische Umsetzung der Gleichberechtigung, mahnt das Achtgeben auf die Minderheiten ein und plädiert für den vorsichtigen Umgang mit populistischen Ansagen, deren bittere Füllung oft von einer Schokoladeglasur umgeben ist. Dieser von nationalistischen Brandreden verheißene "Genuss" erweist sich als schal und trügerisch - so wie auch, dies darf ergänzt werden, unüberlegte Aufforderungen, mit den menschenrechtlichen Fundamenten zu brechen, nur Schaden stiften können.
Die scheinbare Behaglichkeit des Nationalstaats, in dessen engere Behausung wir uns nach Ansicht mancher Politiker zurückziehen sollen, entlarvt Haderlap als Rückzug in ein brüchiges Schneckenhaus. Die zurückhaltende Rednerin, welche als Herausgeberin der Literaturzeitschrift "Mladje" (Deutsch: "jünger", als Komparativ von "jung") publizistisch-editorische Erfahrungen sammelte, verzichtet auf den mahnenden Zeigefinger.
Unternehmen Europa
Zwischen den Worten und Zeilen aber wird deutlich, dass Europa weder als Unternehmen geführt werden noch das Unternehmen Europa scheitern darf. Sollte eine dieser beiden Szenarien eintreten, wäre es auch um die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik geschehen, die durch Errungenschaften wie Staatsvertrag (von Wien) und Sozialpartnerschaft zu ihrer Identität gefunden hat.
Soweit in aller Kürze ein paar Inhalte der wohltuenden Rede zum Staatsakt des Vorjahres, die wir einer Autorin verdanken, die 2012 den Rauriser Literaturpreis und 2018 den hoch verdienten Max-Frisch-Preis in Zürich entgegennehmen konnte. Die in ein zart angedeutetes Rot-Weiß-Rot gehüllte Broschüre des Göttinger Wallstein-Verlags, die eine lächelnde und ebenso dezent wirkende Maja Haderlap zeigt, hat nicht einmal zwanzig Seiten, doch der Gehalt entschädigt für den wenig pompösen, aber umso eindrucksvolleren Auftritt.
Information:
Maja Haderlap
Im langen Atem der Geschichte
Rede beim Staatsakt anlässlich der 100. Wiederkehr des Jahrestags der Gründung der Republik Österreich.
Wallstein, Göttingen 2019, 19 Seiten
Ferner bei Wallstein erschienen:
Maja Haderlaps Lyrikband "langer transit" (2014) und der Roman "Engel des Vergessens" (2011)
Am 12. November des Vorjahrs hielt die Kärntner Slowenin Maja Haderlap die Festrede anlässlich des Staatsaktes zur Gründung der Republik in der Wiener Staatsoper. Wer immer die Idee hatte, die an der Wiener Universität promovierte Theaterwissenschafterin und Germanistin im offiziellen Rahmen zu Wort kommen zu lassen (offiziell luden die "triumviri rei publicae", Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Bundeskanzler Sebastian Kurz und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, zum Staatsakt in die ehemalige Hofoper) und welche Motive die Akteure (darunter auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl als damaliger Vorsitzender der Landeshauptleute-Konferenz) geleitet haben mögen, - das literarische Ergebnis spricht für sich, wie auch das akustische Erlebnis des Vortrags dieser großen Autorin beeindruckend war.
Appell
Eindrucksvoll warnte Haderlap davor, die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und der liberal-rechtsstaatlichen Demokratie preiszugeben oder sich gegen die Integration in ein friedliches, vereintes Europa zu stemmen. Erinnert sei daran, dass auch Holocaust-Überlebende sowie Schülerinnen und Schüler der Rede und dem von den Wiener Philharmonikern musikalisch begleiteten Staatsakt samt Politikerreden beiwohnten und solcherart die Opfer der NS-Politik unter Beteiligung von in Österreich Geborenen, aber auch die Zukunft unseres Staates repräsentierten. Eingebettet war der Vortrag der Autorin in einen Reigen von offiziellen Ansprachen. Die gesamten Reden können über die Homepage des Bundespräsidenten heruntergeladen werden, in der vorliegenden Broschüre aber findet sich, singulär und lesenswert, die Festrede von Maja Haderlap.
Gemeinsam mit Florjan Lipus und Janko Ferk repräsentiert die aus Bad Eisenkappel/Železna Kapla stammende Dichterin drei große literarische Vertreter dieser autochthonen Volksgruppe. Gerade die Angehörigen von Minderheiten, deren Schutz der Republik zweifach (im Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye 1919 und im Staatsvertrag von Wien 1955) aufgetragen wurde, bereichern unsere Kultur in besonderem Maße. Und sie sorgen dafür, dass unsere spezifische, österreichische Identität auch jenseits der Grenzen besser verstanden wird.
Maja Haderlaps "Im langen Atem der Geschichte" beginnt mit einem stürmischen Ingeborg-Bachmann-Zitat aus "Große Landschaft bei Wien"; diese als Lyrikerin, Hörspielautorin und Erzählerin gleichermaßen erfolgreiche Autorin symbolisiert in vielerlei Hinsicht das neue Österreich der Zweiten Republik.
Kollektives Gewissen
Kärntnerin wie Haderlap und wie auch jener heute vergessene Mann aus Dellach im Gailtal (der im Wahlbezirk Hermagor/Arnoldstein 1911 in das Abgeordnetenhaus gewählte Dr. Viktor Waldner), der die provisorische Nationalversammlung im Oktober 1918 für den 21. 10. in das niederösterreichische Landhaus in der Herrengasse einlud, zog es Ingeborg Bachmann in den dritten Wiener Gemeinde-Bezirk, wo sie in der Ungargasse wohnte und zeitweise mit Hans Weigel liiert war.
Unmittelbar nach Kriegsende studierte sie in Innsbruck, dann in Graz. Seit über 40 Jahren wird jährlich in Klagenfurt der Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben, den Maja Haderlap 2011 erhielt, um den Kreis zu schließen. Und vor 66 Jahren übernahm Bachmann den Literaturpreis der "Gruppe 47", der sie motivierte und beflügelte. Leider blieb ihr Leben eine unvollendete Symphonie; sie liegt seit dem Oktober 1973 am Friedhof in Klagenfurt-Annabichl begraben.
Ihre kongeniale Nachfolgerin Haderlap jedoch, die als Chefdramaturgin am Landestheater Klagenfurt unter der Intendanz von Dietmar Pflegerl (bis 2007) und zuvor als Regisseurin in Laibach/Ljubljana wirkte und zudem an der Alpen-Adria-Universität Lehrveranstaltungen für Vergleichende Literaturwissenschaft hielt, spricht uns weiterhin an. Und sie kann ihrerseits als überaus sympathische Ausprägung unseres kollektiven Gewissens angesehen werden.
Maja Haderlap, die seit 1983 Lyrikbände veröffentlicht, aber vor allem durch ihren berührenden Roman "Engel des Vergessens" (2011) einer breiteren, lesebegeisterten Öffentlichkeit bekannt wurde, beginnt ihre Rede mit Bachmann und endet mit Oskar Kokoschka, der aus dem niederösterreichischen Pöchlarn stammte und unweit von Mon-treux starb, so wie sich Bachmanns Lebenskreis in Rom vollendete.
Wider den Populismus
Haderlap zitiert treffsicher einen unbequemen, ruppigen Künstler, der postuliert hat, dass Demokratie so sicher führen (muss) wie Instinkt, und, nota bene! - kein einziger Politiker, keine Politikerin kommt in ihrer parteipolitisch neutralen Rede vor. Aber die Autorin, deren Familie unter dem NS-Terror leiden musste, bezieht deutlich Stellung zugunsten wichtiger Wertentscheidungen unserer Republik.
Sie votiert für die faktische Umsetzung der Gleichberechtigung, mahnt das Achtgeben auf die Minderheiten ein und plädiert für den vorsichtigen Umgang mit populistischen Ansagen, deren bittere Füllung oft von einer Schokoladeglasur umgeben ist. Dieser von nationalistischen Brandreden verheißene "Genuss" erweist sich als schal und trügerisch - so wie auch, dies darf ergänzt werden, unüberlegte Aufforderungen, mit den menschenrechtlichen Fundamenten zu brechen, nur Schaden stiften können.
Die scheinbare Behaglichkeit des Nationalstaats, in dessen engere Behausung wir uns nach Ansicht mancher Politiker zurückziehen sollen, entlarvt Haderlap als Rückzug in ein brüchiges Schneckenhaus. Die zurückhaltende Rednerin, welche als Herausgeberin der Literaturzeitschrift "Mladje" (Deutsch: "jünger", als Komparativ von "jung") publizistisch-editorische Erfahrungen sammelte, verzichtet auf den mahnenden Zeigefinger.
Unternehmen Europa
Zwischen den Worten und Zeilen aber wird deutlich, dass Europa weder als Unternehmen geführt werden noch das Unternehmen Europa scheitern darf. Sollte eine dieser beiden Szenarien eintreten, wäre es auch um die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik geschehen, die durch Errungenschaften wie Staatsvertrag (von Wien) und Sozialpartnerschaft zu ihrer Identität gefunden hat.
Soweit in aller Kürze ein paar Inhalte der wohltuenden Rede zum Staatsakt des Vorjahres, die wir einer Autorin verdanken, die 2012 den Rauriser Literaturpreis und 2018 den hoch verdienten Max-Frisch-Preis in Zürich entgegennehmen konnte. Die in ein zart angedeutetes Rot-Weiß-Rot gehüllte Broschüre des Göttinger Wallstein-Verlags, die eine lächelnde und ebenso dezent wirkende Maja Haderlap zeigt, hat nicht einmal zwanzig Seiten, doch der Gehalt entschädigt für den wenig pompösen, aber umso eindrucksvolleren Auftritt.
Information:
Maja Haderlap
Im langen Atem der Geschichte
Rede beim Staatsakt anlässlich der 100. Wiederkehr des Jahrestags der Gründung der Republik Österreich.
Wallstein, Göttingen 2019, 19 Seiten
Ferner bei Wallstein erschienen:
Maja Haderlaps Lyrikband "langer transit" (2014) und der Roman "Engel des Vergessens" (2011)
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 10.5.2019
Das Boot und der Despot
Gerhard Strejcek
Kafka - einer der "Unsrigen"!
Wiener Zeitung, 05.05.2019
Ein Buch beleuchtet den Gerichtsstreit um die wertvollen Autoren-Nachlässe von Max Brod und Franz Kafka.
Viele Kafka-Experten träumen nächtens von Dachböden. Einerseits ist laut Kafkas Erzählung "Der Process" der Dachboden jener Ort, an dem sich femeartige Gerichte nach einem unbekannten Strafrecht versammeln. Andererseits finden sich auf exponierten Mansarden mitunter verstaubte Kisten mit Archivmaterial und Briefen, die womöglich von Kafka stammen. Manche dieser Dachböden existieren nur virtuell, wie das geheimnisumwitterte "Max-Brod-Konvolut", das sich in Schließfächern und einer Wohnung in Tel Aviv befand.
Benjamin Balint schildert, wie der mit dem Ehepaar Hoffe befreundete, verwitwete und kinderlose Autor des "Prager Kreises" seine Sekretärin zu Lebzeiten mit Kafka-Manuskripten beschenkte und ihr sein gesamtes Archiv vererbte (Brod verstarb 1968 in Tel Aviv, Anm.). Als das Bezirksgericht in Tel Aviv der 1905 in Troppau (Österreichisch-Schlesien, k.u.k. Monarchie, heute Opava in Mähren, CSR) geborenen, einst "Ilse" gerufenen Ester Hoffe den Erbschein ausstellte, schien alles gelaufen. Aber Geld allein macht bekanntlich nicht glücklich, vor allem nicht, wenn es aus dem tieftraurigen Kafka-Erbe stammt. Das bekam die Erbin, plötzlich von allen Seiten bewacht, bald zu spüren. Einmal wurde sie mit Kopien am Flughafen verhaftet, dann verhängten die Behörden ein Ausfuhrverbot.
In kafkaesker Weise strahlt das Konvolut bis heute seine negative Aura aus. Ein Schweizer Verlag, mit dem Hoffe bereits handelseins war, ging, ohne eine Zeile der bevorschussten Brod-Tagebücher publiziert zu haben, in Konkurs. Und das Marbacher Literaturarchiv musste über einen Strohmann 1,8 Millionen Euro auf den Tisch legen, um den Großteil des "Process"-Manuskripts zu erwerben, dessen Verbleib in Baden-Württemberg nicht gesichert erscheint. Eine einzige Seite vom "Process" (die erste!), welche Stefan Zweig einst als Autograf Kafkas erwarb, gehört, was Balint nicht erwähnt, der Österreichischen Nationalbibliothek, die sie in der Handschriftensammlung hütet.
Der Rest ist in Marbacher Hand, nachdem Ester Hoffe das wertvollste Filetstück bei "Sotheby’s" versteigern ließ, wofür sie weniger lukrierte als erwartet. Wenigstens landete das Manuskript nicht wieder in einem Schließfach, sondern kam in kundige Hände, die eine quellenkritische und eine autografe Edition ermöglichten. Das ging aber nicht ohne Zustimmung des Inhabers der Copyrights Kafkas, Salman Schocken, was dem Ganzen eine weitere bizarre Dimension gibt und die Ambivalenz des materiellen Kafka-Erbes zeigt.
Wie Gold in den Händen von König Midas waren die Texte des gebürtigen Pragers für Rechteinhaber, die von jenem Werk profitierten, das der Autor nicht publiziert wissen wollte. Andere, denen nach europäischem Verständnis der Nutzen des "Erbens" zukommen hätte sollen, starben vor der Zeit oder kamen, wie Balints lesenswertes Buch zeigt, entweder nicht zum Zug oder scheiterten an rechtlichen Hürden. Kinderlos waren beide Autoren geblieben und jene - nicht verwandten - Erbinnen Brods, welche testamentarisch eingesetzt wurden, waren machtlos und scheiterten mit ihren Ansprüchen.
Dieses durchaus "kafkaeske" Schicksal ereilte die beiden Töchter (Ruth und Eva Hoffe) von Ester. Beide Israelinnen starben, ohne von den erhofften Tantiemen profitiert zu haben, wie es der umtriebige Max Brod vorgesehen hatte. Statt der Hoffnung auf Reichtum hatte er ihnen einen furchtbaren "Prozess" vererbt. Die eine verstarb schon 2007, die andere, bitter enttäuscht von ihrer Enteignung durch den israelischen Staat, im Sommer 2018. Seither ist die Akte Hoffe geschlossen, aber ob es wirklich der "letzte Prozess" rund um Kafka war, muss in Frage gestellt werden.
Zu viele persönliche und nationale Anknüpfungspunkte bestehen, um Kafkas Nachlass und seine leiblichen oder ideellen Erben eindeutig definieren zu können. Normalerweise würde man Erben in der Familie unter den Deszendenten suchen, so auch jene des Prager Juristen, der vor 95 Jahren, am 3. Juni 1924, im Sanatorium Hoffmann in Kierling verstorben ist. Von Kindern ist nichts bekannt, der Autor und Beamte der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen (ab November 1918 in derselben öffentlich-rechtlichen Organisationsform zur CSR gehörend) war nie verheiratet, die erbberechtigten Eltern verstarben bald nach ihm. Jene, die ihn aufopfernd gepflegt hatten - darunter Kafkas sympathische Lebensgefährtin Dora Diamant (Dymant), eine natürliche Frau mit ostjüdischen Wurzeln, oder sein Arzt-Freund Dr. Robert Klopstock -, erhielten nach dem Tod des Freundes so gut wie gar nichts.
Das ist insofern eine schreiende Ungerechtigkeit, als aufgrund von formalistischen, internen Regeln der nicht ehelichen Witwe auch kein Sterbegeld seitens der AUVA oder gar eine Pension zukam, die sie bitter benötigt hätte; von den Rechten an Kafkas Werk nicht zu reden, da dieser kein Testament im juristischen Sinn hinterließ. Vermutlich würde hier, im traurigen Sommer 1924, die Geschichte enden, hätte sich nicht Brod Kafkas letztem "Wunsch", alle seine Manuskripte zu vernichten, widersetzt.
Grobe Schnitte
Max Brod war es, der die Initiative ergriff und ein fragwürdig ediertes "Gesamtwerk" sowie eine Biografie Kafkas herausgab, in welcher er selbst die Hauptrolle spielte. Er rechtfertigte sich, wie Balint berichtet, mit einer Metapher: Wie ein Chirurg auf dem Schlachtfeld habe er agiert, als er 1939 die Manuskripte ein zweites Mal retten konnte. Schon zuvor waren nur "grobe Schnitte" möglich; die - aus seiner Sicht - kosmetischen Eingriffe überließ Brod den heutigen Herausgebern und Bearbeitern, darunter Malcolm Pasley, Hans-Gerd Koch, und den anderen Co-Editoren der Kritischen Ausgabe.
Ein ethischer Einwand gegen den "Schwenk" von Kafkas Nachlass in Brods Besitz sei aber erlaubt: Die Freundschaft der beiden Autoren bestand zwar lebenslang, aber wie es auch in ganz "normalen" Männerfreundschaften der Fall ist, hatten sich die beiden Vierzigjährigen bereits "auseinandergelebt". Dass Brod Kafka am Sterbebett besuchte, war eine schöne Geste, aber nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass er dem Autor am nächsten stand, den vielmehr Dora Diamant und Robert Klopstock auf seinem letztem Leidensweg begleitet hatten.
Das Erbrecht sieht testamentarische oder gesetzliche Erben vor. Tatsächlich gibt es heute noch Kafka-Nachfahren, so etwa den in England lebenden Sohn seiner Nichte namens Michael Steiner (geboren 1938). Dieser zeigte zunächst kein Interesse an dem Schatz, den Max Brod bis zu seinem Tod im Dezember 1968 in Tel Aviv und Zürich in Banksafes gehütet hatte. Er nahm - wie Balint es schildert - vielmehr an, dass die Stiftung (Kafka Estate) und die Bodleian Library in Oxford bereits über den Nachlass des Großonkels verfügten.
Als in Israel höchstgerichtlich im Sommer 2016 angeordnet wurde, dass der Nachlass von Brod und damit auch die Kafka-Erbstücke an eine vertrauenswürdige Institution wie die israelische Nationalbibliothek übergeben werden mussten, hatten weder Steiner noch das Marbacher Archiv dagegen einen Einwand. Anders als die privaten Erbinnen, kann und muss eine wissenschaftliche Einrichtung, gleichgültig ob in Oxford, Marbach, Prag oder Jerusalem, das Material der Öffentlichkeit (d.h. heutzutage im Wege der Digitalisierung) zugänglich machen und für wissenschaftliche Kooperationen offen stehen. Dass an der Kompetenz israelischer Wissenschafter gezweifelt wurde, deutsch- und tschechischsprachige Texte zu edieren, war, wie Balint dokumentiert, ein unsachlicher Einwand, der nicht ernst zu nehmen ist. Jeder, der Kafkas Texte liebt und sich für dessen Leben interessiert, muss dankbar dafür sein, wenn verantwortungsbewusste und kundige Zeitgenossen diesen Nachlass hüten, gleichgültig, wo sie sich befinden.
Es dauerte noch Monate nach Rechtskraft des Jerusalemer OGH-Urteils, ehe die Nationalbibliothek den Nachlass physisch in Besitz nehmen konnte. Anlässlich seiner Flucht nach Palästina im Jahr 1939 hatte der ehemalige Postjurist Kafkas Texte zwar nach Tel Aviv mitgenommen, aber im Sechstagekrieg im Juni 1967 zum Teil nach Zürich verlagert, wogegen seine eigenen Unterlagen in Israel verblieben, wo sie im Katzenparadies von Eva Hoffe lagen. Zweimal hatte Brod eine Wertentscheidung zugunsten Kafkas Nachlass getroffen und seine eigenen Akten dem Untergang preisgegeben, den weniger arabische Bomben als die Schaben in der Hoffe-Wohnung beinahe realisiert hätten.
Austriazismen
Balint stellt in seinem kundig verfassten Buch kritische Fragen, lässt viele Experten zu Wort kommen und bietet dem Leser eine fundierte, gut aufbereitete und bildende Lektüre. Der Autor klagt weder an noch wertet er. Er vermittelt dem Leser die Gefühle der Beteiligten, vor allem der eiskalt enteigneten Brod-Nacherbin. Fassungslos nahm sie, wie der Zeitzeuge schildert, die ausweglose Verhandlung vor dem Jerusalemer Höchstgericht zur Kenntnis.
Obwohl das Testament ihrer Mutter angefochten worden war, was ihr naheging, schien ihr Anwalt nicht in Höchstform. "Er hat eine Sommergrippe", flüsterte die Klientin verdrossen. Sie ahnte den Ausgang der von Richter Eljakim Rubinstein begründeten Entscheidung, die auf den Talmud Bezug nahm.
Balint schildert, wie in allen Instanzen die Frage gestellt wurde, ob Kafkas Werk zum deutschen oder zum israelischen Kulturerbe zählt; nur nach den österreichischen Wurzeln und Anklängen fragte seltsamerweise niemand. Das sollte, ohne jede nationale Schlagseite, für alle österreichischen Kafka-Liebhaber und Forscher alarmierend sein. Immerhin waren Brod, Kafka und Ilse (erst in Israel: Ester) Hoffe alle drei k.u.k. Staatsangehörige. Kafkas Erbe ist virtuell unter uns, in Prag wie auch in Wien, Gmünd, Pernitz oder Kierling. Von 41 Lebensjahren war der Autor 36 Jahre lang österreichischer Staatsangehöriger und er studierte nach einer österreichischen Studienordnung an einer österreichischen Universität, ehe er heimisches Recht in einer typisch österreichischen Institution anwandte. Seine Sprache ist voller Austriazismen.
Kafka, so viel steht fest, ist einer der "Unsrigen".
Buchtipp zum Thema:
Benjamin Balint
Kafkas letzter Prozess
Aus dem Englischen von Anne Emmert.
Berenberg Verlag, Berlin 2019, 336 Seiten
Viele Kafka-Experten träumen nächtens von Dachböden. Einerseits ist laut Kafkas Erzählung "Der Process" der Dachboden jener Ort, an dem sich femeartige Gerichte nach einem unbekannten Strafrecht versammeln. Andererseits finden sich auf exponierten Mansarden mitunter verstaubte Kisten mit Archivmaterial und Briefen, die womöglich von Kafka stammen. Manche dieser Dachböden existieren nur virtuell, wie das geheimnisumwitterte "Max-Brod-Konvolut", das sich in Schließfächern und einer Wohnung in Tel Aviv befand.
Benjamin Balint schildert, wie der mit dem Ehepaar Hoffe befreundete, verwitwete und kinderlose Autor des "Prager Kreises" seine Sekretärin zu Lebzeiten mit Kafka-Manuskripten beschenkte und ihr sein gesamtes Archiv vererbte (Brod verstarb 1968 in Tel Aviv, Anm.). Als das Bezirksgericht in Tel Aviv der 1905 in Troppau (Österreichisch-Schlesien, k.u.k. Monarchie, heute Opava in Mähren, CSR) geborenen, einst "Ilse" gerufenen Ester Hoffe den Erbschein ausstellte, schien alles gelaufen. Aber Geld allein macht bekanntlich nicht glücklich, vor allem nicht, wenn es aus dem tieftraurigen Kafka-Erbe stammt. Das bekam die Erbin, plötzlich von allen Seiten bewacht, bald zu spüren. Einmal wurde sie mit Kopien am Flughafen verhaftet, dann verhängten die Behörden ein Ausfuhrverbot.
In kafkaesker Weise strahlt das Konvolut bis heute seine negative Aura aus. Ein Schweizer Verlag, mit dem Hoffe bereits handelseins war, ging, ohne eine Zeile der bevorschussten Brod-Tagebücher publiziert zu haben, in Konkurs. Und das Marbacher Literaturarchiv musste über einen Strohmann 1,8 Millionen Euro auf den Tisch legen, um den Großteil des "Process"-Manuskripts zu erwerben, dessen Verbleib in Baden-Württemberg nicht gesichert erscheint. Eine einzige Seite vom "Process" (die erste!), welche Stefan Zweig einst als Autograf Kafkas erwarb, gehört, was Balint nicht erwähnt, der Österreichischen Nationalbibliothek, die sie in der Handschriftensammlung hütet.
Der Rest ist in Marbacher Hand, nachdem Ester Hoffe das wertvollste Filetstück bei "Sotheby’s" versteigern ließ, wofür sie weniger lukrierte als erwartet. Wenigstens landete das Manuskript nicht wieder in einem Schließfach, sondern kam in kundige Hände, die eine quellenkritische und eine autografe Edition ermöglichten. Das ging aber nicht ohne Zustimmung des Inhabers der Copyrights Kafkas, Salman Schocken, was dem Ganzen eine weitere bizarre Dimension gibt und die Ambivalenz des materiellen Kafka-Erbes zeigt.
Wie Gold in den Händen von König Midas waren die Texte des gebürtigen Pragers für Rechteinhaber, die von jenem Werk profitierten, das der Autor nicht publiziert wissen wollte. Andere, denen nach europäischem Verständnis der Nutzen des "Erbens" zukommen hätte sollen, starben vor der Zeit oder kamen, wie Balints lesenswertes Buch zeigt, entweder nicht zum Zug oder scheiterten an rechtlichen Hürden. Kinderlos waren beide Autoren geblieben und jene - nicht verwandten - Erbinnen Brods, welche testamentarisch eingesetzt wurden, waren machtlos und scheiterten mit ihren Ansprüchen.
Dieses durchaus "kafkaeske" Schicksal ereilte die beiden Töchter (Ruth und Eva Hoffe) von Ester. Beide Israelinnen starben, ohne von den erhofften Tantiemen profitiert zu haben, wie es der umtriebige Max Brod vorgesehen hatte. Statt der Hoffnung auf Reichtum hatte er ihnen einen furchtbaren "Prozess" vererbt. Die eine verstarb schon 2007, die andere, bitter enttäuscht von ihrer Enteignung durch den israelischen Staat, im Sommer 2018. Seither ist die Akte Hoffe geschlossen, aber ob es wirklich der "letzte Prozess" rund um Kafka war, muss in Frage gestellt werden.
Zu viele persönliche und nationale Anknüpfungspunkte bestehen, um Kafkas Nachlass und seine leiblichen oder ideellen Erben eindeutig definieren zu können. Normalerweise würde man Erben in der Familie unter den Deszendenten suchen, so auch jene des Prager Juristen, der vor 95 Jahren, am 3. Juni 1924, im Sanatorium Hoffmann in Kierling verstorben ist. Von Kindern ist nichts bekannt, der Autor und Beamte der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen (ab November 1918 in derselben öffentlich-rechtlichen Organisationsform zur CSR gehörend) war nie verheiratet, die erbberechtigten Eltern verstarben bald nach ihm. Jene, die ihn aufopfernd gepflegt hatten - darunter Kafkas sympathische Lebensgefährtin Dora Diamant (Dymant), eine natürliche Frau mit ostjüdischen Wurzeln, oder sein Arzt-Freund Dr. Robert Klopstock -, erhielten nach dem Tod des Freundes so gut wie gar nichts.
Das ist insofern eine schreiende Ungerechtigkeit, als aufgrund von formalistischen, internen Regeln der nicht ehelichen Witwe auch kein Sterbegeld seitens der AUVA oder gar eine Pension zukam, die sie bitter benötigt hätte; von den Rechten an Kafkas Werk nicht zu reden, da dieser kein Testament im juristischen Sinn hinterließ. Vermutlich würde hier, im traurigen Sommer 1924, die Geschichte enden, hätte sich nicht Brod Kafkas letztem "Wunsch", alle seine Manuskripte zu vernichten, widersetzt.
Grobe Schnitte
Max Brod war es, der die Initiative ergriff und ein fragwürdig ediertes "Gesamtwerk" sowie eine Biografie Kafkas herausgab, in welcher er selbst die Hauptrolle spielte. Er rechtfertigte sich, wie Balint berichtet, mit einer Metapher: Wie ein Chirurg auf dem Schlachtfeld habe er agiert, als er 1939 die Manuskripte ein zweites Mal retten konnte. Schon zuvor waren nur "grobe Schnitte" möglich; die - aus seiner Sicht - kosmetischen Eingriffe überließ Brod den heutigen Herausgebern und Bearbeitern, darunter Malcolm Pasley, Hans-Gerd Koch, und den anderen Co-Editoren der Kritischen Ausgabe.
Ein ethischer Einwand gegen den "Schwenk" von Kafkas Nachlass in Brods Besitz sei aber erlaubt: Die Freundschaft der beiden Autoren bestand zwar lebenslang, aber wie es auch in ganz "normalen" Männerfreundschaften der Fall ist, hatten sich die beiden Vierzigjährigen bereits "auseinandergelebt". Dass Brod Kafka am Sterbebett besuchte, war eine schöne Geste, aber nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass er dem Autor am nächsten stand, den vielmehr Dora Diamant und Robert Klopstock auf seinem letztem Leidensweg begleitet hatten.
Das Erbrecht sieht testamentarische oder gesetzliche Erben vor. Tatsächlich gibt es heute noch Kafka-Nachfahren, so etwa den in England lebenden Sohn seiner Nichte namens Michael Steiner (geboren 1938). Dieser zeigte zunächst kein Interesse an dem Schatz, den Max Brod bis zu seinem Tod im Dezember 1968 in Tel Aviv und Zürich in Banksafes gehütet hatte. Er nahm - wie Balint es schildert - vielmehr an, dass die Stiftung (Kafka Estate) und die Bodleian Library in Oxford bereits über den Nachlass des Großonkels verfügten.
Als in Israel höchstgerichtlich im Sommer 2016 angeordnet wurde, dass der Nachlass von Brod und damit auch die Kafka-Erbstücke an eine vertrauenswürdige Institution wie die israelische Nationalbibliothek übergeben werden mussten, hatten weder Steiner noch das Marbacher Archiv dagegen einen Einwand. Anders als die privaten Erbinnen, kann und muss eine wissenschaftliche Einrichtung, gleichgültig ob in Oxford, Marbach, Prag oder Jerusalem, das Material der Öffentlichkeit (d.h. heutzutage im Wege der Digitalisierung) zugänglich machen und für wissenschaftliche Kooperationen offen stehen. Dass an der Kompetenz israelischer Wissenschafter gezweifelt wurde, deutsch- und tschechischsprachige Texte zu edieren, war, wie Balint dokumentiert, ein unsachlicher Einwand, der nicht ernst zu nehmen ist. Jeder, der Kafkas Texte liebt und sich für dessen Leben interessiert, muss dankbar dafür sein, wenn verantwortungsbewusste und kundige Zeitgenossen diesen Nachlass hüten, gleichgültig, wo sie sich befinden.
Es dauerte noch Monate nach Rechtskraft des Jerusalemer OGH-Urteils, ehe die Nationalbibliothek den Nachlass physisch in Besitz nehmen konnte. Anlässlich seiner Flucht nach Palästina im Jahr 1939 hatte der ehemalige Postjurist Kafkas Texte zwar nach Tel Aviv mitgenommen, aber im Sechstagekrieg im Juni 1967 zum Teil nach Zürich verlagert, wogegen seine eigenen Unterlagen in Israel verblieben, wo sie im Katzenparadies von Eva Hoffe lagen. Zweimal hatte Brod eine Wertentscheidung zugunsten Kafkas Nachlass getroffen und seine eigenen Akten dem Untergang preisgegeben, den weniger arabische Bomben als die Schaben in der Hoffe-Wohnung beinahe realisiert hätten.
Austriazismen
Balint stellt in seinem kundig verfassten Buch kritische Fragen, lässt viele Experten zu Wort kommen und bietet dem Leser eine fundierte, gut aufbereitete und bildende Lektüre. Der Autor klagt weder an noch wertet er. Er vermittelt dem Leser die Gefühle der Beteiligten, vor allem der eiskalt enteigneten Brod-Nacherbin. Fassungslos nahm sie, wie der Zeitzeuge schildert, die ausweglose Verhandlung vor dem Jerusalemer Höchstgericht zur Kenntnis.
Obwohl das Testament ihrer Mutter angefochten worden war, was ihr naheging, schien ihr Anwalt nicht in Höchstform. "Er hat eine Sommergrippe", flüsterte die Klientin verdrossen. Sie ahnte den Ausgang der von Richter Eljakim Rubinstein begründeten Entscheidung, die auf den Talmud Bezug nahm.
Balint schildert, wie in allen Instanzen die Frage gestellt wurde, ob Kafkas Werk zum deutschen oder zum israelischen Kulturerbe zählt; nur nach den österreichischen Wurzeln und Anklängen fragte seltsamerweise niemand. Das sollte, ohne jede nationale Schlagseite, für alle österreichischen Kafka-Liebhaber und Forscher alarmierend sein. Immerhin waren Brod, Kafka und Ilse (erst in Israel: Ester) Hoffe alle drei k.u.k. Staatsangehörige. Kafkas Erbe ist virtuell unter uns, in Prag wie auch in Wien, Gmünd, Pernitz oder Kierling. Von 41 Lebensjahren war der Autor 36 Jahre lang österreichischer Staatsangehöriger und er studierte nach einer österreichischen Studienordnung an einer österreichischen Universität, ehe er heimisches Recht in einer typisch österreichischen Institution anwandte. Seine Sprache ist voller Austriazismen.
Kafka, so viel steht fest, ist einer der "Unsrigen".
Buchtipp zum Thema:
Benjamin Balint
Kafkas letzter Prozess
Aus dem Englischen von Anne Emmert.
Berenberg Verlag, Berlin 2019, 336 Seiten
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Gerhard Strejcek
Fragile Rechtsbasis für Anti-Doping-Regeln
Der Standard, 01.04.2019
Strenge Tests bei Spitzensportlern und rigorose Sanktionen für Dopingsünder werfen gewichtige Grundrechtsfragen auf.
Der jüngste Dopingskandal, der sich inzwischen auf Athleten aus acht Nationen ausgeweitet hat, wirft angesichts der rigorosen Strafdrohungen einige Grundsatzfragen auf, was die Rechte der betroffenen Spitzensportler und die Schutzfunktion für Freizeitsportler betrifft.
Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass Doping ethisch und rechtlich verpönt ist, und daher im Falle der Überführung die Verurteilung wegen schweren Betrugs sowie harte Sanktionen gerechtfertigt sind. Meist zieht ein Dopingfall eine Dauersperre durch die Antidopingrechtskommission sowie die Bekanntgabe der Identität nach sich, und auch sonst hat die Überführung eines Dopingsünders schwerwiegende Konsequenzen.
Häufig ist bereits mit der Aufdeckung und Führung als Beschuldigter, also noch vor einer Verurteilung, der Verlust der wirtschaftlichen Existenz verbunden. Sponsoren springen ab, eine bereits begonnene Ausbildung im öffentlichen Dienst muss beendet werden, weder Heeres- noch Polizeisport dulden in ihren Reihen Sportler, die nachweislich gedopt haben.
Nur wenige von ihnen finden ein neues, wirtschaftlich tragfähiges Standbein, etwa im Sportartikelhandel oder -management. Denn die Punzierung als Dopingsünder wirkt lange nach.
Lückenlose Kontrollen
Aus praktischer Sicht ist das Antidopingsystem im Spitzensport ein Erfolg. Die Kontrollen werden lückenlos durchgeführt, die meisten Tests funktionieren, und die Sanktionen schrecken ab. Ein engmaschiges Netz bewirkt zudem, dass auf Dopingsünder Druck entsteht, sich nötigenfalls zu stellen, bevor die Ermittlungen Fahrt aufnehmen.
Doch sowohl aus EU-rechtlicher Sicht als auch aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stellt sich die Frage, auf welche öffentlichen Interessen das Antidopingregulativ der Wada und der nationalen Verbände sowie die österreichischen Regeln in den Sportgesetzen der Länder und im Antidopingbundesgesetz stützen können.
Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach klargestellt, dass Antidopingregeln unter die Anwendbarkeit des EU-Rechts fallen, weil sportliche und wirtschaftliche Aktivitäten heute nahezu untrennbar verbunden sind.
Antidopingregeln sind laut EuGH keine mit dem gemeinsamen Markt unvereinbaren Beschränkungen (18.7.2006, C-519/04, Rs Meca-Medina und Majcen). Sie sind gerechtfertigt, weil sie a) dem Ziel eines fairen Ablaufs der Sportwettkämpfe, b) zugleich der Chancengleichheit der Sportler, ihrer Gesundheit und c) der Ehrlichkeit und Objektivität des Wettkampfs sowie d) der ethischen Werte des Sports dienen.
Gesundheitsschutz als Ziel
Ähnlich wie der EuGH urteilte aber auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Vereinbarkeit von strikten, täglichen Zeitfenstern mit dem in Art 8 EMRK verankerten Menschenrecht auf Schutz des Privat- und Familienlebens prüfen musste. Der EGMR hält die ständige Prüfung von Athleten in einer Referenzgruppe für zulässig und rechtfertigt diese Eingriffe mit dem Gesundheitsschutz junger Sportler.
Obwohl das Urteil des EGMR vom 18.1.2018 (FNASS/F, Nr. 48151/11 und 77769/13) stringent begründet, dass weitgehende Eingriffe in die Privatsphäre der Athleten zum Zweck der Dopingverfolgung rechtens sind, kann dieses Ziel hinterfragt werden.
Fragwürdige Vorbildwirkung
Rechtsexperten haben darauf hingewiesen, dass die Berufung auf den Gesundheitsschutz problematisch sein kann. Denn gerade dort, wo die Gesundheit von Sportlern besonders betroffen ist, also im Breiten- oder Freizeitsport, greifen die Antidopingregeln nicht. Es bedarf demnach des Umwegs über die Vorbildfunktion von Spitzenathleten, um die Eingriffe in deren Grundrechtssphäre zu rechtfertigen.
Ob sich ein Wettkampfsportler mit Doping auch gesundheitlich selbst schadet, ist dagegen zweitrangig, wie es auch der EGMR andeutete. Die Topathleten werden aus Sorge verfolgt, dass sich auch Kraftsportfans, Bodybuilder, Marathonteilnehmer oder Triathleten einer Epo-Behandlung, Anabolikadoping oder sogar einer Eigenblutbehandlung unterziehen.
Doch bewirken die rigorosen Verfolgungsmaßnahmen von Doping im Leistungssport auch ein Umdenken im privaten Sektor? Folgt man glaubwürdigen Aussagen aus der Kraftsportszene und empirischen Untersuchungen, so muss deren generalpräventive Wirkung auf die Bevölkerung bezweifelt werden.
Angesichts der Härte, mit der gegen Athleten vorgegangen wird, ist es verwunderlich, dass nur wenige Aspekte von den Gerichten ausjudiziert wurden. Juristische Probleme gibt es auf dem Sektor nicht wenige: Dopingsperren sind zwar "Strafen" im Sinne des Artikels 6 EMRK, aber kein Strafrecht im kompetenzrechtlichen Sinn.
Verankerung in der Bundesverfassung
Ein Ausweg aus der vermutlich bald einmal beim Verfassungsgerichtshof virulent werdenden Kompetenzfrage wäre, das allgemein anerkannte Ziel des fairen, dopingfreien Sports in der Bundesverfassung zu verankern und zugleich eine eigene Kompetenzgrundlage für das Antidopingbundesrecht zu verankern.
Eine solche Verfassungsnovelle, für die Konsens bestünde, könnte mehrere Vorteile bei der Auslegung einfachen Rechts mit sich bringen, da sie auch die sensiblen Eingriffe klarer rechtfertigt und in der Abwägung zwischen Eingriffen in Grundrechtspositionen und dem gesetzgeberischen Ziel eines sauberen, dopingfreien Sports Argumente liefern könnte.
Zudem wäre dann wohl auch der Weg frei, den Sektor des Freizeit- und Breitensports juristisch besser in den Griff zu bekommen und zum Beispiel auch Fitnesscenter oder Veranstalter von Sportevents in die Pflicht zu nehmen, an der Dopingprävention mitzuwirken. Immerhin gibt es in diesem Bereich bereits jetzt freiwillige Selbstverpflichtungen und Fairness-Regulative.
Buchtipp zum Thema:
Julia Sautner
Anti-Doping-Recht
Dopingbekämpfung im Lichte der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention
Schriftenreihe zum Sportrecht an der Universität Innsbruck
SPRINT 13
Verlag Österreich, 2018
Der jüngste Dopingskandal, der sich inzwischen auf Athleten aus acht Nationen ausgeweitet hat, wirft angesichts der rigorosen Strafdrohungen einige Grundsatzfragen auf, was die Rechte der betroffenen Spitzensportler und die Schutzfunktion für Freizeitsportler betrifft.
Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass Doping ethisch und rechtlich verpönt ist, und daher im Falle der Überführung die Verurteilung wegen schweren Betrugs sowie harte Sanktionen gerechtfertigt sind. Meist zieht ein Dopingfall eine Dauersperre durch die Antidopingrechtskommission sowie die Bekanntgabe der Identität nach sich, und auch sonst hat die Überführung eines Dopingsünders schwerwiegende Konsequenzen.
Häufig ist bereits mit der Aufdeckung und Führung als Beschuldigter, also noch vor einer Verurteilung, der Verlust der wirtschaftlichen Existenz verbunden. Sponsoren springen ab, eine bereits begonnene Ausbildung im öffentlichen Dienst muss beendet werden, weder Heeres- noch Polizeisport dulden in ihren Reihen Sportler, die nachweislich gedopt haben.
Nur wenige von ihnen finden ein neues, wirtschaftlich tragfähiges Standbein, etwa im Sportartikelhandel oder -management. Denn die Punzierung als Dopingsünder wirkt lange nach.
Lückenlose Kontrollen
Aus praktischer Sicht ist das Antidopingsystem im Spitzensport ein Erfolg. Die Kontrollen werden lückenlos durchgeführt, die meisten Tests funktionieren, und die Sanktionen schrecken ab. Ein engmaschiges Netz bewirkt zudem, dass auf Dopingsünder Druck entsteht, sich nötigenfalls zu stellen, bevor die Ermittlungen Fahrt aufnehmen.
Doch sowohl aus EU-rechtlicher Sicht als auch aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stellt sich die Frage, auf welche öffentlichen Interessen das Antidopingregulativ der Wada und der nationalen Verbände sowie die österreichischen Regeln in den Sportgesetzen der Länder und im Antidopingbundesgesetz stützen können.
Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach klargestellt, dass Antidopingregeln unter die Anwendbarkeit des EU-Rechts fallen, weil sportliche und wirtschaftliche Aktivitäten heute nahezu untrennbar verbunden sind.
Antidopingregeln sind laut EuGH keine mit dem gemeinsamen Markt unvereinbaren Beschränkungen (18.7.2006, C-519/04, Rs Meca-Medina und Majcen). Sie sind gerechtfertigt, weil sie a) dem Ziel eines fairen Ablaufs der Sportwettkämpfe, b) zugleich der Chancengleichheit der Sportler, ihrer Gesundheit und c) der Ehrlichkeit und Objektivität des Wettkampfs sowie d) der ethischen Werte des Sports dienen.
Gesundheitsschutz als Ziel
Ähnlich wie der EuGH urteilte aber auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Vereinbarkeit von strikten, täglichen Zeitfenstern mit dem in Art 8 EMRK verankerten Menschenrecht auf Schutz des Privat- und Familienlebens prüfen musste. Der EGMR hält die ständige Prüfung von Athleten in einer Referenzgruppe für zulässig und rechtfertigt diese Eingriffe mit dem Gesundheitsschutz junger Sportler.
Obwohl das Urteil des EGMR vom 18.1.2018 (FNASS/F, Nr. 48151/11 und 77769/13) stringent begründet, dass weitgehende Eingriffe in die Privatsphäre der Athleten zum Zweck der Dopingverfolgung rechtens sind, kann dieses Ziel hinterfragt werden.
Fragwürdige Vorbildwirkung
Rechtsexperten haben darauf hingewiesen, dass die Berufung auf den Gesundheitsschutz problematisch sein kann. Denn gerade dort, wo die Gesundheit von Sportlern besonders betroffen ist, also im Breiten- oder Freizeitsport, greifen die Antidopingregeln nicht. Es bedarf demnach des Umwegs über die Vorbildfunktion von Spitzenathleten, um die Eingriffe in deren Grundrechtssphäre zu rechtfertigen.
Ob sich ein Wettkampfsportler mit Doping auch gesundheitlich selbst schadet, ist dagegen zweitrangig, wie es auch der EGMR andeutete. Die Topathleten werden aus Sorge verfolgt, dass sich auch Kraftsportfans, Bodybuilder, Marathonteilnehmer oder Triathleten einer Epo-Behandlung, Anabolikadoping oder sogar einer Eigenblutbehandlung unterziehen.
Doch bewirken die rigorosen Verfolgungsmaßnahmen von Doping im Leistungssport auch ein Umdenken im privaten Sektor? Folgt man glaubwürdigen Aussagen aus der Kraftsportszene und empirischen Untersuchungen, so muss deren generalpräventive Wirkung auf die Bevölkerung bezweifelt werden.
Angesichts der Härte, mit der gegen Athleten vorgegangen wird, ist es verwunderlich, dass nur wenige Aspekte von den Gerichten ausjudiziert wurden. Juristische Probleme gibt es auf dem Sektor nicht wenige: Dopingsperren sind zwar "Strafen" im Sinne des Artikels 6 EMRK, aber kein Strafrecht im kompetenzrechtlichen Sinn.
Verankerung in der Bundesverfassung
Ein Ausweg aus der vermutlich bald einmal beim Verfassungsgerichtshof virulent werdenden Kompetenzfrage wäre, das allgemein anerkannte Ziel des fairen, dopingfreien Sports in der Bundesverfassung zu verankern und zugleich eine eigene Kompetenzgrundlage für das Antidopingbundesrecht zu verankern.
Eine solche Verfassungsnovelle, für die Konsens bestünde, könnte mehrere Vorteile bei der Auslegung einfachen Rechts mit sich bringen, da sie auch die sensiblen Eingriffe klarer rechtfertigt und in der Abwägung zwischen Eingriffen in Grundrechtspositionen und dem gesetzgeberischen Ziel eines sauberen, dopingfreien Sports Argumente liefern könnte.
Zudem wäre dann wohl auch der Weg frei, den Sektor des Freizeit- und Breitensports juristisch besser in den Griff zu bekommen und zum Beispiel auch Fitnesscenter oder Veranstalter von Sportevents in die Pflicht zu nehmen, an der Dopingprävention mitzuwirken. Immerhin gibt es in diesem Bereich bereits jetzt freiwillige Selbstverpflichtungen und Fairness-Regulative.
Buchtipp zum Thema:
Julia Sautner
Anti-Doping-Recht
Dopingbekämpfung im Lichte der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention
Schriftenreihe zum Sportrecht an der Universität Innsbruck
SPRINT 13
Verlag Österreich, 2018
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Gerhard Strejcek
Anti-Doping-Kampf in Verfassung verankern
Die Presse, 25.03.2019
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt Athleten erhebliche Einschränkungen der Privatsphäre ab. In Österreich fehlt aber eine Kompetenzgrundlage oder ein eigener „Sport-Artikel“
in der Verfassung.
Wien. Der sogenannte „Dopingskandal“, den österreichische und deutsche Ermittler beginnend mit einer Razzia in Seefeld und in Erfurt aufdeckten und der mittlerweile die Innsbrucker und die Münchener Staatsanwaltschaft beschäftigt, hat neben dunklen Aspekten auch eine positive Seite. Die Anlassfälle zeigen jedenfalls, dass die rigorosen Verfolgungsmaßnahmen gegen Doping im Leistungssport und der dadurch entstehende Druck, sich nötigenfalls zu stellen, durch die Nada und die Justiz funktionieren und sich die aufwendigen Kontrollen auch lohnen.
Viele Länder in wärmeren Gefilden verfügen gar nicht über ausreichende technische Möglichkeiten (Kühlung von Proben), weshalb der Eindruck täuscht, dass nur in Mittel- oder Osteuropa gedopt wird. Fliegt ein Dopingnetzwerk auf, so bedeutet das auch nicht, dass in Österreich mehr als in anderen Länder gedopt wird, sondern dass hierzulande effektiv ermittelt wird und Dopingsünder streng bestraft werden..
Die Palette reicht von einer langfristigen Sperre seitens der Nada-Rechtskommission (ÖADR) über eine Verurteilung wegen Sportbetrugs bis zum Verlust der Ausbildungsstelle, der Sponsoren und der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Nicht zuletzt bedeutet das Bekanntwerden von Name und Bild eines „Dopingsünders“ auch eine Punzierung der Betroffenen und meist eine Beendigung der Laufbahn als Leistungssportler(in).
Sperre und Jobverlust
Verfassungsrechtlich betrachtet haben demnach nicht nur die genuin strafrechtlichen Folgen im Falle einer Verurteilung Auswirkungen auf die Rechtsposition, da auch Sperre und Jobverlust unter „criminal charges“ im Sinn des Art 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fallen. Nicht alle Aspekte sind ausjudiziert, doch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das vor rund einem Jahr unanfechtbar geworden ist, zeigt auf, dass weitgehende Eingriffe in die Privatsphäre der Athleten zum Zweck der Dopingverfolgung rechtens sind.
Proben jederzeit möglich
Immerhin war eine der hundert Beschwerdeführerinnen eine bereits sechzigjährige Radrennfahrerin, die unzählige Male getestet worden war. Gleichwohl verblieb sie auf einer Liste von Athletinnen, die sich ungeachtet der Familiensituation für Proben regelmäßig verfügbar halten und die französische Agentur über den Verbleib auf dem Laufenden halten mussten. Auf Ebene der Probenziehung weit außerhalb von Wettkämpfen stellte sich die Frage, wie weit die Einschränkung der Grundrechtssphäre (Familien- und Privatleben) von Athleten durch die legitimen Ziele notwendig und gerechtfertigt ist.
Der EGMR hat mit Urteil vom 18. Jänner 2018 (endgültig seit 1. April 2018) im Fall FNASS (u.a. Verbände) gegen Frankreich (Appl. Nr. 48151/11 und 77769/13) festgehalten, dass es keine unverhältnismäßige Einschränkung einer Gruppe von Spitzenathleten darstellt, wenn diese ihre Aufenthaltsdaten bekannt geben und zeitliche Fenster für Kontrollen (auch in der Trainingsphase) einräumen müssen. Das sind die sogenannten whereabouts rules, wie sie WADA und nationale Verbände vorsehen. Es genügt für eine „gesetzliche“ Regelung auch, dass diese Regeln ebenso wie die verbotenen Substanzen und Maßnahmen in einem Code verankert sind, der jedem via Internet zugänglich ist. Das gilt auch für EPO- und Eigenblutdoping, welches die NADA, verlinkt mit dem ÖOC und den Sportverbänden, hinreichend klar verboten hat.
Dass Anti-Doping in Österreich verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, hat einerseits mit den Grundrechten der Betroffenen zu tun, da es auch diesmal Modalitäten der Anlassfälle gibt, die zumindest diskussionswürdig sind. Erinnert sei an die vielfach gezeigten Razziaszenen, die für die Öffentlichkeit sichtbare Nadel im Arm eines Verdächtigen (was für Medien, die solche Bilder gezeigt haben, noch zum Problem werden könnte) und die Tatsache, dass es medizinischer Hilfe bedurfte, den „Sünder“ vor der Verhaftung davon zu befreien.
Namen von Gesperrten im Web
Kritik wurde auch schon früher an der Praxis der ÖADR geäußert, die Sperre von unbekannten Drittligisten, die zum Beispiel wegen Cannabis-Abusus überführt wurden, mit vollem Namen im Internet zu publizieren. Strafgerichte gehen mit den Personalia sensibler um, auch wenn das Verfahren öffentlich ist. Hier wären Änderungen angebracht.
Das eigentliche Verfassungsproblem liegt aber in der Kompetenzverteilung begraben. Anders als in der schweizerischen Bundesverfassung, welche einige Aspekte des Sports bis hin zu einer Bundessportschule seit der Neufassung im Jahr 2000 anspricht, findet sich im B-VG das große Schweigen. Sport ist weitgehend Landessache. Wie aber aus dem sogenannten Adhäsionsprinzip, einer Ausprägung der „Versteinerungstheorie“, hervorgeht, dominiert in den Bereichen Schule, Universität, Polizei und Militär der Bund, weshalb alle Ausbildungsschienen in den genannten Bereichen Bundessache sind (z. B. Sportgymnasien, Sportstudium, USI-Ausbildung, Polizei- und Militärsport).
Aber gerade die sensiblen Anti-Dopingmaßnahmen beziehen sich auf keine der genannten Materien, sie gehören daher zum großen Restbereich, der den Ländern nach Art 15 Abs 1 B-VG zusteht (so wie z. B. Sportplätze, Fertigkeitsvermittlung in Skischulen, Bergführerei etc.). Da aber die Länder weder in der Lage zu einer einheitlichen Regelung sind, noch ein neunfach verschiedenes Regime erwünscht wäre, finden sich in den Sportgesetzen unterschiedliche Beauftragungen der Nada, die nach einem Bundesgesetz agiert. Die Nada ist verfassungsrechtlich betrachtet, ungeachtet ihrer Bezeichnung, als eine Behörde anzusehen, da sie hoheitlich handelt, auch wenn es sich um eine privatrechtlich fundierte Gesellschaft handelt (sog. beliehenes Unternehmen). Das ist wegen der Eignung – der Leiter, Michael Cepic, ist durch fundierte Aussagen bekannt – und Kontrolle der Nada durch staatliche Einrichtungen (Bundesministerium Öffentlicher Dienst und Sport; Parlament) unproblematisch, nicht aber das von ihr angewandte Bundesrecht, das nicht mit Tatbeständen wie „Gesundheit“ oder „Vereinswesen“ abgestützt werden kann.
Spitzensport höchst ungesund
Jeder Laie weiß, dass Spitzensport auch ohne Doping höchst ungesund ist, wie zum Beispiel das Knie von Lindsey Vonn oder die Krankheitsphasen von Dominic Thiem eindrucksvoll zeigen. Auch wenn sogar der EGMR als „rechtfertigendes öffentliches Interesse“ den Gesundheitsschutz nennt, weil dopende Athleten ja auch schlechte Vorbilder für junge Freizeit- und Nachwuchssportler sind, so reicht dieser inhaltliche Bezug kompetenzrechtlich nicht aus, um eine systematische Nahebeziehung zum Gesundheitsrecht zu begründen.
Man muss hier ehrlich sein: Fairness ist etwas anderes als Gesundheit, und gesetzliche „Sportregeln“ sind keine Bundessache. Dopingsperren sind zwar „Strafen“ im Sinne des Art 6 EMRK, aber das Anti-Doping Bundesgesetz enthält eben kein Strafrecht im kompetenzrechtlichen Sinn.
Ein Ausweg aus der vermutlich bald einmal beim VfGH virulent werdenden Kompetenzfrage wäre, das allgemein anerkannte Ziel des fairen, dopingfreien Sports in der Bundesverfassung zu verankern und zugleich eine eigene Kompetenzgrundlage für das Antidoping-Bundesrecht zu verankern. Eine solche Verfassungsnovelle, für die Konsens bestünde, könnte mehrere Vorteile bei der Auslegung einfachen Rechts mit sich bringen, da sie auch die sensiblen Eingriffe klarer rechtfertigt und in der Abwägung zwischen Eingriffen in Grundrechtspositionen und dem Anti-Doping-Ziel eines „sauberen Sports“ Argumente liefern könnte.
Wien. Der sogenannte „Dopingskandal“, den österreichische und deutsche Ermittler beginnend mit einer Razzia in Seefeld und in Erfurt aufdeckten und der mittlerweile die Innsbrucker und die Münchener Staatsanwaltschaft beschäftigt, hat neben dunklen Aspekten auch eine positive Seite. Die Anlassfälle zeigen jedenfalls, dass die rigorosen Verfolgungsmaßnahmen gegen Doping im Leistungssport und der dadurch entstehende Druck, sich nötigenfalls zu stellen, durch die Nada und die Justiz funktionieren und sich die aufwendigen Kontrollen auch lohnen.
Viele Länder in wärmeren Gefilden verfügen gar nicht über ausreichende technische Möglichkeiten (Kühlung von Proben), weshalb der Eindruck täuscht, dass nur in Mittel- oder Osteuropa gedopt wird. Fliegt ein Dopingnetzwerk auf, so bedeutet das auch nicht, dass in Österreich mehr als in anderen Länder gedopt wird, sondern dass hierzulande effektiv ermittelt wird und Dopingsünder streng bestraft werden..
Die Palette reicht von einer langfristigen Sperre seitens der Nada-Rechtskommission (ÖADR) über eine Verurteilung wegen Sportbetrugs bis zum Verlust der Ausbildungsstelle, der Sponsoren und der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Nicht zuletzt bedeutet das Bekanntwerden von Name und Bild eines „Dopingsünders“ auch eine Punzierung der Betroffenen und meist eine Beendigung der Laufbahn als Leistungssportler(in).
Sperre und Jobverlust
Verfassungsrechtlich betrachtet haben demnach nicht nur die genuin strafrechtlichen Folgen im Falle einer Verurteilung Auswirkungen auf die Rechtsposition, da auch Sperre und Jobverlust unter „criminal charges“ im Sinn des Art 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fallen. Nicht alle Aspekte sind ausjudiziert, doch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das vor rund einem Jahr unanfechtbar geworden ist, zeigt auf, dass weitgehende Eingriffe in die Privatsphäre der Athleten zum Zweck der Dopingverfolgung rechtens sind.
Proben jederzeit möglich
Immerhin war eine der hundert Beschwerdeführerinnen eine bereits sechzigjährige Radrennfahrerin, die unzählige Male getestet worden war. Gleichwohl verblieb sie auf einer Liste von Athletinnen, die sich ungeachtet der Familiensituation für Proben regelmäßig verfügbar halten und die französische Agentur über den Verbleib auf dem Laufenden halten mussten. Auf Ebene der Probenziehung weit außerhalb von Wettkämpfen stellte sich die Frage, wie weit die Einschränkung der Grundrechtssphäre (Familien- und Privatleben) von Athleten durch die legitimen Ziele notwendig und gerechtfertigt ist.
Der EGMR hat mit Urteil vom 18. Jänner 2018 (endgültig seit 1. April 2018) im Fall FNASS (u.a. Verbände) gegen Frankreich (Appl. Nr. 48151/11 und 77769/13) festgehalten, dass es keine unverhältnismäßige Einschränkung einer Gruppe von Spitzenathleten darstellt, wenn diese ihre Aufenthaltsdaten bekannt geben und zeitliche Fenster für Kontrollen (auch in der Trainingsphase) einräumen müssen. Das sind die sogenannten whereabouts rules, wie sie WADA und nationale Verbände vorsehen. Es genügt für eine „gesetzliche“ Regelung auch, dass diese Regeln ebenso wie die verbotenen Substanzen und Maßnahmen in einem Code verankert sind, der jedem via Internet zugänglich ist. Das gilt auch für EPO- und Eigenblutdoping, welches die NADA, verlinkt mit dem ÖOC und den Sportverbänden, hinreichend klar verboten hat.
Dass Anti-Doping in Österreich verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, hat einerseits mit den Grundrechten der Betroffenen zu tun, da es auch diesmal Modalitäten der Anlassfälle gibt, die zumindest diskussionswürdig sind. Erinnert sei an die vielfach gezeigten Razziaszenen, die für die Öffentlichkeit sichtbare Nadel im Arm eines Verdächtigen (was für Medien, die solche Bilder gezeigt haben, noch zum Problem werden könnte) und die Tatsache, dass es medizinischer Hilfe bedurfte, den „Sünder“ vor der Verhaftung davon zu befreien.
Namen von Gesperrten im Web
Kritik wurde auch schon früher an der Praxis der ÖADR geäußert, die Sperre von unbekannten Drittligisten, die zum Beispiel wegen Cannabis-Abusus überführt wurden, mit vollem Namen im Internet zu publizieren. Strafgerichte gehen mit den Personalia sensibler um, auch wenn das Verfahren öffentlich ist. Hier wären Änderungen angebracht.
Das eigentliche Verfassungsproblem liegt aber in der Kompetenzverteilung begraben. Anders als in der schweizerischen Bundesverfassung, welche einige Aspekte des Sports bis hin zu einer Bundessportschule seit der Neufassung im Jahr 2000 anspricht, findet sich im B-VG das große Schweigen. Sport ist weitgehend Landessache. Wie aber aus dem sogenannten Adhäsionsprinzip, einer Ausprägung der „Versteinerungstheorie“, hervorgeht, dominiert in den Bereichen Schule, Universität, Polizei und Militär der Bund, weshalb alle Ausbildungsschienen in den genannten Bereichen Bundessache sind (z. B. Sportgymnasien, Sportstudium, USI-Ausbildung, Polizei- und Militärsport).
Aber gerade die sensiblen Anti-Dopingmaßnahmen beziehen sich auf keine der genannten Materien, sie gehören daher zum großen Restbereich, der den Ländern nach Art 15 Abs 1 B-VG zusteht (so wie z. B. Sportplätze, Fertigkeitsvermittlung in Skischulen, Bergführerei etc.). Da aber die Länder weder in der Lage zu einer einheitlichen Regelung sind, noch ein neunfach verschiedenes Regime erwünscht wäre, finden sich in den Sportgesetzen unterschiedliche Beauftragungen der Nada, die nach einem Bundesgesetz agiert. Die Nada ist verfassungsrechtlich betrachtet, ungeachtet ihrer Bezeichnung, als eine Behörde anzusehen, da sie hoheitlich handelt, auch wenn es sich um eine privatrechtlich fundierte Gesellschaft handelt (sog. beliehenes Unternehmen). Das ist wegen der Eignung – der Leiter, Michael Cepic, ist durch fundierte Aussagen bekannt – und Kontrolle der Nada durch staatliche Einrichtungen (Bundesministerium Öffentlicher Dienst und Sport; Parlament) unproblematisch, nicht aber das von ihr angewandte Bundesrecht, das nicht mit Tatbeständen wie „Gesundheit“ oder „Vereinswesen“ abgestützt werden kann.
Spitzensport höchst ungesund
Jeder Laie weiß, dass Spitzensport auch ohne Doping höchst ungesund ist, wie zum Beispiel das Knie von Lindsey Vonn oder die Krankheitsphasen von Dominic Thiem eindrucksvoll zeigen. Auch wenn sogar der EGMR als „rechtfertigendes öffentliches Interesse“ den Gesundheitsschutz nennt, weil dopende Athleten ja auch schlechte Vorbilder für junge Freizeit- und Nachwuchssportler sind, so reicht dieser inhaltliche Bezug kompetenzrechtlich nicht aus, um eine systematische Nahebeziehung zum Gesundheitsrecht zu begründen.
Man muss hier ehrlich sein: Fairness ist etwas anderes als Gesundheit, und gesetzliche „Sportregeln“ sind keine Bundessache. Dopingsperren sind zwar „Strafen“ im Sinne des Art 6 EMRK, aber das Anti-Doping Bundesgesetz enthält eben kein Strafrecht im kompetenzrechtlichen Sinn.
Ein Ausweg aus der vermutlich bald einmal beim VfGH virulent werdenden Kompetenzfrage wäre, das allgemein anerkannte Ziel des fairen, dopingfreien Sports in der Bundesverfassung zu verankern und zugleich eine eigene Kompetenzgrundlage für das Antidoping-Bundesrecht zu verankern. Eine solche Verfassungsnovelle, für die Konsens bestünde, könnte mehrere Vorteile bei der Auslegung einfachen Rechts mit sich bringen, da sie auch die sensiblen Eingriffe klarer rechtfertigt und in der Abwägung zwischen Eingriffen in Grundrechtspositionen und dem Anti-Doping-Ziel eines „sauberen Sports“ Argumente liefern könnte.
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Gerhard Strejcek
Streiten für Karl Kraus
Wiener Zeitung, 17.03.2019
Neue Erkenntnisse über Oskar Samek, den Freund und Rechtsvertreter des "Fackel"- Herausgebers, für den er hunderte Prozesse führte.
Im Sommer 1957 gab der in die USA emigrierte Rechtsanwalt Oskar Samek (1889-1959) in New York ein Interview für österreichische Journalisten, in dem es um seinen berühmtesten Wiener Klienten ging: Karl Kraus. Der "Fackel"-Herausgeber hatte sich unter anderen mit Alfred Kerr, Anton Kuh, Felix Salten, Johann Schober und Theodor Wolff vor Gericht gemessen, wobei ihn in der Ersten Republik meist Dr. Samek vertrat.
Nicht jeder Rechtsstreit weist juristische Substanz auf, mitunter reizte Kraus die Möglichkeiten aus, welche das damals neue "Preßgesetz", ein Vorläufer des Mediengesetzes, und das alte, noch aus k.u.k. Zeiten stammende Strafgesetz enthielten, um vor Gericht Berichtigungen durchzusetzen oder Beleidigungen zu ahnden. Ihm ging es meist "um’s Prinzip", wobei er auch befreundete Medien nicht schonte, verfeindete wie "Die Reichspost" oder "Die Stunde" aber regelrecht verfolgte. Aus heutiger Sicht erstaunt die Geduld, welche die Richter aufbrachten, wenn es um marginale Korrekturen von Parteien ging, die mit Tinte und Feder aufeinander losgingen.
Erste "fake news"
In den Jahren 1922-36 wurde so manches Urteil zugunsten des "Fackel"-Autors gefällt, der Pönalzahlungen ebenso wie Vorlesungseinnahmen für gemeinnützige Zwecke, meist für die "Kinderfreunde", spendete. Die heutige Praxis, im Fall des Obsiegens in Medienprozessen das lukrierte Geld zu spenden, hat demnach bereits Tradition, wie im Übrigen auch das "Hass-Posten", das Jahrzehnte vor Erfindung des Internet in Form von Briefen über den Publizisten Kraus hereinbrach. Nachdem Kraus mit einem erfundenen Erdbebenbericht, den er der "Neuen Freien Presse" im Jahr 1908 unterjubelte, als Erfinder der fake news anzusehen ist, könnte man demnach sagen: "Alles schon dagewesen!"
Über Sameks Wirken und die Kraus-Prozesse gibt es einige lesenswerte Studien, beginnend mit Hermann Böhms Veröffentlichung "Karl Kraus contra (. . .)" aus 1995 und vorläufig endend mit Brigitte Stockers Beitrag im begleitenden Band zur noch (bis 29. März) laufenden Kraus-Ausstellung im Wiener Rathaus. Dank dem Kraus-Archiv in der Wien-Bibliothek und dem analytischen Beitrag in dem von Katharina Prager editierten Kraus-Sammelband sowie einer vorbildlichen Online-Dokumentation (mit einem Artikel über Karl Kraus "als Rechtsperson") wissen wir einiges über Ablauf und Details der Rechtsstreitigkeiten.
Vom Herbst 1922 bis zum Tod des Autors im November 1936 hatte Samek hunderte Prozesse für seinen Mandanten geführt und die Schriftsätze sowie Urteile in blassroten Mappen gesammelt, die mit riesigen Lettern handschriftlich bezeichnet waren. Der Anwalt stellte sich auch, wie aus einer anderen Quelle hervorgeht, zeitweise als Geschäftsführer für den "Fackel"-Verlag in der Hinteren Zollamtsstraße zur Verfügung, ließ aber Kraus ansonsten geschäftlich (und publizistisch ohnehin) freie Hand.
Nach heftigen Kämpfen um die Verlagsrechte des berühmten roten Periodikums, das in unregelmäßiger Folge ab 1899 erschien, ordnete Kraus die Verhältnisse und leistete der Aufforderung des Handelsgerichts nach einem Registereintrag Folge. Er vertraute seinem bewährten Drucker Georg Jahoda und der Verlagsbuchhandlung Lányi auf der Kärntner Straße. Gesammelte Schriften des streitbaren Autors erschienen bei Kurt Wolff in Leipzig, der dem singulären Autor zuliebe den "Verlag der Schriften von Karl Kraus" gegründet hatte. 1919 brachte Wolff die Sammlung von Kraus’ Kriegsaufsätzen unter dem Titel "Das Weltgericht" in zwei Bänden sowie einen Aphorismenband heraus. Das erste Buch des - dank Projekt Gutenberg - digital lesbaren "Weltgerichts" beginnt mit dem legendären Text "In dieser großen Zeit" aus 1914, der zweite enthält "Fackel"-Texte und Kraus-Prosa bis zum Kriegsende 1918.
Streit mit Gönnerin
Durchschlagenden Erfolg hatte ab 1920 Kraus’ Drama "Die letzten Tage der Menschheit", dessen Epilog er bereits 1917 auf einer Reise mit der Adeligen Sidonie Nadherná von Borutin (mitunter auch Nadherný geschrieben) in den Schweizer Kanton Glarus verfasst hatte. Als ich vor zwanzig Jahren auf den Spuren des Autors in das Hotel Thierfehd am Tödi reiste, in dem Kraus und seine Begleiterin auf ihrer Automobilfahrt einst abgestiegen waren, zeigte mir die Glarner Wirtin stolz den Gästebucheintrag der beiden. Er sollte auch heute noch in dem zur Gemeinde Linthal gehörenden holzvertäfelten Bau unweit des idyllischen Talschlusses zu finden sein, wo man um die Bedeutung des "Fackel"-Herausgebers weiß. ("Thierfehd" umschrieb übrigens die Grenze zu einem uralten Jagdgebiet, wie schon der Name sagt.)
Leider zerstritt sich Kraus, der die Schweizer Idylle genossen hatte, mit seiner Gönnerin, die nach einigen Erlebnissen mit dem "On-off-Partner" postum versuchte, seinem Werk zu dienen und zu diesem Zweck mit Dr. Samek in New York Kontakt aufnahm. Ihre Initiative blieb aber ohne Erfolg, denn in den Fünfzigerjahren hatten bereits der literarische Nachlassverwalter Heinrich Fischer und die Kraus-Bekannte Helene Kann die allmählich wieder brennende "Fackel" in die Hand genommen, während der vom Autor zum Testamentsvollstrecker berufene Anwalt missmutig aus der Ferne zusah und ein Buch über seine Prozesse plante, das er nie vollendete.
Dass sich Samek als Hüter des Kraus’schen Erbes berufen fühlte, zeigt seine Initiative im Winter 1936, als er nach dem Tod des Autors dessen Arbeitszimmer in der Lothringerstraße ab- und detailgenau in seinem Haus in der Rudolfsheimer Reindorfgasse in einer ehemaligen Tischlerei im Hof als Privatmuseum wieder aufbaute. Die Kraus-Bibliothek ging anlässlich seiner erzwungenen Emigration im Oktober 1938 verloren, SA-Angehörige drangen in die Wohnräume ein und stapelten die Bücher im Hauseingang zur freien Entnahme, wie Dietmar Grieser berichtet.
Über Sameks Biografie und seine Lebensverhältnisse in Wien ist wenig bekannt. Der einstige Kraus-Archivar Paul Schick verschweigt den Anwalt in der ansonsten informativen Rowohlt-Monografie über den Autor. Hans Weigel, der sich 1986 mit dem Band "Karl Kraus oder Die Macht der Ohnmacht" verdient machte, erwähnt Details, wie die Aufgabe des Anwalts als Testamentsvollstrecker. Aufschluss über Sameks geschäftliche Aktivität im "Fackel"-Verlag und das kleine Museum bringt ein Absatz in der Onlinedarstellung von kraus.net. Schließlich findet sich in dem verdienstvollen Band von Barbara Sauer und Ilse Reiter-Zatloukal über die "Advocaten 1938" ein kurzer Eintrag über die Kanzlei- und Lebensdaten Sameks.
In Wien-Sechshaus
Nach und nach konnte ich einige familiäre Umstände rekonstruieren, die für mich zudem persönliche Erinnerungen wachriefen, lebte Samek doch nur fünf Minuten entfernt von der Adresse meiner Vorfahren im Wiener Viertel Sechshaus, wo er in der Papierhandlung einer gewissen Marie Strejcek seinen Schreibbedarf deckte. Aus Parten und Einträgen im "Lehmann" geht hervor, dass Sameks Vater Jonas Markus hieß und einen Möbel- und Wäschehandel betrieb. Das Haus in der Reindorfgasse 18 hat ausreichend hohe Portale, um dies glaubhaft wirken zu lassen.
Der aus Trnva in der heutigen slowakischen Republik zugewanderte Vater war ein gläubiger Jude, worauf seine Tätigkeit in der Sterbekasse und im Begräbnisverein "Chewra Kadisha für die Bezirke XIIXV" schließen lässt. Dass Jonas M. Samek beide Töchter (Hilda und Irma) frühzeitig verlor, eine durch Unfall und eine durch Krankheit, und dass seine Gattin vor ihm verstarb, lässt sich ebenfalls belegen und spricht für eine familiäre Tragödie.
Als "Hiob" Samek selbst im Jahr 1934 das Zeitliche segnete und nach jüdischem Brauch binnen zwei Tagen beerdigt wurde, leistete der von ihm zeitweise präsidierte Verein gute Dienste. Laut den Forschungen zum "Turnertempel", der für das Sechshauser Viertel zuständig war und bis 1911 eine eigene Kultusgemeinde beherbergte, verfügte der 1938 zwangsweise aufgelöste Verein über einen eigenen Bestattungswagen und die notwendigen rituellen Gegenstände. Nach dem Tod des Vaters übersiedelte Oskar Samek mit seiner Kanzlei in das elterliche Wohnhaus, wo auch er zeit seines Wien-Aufenthalts gemeldet war, und nutzte den freien Platz für das schon erwähnte Kraus-Museum.
Späte Heirat
Samek war verheiratet, wobei der genaue Hochzeitstermin unklar ist. Von Interesse erscheint, dass seine Gattin Ilonka (ungarisch Ilona, geborene Kux) wie sein Vater aus einer slowakischen Stadt stammte. Sie hatte bereits eine Familie im Sechshauser Viertel gegründet, aus der eine Tochter namens Eva hervorgegangen war. Frau Ilona war um 1909 noch mit Herrn Oskar Seiler verheiratet, woraus geschlossen werden darf, dass Samek eher ein "Spätstarter" war, vermutlich weil er als junger Anwalt in den Akten unterging. . .
Im verhängnisvollen Jahr der NS-Machtübernahme in Österreich (1938) flüchteten alle Beteiligten, wobei Oskar Seiler via Niederlande nach Brasilien ausreiste, während die Sameks via Schweiz und Schweden nach New York emigrierten, wo sich wieder die Wege mit der Tochter aus erster Ehe kreuzten. Aus welchen Gründen immer die brasilianischen Visa erhalten blieben, ist unbekannt, aber sie zeigen, dass die zwischenzeitig mit einem Herrn Monschein verehelichte, in Wien geborene Eva Seiler ihren leiblichen Vater 1944 in Brasilien besuchen wollte, wozu ein Visum erforderlich war. Der immer noch fließendes Burgtheaterdeutsch sprechende Stiefvater Oskar Samek half ihr dabei, so wie er Karl Kraus zeit seines Lebens loyal unterstützt hatte.
Hinweise:
Brigitte Stocker:
Die Rechtsakten des Karl Kraus
in: Katharina Prager (Hg.in):
Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik
Metro, 2018, 279 Seiten
Im Sommer 1957 gab der in die USA emigrierte Rechtsanwalt Oskar Samek (1889-1959) in New York ein Interview für österreichische Journalisten, in dem es um seinen berühmtesten Wiener Klienten ging: Karl Kraus. Der "Fackel"-Herausgeber hatte sich unter anderen mit Alfred Kerr, Anton Kuh, Felix Salten, Johann Schober und Theodor Wolff vor Gericht gemessen, wobei ihn in der Ersten Republik meist Dr. Samek vertrat.
Nicht jeder Rechtsstreit weist juristische Substanz auf, mitunter reizte Kraus die Möglichkeiten aus, welche das damals neue "Preßgesetz", ein Vorläufer des Mediengesetzes, und das alte, noch aus k.u.k. Zeiten stammende Strafgesetz enthielten, um vor Gericht Berichtigungen durchzusetzen oder Beleidigungen zu ahnden. Ihm ging es meist "um’s Prinzip", wobei er auch befreundete Medien nicht schonte, verfeindete wie "Die Reichspost" oder "Die Stunde" aber regelrecht verfolgte. Aus heutiger Sicht erstaunt die Geduld, welche die Richter aufbrachten, wenn es um marginale Korrekturen von Parteien ging, die mit Tinte und Feder aufeinander losgingen.
Erste "fake news"
In den Jahren 1922-36 wurde so manches Urteil zugunsten des "Fackel"-Autors gefällt, der Pönalzahlungen ebenso wie Vorlesungseinnahmen für gemeinnützige Zwecke, meist für die "Kinderfreunde", spendete. Die heutige Praxis, im Fall des Obsiegens in Medienprozessen das lukrierte Geld zu spenden, hat demnach bereits Tradition, wie im Übrigen auch das "Hass-Posten", das Jahrzehnte vor Erfindung des Internet in Form von Briefen über den Publizisten Kraus hereinbrach. Nachdem Kraus mit einem erfundenen Erdbebenbericht, den er der "Neuen Freien Presse" im Jahr 1908 unterjubelte, als Erfinder der fake news anzusehen ist, könnte man demnach sagen: "Alles schon dagewesen!"
Über Sameks Wirken und die Kraus-Prozesse gibt es einige lesenswerte Studien, beginnend mit Hermann Böhms Veröffentlichung "Karl Kraus contra (. . .)" aus 1995 und vorläufig endend mit Brigitte Stockers Beitrag im begleitenden Band zur noch (bis 29. März) laufenden Kraus-Ausstellung im Wiener Rathaus. Dank dem Kraus-Archiv in der Wien-Bibliothek und dem analytischen Beitrag in dem von Katharina Prager editierten Kraus-Sammelband sowie einer vorbildlichen Online-Dokumentation (mit einem Artikel über Karl Kraus "als Rechtsperson") wissen wir einiges über Ablauf und Details der Rechtsstreitigkeiten.
Vom Herbst 1922 bis zum Tod des Autors im November 1936 hatte Samek hunderte Prozesse für seinen Mandanten geführt und die Schriftsätze sowie Urteile in blassroten Mappen gesammelt, die mit riesigen Lettern handschriftlich bezeichnet waren. Der Anwalt stellte sich auch, wie aus einer anderen Quelle hervorgeht, zeitweise als Geschäftsführer für den "Fackel"-Verlag in der Hinteren Zollamtsstraße zur Verfügung, ließ aber Kraus ansonsten geschäftlich (und publizistisch ohnehin) freie Hand.
Nach heftigen Kämpfen um die Verlagsrechte des berühmten roten Periodikums, das in unregelmäßiger Folge ab 1899 erschien, ordnete Kraus die Verhältnisse und leistete der Aufforderung des Handelsgerichts nach einem Registereintrag Folge. Er vertraute seinem bewährten Drucker Georg Jahoda und der Verlagsbuchhandlung Lányi auf der Kärntner Straße. Gesammelte Schriften des streitbaren Autors erschienen bei Kurt Wolff in Leipzig, der dem singulären Autor zuliebe den "Verlag der Schriften von Karl Kraus" gegründet hatte. 1919 brachte Wolff die Sammlung von Kraus’ Kriegsaufsätzen unter dem Titel "Das Weltgericht" in zwei Bänden sowie einen Aphorismenband heraus. Das erste Buch des - dank Projekt Gutenberg - digital lesbaren "Weltgerichts" beginnt mit dem legendären Text "In dieser großen Zeit" aus 1914, der zweite enthält "Fackel"-Texte und Kraus-Prosa bis zum Kriegsende 1918.
Streit mit Gönnerin
Durchschlagenden Erfolg hatte ab 1920 Kraus’ Drama "Die letzten Tage der Menschheit", dessen Epilog er bereits 1917 auf einer Reise mit der Adeligen Sidonie Nadherná von Borutin (mitunter auch Nadherný geschrieben) in den Schweizer Kanton Glarus verfasst hatte. Als ich vor zwanzig Jahren auf den Spuren des Autors in das Hotel Thierfehd am Tödi reiste, in dem Kraus und seine Begleiterin auf ihrer Automobilfahrt einst abgestiegen waren, zeigte mir die Glarner Wirtin stolz den Gästebucheintrag der beiden. Er sollte auch heute noch in dem zur Gemeinde Linthal gehörenden holzvertäfelten Bau unweit des idyllischen Talschlusses zu finden sein, wo man um die Bedeutung des "Fackel"-Herausgebers weiß. ("Thierfehd" umschrieb übrigens die Grenze zu einem uralten Jagdgebiet, wie schon der Name sagt.)
Leider zerstritt sich Kraus, der die Schweizer Idylle genossen hatte, mit seiner Gönnerin, die nach einigen Erlebnissen mit dem "On-off-Partner" postum versuchte, seinem Werk zu dienen und zu diesem Zweck mit Dr. Samek in New York Kontakt aufnahm. Ihre Initiative blieb aber ohne Erfolg, denn in den Fünfzigerjahren hatten bereits der literarische Nachlassverwalter Heinrich Fischer und die Kraus-Bekannte Helene Kann die allmählich wieder brennende "Fackel" in die Hand genommen, während der vom Autor zum Testamentsvollstrecker berufene Anwalt missmutig aus der Ferne zusah und ein Buch über seine Prozesse plante, das er nie vollendete.
Dass sich Samek als Hüter des Kraus’schen Erbes berufen fühlte, zeigt seine Initiative im Winter 1936, als er nach dem Tod des Autors dessen Arbeitszimmer in der Lothringerstraße ab- und detailgenau in seinem Haus in der Rudolfsheimer Reindorfgasse in einer ehemaligen Tischlerei im Hof als Privatmuseum wieder aufbaute. Die Kraus-Bibliothek ging anlässlich seiner erzwungenen Emigration im Oktober 1938 verloren, SA-Angehörige drangen in die Wohnräume ein und stapelten die Bücher im Hauseingang zur freien Entnahme, wie Dietmar Grieser berichtet.
Über Sameks Biografie und seine Lebensverhältnisse in Wien ist wenig bekannt. Der einstige Kraus-Archivar Paul Schick verschweigt den Anwalt in der ansonsten informativen Rowohlt-Monografie über den Autor. Hans Weigel, der sich 1986 mit dem Band "Karl Kraus oder Die Macht der Ohnmacht" verdient machte, erwähnt Details, wie die Aufgabe des Anwalts als Testamentsvollstrecker. Aufschluss über Sameks geschäftliche Aktivität im "Fackel"-Verlag und das kleine Museum bringt ein Absatz in der Onlinedarstellung von kraus.net. Schließlich findet sich in dem verdienstvollen Band von Barbara Sauer und Ilse Reiter-Zatloukal über die "Advocaten 1938" ein kurzer Eintrag über die Kanzlei- und Lebensdaten Sameks.
In Wien-Sechshaus
Nach und nach konnte ich einige familiäre Umstände rekonstruieren, die für mich zudem persönliche Erinnerungen wachriefen, lebte Samek doch nur fünf Minuten entfernt von der Adresse meiner Vorfahren im Wiener Viertel Sechshaus, wo er in der Papierhandlung einer gewissen Marie Strejcek seinen Schreibbedarf deckte. Aus Parten und Einträgen im "Lehmann" geht hervor, dass Sameks Vater Jonas Markus hieß und einen Möbel- und Wäschehandel betrieb. Das Haus in der Reindorfgasse 18 hat ausreichend hohe Portale, um dies glaubhaft wirken zu lassen.
Der aus Trnva in der heutigen slowakischen Republik zugewanderte Vater war ein gläubiger Jude, worauf seine Tätigkeit in der Sterbekasse und im Begräbnisverein "Chewra Kadisha für die Bezirke XIIXV" schließen lässt. Dass Jonas M. Samek beide Töchter (Hilda und Irma) frühzeitig verlor, eine durch Unfall und eine durch Krankheit, und dass seine Gattin vor ihm verstarb, lässt sich ebenfalls belegen und spricht für eine familiäre Tragödie.
Als "Hiob" Samek selbst im Jahr 1934 das Zeitliche segnete und nach jüdischem Brauch binnen zwei Tagen beerdigt wurde, leistete der von ihm zeitweise präsidierte Verein gute Dienste. Laut den Forschungen zum "Turnertempel", der für das Sechshauser Viertel zuständig war und bis 1911 eine eigene Kultusgemeinde beherbergte, verfügte der 1938 zwangsweise aufgelöste Verein über einen eigenen Bestattungswagen und die notwendigen rituellen Gegenstände. Nach dem Tod des Vaters übersiedelte Oskar Samek mit seiner Kanzlei in das elterliche Wohnhaus, wo auch er zeit seines Wien-Aufenthalts gemeldet war, und nutzte den freien Platz für das schon erwähnte Kraus-Museum.
Späte Heirat
Samek war verheiratet, wobei der genaue Hochzeitstermin unklar ist. Von Interesse erscheint, dass seine Gattin Ilonka (ungarisch Ilona, geborene Kux) wie sein Vater aus einer slowakischen Stadt stammte. Sie hatte bereits eine Familie im Sechshauser Viertel gegründet, aus der eine Tochter namens Eva hervorgegangen war. Frau Ilona war um 1909 noch mit Herrn Oskar Seiler verheiratet, woraus geschlossen werden darf, dass Samek eher ein "Spätstarter" war, vermutlich weil er als junger Anwalt in den Akten unterging. . .
Im verhängnisvollen Jahr der NS-Machtübernahme in Österreich (1938) flüchteten alle Beteiligten, wobei Oskar Seiler via Niederlande nach Brasilien ausreiste, während die Sameks via Schweiz und Schweden nach New York emigrierten, wo sich wieder die Wege mit der Tochter aus erster Ehe kreuzten. Aus welchen Gründen immer die brasilianischen Visa erhalten blieben, ist unbekannt, aber sie zeigen, dass die zwischenzeitig mit einem Herrn Monschein verehelichte, in Wien geborene Eva Seiler ihren leiblichen Vater 1944 in Brasilien besuchen wollte, wozu ein Visum erforderlich war. Der immer noch fließendes Burgtheaterdeutsch sprechende Stiefvater Oskar Samek half ihr dabei, so wie er Karl Kraus zeit seines Lebens loyal unterstützt hatte.
Hinweise:
Brigitte Stocker:
Die Rechtsakten des Karl Kraus
in: Katharina Prager (Hg.in):
Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik
Metro, 2018, 279 Seiten
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Gerhard Strejcek
T.C. Boyle über Timothy Leary
Wiener Zeitung, 23.02.2019
Der Kult-US-Autor beleuchtet in seinem neuen Roman "Das Licht" die "LSD-Sessionen" des US-Drogen-Gurus.
"Welcome to the camp, I guess you all know why we’re here!" - diese Begrüßungszeile stammt nicht aus dem neuen Roman von Thomas Coraghessan Boyle, sondern aus der Rock-Oper "Tommy" der britischen Band The Who, in der es um genau dasselbe Thema geht: Eine synthetische Droge, umgangssprachlich Acid (Säure) genannt, die extreme Lichtempfindungen und Halluzinationen auslöst. Wer auf einem Trip ist, vermeint Farben schmecken zu können und sieht in trauter Freundesrunde plötzlich wie im Prater-Zerrspiegel Hexengesichter und Clowns. Um LSD-Experimente und ihre fatalen Folgen geht es auch in Boyles neuem ‚Roman, "Das Licht", dessen Einband sogar halluzinogen gestaltet ist, sodass der Rezensent ihn umgedreht hat, um beim Lesen nicht abgelenkt zu werden.
Zentrales Motiv des musikalisch gebildeten wie auch campuserfahrenen Autors sind die LSD-"Sessionen" der 1960er Jahre. In gemeinsamen Sitzungen unter Leitung erfahrener "Führer" sollten sich für Studierende die Türen zu einer neuen Bewusstseinsebene öffnen. Selbstdokumentationen und analytische Arbeiten sollten folgen, um "Überbau" und Rechtfertigung zu liefern. Die Rechnung ging aber nicht auf.
Genau recherchiert
Statt wissenschaftlichen Fortschritt zu generieren, wurde LSD dem damals herrschenden Zeitgeist geopfert, der sich störrisch von den Vorgaben der Elterngeneration abwandte. Viele junge Menschen der 60er Jahre begehrten gegen eine materialisierte Gesellschaft und die Kriegsabenteuer in Indochina auf. Dazu gesellte sich der uralte menschliche Traum, jene unheimlichen "doors of perception" aufzustoßen, hinter denen der Weg zum Selbst oder sogar zu Gott verborgen liegen soll. Das war natürlich eine glatte Illusion und half ebenso wenig wie die THC-begleitete Lektüre von Hesses "Glasperlenspiel" oder die zu Marihuanaduft klimpernden Sitar-Klänge von Ravi Shankar, mit denen Boyle die Stimmung und Jugendkultur dieser Epoche metaphorisch erfasst.
Ein weiterer Thomas, nämlich der Autor Thomas De Quincey, beschrieb die frühen Versuche, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit durch halluzinogene Substanzen zu weiten. Der Drogenanalytiker, der um 1821 mit Opiaten ("Confessions Of An English Opium-Eater") und Psilocybin experimentierte, nahm jene Substanz vorweg, die der Chemiker Albert Hofmann um 1942 in Basel synthetisierte.
Zu dieser Zeit pumpten sich deutsche und amerikanische Jägerpiloten bereits mit Metamphetaminen voll, die ihre Empathiefähigkeit senkten und gefährliche Kampfmaschinen aus ihnen machten. Diese neuen, synthetischen Drogen hatten den sedierenden Opiaten und dem uralten Edelhanf einiges voraus, weil sie die sensorische Aufnahmefähigkeit kurzfristig steigerten und angeblich körperlich nicht süchtig machten. Aldous Huxley hat in seinem utopischen Roman "Brave New World" eine dem "Acid" ähnliche Droge beschrieben.
Der Autor nennt die an wie Rädchen funktionierende Gesellschaftsmitglieder ausgegebene Gleichgültigkeits- und Belohnungsdroge "Soma". In der "schönen neuen Welt", die Huxley als wenig erstrebenswerte Utopie zeichnet, müssen Gefühle durch Drogen kanalisiert werden. Nach "Soma" wurde im Übrigen sogar eine Limonade benannt, und auch "Coke" oder "Sprite" wecken ganz bewusst Assoziationen zu Kokain und drogenbedingten Highs.
Während John F. Kennedy am 22. November 1963 durch Schüsse des Attentäters Lee Harvey Oswald ums Leben kam, soll Huxleys Gattin ihrem - am selben Tag - verstorbenen Mann in seinen letzten Stunden wunschgemäß LSD verabreicht haben. So beschreibt es T.C. Boyle, und dieser Autor recherchiert bekanntlich genau, ehe er sich an die Tastatur setzt.
Der 70-jährige Wahlkalifornier widmet sich in "Das Licht" in gewohnter Weise dem Umgang mit der stärksten psychoaktiven Substanz des 20. Jahrhunderts. Historisch korrekt startet das erste Kapitel in der Schweiz mitten im Zweiten Weltkrieg. In den 40er Jahren ging es nicht um psychologische Experimente, wie sie in "Tommy" und in Boyles Roman eine Rolle spielen, sondern um ein pharmakologisches Experiment, das der Firma Sandoz Geld in die Kassen spülen sollte. So schildert es Boyle, der dem Chemiker Hofmann eine fiktive Helferin an die Seite stellt, die beim Selbstexperiment ihrem Idol und Chef, der auf LSD mit Fahrrad und Joppe unterwegs ist, stützend unter die Arme greift.
Statt für gemeinsame Sessionen mit Selbsterfahrungstrips sollte das im Zweiten Weltkrieg in einem Baselbieter Labor entwickelte LSD-25, von dem eine Dosis von rund zwanzig Mikrogramm genügt, um die Sinne entgleisen zu lassen, als enthemmende Psycho-Droge und somit auch als Heilmittel für bestimmte Geisteskrankheiten dienen. Tatsächlich aber zeigte sich bald, dass LSD brandgefährlich ist und schizophrene Leiden oder einen anhaltenden "Horrortrip" auslösen kann. Diese Wirkung hat in unsere Alltagssprache Eingang gefunden. ("Bist du auf einem schlechten Trip unterwegs?")
Außer Kontrolle
T.C. Boyle biografiert in "Das Licht" den LSD-Reiseveranstalter und Psychologen Timothy Leary. Dieser entwickelte sich in Harvard zu einem Guru, der gemeinsam mit Richard Alpert zahlreiche Jünger um sich scharte. Leary ging es bewusst darum, mittels LSD den "Kontrollturm des Gehirns" auszuschalten. Er veranstaltete problematische, da medizinisch nicht begleitete Experimente mit der zunächst frei erhältlichen Substanz. Für die älteren Kollegen waren das reine Drogenparties, nicht ernstzunehmende Sessionen eines Wissenschafters. Leary lud Doktoranden in seinen privaten Kreis im Haus eines sich auf Sabbatical befindlichen Völkerrechtsexperten ein.
Nicht zufällig erinnert die Wortwahl Boyles an einen früheren Roman, der auf Englisch "The Inner Circle" betitelt war und sich Alfred Kinsey und seinen Aufklärungsfilmen und -treffen widmete. Auf Deutsch hieß das Buch "Dr. Sex", womit klar wurde, worauf Kinsey privat größten Wert legte - und womit er seine Anhänger in Sinnkrisen trieb.
Boyle öffnet die Büchse der Pandora ein zweites Mal, denn auch Leary nutzt die Enthemmung seiner Probandinnen zum sexuellen Missbrauch, wozu die Anmietung eines Hotels an der mexikanischen Pazifikküste beste Dienste leistet. Doch im zweiten Sommer endet dieses fragwürdige Idyll, die örtlichen Behörden weisen die "Wissenschafter"-Kommune aus. Nachdem Alpert und Leary auch in Harvard entthront werden und ihre Lehrstühle verlieren, geht das Treiben in einem Luxusanwesen nahe Poughkeepsie in New York weiter. Das teure Sandoz-LSD (Delysid) wird durch in Kanada vertriebene tschechische Generika ersetzt, die Dosen hingegen steigen immer weiter.
Der meisterhafte Romancier versteht es auch diesmal, einen Handlungsstrang in den Roman zu bringen, der so überzeugend wirkt, dass man das Buch in der Tat verschlingt. Daher stört es nicht weiter, dass sich die Motive ähneln, und nicht nur Alfred Kinsey, sondern auch Timothy Leary einen Kreis um sich schart, in dem er die Hauptrolle spielt. Auch hier wird ein nichts ahnendes Paar (noch dazu mit Kind) missbraucht, ehe es der Kleinfamilie gelingt, sich aus den Fängen der Leary-Kommune zu befreien.
Mit der geplanten Dissertation des motivierten Doktoratsstudenten Fitz wird es allerdings nichts. Somit opfert er die wissenschaftliche Karriere dem Guru, während er seine physische und mentale Gesundheit mit Ach und Krach aufrechterhalten kann. Boyle zeigt die lebensgefährliche Nonchalance im Umgang mit den psychoaktiven Substanzen auf: Leary und seine Kollegen ignorieren die Rezeptpflicht, verzichten auf medizinische Begleitung und geraten an den Rand der ethischen Codes der renommierten Wissenschaftsschmiede in Cambridge, Massachusetts.
Mit Jazz-Zitaten
Boyle beschreibt eindrucksvoll die Experimente und beleuchtet kritisch die sozialen Erfahrungen der Probanden: Licht wird für jene, die auf dem Trip sind, spürbar, alle Sinne sensibilisieren sich aufs Äußerste, Glücksgefühle begleiten eine "gute" Reise, wogegen der "Bad trip" Psychosen, Panikattacken und Angstzustände auslöst. Vor allem aber bleiben die menschlichen Grundbedürfnisse und sozialen Muster bestehen, auf Euphorie folgt der Katzenjammer. Wieder einmal scheitert eine drogenaffine Boyle-Kommune, wie schon im Roman "Drop City" aus dem Jahr 2003.
Wie immer wartet Boyle auch mit musikalischen Zitaten auf, diesmal aus der Jazz-Szene (darunter das Modern Jazz Quartet, Miles Davis oder John Coltrane). LSD motivierte viele Künstler, Transzendenzerfahrungen zu beschreiben oder zu besingen. Anspielungen auf Designerdrogen gab es in den 60er und 70er Jahren reichlich. Selbst wohnzimmertaugliche Bands wie die Beatles und die Rolling Stones tauchten in das Milieu psychoaktiver Substanzen ein.
Hartnäckig hält sich das alte Gerücht, dass der Beatles-Song "Lucy In The Sky With Diamonds" nicht nur das Akronym LSD enthält, sondern im Refrain verdächtige Parallelen zum Licht-Erlebnis eines Trips aufweist, obwohl Paul McCartney stets treuherzig betonte, dass dieses Lied nichts mit der Droge zu tun habe.
Hingegen war von Anfang an klar, dass Pink Floyds Mastermind Syd Barrett nicht nur Wortspiele betrieb, sondern die psychedelische Wirkung der Musik durch die Schöpfung farbenreicher Soundkaskaden förderte. Allerdings handelt es sich um ein Vorurteil, dass Floyd-Alben nur dazu dienten, Drogensessions zu begleiten, wie es der DDR-Krimi "Polizeiruf 110" insinuierte.
Erinnert sei vielmehr an Goethes Worte, die der experimentierfreudige Olympier in seiner Sterbestunde gehaucht haben soll: "Mehr Licht!" Dieser Ruf gilt auch für Boyles inspirierendes neues Werk.
Information:
T.C. Boyle
Das Licht
Roman. Aus dem Englischen von Dirk Gunsteren.
Hanser, München 2019, 384 Seiten
"Welcome to the camp, I guess you all know why we’re here!" - diese Begrüßungszeile stammt nicht aus dem neuen Roman von Thomas Coraghessan Boyle, sondern aus der Rock-Oper "Tommy" der britischen Band The Who, in der es um genau dasselbe Thema geht: Eine synthetische Droge, umgangssprachlich Acid (Säure) genannt, die extreme Lichtempfindungen und Halluzinationen auslöst. Wer auf einem Trip ist, vermeint Farben schmecken zu können und sieht in trauter Freundesrunde plötzlich wie im Prater-Zerrspiegel Hexengesichter und Clowns. Um LSD-Experimente und ihre fatalen Folgen geht es auch in Boyles neuem ‚Roman, "Das Licht", dessen Einband sogar halluzinogen gestaltet ist, sodass der Rezensent ihn umgedreht hat, um beim Lesen nicht abgelenkt zu werden.
Zentrales Motiv des musikalisch gebildeten wie auch campuserfahrenen Autors sind die LSD-"Sessionen" der 1960er Jahre. In gemeinsamen Sitzungen unter Leitung erfahrener "Führer" sollten sich für Studierende die Türen zu einer neuen Bewusstseinsebene öffnen. Selbstdokumentationen und analytische Arbeiten sollten folgen, um "Überbau" und Rechtfertigung zu liefern. Die Rechnung ging aber nicht auf.
Genau recherchiert
Statt wissenschaftlichen Fortschritt zu generieren, wurde LSD dem damals herrschenden Zeitgeist geopfert, der sich störrisch von den Vorgaben der Elterngeneration abwandte. Viele junge Menschen der 60er Jahre begehrten gegen eine materialisierte Gesellschaft und die Kriegsabenteuer in Indochina auf. Dazu gesellte sich der uralte menschliche Traum, jene unheimlichen "doors of perception" aufzustoßen, hinter denen der Weg zum Selbst oder sogar zu Gott verborgen liegen soll. Das war natürlich eine glatte Illusion und half ebenso wenig wie die THC-begleitete Lektüre von Hesses "Glasperlenspiel" oder die zu Marihuanaduft klimpernden Sitar-Klänge von Ravi Shankar, mit denen Boyle die Stimmung und Jugendkultur dieser Epoche metaphorisch erfasst.
Ein weiterer Thomas, nämlich der Autor Thomas De Quincey, beschrieb die frühen Versuche, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit durch halluzinogene Substanzen zu weiten. Der Drogenanalytiker, der um 1821 mit Opiaten ("Confessions Of An English Opium-Eater") und Psilocybin experimentierte, nahm jene Substanz vorweg, die der Chemiker Albert Hofmann um 1942 in Basel synthetisierte.
Zu dieser Zeit pumpten sich deutsche und amerikanische Jägerpiloten bereits mit Metamphetaminen voll, die ihre Empathiefähigkeit senkten und gefährliche Kampfmaschinen aus ihnen machten. Diese neuen, synthetischen Drogen hatten den sedierenden Opiaten und dem uralten Edelhanf einiges voraus, weil sie die sensorische Aufnahmefähigkeit kurzfristig steigerten und angeblich körperlich nicht süchtig machten. Aldous Huxley hat in seinem utopischen Roman "Brave New World" eine dem "Acid" ähnliche Droge beschrieben.
Der Autor nennt die an wie Rädchen funktionierende Gesellschaftsmitglieder ausgegebene Gleichgültigkeits- und Belohnungsdroge "Soma". In der "schönen neuen Welt", die Huxley als wenig erstrebenswerte Utopie zeichnet, müssen Gefühle durch Drogen kanalisiert werden. Nach "Soma" wurde im Übrigen sogar eine Limonade benannt, und auch "Coke" oder "Sprite" wecken ganz bewusst Assoziationen zu Kokain und drogenbedingten Highs.
Während John F. Kennedy am 22. November 1963 durch Schüsse des Attentäters Lee Harvey Oswald ums Leben kam, soll Huxleys Gattin ihrem - am selben Tag - verstorbenen Mann in seinen letzten Stunden wunschgemäß LSD verabreicht haben. So beschreibt es T.C. Boyle, und dieser Autor recherchiert bekanntlich genau, ehe er sich an die Tastatur setzt.
Der 70-jährige Wahlkalifornier widmet sich in "Das Licht" in gewohnter Weise dem Umgang mit der stärksten psychoaktiven Substanz des 20. Jahrhunderts. Historisch korrekt startet das erste Kapitel in der Schweiz mitten im Zweiten Weltkrieg. In den 40er Jahren ging es nicht um psychologische Experimente, wie sie in "Tommy" und in Boyles Roman eine Rolle spielen, sondern um ein pharmakologisches Experiment, das der Firma Sandoz Geld in die Kassen spülen sollte. So schildert es Boyle, der dem Chemiker Hofmann eine fiktive Helferin an die Seite stellt, die beim Selbstexperiment ihrem Idol und Chef, der auf LSD mit Fahrrad und Joppe unterwegs ist, stützend unter die Arme greift.
Statt für gemeinsame Sessionen mit Selbsterfahrungstrips sollte das im Zweiten Weltkrieg in einem Baselbieter Labor entwickelte LSD-25, von dem eine Dosis von rund zwanzig Mikrogramm genügt, um die Sinne entgleisen zu lassen, als enthemmende Psycho-Droge und somit auch als Heilmittel für bestimmte Geisteskrankheiten dienen. Tatsächlich aber zeigte sich bald, dass LSD brandgefährlich ist und schizophrene Leiden oder einen anhaltenden "Horrortrip" auslösen kann. Diese Wirkung hat in unsere Alltagssprache Eingang gefunden. ("Bist du auf einem schlechten Trip unterwegs?")
Außer Kontrolle
T.C. Boyle biografiert in "Das Licht" den LSD-Reiseveranstalter und Psychologen Timothy Leary. Dieser entwickelte sich in Harvard zu einem Guru, der gemeinsam mit Richard Alpert zahlreiche Jünger um sich scharte. Leary ging es bewusst darum, mittels LSD den "Kontrollturm des Gehirns" auszuschalten. Er veranstaltete problematische, da medizinisch nicht begleitete Experimente mit der zunächst frei erhältlichen Substanz. Für die älteren Kollegen waren das reine Drogenparties, nicht ernstzunehmende Sessionen eines Wissenschafters. Leary lud Doktoranden in seinen privaten Kreis im Haus eines sich auf Sabbatical befindlichen Völkerrechtsexperten ein.
Nicht zufällig erinnert die Wortwahl Boyles an einen früheren Roman, der auf Englisch "The Inner Circle" betitelt war und sich Alfred Kinsey und seinen Aufklärungsfilmen und -treffen widmete. Auf Deutsch hieß das Buch "Dr. Sex", womit klar wurde, worauf Kinsey privat größten Wert legte - und womit er seine Anhänger in Sinnkrisen trieb.
Boyle öffnet die Büchse der Pandora ein zweites Mal, denn auch Leary nutzt die Enthemmung seiner Probandinnen zum sexuellen Missbrauch, wozu die Anmietung eines Hotels an der mexikanischen Pazifikküste beste Dienste leistet. Doch im zweiten Sommer endet dieses fragwürdige Idyll, die örtlichen Behörden weisen die "Wissenschafter"-Kommune aus. Nachdem Alpert und Leary auch in Harvard entthront werden und ihre Lehrstühle verlieren, geht das Treiben in einem Luxusanwesen nahe Poughkeepsie in New York weiter. Das teure Sandoz-LSD (Delysid) wird durch in Kanada vertriebene tschechische Generika ersetzt, die Dosen hingegen steigen immer weiter.
Der meisterhafte Romancier versteht es auch diesmal, einen Handlungsstrang in den Roman zu bringen, der so überzeugend wirkt, dass man das Buch in der Tat verschlingt. Daher stört es nicht weiter, dass sich die Motive ähneln, und nicht nur Alfred Kinsey, sondern auch Timothy Leary einen Kreis um sich schart, in dem er die Hauptrolle spielt. Auch hier wird ein nichts ahnendes Paar (noch dazu mit Kind) missbraucht, ehe es der Kleinfamilie gelingt, sich aus den Fängen der Leary-Kommune zu befreien.
Mit der geplanten Dissertation des motivierten Doktoratsstudenten Fitz wird es allerdings nichts. Somit opfert er die wissenschaftliche Karriere dem Guru, während er seine physische und mentale Gesundheit mit Ach und Krach aufrechterhalten kann. Boyle zeigt die lebensgefährliche Nonchalance im Umgang mit den psychoaktiven Substanzen auf: Leary und seine Kollegen ignorieren die Rezeptpflicht, verzichten auf medizinische Begleitung und geraten an den Rand der ethischen Codes der renommierten Wissenschaftsschmiede in Cambridge, Massachusetts.
Mit Jazz-Zitaten
Boyle beschreibt eindrucksvoll die Experimente und beleuchtet kritisch die sozialen Erfahrungen der Probanden: Licht wird für jene, die auf dem Trip sind, spürbar, alle Sinne sensibilisieren sich aufs Äußerste, Glücksgefühle begleiten eine "gute" Reise, wogegen der "Bad trip" Psychosen, Panikattacken und Angstzustände auslöst. Vor allem aber bleiben die menschlichen Grundbedürfnisse und sozialen Muster bestehen, auf Euphorie folgt der Katzenjammer. Wieder einmal scheitert eine drogenaffine Boyle-Kommune, wie schon im Roman "Drop City" aus dem Jahr 2003.
Wie immer wartet Boyle auch mit musikalischen Zitaten auf, diesmal aus der Jazz-Szene (darunter das Modern Jazz Quartet, Miles Davis oder John Coltrane). LSD motivierte viele Künstler, Transzendenzerfahrungen zu beschreiben oder zu besingen. Anspielungen auf Designerdrogen gab es in den 60er und 70er Jahren reichlich. Selbst wohnzimmertaugliche Bands wie die Beatles und die Rolling Stones tauchten in das Milieu psychoaktiver Substanzen ein.
Hartnäckig hält sich das alte Gerücht, dass der Beatles-Song "Lucy In The Sky With Diamonds" nicht nur das Akronym LSD enthält, sondern im Refrain verdächtige Parallelen zum Licht-Erlebnis eines Trips aufweist, obwohl Paul McCartney stets treuherzig betonte, dass dieses Lied nichts mit der Droge zu tun habe.
Hingegen war von Anfang an klar, dass Pink Floyds Mastermind Syd Barrett nicht nur Wortspiele betrieb, sondern die psychedelische Wirkung der Musik durch die Schöpfung farbenreicher Soundkaskaden förderte. Allerdings handelt es sich um ein Vorurteil, dass Floyd-Alben nur dazu dienten, Drogensessions zu begleiten, wie es der DDR-Krimi "Polizeiruf 110" insinuierte.
Erinnert sei vielmehr an Goethes Worte, die der experimentierfreudige Olympier in seiner Sterbestunde gehaucht haben soll: "Mehr Licht!" Dieser Ruf gilt auch für Boyles inspirierendes neues Werk.
Information:
T.C. Boyle
Das Licht
Roman. Aus dem Englischen von Dirk Gunsteren.
Hanser, München 2019, 384 Seiten
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 24.2.2019
Holpernd in die Republik
Gerhard Strejcek
Adelheid Popp: Ihr Weg zur Abgeordneten
Wiener Zeitung, 10.02.2019
Die Autorin und Politikerin wurde vor 100 Jahren ins Parlament gewählt. Porträt einer Frauenrechtlerin.
Am 16. Februar 1919 fanden die Wahlen in die konstituierende Nationalversammlung statt. Für Adelheid Popp, geborene Dworak, gab es doppelten Grund zu feiern, denn einerseits wurde sie als Abgeordnete gewählt, andererseits lag ihr fünfzigster Geburtstag keine Woche zurück.
Als Tochter eines Webers kam sie im damals niederösterreichischen Vorort Inzersdorf am 11. Februar 1869 zur Welt. Als Autorin wagte sie sich an zahlreiche frauenpolitische Themen wie Partnerwahl, Geburtenkontrolle und die Überwindung veralteter Moralvorstellungen heran. Ihr politischer Aufstieg erfolgte nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als sich die Verhältnisse am Kontinent schlagartig änderten. Frauen hatten kriegsbedingt in klassischen Männerberufen gearbeitet, nach dem Waffenstillstand brachten sie Opfer für das Überleben trotz Hunger und Grippeepidemie. Der hohe Blutzoll des Kriegs und die anhaltende Gefangenschaft wirkten sich auf die Bevölkerung aus, die 1918 mehrheitlich weiblich war.
In den politischen Lagern entstand bald Einigkeit darüber, das Frauenwahlrecht angesichts eines demokratischen Neubeginns zu verankern. Obwohl sie in den Wählerlisten die Mehrheit stellten, erreichten die gewählten Mandatarinnen eine Repräsentation von weniger als fünf Prozent. Dennoch empfanden die Politikerinnen dies als Erfolg, denn immerhin hatte es erstmals auf Frauen zugeschnittene Wahlkämpfe gegeben. Aber nicht bei allen Wählerinnen kam die emanzipatorische Botschaft an, in den 20er Jahren wählten die Frauen mehrheitlich christlich-sozial. Bei den Wahlen zur Konstituante siegten insgesamt die Sozialdemokraten, die Mandatsverteilung betrug 72:69:26:3 (SDAP, CS, großdeutsche und deutschnationale Listen, Sonstige).
Bitterarme Familie
Trotz der Verheißung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts "ohne Unterschied des Geschlechts" gab es diskriminierende Regeln. Zahlreiche Personen waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, darunter auch Frauen, die in Arbeitshäuser "abgegeben" worden waren oder unter sittenpolizeilicher Überwachung standen.
Die letztgenannte Regelung nahm nicht nur Prostituierten das Wahlrecht. Heutzutage sind nur mehr Personen, die für bestimmte Delikte bestraft werden, ausgeschlossen, wenn das Strafgericht dies ausdrücklich anordnet. Daher ist das heutige Wahlrecht um vieles "allgemeiner" als jenes vom Februar 1919. Das gilt auch für den Aspekt der Wahlmündigkeit und den viel weiter gezogenen Kreis des "Bundesvolks" seit einer Reform aus 2007. Als großzügig gelten nicht nur das niedrige Wahlalter von 16 Jahren, sondern auch die Tatsache, dass die Vollendung des Wahlalters am Abstimmungstag ausreichend ist. Dies wirkt sich besonders bei Wahlen oder Abstimmungen aus, welche spät im Jahr angesetzt werden.
Hingegen führt eine fixer Stichtag am Jahresbeginn zu Ungleichheiten. Dass für die ersten Wahlen zur Nationalversammlung der Neujahrstag 1919 gesetzlich festgeschrieben worden war, brachte eine Härte für Jungwähler mit sich. Meine Großmutter väterlicherseits, Louise Strejcek (geb. Scholtze), die am 11. März 1899 auf die Welt gekommen war, durfte als fast Zwanzigjährige an der Februar-Wahl noch nicht teilnehmen. Das Parlament wurde zudem, mit typisch österreichischer Verspätung, nicht "zu Beginn des Jahres 1919", wie es im November 1918 verheißen wurde, gewählt, sondern aufgrund technischer Vorkehrungen und zweier Novellen der Wahlordnung erst sechs Wochen später.
Die deutschen Wählerinnen und Wähler gingen hingegen plangemäß am 19. Jänner 1919 zu den Urnen. Ein weiterer Rückschlag in Wien wurde durch den Verlust der böhmischen, Südtiroler und südsteirischen Gebiete verzeichnet. Von den geplanten 200 Sitzen konnten nur 159 Abgeordnete in die konstituierende Nationalversammlung gewählt werden, elf weitere wurden hingegen "einberufen".
Nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain mussten die drei kooptierten Südtiroler die Nationalversammlung zwar im September 1919 verlassen, konnten aber später für die römische Abgeordnetenkammer kandidieren. Der Abschied verlief tränenreich, auch die Sozialdemokraten, darunter der Südtirolkenner Otto Bauer, gelobten den Kollegen südlich des Brenners Unterstützung und Treue für deren ungewisse Zukunft.
Adelheid Popp wurde die Berufung in das Parlament keineswegs in die Wiege gelegt. Die Arbeiterschriftstellerin, die den böhmischen Herkunftsort ihres Vaters nicht kannte und kein Tschechisch sprach, wurde in eine bitterarme Familie geboren. Die Familie, die in einem Elendsquartier an den Südhängen des Wienerbergs hauste, erkannte bald, dass die Tochter Adelheid ungewöhnlich intelligent und für das Lesen und Schreiben begabt war. Da viele Proletarier um 1880 noch Analphabeten waren, las sie ihren Eltern wichtige Schriftstücke vor und fungierte auch als Vorleserin für Familienangehörige und die nach dem frühen Tod des Vaters aufgenommenen "Bettgeher", welchen ihre Mutter um ein geringes Entgelt ein Dach über dem Kopf bot.
Adelheid Popp schilderte später, dass sie selbst von körperlicher Arbeit ermattet war und viel lieber eine seichte Einschlaflektüre genossen hätte, statt stundenlang zum Gaudium der Mitbewohner vorzutragen, aber sie fügte sich und errang so eine enorme Belesenheit, die ihre spätere Karriere förderte.
Ihre Kindheit und Jugend in der Inzersdorfer Arbeitersiedlung verlief alles andere als idyllisch. Alkohol und häusliche Gewalt verstörten das Mädchen, das trotz seiner Lernerfolge in der Volksschule zu einem frühen Schulabbruch gezwungen und zu Bittgängen bei adeligen Frauen genötigt wurde.
Popp schildert, wie sie in einem der feudalen Räume einer Mäzenin ganz verwundert ihr eigenes Abbild erblickte, da es zu Hause keinen einzigen Spiegel gab. Später musste sie als Bronzearbeiterin ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und landete frühzeitig in einer Krankenanstalt und in einem Pflegeheim, wo sie als Sechzehnjährige nicht lange bleiben durfte. Belästigungen durch einen "Reisenden" brachten sie um den Arbeitsplatz; Willkür und ausgedehnte Arbeitszeiten standen auf der Tagesordnung und motivierten die Abgeordnete später, bereits in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit den Achtstundentag für Arbeiterinnen und Arbeiter durchzusetzen.
Wir wissen über die Umstände von Popps Kindheit deshalb Bescheid, weil die Frauenrechtlerin bereits um 1909 eine Autobiographie unter dem Titel "Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst erzählt" verfasste und im Berliner Verlag Reinhardt veröffentlichte. Der prominente deutsche Sozialist August Bebel schrieb das Vorwort zu ihrem Buch, das später unter dem Titel "Kindheit einer Arbeiterin" beim Verlag Dietz erschien und bis 1991 zahlreiche Neuauflagen erreichte. Popps Buch erschien eineinhalb Jahrzehnte, bevor der 1882 im damaligen Fünfhaus in Wien geborene Schriftsteller Alfons Petzold mit seinem Roman "Das rauhe Leben" (Berlin 1920) Furore machte. Bücher von Ferdinand Hanusch, Peter Rosegger, Max Winter und Marie Koch komplettierten die vielgestaltige Arbeiter- und Bauernliteratur der Ersten Republik.
Auch Popps Mentor August Bebel, der 1840 unweit von Köln geboren wurde und in ihrem Geburtsjahr (mit Wilhelm Liebknecht) die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP gegründet hatte, trat als Autor in Erscheinung. Seine Studie über "Die Frau im Sozialismus" und seine Autobiographie erreichten Millionenauflagen. Der stets elegant auftretende Linke Bebel starb am 13. August 1913 im Schweizer Ort Passugg bei Chur.
Mit dem Einzug in die konstituierende Nationalversammlung, deren Mitglieder sich am 4. März 1919 zu einer feierlichen Eröffnungssitzung einfanden, bei der Karl Seitz zum Präsidenten gewählt wurde, erreichte Adelheid Popp einen vorläufigen Höhepunkt ihrer politischen Karriere. Zeitgenössische Fotos zeigen die fixen Bänke im alten Reichsratssitzungssaal, auf denen nun erstmals Frauen Platz nahmen, die - der Würde des Baus gerecht werdend - durchaus elegant in wallenden Kleidern und mit dezentem Schmuck auftraten. Auch die Herren Abgeordneten benahmen sich würdevoller als heute: Rote oder mittelblaue Strümpfe unter Anzugshosen waren ebenso verpönt wie Jeans, kurze Hosen oder Sportschuhe. Die Gründer der Ersten Republik verzichteten auch aufs Zeitungslesen. Technische Hilfsgegenstände wie die heute unentbehrlichen Smartphones, auf denen Mandatare ihre Tweets verfassen oder TV-Sendungen streamen, waren noch nicht erfunden.
Gedenkorte in Wien
Somit konnten sich die Mandatare in den Jahren 1919/20 besser auf die eigentlichen legislativen Aufgaben konzentrieren, darunter eine große Verfassungsreform im April 1919. In rascher Abfolge beschlossen die Abgeordneten zahlreiche Sozialgesetze, die Umwandlung der Exportakademie in eine Hochschule für Welthandel, sie stimmten über den Staatsvertrag von Saint-Germain ab und einigten sich 1920 auf die Einrichtung von Arbeiterkammern.
An all diesen Gesetzesbeschlüssen wirkte die emanzipierte und stets fröhlich-motivierte Adelheid Popp mit, die noch eineinhalb Jahrzehnte politisch tätig war, ehe sie am 7. März 1939 verstarb. Sie ist in einem Ehrengrab am Zentralfriedhof begraben und dank zweier Gedenkorte in Wien in Erinnerung. Der vor Kurzem neu gestaltete Adelheid-Popp-Park befindet sich in Wien-Hernals unweit der Geblergasse. Und in Wien-Donaustadt erinnert eine Gasse an sie, in der sich, als eine Art Treppenwitz der Geschichte, der Wohnpark "Oase 22" befindet, dessen Anliegen laut Homepage des Bauträgers die "Verminderung von Freizeitstress" ist, ein Gemütszustand, welcher Adelheid Popp vermutlich unbekannt war.
Literatur:
Adelheid Popp: Kindheit einer Arbeiterin. J.H.W. Dietz Nachf. 1991.
August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. J.H.W. Dietz Nachf. 1994.
Franz Kreutzer (Hrsg): Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen. Der Ursprung der österreichischen Arbeiterbewegung. Kremayr & Scheriau 1988.
Adelheid Popp Projektarbeit 37. Lehrgang 2014/2015 Wr. Parteischule:
https://youtu.be/EVNlDnNvUug/
Am 16. Februar 1919 fanden die Wahlen in die konstituierende Nationalversammlung statt. Für Adelheid Popp, geborene Dworak, gab es doppelten Grund zu feiern, denn einerseits wurde sie als Abgeordnete gewählt, andererseits lag ihr fünfzigster Geburtstag keine Woche zurück.
Als Tochter eines Webers kam sie im damals niederösterreichischen Vorort Inzersdorf am 11. Februar 1869 zur Welt. Als Autorin wagte sie sich an zahlreiche frauenpolitische Themen wie Partnerwahl, Geburtenkontrolle und die Überwindung veralteter Moralvorstellungen heran. Ihr politischer Aufstieg erfolgte nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als sich die Verhältnisse am Kontinent schlagartig änderten. Frauen hatten kriegsbedingt in klassischen Männerberufen gearbeitet, nach dem Waffenstillstand brachten sie Opfer für das Überleben trotz Hunger und Grippeepidemie. Der hohe Blutzoll des Kriegs und die anhaltende Gefangenschaft wirkten sich auf die Bevölkerung aus, die 1918 mehrheitlich weiblich war.
In den politischen Lagern entstand bald Einigkeit darüber, das Frauenwahlrecht angesichts eines demokratischen Neubeginns zu verankern. Obwohl sie in den Wählerlisten die Mehrheit stellten, erreichten die gewählten Mandatarinnen eine Repräsentation von weniger als fünf Prozent. Dennoch empfanden die Politikerinnen dies als Erfolg, denn immerhin hatte es erstmals auf Frauen zugeschnittene Wahlkämpfe gegeben. Aber nicht bei allen Wählerinnen kam die emanzipatorische Botschaft an, in den 20er Jahren wählten die Frauen mehrheitlich christlich-sozial. Bei den Wahlen zur Konstituante siegten insgesamt die Sozialdemokraten, die Mandatsverteilung betrug 72:69:26:3 (SDAP, CS, großdeutsche und deutschnationale Listen, Sonstige).
Bitterarme Familie
Trotz der Verheißung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts "ohne Unterschied des Geschlechts" gab es diskriminierende Regeln. Zahlreiche Personen waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, darunter auch Frauen, die in Arbeitshäuser "abgegeben" worden waren oder unter sittenpolizeilicher Überwachung standen.
Die letztgenannte Regelung nahm nicht nur Prostituierten das Wahlrecht. Heutzutage sind nur mehr Personen, die für bestimmte Delikte bestraft werden, ausgeschlossen, wenn das Strafgericht dies ausdrücklich anordnet. Daher ist das heutige Wahlrecht um vieles "allgemeiner" als jenes vom Februar 1919. Das gilt auch für den Aspekt der Wahlmündigkeit und den viel weiter gezogenen Kreis des "Bundesvolks" seit einer Reform aus 2007. Als großzügig gelten nicht nur das niedrige Wahlalter von 16 Jahren, sondern auch die Tatsache, dass die Vollendung des Wahlalters am Abstimmungstag ausreichend ist. Dies wirkt sich besonders bei Wahlen oder Abstimmungen aus, welche spät im Jahr angesetzt werden.
Hingegen führt eine fixer Stichtag am Jahresbeginn zu Ungleichheiten. Dass für die ersten Wahlen zur Nationalversammlung der Neujahrstag 1919 gesetzlich festgeschrieben worden war, brachte eine Härte für Jungwähler mit sich. Meine Großmutter väterlicherseits, Louise Strejcek (geb. Scholtze), die am 11. März 1899 auf die Welt gekommen war, durfte als fast Zwanzigjährige an der Februar-Wahl noch nicht teilnehmen. Das Parlament wurde zudem, mit typisch österreichischer Verspätung, nicht "zu Beginn des Jahres 1919", wie es im November 1918 verheißen wurde, gewählt, sondern aufgrund technischer Vorkehrungen und zweier Novellen der Wahlordnung erst sechs Wochen später.
Die deutschen Wählerinnen und Wähler gingen hingegen plangemäß am 19. Jänner 1919 zu den Urnen. Ein weiterer Rückschlag in Wien wurde durch den Verlust der böhmischen, Südtiroler und südsteirischen Gebiete verzeichnet. Von den geplanten 200 Sitzen konnten nur 159 Abgeordnete in die konstituierende Nationalversammlung gewählt werden, elf weitere wurden hingegen "einberufen".
Nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain mussten die drei kooptierten Südtiroler die Nationalversammlung zwar im September 1919 verlassen, konnten aber später für die römische Abgeordnetenkammer kandidieren. Der Abschied verlief tränenreich, auch die Sozialdemokraten, darunter der Südtirolkenner Otto Bauer, gelobten den Kollegen südlich des Brenners Unterstützung und Treue für deren ungewisse Zukunft.
Adelheid Popp wurde die Berufung in das Parlament keineswegs in die Wiege gelegt. Die Arbeiterschriftstellerin, die den böhmischen Herkunftsort ihres Vaters nicht kannte und kein Tschechisch sprach, wurde in eine bitterarme Familie geboren. Die Familie, die in einem Elendsquartier an den Südhängen des Wienerbergs hauste, erkannte bald, dass die Tochter Adelheid ungewöhnlich intelligent und für das Lesen und Schreiben begabt war. Da viele Proletarier um 1880 noch Analphabeten waren, las sie ihren Eltern wichtige Schriftstücke vor und fungierte auch als Vorleserin für Familienangehörige und die nach dem frühen Tod des Vaters aufgenommenen "Bettgeher", welchen ihre Mutter um ein geringes Entgelt ein Dach über dem Kopf bot.
Adelheid Popp schilderte später, dass sie selbst von körperlicher Arbeit ermattet war und viel lieber eine seichte Einschlaflektüre genossen hätte, statt stundenlang zum Gaudium der Mitbewohner vorzutragen, aber sie fügte sich und errang so eine enorme Belesenheit, die ihre spätere Karriere förderte.
Ihre Kindheit und Jugend in der Inzersdorfer Arbeitersiedlung verlief alles andere als idyllisch. Alkohol und häusliche Gewalt verstörten das Mädchen, das trotz seiner Lernerfolge in der Volksschule zu einem frühen Schulabbruch gezwungen und zu Bittgängen bei adeligen Frauen genötigt wurde.
Popp schildert, wie sie in einem der feudalen Räume einer Mäzenin ganz verwundert ihr eigenes Abbild erblickte, da es zu Hause keinen einzigen Spiegel gab. Später musste sie als Bronzearbeiterin ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und landete frühzeitig in einer Krankenanstalt und in einem Pflegeheim, wo sie als Sechzehnjährige nicht lange bleiben durfte. Belästigungen durch einen "Reisenden" brachten sie um den Arbeitsplatz; Willkür und ausgedehnte Arbeitszeiten standen auf der Tagesordnung und motivierten die Abgeordnete später, bereits in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit den Achtstundentag für Arbeiterinnen und Arbeiter durchzusetzen.
Wir wissen über die Umstände von Popps Kindheit deshalb Bescheid, weil die Frauenrechtlerin bereits um 1909 eine Autobiographie unter dem Titel "Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst erzählt" verfasste und im Berliner Verlag Reinhardt veröffentlichte. Der prominente deutsche Sozialist August Bebel schrieb das Vorwort zu ihrem Buch, das später unter dem Titel "Kindheit einer Arbeiterin" beim Verlag Dietz erschien und bis 1991 zahlreiche Neuauflagen erreichte. Popps Buch erschien eineinhalb Jahrzehnte, bevor der 1882 im damaligen Fünfhaus in Wien geborene Schriftsteller Alfons Petzold mit seinem Roman "Das rauhe Leben" (Berlin 1920) Furore machte. Bücher von Ferdinand Hanusch, Peter Rosegger, Max Winter und Marie Koch komplettierten die vielgestaltige Arbeiter- und Bauernliteratur der Ersten Republik.
Auch Popps Mentor August Bebel, der 1840 unweit von Köln geboren wurde und in ihrem Geburtsjahr (mit Wilhelm Liebknecht) die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP gegründet hatte, trat als Autor in Erscheinung. Seine Studie über "Die Frau im Sozialismus" und seine Autobiographie erreichten Millionenauflagen. Der stets elegant auftretende Linke Bebel starb am 13. August 1913 im Schweizer Ort Passugg bei Chur.
Mit dem Einzug in die konstituierende Nationalversammlung, deren Mitglieder sich am 4. März 1919 zu einer feierlichen Eröffnungssitzung einfanden, bei der Karl Seitz zum Präsidenten gewählt wurde, erreichte Adelheid Popp einen vorläufigen Höhepunkt ihrer politischen Karriere. Zeitgenössische Fotos zeigen die fixen Bänke im alten Reichsratssitzungssaal, auf denen nun erstmals Frauen Platz nahmen, die - der Würde des Baus gerecht werdend - durchaus elegant in wallenden Kleidern und mit dezentem Schmuck auftraten. Auch die Herren Abgeordneten benahmen sich würdevoller als heute: Rote oder mittelblaue Strümpfe unter Anzugshosen waren ebenso verpönt wie Jeans, kurze Hosen oder Sportschuhe. Die Gründer der Ersten Republik verzichteten auch aufs Zeitungslesen. Technische Hilfsgegenstände wie die heute unentbehrlichen Smartphones, auf denen Mandatare ihre Tweets verfassen oder TV-Sendungen streamen, waren noch nicht erfunden.
Gedenkorte in Wien
Somit konnten sich die Mandatare in den Jahren 1919/20 besser auf die eigentlichen legislativen Aufgaben konzentrieren, darunter eine große Verfassungsreform im April 1919. In rascher Abfolge beschlossen die Abgeordneten zahlreiche Sozialgesetze, die Umwandlung der Exportakademie in eine Hochschule für Welthandel, sie stimmten über den Staatsvertrag von Saint-Germain ab und einigten sich 1920 auf die Einrichtung von Arbeiterkammern.
An all diesen Gesetzesbeschlüssen wirkte die emanzipierte und stets fröhlich-motivierte Adelheid Popp mit, die noch eineinhalb Jahrzehnte politisch tätig war, ehe sie am 7. März 1939 verstarb. Sie ist in einem Ehrengrab am Zentralfriedhof begraben und dank zweier Gedenkorte in Wien in Erinnerung. Der vor Kurzem neu gestaltete Adelheid-Popp-Park befindet sich in Wien-Hernals unweit der Geblergasse. Und in Wien-Donaustadt erinnert eine Gasse an sie, in der sich, als eine Art Treppenwitz der Geschichte, der Wohnpark "Oase 22" befindet, dessen Anliegen laut Homepage des Bauträgers die "Verminderung von Freizeitstress" ist, ein Gemütszustand, welcher Adelheid Popp vermutlich unbekannt war.
Literatur:
Adelheid Popp: Kindheit einer Arbeiterin. J.H.W. Dietz Nachf. 1991.
August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. J.H.W. Dietz Nachf. 1994.
Franz Kreutzer (Hrsg): Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen. Der Ursprung der österreichischen Arbeiterbewegung. Kremayr & Scheriau 1988.
Adelheid Popp Projektarbeit 37. Lehrgang 2014/2015 Wr. Parteischule:
https://youtu.be/EVNlDnNvUug/
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Gerhard Strejcek
Antibürgerlich - Ambivalent - Altenberg
Wiener Zeitung, 06.01.2019
Zum 100. Todestag des Autors, Bohémiens und Kaffeehausbewohners, dessen ideelles Erbe heute nicht ungetrübt erscheint.
Am Samstag, 11. Jänner 1919, fand sich eine illustre Trauergemeinde am Wiener Zentralfriedhof ein. Kein Geringerer als der wortgewaltige Karl Kraus hielt den Nekrolog am offenen Grab eines engen Freundes. Statt sich in Sentimentalitäten und Reminiszenzen zu ergehen, drohte der "Fackel"-Herausgeber den Kritikern des Verblichenen: Wehe allen, die ihn künftig missverstehen sollten! - Der streitbare Kraus ahnte entweder, dass eines Tages das Thema "nackte Mädchenbeine" die gelungenen Vignetten und Divertimenti des Dahingegangenen überlagern könnten, oder er wollte die Nachwelt auf die literarischen Leistungen des bizarren Freundes einschwören, der am 8. Jänner im AKH verschieden war, nachdem er lange als unsteter Gast und Trinker im Grabenhotel in der Dorotheergasse 3 gehaust hatte.
Pseudonym
Der Verstorbene war Richard Engländer, Sohn des gleichnamigen Kaufmanns Moriz E., besser bekannt unter seinem Pseudonym Peter Altenberg, das er sich aus Schwärmerei zugelegt hatte. "Peter" war der Rufname eines Mädchens namens Berta, das er im niederösterreichischen Altenberg kennen und verehren gelernt hatte. Schon diese Episode gibt zu denken, denn als sie der Autor bei der Familie Lercher traf, lagen Bertas Lenze deutlich unter der Schutzaltergrenze. Zeitgenossen sahen Altenbergs seltsame Neigungen als "Schwärmereien" eines Poeten, seine nächsten Freunde wussten indes, dass der Varietébesucher vermögend und berechnend war.
Im Kaffeehaus verbrachte der Autor einen Gutteil seines Lebens. Die Altenberg darstellende Kaffeehausfigur, die im "Central" lungert, bedient dieses Bild (siehe Abbildung auf Seite 34, Anm.). Prosa-Fundstücke finden sich zuhauf: Die Erstveröffentlichung "Wie ich es sehe" (1896), die im Folgejahr publizierte Skizze über die "Völkerschau" unter dem Titel "Ashantée", worin er das Zurschaustellen afrikanischer Menschen geißelt, die "Fechsung", "Nachfechsung" und - als Ausklang des Schaffens - das Büchlein "Mein Lebensabend".
Obwohl Altenbergs Werk nicht umfangreich ist, geben doch seine Beobachtungen ein getreues Stimmungs- und Sittenbild der Ära zwischen dem Fin de siècle und dem Untergang der Donaumonarchie wieder. Die Lektüre vermittelt Semmeringluft und Parfüm-düfte, die ihren olfaktorischen Reiz zwischen den Zeilen versprühen. Das Rauschen von Tüll und Seide wird hörbar - und das Auf und Ab tanzender Balletteusen tritt vor das geistige Auge des Lesers. Und stets, ja notorisch, hob Altenberg das "Ewig-Weibliche" hinan. Er erging sich, wie Roda Roda und später Eugen Gomringer, als ein "admirador" und verfiel dabei in wehmütig-ironische Reflexionen.
An metallischen Bartischen oder am Schreibpult des Grabenhotels wirkte PA als Ghostwriter in Liebesdingen, die er unter weiblichen Namen zeichnete, einst ein geehrter Berufsstand, den Samuel Richardson im Roman "Clarissa" schildert. Äußerlich wirkte er nicht wie ein homme à femmes, sondern erschien als glatzköpfiger Schnurrbartträger mit wallenden Gewändern. Ein "Drahrer", der von gierigen Bar-Hyänen ausgenützt wurde, der aber auch als Schnorrer seinen Lebensunterhalt fristete und geraume Zeit dank dem väterlichen Erbe ein arbeitsfreies Dasein führte. Hypernervös und sensibel, entzog sich Altenberg bürgerlichen Konventionen und dem Gebot, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu finanzieren.
Als partiell antibürgerliche Erscheinung schien er geeignet, in DDR-Publikationen wiederbelebt zu werden, wie etwa in der Feuilleton-Sammlung "Die Lebensmaschinerie" (Philipp Reclam, Leipzig 1980), worin ihm Elke Erb Reverenz erwies. Sie erwähnt auch Thomas Manns Würdigung aus dem Jahr 1920: "Dieser Dichter war zweifellos ein Finder einer sehr glücklichen Form, deren Leichtigkeit übrigens Illusion, deren Dienst nicht weniger anspruchsvoll sein wollte, als irgendein anderer."
PA war alles andere als ein Familienmensch, aber völlig wandte er sich von der Familie Engländer nicht ab. Vor allem seine Schwester Grete, eine Single-Frau und Bergsportlerin, die ausgesetzte Kletterwände auf der Rax bewältigte und ihn "verstand", hielt er in Ehren: ihr Foto stand im Grabenhotel auf seinem Nachttisch. Hingegen kam Altenberg bei seinem Bruder Georg, der um das väterliche Erbe bangte und es ungeschmälert übernehmen wollte, weniger gut an: Der besorgte Bruder ließ ihn im Jahr 1910 in die psychiatrische Krankenanstalt am Steinhof einweisen, wobei man damals für den Heilungs- oder Aufenthaltsort geistig Beeinträchtigter das Wort "Irrenanstalt" bereithielt.
Wenn das ideelle Erbe Altenbergs heute nicht ungetrübt erscheint, dann wegen seiner unklaren und womöglich grenzüberschreitenden sexuellen Neigung. In bibliophilen Text-Sammlungen wie dem "Wiener Nachtleben", die Burkhard Spinnen herausgibt, klingt das eher harmlos. Schon in "Wie ich es sehe" verteidigte PA englische Tänzerinnen, die "nicht viel können" und korrespondierte mit einer von ihnen, die nach Rom weiterreiste. Auch andere Geschöpfe bewunderte er, wie es schien, äußerlich und ließ auf diese Weise in seinen Skizzen eine scheinbar platonische Zuneigung gegenüber vorpubertären Mädchen zutagetreten.
Pädophilie
Erwiesen und von der Ausstellung "Extracte des Lebens", die im Frühjahr 2003 im Jüdischen Museum Wien stattfand, auch dokumentiert, ist aber, dass PA, der einige Fotoalben aus seinem Hoteldasein hinterließ, Aktfotos und andere Devotionalien sehr junger Frauen, ja halber Kinder sammelte. Das indizierte auch angewandte Pädophilie und trug ihm seitens des 2004 viel zu früh verstorbenen Literaturexperten Richard Reichensperger ("Alkohol und kleine Mädchen", "Standard", 23. 1. 2003) den Vorwurf ein, ein "Kinderschänder" gewesen zu sein. Obwohl es biografische Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch gibt, scheint dieser Ausdruck ohne Beweise doch problematisch. Abstufungen sind im Falle Altenbergs wohl am Platz, denn es besteht doch ein Unterschied zwischen einem "dirty old man" (Reichensperger unter Berufung auf Ausstellungs-Architekt Bernhard Denkinger), der kleine Mädchen, die er in Hinterhöfen anspricht und in schmierige Hotelzimmer oder auf Kellerstiegen "verzaht" (© H.C. Artmann, "Kindafazara"), und einem leicht devianten "Literaten-Onkel", der neben einer Schülerin artig auf einer Parkbank sitzt und zu Hause, an heutigen Standards gemessen, legale und erträgliche Fotos konsumiert. Unbehagen über das Nicht-so-genau-Bekannte breitet sich dennoch aus, wie ein leise kriechender Schmerz.
Im Spiegelbild von Bekannten und deren Aufzeichnungen finden sich Anerkennung und Huldigung, aber nicht jene Verachtung, welche ein "Schänder" verdient hätte. So bleibt vieles im Dunklen, Interpretationsspielräume öffnen sich, das Bild des Autors wirkt ambivalent. So waren auch die Reaktionen auf seinen Tod:
Arthur Schnitzler nahm von Altenbergs Ableben zwar Notiz (er träumte am 10. 1. von einem Programmheft, das Altenberg-Skizzen nachempfunden war), hielt sich aber vom Begräbnis des Bekannten fern. Am Tag der Grablegung ging er mit Noch-Gattin Olga spazieren und traf später den Romanisten Émile François Haguenin, demgegenüber er ein Bonmot äußerte, das auf PA maßgeschneidert hätte sein können. Schnitzler bezeichnete nämlich die Zukunft des jungen Staates Deutschösterreich als jene eines "Reichs der Künstler und Kellner".
Nun, Servierpersonal hatte PAs Weg gepflastert, und zur zweitgenannten Gruppe brotloser Artisten zählte er selbst. Und es gibt auch Verbindungslinien zwischen beiden Gastro-Welten in seinem Œuvre: Legendär ist sein Bericht von einem Kellner, der eine Art Betrug aufdeckt; die schnorrende Dame will, dass PA ihr die ganze Zigarettenpackung der Sorte "Ramses" überlässt, obwohl sie zehn Kronen kostet (acht in der Trafik, wie der preiskundige, nur scheinbar demente und alkoholkranke Rechner weiß); der Kellner aber lässt PA wissen, dass es einen "Deal" gibt und dieselbe Dame ihm die erschnorrte Packung Luxuszigaretten um zwei Kronen sofort zum Weiterverkauf im Lokal überlassen wird. Deshalb sagt der Kellner zu PA: "Ich geb’ sie Ihnen um 2 Kronen", was dieser zunächst empört zurückweist, aber dann als Eingeweihter und Dazugehörender akzeptiert. Wer sogar in Unterschleife des Personals einbezogen wird, hat es als "barfly" geschafft, wie anzumerken ist.
Polgar-Nachruf
Schnitzler imponierte dieses Insidertum wenig. Zu Ostern (20. 4. 1919; das Wetter war eisig!) las er Altenbergs letztes Werk, "Mein Lebensabend", das er als "schwach" empfand, worin er aber mit Interesse eine Kritik seines eigenen "Gräsler" vorfand ("Doktor Gräsler, Badearzt", eine Erzählung von A. Schnitzler aus dem Jahr 1914, Anm.). Ein Jahr zuvor hatte er mit Altenbergs Freund und "Mittäter" Adolf Loos über den eigentümlichen Hotelgast gesprochen, der trotz vorgeblicher Mittellosigkeit ein Bankkonto besaß, Unmengen an Bier und Slibowitz vertilgte und bis zu seinem einsamen Ableben allerlei "Verrücktheiten" begangen hatte, was immer das heißen mag.
Alfred Polgar widmete dem verblichenen PA am 20. Jänner 1919 einen blumenreichen Nachruf, den er mit einem Seitenhieb auf die "Wiener Dichter" verband, die schon Kraus in der "demolirten Litteratur" (sic!) gescholten hatte und womit vor allem Bahr, Beer-Hofmann, Hofmannsthal, Schnitzler und Wassermann gemeint waren. Ein billiger Spott, wie Schnitzler meinte, der Polgar zwar als Kritiker anerkannte, aber wegen seiner Abfällig- und Bösartigkeit hasste. Und so zeigt sich einmal mehr, dass geistige Welten zwischen dem Schöpfer der "süßen Mädl" und dem Bewunderer derselben lagen.
Literaturhinweise:
Peter Altenberg: "Wiener Nachtleben"
Hrsg. von Burkhard Spinnen,
Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2001
im selben Verlag: "Wiener Geschichten", "Sommerabende in Gmunden"
Werner M. Schwarz: Anthropologische Spektakel.
Zur Schaustellung "exotischer" Menschen
Wien 1870-1910
Verlag Turia & Kant, Wien 2001.
Am Samstag, 11. Jänner 1919, fand sich eine illustre Trauergemeinde am Wiener Zentralfriedhof ein. Kein Geringerer als der wortgewaltige Karl Kraus hielt den Nekrolog am offenen Grab eines engen Freundes. Statt sich in Sentimentalitäten und Reminiszenzen zu ergehen, drohte der "Fackel"-Herausgeber den Kritikern des Verblichenen: Wehe allen, die ihn künftig missverstehen sollten! - Der streitbare Kraus ahnte entweder, dass eines Tages das Thema "nackte Mädchenbeine" die gelungenen Vignetten und Divertimenti des Dahingegangenen überlagern könnten, oder er wollte die Nachwelt auf die literarischen Leistungen des bizarren Freundes einschwören, der am 8. Jänner im AKH verschieden war, nachdem er lange als unsteter Gast und Trinker im Grabenhotel in der Dorotheergasse 3 gehaust hatte.
Pseudonym
Der Verstorbene war Richard Engländer, Sohn des gleichnamigen Kaufmanns Moriz E., besser bekannt unter seinem Pseudonym Peter Altenberg, das er sich aus Schwärmerei zugelegt hatte. "Peter" war der Rufname eines Mädchens namens Berta, das er im niederösterreichischen Altenberg kennen und verehren gelernt hatte. Schon diese Episode gibt zu denken, denn als sie der Autor bei der Familie Lercher traf, lagen Bertas Lenze deutlich unter der Schutzaltergrenze. Zeitgenossen sahen Altenbergs seltsame Neigungen als "Schwärmereien" eines Poeten, seine nächsten Freunde wussten indes, dass der Varietébesucher vermögend und berechnend war.
Im Kaffeehaus verbrachte der Autor einen Gutteil seines Lebens. Die Altenberg darstellende Kaffeehausfigur, die im "Central" lungert, bedient dieses Bild (siehe Abbildung auf Seite 34, Anm.). Prosa-Fundstücke finden sich zuhauf: Die Erstveröffentlichung "Wie ich es sehe" (1896), die im Folgejahr publizierte Skizze über die "Völkerschau" unter dem Titel "Ashantée", worin er das Zurschaustellen afrikanischer Menschen geißelt, die "Fechsung", "Nachfechsung" und - als Ausklang des Schaffens - das Büchlein "Mein Lebensabend".
Obwohl Altenbergs Werk nicht umfangreich ist, geben doch seine Beobachtungen ein getreues Stimmungs- und Sittenbild der Ära zwischen dem Fin de siècle und dem Untergang der Donaumonarchie wieder. Die Lektüre vermittelt Semmeringluft und Parfüm-düfte, die ihren olfaktorischen Reiz zwischen den Zeilen versprühen. Das Rauschen von Tüll und Seide wird hörbar - und das Auf und Ab tanzender Balletteusen tritt vor das geistige Auge des Lesers. Und stets, ja notorisch, hob Altenberg das "Ewig-Weibliche" hinan. Er erging sich, wie Roda Roda und später Eugen Gomringer, als ein "admirador" und verfiel dabei in wehmütig-ironische Reflexionen.
An metallischen Bartischen oder am Schreibpult des Grabenhotels wirkte PA als Ghostwriter in Liebesdingen, die er unter weiblichen Namen zeichnete, einst ein geehrter Berufsstand, den Samuel Richardson im Roman "Clarissa" schildert. Äußerlich wirkte er nicht wie ein homme à femmes, sondern erschien als glatzköpfiger Schnurrbartträger mit wallenden Gewändern. Ein "Drahrer", der von gierigen Bar-Hyänen ausgenützt wurde, der aber auch als Schnorrer seinen Lebensunterhalt fristete und geraume Zeit dank dem väterlichen Erbe ein arbeitsfreies Dasein führte. Hypernervös und sensibel, entzog sich Altenberg bürgerlichen Konventionen und dem Gebot, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu finanzieren.
Als partiell antibürgerliche Erscheinung schien er geeignet, in DDR-Publikationen wiederbelebt zu werden, wie etwa in der Feuilleton-Sammlung "Die Lebensmaschinerie" (Philipp Reclam, Leipzig 1980), worin ihm Elke Erb Reverenz erwies. Sie erwähnt auch Thomas Manns Würdigung aus dem Jahr 1920: "Dieser Dichter war zweifellos ein Finder einer sehr glücklichen Form, deren Leichtigkeit übrigens Illusion, deren Dienst nicht weniger anspruchsvoll sein wollte, als irgendein anderer."
PA war alles andere als ein Familienmensch, aber völlig wandte er sich von der Familie Engländer nicht ab. Vor allem seine Schwester Grete, eine Single-Frau und Bergsportlerin, die ausgesetzte Kletterwände auf der Rax bewältigte und ihn "verstand", hielt er in Ehren: ihr Foto stand im Grabenhotel auf seinem Nachttisch. Hingegen kam Altenberg bei seinem Bruder Georg, der um das väterliche Erbe bangte und es ungeschmälert übernehmen wollte, weniger gut an: Der besorgte Bruder ließ ihn im Jahr 1910 in die psychiatrische Krankenanstalt am Steinhof einweisen, wobei man damals für den Heilungs- oder Aufenthaltsort geistig Beeinträchtigter das Wort "Irrenanstalt" bereithielt.
Wenn das ideelle Erbe Altenbergs heute nicht ungetrübt erscheint, dann wegen seiner unklaren und womöglich grenzüberschreitenden sexuellen Neigung. In bibliophilen Text-Sammlungen wie dem "Wiener Nachtleben", die Burkhard Spinnen herausgibt, klingt das eher harmlos. Schon in "Wie ich es sehe" verteidigte PA englische Tänzerinnen, die "nicht viel können" und korrespondierte mit einer von ihnen, die nach Rom weiterreiste. Auch andere Geschöpfe bewunderte er, wie es schien, äußerlich und ließ auf diese Weise in seinen Skizzen eine scheinbar platonische Zuneigung gegenüber vorpubertären Mädchen zutagetreten.
Pädophilie
Erwiesen und von der Ausstellung "Extracte des Lebens", die im Frühjahr 2003 im Jüdischen Museum Wien stattfand, auch dokumentiert, ist aber, dass PA, der einige Fotoalben aus seinem Hoteldasein hinterließ, Aktfotos und andere Devotionalien sehr junger Frauen, ja halber Kinder sammelte. Das indizierte auch angewandte Pädophilie und trug ihm seitens des 2004 viel zu früh verstorbenen Literaturexperten Richard Reichensperger ("Alkohol und kleine Mädchen", "Standard", 23. 1. 2003) den Vorwurf ein, ein "Kinderschänder" gewesen zu sein. Obwohl es biografische Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch gibt, scheint dieser Ausdruck ohne Beweise doch problematisch. Abstufungen sind im Falle Altenbergs wohl am Platz, denn es besteht doch ein Unterschied zwischen einem "dirty old man" (Reichensperger unter Berufung auf Ausstellungs-Architekt Bernhard Denkinger), der kleine Mädchen, die er in Hinterhöfen anspricht und in schmierige Hotelzimmer oder auf Kellerstiegen "verzaht" (© H.C. Artmann, "Kindafazara"), und einem leicht devianten "Literaten-Onkel", der neben einer Schülerin artig auf einer Parkbank sitzt und zu Hause, an heutigen Standards gemessen, legale und erträgliche Fotos konsumiert. Unbehagen über das Nicht-so-genau-Bekannte breitet sich dennoch aus, wie ein leise kriechender Schmerz.
Im Spiegelbild von Bekannten und deren Aufzeichnungen finden sich Anerkennung und Huldigung, aber nicht jene Verachtung, welche ein "Schänder" verdient hätte. So bleibt vieles im Dunklen, Interpretationsspielräume öffnen sich, das Bild des Autors wirkt ambivalent. So waren auch die Reaktionen auf seinen Tod:
Arthur Schnitzler nahm von Altenbergs Ableben zwar Notiz (er träumte am 10. 1. von einem Programmheft, das Altenberg-Skizzen nachempfunden war), hielt sich aber vom Begräbnis des Bekannten fern. Am Tag der Grablegung ging er mit Noch-Gattin Olga spazieren und traf später den Romanisten Émile François Haguenin, demgegenüber er ein Bonmot äußerte, das auf PA maßgeschneidert hätte sein können. Schnitzler bezeichnete nämlich die Zukunft des jungen Staates Deutschösterreich als jene eines "Reichs der Künstler und Kellner".
Nun, Servierpersonal hatte PAs Weg gepflastert, und zur zweitgenannten Gruppe brotloser Artisten zählte er selbst. Und es gibt auch Verbindungslinien zwischen beiden Gastro-Welten in seinem Œuvre: Legendär ist sein Bericht von einem Kellner, der eine Art Betrug aufdeckt; die schnorrende Dame will, dass PA ihr die ganze Zigarettenpackung der Sorte "Ramses" überlässt, obwohl sie zehn Kronen kostet (acht in der Trafik, wie der preiskundige, nur scheinbar demente und alkoholkranke Rechner weiß); der Kellner aber lässt PA wissen, dass es einen "Deal" gibt und dieselbe Dame ihm die erschnorrte Packung Luxuszigaretten um zwei Kronen sofort zum Weiterverkauf im Lokal überlassen wird. Deshalb sagt der Kellner zu PA: "Ich geb’ sie Ihnen um 2 Kronen", was dieser zunächst empört zurückweist, aber dann als Eingeweihter und Dazugehörender akzeptiert. Wer sogar in Unterschleife des Personals einbezogen wird, hat es als "barfly" geschafft, wie anzumerken ist.
Polgar-Nachruf
Schnitzler imponierte dieses Insidertum wenig. Zu Ostern (20. 4. 1919; das Wetter war eisig!) las er Altenbergs letztes Werk, "Mein Lebensabend", das er als "schwach" empfand, worin er aber mit Interesse eine Kritik seines eigenen "Gräsler" vorfand ("Doktor Gräsler, Badearzt", eine Erzählung von A. Schnitzler aus dem Jahr 1914, Anm.). Ein Jahr zuvor hatte er mit Altenbergs Freund und "Mittäter" Adolf Loos über den eigentümlichen Hotelgast gesprochen, der trotz vorgeblicher Mittellosigkeit ein Bankkonto besaß, Unmengen an Bier und Slibowitz vertilgte und bis zu seinem einsamen Ableben allerlei "Verrücktheiten" begangen hatte, was immer das heißen mag.
Alfred Polgar widmete dem verblichenen PA am 20. Jänner 1919 einen blumenreichen Nachruf, den er mit einem Seitenhieb auf die "Wiener Dichter" verband, die schon Kraus in der "demolirten Litteratur" (sic!) gescholten hatte und womit vor allem Bahr, Beer-Hofmann, Hofmannsthal, Schnitzler und Wassermann gemeint waren. Ein billiger Spott, wie Schnitzler meinte, der Polgar zwar als Kritiker anerkannte, aber wegen seiner Abfällig- und Bösartigkeit hasste. Und so zeigt sich einmal mehr, dass geistige Welten zwischen dem Schöpfer der "süßen Mädl" und dem Bewunderer derselben lagen.
Literaturhinweise:
Peter Altenberg: "Wiener Nachtleben"
Hrsg. von Burkhard Spinnen,
Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2001
im selben Verlag: "Wiener Geschichten", "Sommerabende in Gmunden"
Werner M. Schwarz: Anthropologische Spektakel.
Zur Schaustellung "exotischer" Menschen
Wien 1870-1910
Verlag Turia & Kant, Wien 2001.
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Gerhard Strejcek
50. Todestag von Max Brod
Wiener Zeitung, 20.12.2018
Er war Schriftsteller, Jurist, Kafka-Freund - und Herausgeber von dessen Werken.
Er war Kafkas Jugendfreund, übte als Postjurist in Prag ein "Amt ohne Ehrgeiz" (Kafka) aus, er gab die Schriften des mit nur 40 Jahren verstorbenen Genies und Lebensmenschen posthum heraus - und er emigrierte 1939 buchstäblich in letzter Minute via Polen nach Palästina.
Geboren wurde Max Brod als Sohn eines Bankvizedirektors in Prag am 27. Mai 1884. Sein Bruder fiel dem Holocaust zu Opfer, so wie alle drei Schwestern Kafkas. Während er in der CSR politische Funktionen im Jüdischen Nationalrat ausgeübt und Kontakte mit zionistischen Bewegungen geknüpft hatte, wandelte sich der leidenschaftliche Feuilletonist und Autor in Tel Aviv zum Musikkritiker und Regisseur im Habimah-Theater.
Sein Werk umfasst mehrere Dutzend Bücher, darunter zahlreiche Romane, die beim Göttinger Wallstein-Verlag allesamt neu aufgelegt wurden. Einer davon ist dem "Prager Tagblatt" gewidmet und erschien 1957 unter einem ganz anderen Titel, welcher eine Liebesgeschichte indizierte. Neben seiner früh verstorbenen Frau Elsa liebte Brod Printmedien, vor allem Bücher, aber auch Periodika aller Art. Als Inbegriff eines frühen Literatur-Managers in eigener und fremder Sache reiste er von Verlag zu Verlag und ermöglichte seinem schüchternen Kollegen Kafka namhafte Publikationen. Für die Biografie Kafkas, für sein eigenes "Streitbares Leben" und die gewagten Texteingriffe in das fragmentarische Werk seines Freundes wurde er gescholten, doch er hat den Großteil der unpublizierten Prosa für die Nachwelt gerettet. Kein Archiv, kein Dachboden und keine ehemalige Partnerin hätte diese Texte frei geben können.
Max Brod, war ein Altösterreicher, der den "Prager Kreis" prägte und in den Fünfzigerjahren regelmäßig Lesereisen in seine frühere Heimat unternahm. Gestorben ist er vor 50 Jahren, am 20. Dezember 1968, als betagter, aber keineswegs seniler Mann - ganz anders als sein von ihm so verschiedener und doch kongenialer Freund Franz Kafka.
Lesetipp:
Max Brod: Prager Tagblatt.
Roman einer Redaktion.
Mit einem Vorwort von Thomas Steinfeld.
Wallstein Verlag 2015
Brods Kafka-Eindrücke sind in einem Interview verewigt, das Georg Stadtler im Sterbejahr 1968 mit ihm führte:
https://www.youtube.com/watch?v=MTo8iojF1vE/
Er war Kafkas Jugendfreund, übte als Postjurist in Prag ein "Amt ohne Ehrgeiz" (Kafka) aus, er gab die Schriften des mit nur 40 Jahren verstorbenen Genies und Lebensmenschen posthum heraus - und er emigrierte 1939 buchstäblich in letzter Minute via Polen nach Palästina.
Geboren wurde Max Brod als Sohn eines Bankvizedirektors in Prag am 27. Mai 1884. Sein Bruder fiel dem Holocaust zu Opfer, so wie alle drei Schwestern Kafkas. Während er in der CSR politische Funktionen im Jüdischen Nationalrat ausgeübt und Kontakte mit zionistischen Bewegungen geknüpft hatte, wandelte sich der leidenschaftliche Feuilletonist und Autor in Tel Aviv zum Musikkritiker und Regisseur im Habimah-Theater.
Sein Werk umfasst mehrere Dutzend Bücher, darunter zahlreiche Romane, die beim Göttinger Wallstein-Verlag allesamt neu aufgelegt wurden. Einer davon ist dem "Prager Tagblatt" gewidmet und erschien 1957 unter einem ganz anderen Titel, welcher eine Liebesgeschichte indizierte. Neben seiner früh verstorbenen Frau Elsa liebte Brod Printmedien, vor allem Bücher, aber auch Periodika aller Art. Als Inbegriff eines frühen Literatur-Managers in eigener und fremder Sache reiste er von Verlag zu Verlag und ermöglichte seinem schüchternen Kollegen Kafka namhafte Publikationen. Für die Biografie Kafkas, für sein eigenes "Streitbares Leben" und die gewagten Texteingriffe in das fragmentarische Werk seines Freundes wurde er gescholten, doch er hat den Großteil der unpublizierten Prosa für die Nachwelt gerettet. Kein Archiv, kein Dachboden und keine ehemalige Partnerin hätte diese Texte frei geben können.
Max Brod, war ein Altösterreicher, der den "Prager Kreis" prägte und in den Fünfzigerjahren regelmäßig Lesereisen in seine frühere Heimat unternahm. Gestorben ist er vor 50 Jahren, am 20. Dezember 1968, als betagter, aber keineswegs seniler Mann - ganz anders als sein von ihm so verschiedener und doch kongenialer Freund Franz Kafka.
Lesetipp:
Max Brod: Prager Tagblatt.
Roman einer Redaktion.
Mit einem Vorwort von Thomas Steinfeld.
Wallstein Verlag 2015
Brods Kafka-Eindrücke sind in einem Interview verewigt, das Georg Stadtler im Sterbejahr 1968 mit ihm führte:
https://www.youtube.com/watch?v=MTo8iojF1vE/
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Gerhard Strejcek
Die Presse, 6.12.2018
Der Paragraf 197 der Literatur
Gerhard Strejcek
Zappas illustres Erbe
Wiener Zeitung, 02.12.2018
Am 4. Dezember 1993 starb Frank Zappa. Bis heute wird an den US-Musiker erinnert, demnächst auch wieder in Wien.
Vor 25 Jahren starb der Komponist, Multi-Instrumentalist und vierfache Vater Frank Zappa in Laurel Canyon (Los Angeles). Zappa, der mehr als 100 Alben veröffentlichte (knapp 50 davon sind posthum erschienen), kam am 21. Dezember 1940 in Baltimore (Maryland) zur Welt, ehe die aus Süditalien stammende Familie nach Kalifornien zog.
Im "Lorbeer"-Canyon, einer Musikerkolonie, durch die einst der erste O-Bus der USA ratterte, galten Frank Vincent und seine aus Pennsylvania stammende Gattin Adelaide Gail Zappa (geb. Sloatman) als illustres Paar. Sie lebten in einer riesigen Wohnhöhle mit Biotop, die oft von Groupies heimgesucht wurde. Zappa hatte keinen Führerschein. Solange die Einnahmen sprudelten, leistete er sich einen "Limo-Service". Nach Geburt von Tochter Moon Unit und Sohn Dweezil lebte die Familie in einer abgelegenen Riesenvilla mit Tonstudio, die heute Lady Gaga gehört.
Jährliche Zappanale
Beim Einkaufen begegnete man Doors-Legende Ray Manzarek oder dem Vokalgenie Roy Orbison, der fünf Jahre nach Zappa starb. Beide sind im Westwood Village Memorial Park begraben, aus Gründen ewiger Ruhe trägt aber Zappas Grabmal keinen Namen. Dass passt ins Bild eines Soundtüftlers, der zu Lebzeiten nicht einmal die eigene Familie in den Kompositionsraum einließ.
Gattin Gail, die vor drei Jahren verstorben ist, stilisierte den Kettenraucher zum biederen Familienvater. Posthum tauchten kritische Stimmen auf, wie jene von Ruth Underwood (der Vibrafonistin der Mothers of Invention), die Zappa als Despoten einstufte. Die Mitglieder der frühen Girl-Band The GTOs, die Zappa gefördert hatte, verteidigten den schillernden Mentor, der sich von Peter Occhiogrosso per Interviews biografisch festhalten ließ.
Das Erbe des exzentrischen Genies lebt dank Idealisten und Musikvirtuosen weiter. Die 1990 gegründete Zappanale in Bad Doberan in Mecklenburg-Vorpommern bereitet schon das nächste Festival für den 19. bis 21. Juli 2019 vor, die Fans können mitbestimmen. Angefragt sind Mothers-of-Invention-Urgestein Ian Underwood und Gitarrist Steve Vai, mit dem Zappa Family Trust wird über eine Hologrammshow verhandelt.
In Wien tragen Hallucination-Company-Gründer Wickerl Adam und Falcos einstiger Gitarrist Conrad Schrenk zum Revival von Zappas bester Musik bei, Zappanale-Organisator Wolfhard Kutz kam extra nach Wien in die Riemergasse gereist, um "The Torture Never Stops" anlässlich der 77. Wiederkehr von Zappas Geburtstag zu hören. Adam und Schrenk, Vokalistin Sabrina Winter, Peter Dürr, Anzo Morawitz u.a. ließen "Dirty Love" und mehr im Porgy&Bess erklingen und gingen im Sommer auf der Zappanale on stage; am 27. Dezember sind sie wieder im Wiener Jazzclub zu hören. Im Mai 2018 waren Don Preston und die Grandmothers of Invention mit Zappa-Werken ebendort zu hören gewesen.
Zerstrittene Erben
Nach wie vor sind die Bewahrer des musikalischen Vermächtnisses mit Hindernissen konfrontiert, die Nachfahren bilden ein zerstrittenes Mixed-Doppel: Ahmet und Diva (die jüngeren) auf der einen, Moon Unit und Dweezil (die älteren) auf der anderen Seite. Ahmet untersagte seinem Bruder die "Zappa plays Zappa"-Shows. Gitarrist Vai beschwor daraufhin per Film ("The Guitar Lesson") seine Rolle als Ersatzvater, er unterrichtete Dweezil, den einzigen Musiker unter den leiblichen Zappa-Erben, der im nächsten Herbst bereits 50 Jahre alt wird.
Schwester Moon hat sich als Musikproduzentin einen Namen gemacht, sie drehte die Zappa-Doku "Eat That Question" unter der Regie des deutschen Filmemachers Thorsten Schütte. Das sperrige, symphonische Werk des Alleskönners führt allerdings nur mehr ein Schattendasein.
Dem London Contemporary Orchestra gelang es, dem Edgar Varèse nachempfundene Zappa-Spätwerk "Yellow Shark" beim Roundhouse Festival zum "70er" kurzfristig Leben einzuhauchen, andere Spitzenorchester scheinen Zappa aus ihrem Repertoire gestrichen zu haben.
Was bleibt, ist ein vielfältiges Rock-Vermächtnis auf Tonträgern, die eher schwer verdauliche neu aufgelegte Tony-Palmer-DVD "200 Motels" sowie die Erinnerungen an jenen Musiker, der einst meinte: "Ihr müsst verrückt bleiben, auch wenn ihr Österreicher seid!"
Vor 25 Jahren starb der Komponist, Multi-Instrumentalist und vierfache Vater Frank Zappa in Laurel Canyon (Los Angeles). Zappa, der mehr als 100 Alben veröffentlichte (knapp 50 davon sind posthum erschienen), kam am 21. Dezember 1940 in Baltimore (Maryland) zur Welt, ehe die aus Süditalien stammende Familie nach Kalifornien zog.
Im "Lorbeer"-Canyon, einer Musikerkolonie, durch die einst der erste O-Bus der USA ratterte, galten Frank Vincent und seine aus Pennsylvania stammende Gattin Adelaide Gail Zappa (geb. Sloatman) als illustres Paar. Sie lebten in einer riesigen Wohnhöhle mit Biotop, die oft von Groupies heimgesucht wurde. Zappa hatte keinen Führerschein. Solange die Einnahmen sprudelten, leistete er sich einen "Limo-Service". Nach Geburt von Tochter Moon Unit und Sohn Dweezil lebte die Familie in einer abgelegenen Riesenvilla mit Tonstudio, die heute Lady Gaga gehört.
Jährliche Zappanale
Beim Einkaufen begegnete man Doors-Legende Ray Manzarek oder dem Vokalgenie Roy Orbison, der fünf Jahre nach Zappa starb. Beide sind im Westwood Village Memorial Park begraben, aus Gründen ewiger Ruhe trägt aber Zappas Grabmal keinen Namen. Dass passt ins Bild eines Soundtüftlers, der zu Lebzeiten nicht einmal die eigene Familie in den Kompositionsraum einließ.
Gattin Gail, die vor drei Jahren verstorben ist, stilisierte den Kettenraucher zum biederen Familienvater. Posthum tauchten kritische Stimmen auf, wie jene von Ruth Underwood (der Vibrafonistin der Mothers of Invention), die Zappa als Despoten einstufte. Die Mitglieder der frühen Girl-Band The GTOs, die Zappa gefördert hatte, verteidigten den schillernden Mentor, der sich von Peter Occhiogrosso per Interviews biografisch festhalten ließ.
Das Erbe des exzentrischen Genies lebt dank Idealisten und Musikvirtuosen weiter. Die 1990 gegründete Zappanale in Bad Doberan in Mecklenburg-Vorpommern bereitet schon das nächste Festival für den 19. bis 21. Juli 2019 vor, die Fans können mitbestimmen. Angefragt sind Mothers-of-Invention-Urgestein Ian Underwood und Gitarrist Steve Vai, mit dem Zappa Family Trust wird über eine Hologrammshow verhandelt.
In Wien tragen Hallucination-Company-Gründer Wickerl Adam und Falcos einstiger Gitarrist Conrad Schrenk zum Revival von Zappas bester Musik bei, Zappanale-Organisator Wolfhard Kutz kam extra nach Wien in die Riemergasse gereist, um "The Torture Never Stops" anlässlich der 77. Wiederkehr von Zappas Geburtstag zu hören. Adam und Schrenk, Vokalistin Sabrina Winter, Peter Dürr, Anzo Morawitz u.a. ließen "Dirty Love" und mehr im Porgy&Bess erklingen und gingen im Sommer auf der Zappanale on stage; am 27. Dezember sind sie wieder im Wiener Jazzclub zu hören. Im Mai 2018 waren Don Preston und die Grandmothers of Invention mit Zappa-Werken ebendort zu hören gewesen.
Zerstrittene Erben
Nach wie vor sind die Bewahrer des musikalischen Vermächtnisses mit Hindernissen konfrontiert, die Nachfahren bilden ein zerstrittenes Mixed-Doppel: Ahmet und Diva (die jüngeren) auf der einen, Moon Unit und Dweezil (die älteren) auf der anderen Seite. Ahmet untersagte seinem Bruder die "Zappa plays Zappa"-Shows. Gitarrist Vai beschwor daraufhin per Film ("The Guitar Lesson") seine Rolle als Ersatzvater, er unterrichtete Dweezil, den einzigen Musiker unter den leiblichen Zappa-Erben, der im nächsten Herbst bereits 50 Jahre alt wird.
Schwester Moon hat sich als Musikproduzentin einen Namen gemacht, sie drehte die Zappa-Doku "Eat That Question" unter der Regie des deutschen Filmemachers Thorsten Schütte. Das sperrige, symphonische Werk des Alleskönners führt allerdings nur mehr ein Schattendasein.
Dem London Contemporary Orchestra gelang es, dem Edgar Varèse nachempfundene Zappa-Spätwerk "Yellow Shark" beim Roundhouse Festival zum "70er" kurzfristig Leben einzuhauchen, andere Spitzenorchester scheinen Zappa aus ihrem Repertoire gestrichen zu haben.
Was bleibt, ist ein vielfältiges Rock-Vermächtnis auf Tonträgern, die eher schwer verdauliche neu aufgelegte Tony-Palmer-DVD "200 Motels" sowie die Erinnerungen an jenen Musiker, der einst meinte: "Ihr müsst verrückt bleiben, auch wenn ihr Österreicher seid!"
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Gerhard Strejcek
T.C. Boyle, Popstar der Weltliteratur
Wiener Zeitung, 30.11.2018
Er schreibt über Außenseiter, Minderheiten und die gefährdete Umwelt: Zum 70er des US-Autors.
Am 2. Dezember wird der amerikanische Autor Thomas Coraghessan Boyle siebzig Jahre alt, der gerne mit Dickens oder Updike, aber auch mit Punks, Hippies und Rockstars verglichen wird. Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich, und so passen diese Epitheta nicht so recht zusammen, autobiografisch-authentisch wäre nur der Punk (Boyle: "Ich bin ein Punk, der Regeln will").
Ein Geschenk in Form eines neuen, psychedelischen Romans ("Das Licht"/"Outside Looking In" im Original) bringt er in Kürze - die Lesereise nach Europa startet im Jänner 2019 - im Handgepäck mit. Von Greisenhaftigkeit weit entfernt ("70 ist das neue 50!"), kann der an der University of Southern California lehrende Literatur-Professor stolz darauf verweisen, ziemlich genauso alt wie die Erklärung der Menschenrechte zu sein, die von der Hauptversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündet wurde.
Auf seine eigene, kunstvoll-bilderreiche Art wirkt der immer "casual" gekleidete Boyle als Pro-tagonist und Verfechter der Menschenrechte, denn ein Großteil seiner Prosa gilt benachteiligten Personen und Outsidern, verwundbaren Minderheiten und der gefährdeten Umwelt. Vorausschauend und zugleich rückblickend warnt er vor Experimenten in virtuellen Lebensräumen wie in "Die Terranauten" (2017).
Schwarzer Humorist
Wie sein Lehrer John Irving, bei dem Boyle in Iowa in die "Schreibschule" ging, versteht er es, aus Katastrophen pechschwarze Humoresken zu gestalten - zuletzt in "Balto", einer der zwanzig Stories in "Good Home" (2018). Indem der Leser schmunzelt, wächst sein Verständnis für das Schicksal der Akteure, die Boyle oft aus historischen Figuren auswählt. Dieses Muster wandte er schon 1982 auf den schottischen Afrika-Forscher Munro an, dessen Erfolge und Scheitern am Niger er in dem Roman "Water Music" schilderte. Eine andere reale Figur ist Alfred Kinsey ("Dr. Sex"), den Boyle als sexsüchtig beschreibt.
Bizarre Wendungen und Metaphern durchziehen Boyles Prosa, für manche überdosiert, andere Leser delektieren sich an unkonventionellen Bildern, wie etwa jenem eines simplen Begrüßungsrituals: Eine kalte Mädchenhand fühlt sich an wie die "glotzäugigen Barsche", die ein Student im Biolabor sezieren muss ("World’s End"). Falter strömen "wie Konfetti" in die Kuppel eines Doms, eine Naturheilerin hat ein Gesicht "wie eine Senkgrube", ein "Marimba-Geprassel von Steinen" ergießt sich bei einer Vollbremsung auf den Fahrzeug-Unterboden ("América").
Boyles erster Erfolgsroman nach literarischen Gehversuchen in den Siebzigerjahren war "Water Music" (1982), der endgültige Durchbruch kam mit dem Roman "World’s End" 1987 (PEN/Faulkner-Preis), einem Siedler-Epos, das den niederländischen Vorfahren am Hudson-River gewidmet ist. Wortgewaltig wob der Pop-Poet die Handlung in historisch verschüttete Details ein, er erinnert an die holländischen Wurzeln von Brooklyn und dem Big Apple. Peter Stuyvesants Gründung von New York als Nieuw Amsterdam ist heute nur noch Rauchern und Amerikanisten geläufig. Der in einer Zigarettenmarke verewigte Niederländer war laut Boyle ein "Raufbold mit Holzbein". Ab dem 9. 9. 1664 hatten die Briten in "Manhattoes" das Sagen, ehe um 1776 die Unabhängigkeitserklärung und 125 Jahre nach der Anglisierung New Yorks die große Enttäuschung erfolgte, dass die Hauptstadt der USA woanders entstehen sollte.
Irische Vorfahren
In den hölzernen, aber pulsierend-modernen Bauten der aufstrebenden Metropole New York, das damals noch weit von einer Millionenstadt entfernt war, regte sich Unmut über das schwül-sumpfige Washington, das sein Namensgeber nie bezogen hat. Waren es nicht die Bürger von New York gewesen, an welche die hoch gebildeten Verfassungsexperten James Madison, Alexander Hamilton und John Jay die "Federalist Papers" adressiert hatten, um sie 1788 zur Zustimmung für die Bundesverfassung zu gewinnen? Boyle nimmt aber nicht diese Intellektuellen ins Visier, sondern die geldgierigen holländischen Kaufleute, die ihre Landsleute ausbeuteten und die Indianer betrogen.
Aufgewachsen ist der Autor unweit dieser historischen Stätten am Hudson River in Peekskill, einer Kleinstadt im Bundesstaat New York, die von Wäldern umgeben ist. Sein Studium absolvierte er in Iowa im mittleren Westen, die Familiengründung erfolgte an den Gestaden des Pazifiks. Seit Boyle in Montecito bei Santa Barbara in Kalifornien lebt, hat er sich schrittweise vom Ost- zum Westamerikaner entwickelt. Vom drogenaffinen Schulversager schwang er sich zu einem produktiv-diszipliniert Schreibenden auf.
Aus einer Kindheit mit alkoholkranken Eltern emanzipierte er sich zum verantwortungsbewussten Familienvater mit drei Kindern, dem die Natur wichtiger ist als das Treiben in Clubs. Dass sich Thomas John Boyle zu einer Lichtgestalt der literarischen Popszene entwickeln würde, hätte niemand prognostiziert. Den irischen Ahnennamen "Coraghessan" grub er selbst aus, seit dem 17. Lebensjahr trägt er ihn als Markenzeichen.
In Österreich und Deutschland hat der unkonventionell Schreibende eine treue Lesergemeinde, was exzellenten Übersetzern geschuldet ist (Anette Grube, Dirk van Gunsteren, Walter Richter). Als Autor ist er ein Gewinn für den deutschen Verlag Hanser und ein Werber in eigener Sache, der verlässlich und eloquent als Vortragender amtiert. Am 12. Fe-bruar wird er etwa in Innsbruck (als bisher einzigem Österreich-Termin) aus seinem neuen Werk "Das Licht", einem LSD-Roman, lesen.
Interessanterweise geht die deutsche Übersetzung diesmal der Originalpublikation voran, weshalb Besucher seiner Lesung Zeugen einer literarischen Pre-miere werden können. Boyle-Präsentationen, die hierzulande immer auf Englisch, aber zumeist unter Begleitung deutschsprachiger Gäste inszeniert werden, sind ein multimedial-mehrsprachiges Erlebnis.
Die schlanke "Schreibmaschine" bringt jährlich einen Roman oder einen Kurzgeschichtenband heraus. Als Literatur-Punk trägt er "etwas Blech" im Gesicht; Spitzbart und rote Converse-Latschen runden das Bild des sensi-blen Künstlers mit einer irischen Note ab. Das "Grün" der Insel, welche die hungernden Vorfahren verließen, spiegelt sich in seinem ökologischen Gewissen und im Roman "Als das Schlachten begann" (2011). Boyle geht auch ins Utopische, wie "Die Terranauten" zeigen, worin er 2017 das Experiment "Biosphere 2" im benachbarten Arizona in eine Beziehungsgeschichte von sieben Personen einwob. Als genau recherchierender Autor versteht es T.C. Boyle, Entwicklungen hinter Glas mit der Außenwelt zu verbinden und Interessenkonflikte aufzuzeigen, die etwa innerhalb der Öko-Bewegung herrschen.
Boyle und Zappa
Saxofonspieler Boyle erinnert ein wenig an den aus Baltimore stammenden Frank Zappa, denn beide sind Meister expliziter und schonungsloser Texte. Boyle hat Frauen eindrucksvoll in ihrer sozialen Einbettung geschildert ("América"); Zappa, der als Pornograf vorbestraft war, förderte schon in den 1960ern eine Mädchenband namens The GTOs und ließ als gereifter Bandleader auch seine Tochter Moon ans Mikrophon. Beide Autoren können den Lachmuskel strapazieren (erinnert sei u.a. an Zappas "dental floss tycoon" in Montana, seinen sexsüchtig-ausnützerischen Collegeboy "Bobby Brown" und an seinen beißenden Spott über die italienischstämmigen Hollywood-Produzenten mittels der Kunstfigur "Warren Cucurullo").
Boyle zeigt ähnliche Phänomene anhand von biografisch orientierten Romanen auf, er wagt sich an die "großen Themen" heran, wie sein Schriftstellerkollege Bret Easton Ellis anerkennend schrieb.
In Wien wurde sein zwölfter Roman, "América", über eine mexikanische Proletarierin, die ihr Baby im Freien zur Welt bringen muss, 2013 als Gratisbuch verteilt. "The Tortilla Curtain", wie das Buch im Originaltitel heißt, beschreibt den gesellschaftlich, aber auch faktisch massiver werdenden Grenzzaun zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko. Als der Roman um 1995 entstand, war US-Präsident Trump noch kein politisches Thema, wohl aber der kulturell-monetäre "gap". Hausangestellte und Hilfsarbeiter müssen als billige Arbeitssklaven den Luxus der Reichen und Schönen gewährleisten. Delany Mossbacher, ein deutschstämmiger Bürger, gerät in einen Verkehrsunfall, dann nimmt das Schicksal seinen Lauf. Das Schmerzensgeld beträgt nur rund 20 Euro, denn das Opfer stammt aus der Szene von illegalen Arbeitsmigranten.
Kritische Kommentare
In manchen Punkten hat Boyle die Trump-Ära vorweggenommen, seine heutigen politischen Kommentare sind überaus kritisch. Aber seine Analysen sind differenzierend, wie auch Boyles Hippieroman "Drop City" zeigt. Der Autor, der selbst kein "Blumenkind" ist, schildert eine Kolonie, die sich ins raue Alaska aufmacht, um dort zu scheitern.
Auch gegenüber der sexuellen Revolution zeigt Boyle Vorbehalte auf. Der sensibel verfasste Kinsey-Roman "Dr. Sex" (im Original mehrdeutig "The Inner Circle" benannt) dokumentiert Aufklärungsarbeit nach Freudianischem Muster. Die Spannung steigt ins Unermessliche, weil Dr. Sex alias "Prok" die Dinge im Hörsaal beim Namen nennt und großformatig-einschlägige Diapositive an die Wand projiziert - ein Kulturschock in den prüden USA. Doch der Sexologe wird zum promiskuitiven Despoten, der in Missbrauchsverdacht gerät und seine Schülerinnen verstört.
Der 1894 geborene Biologe Alfred Kinsey starb 1956, seine Datenerfassungen und publizistischen Erfolge über die männliche und weibliche Sexualität sind Anlass, berührende (fiktive) Einzelschicksale auszubreiten. Der Autor entlarvt den angeblich unbeschwert-leichten Zugang zur freien Sexualität, der meist in einem Desaster der Gefühle endet. Diese Beispiele, die in der 20 Kurzgeschichten umfassenden Kompilation "Good Home" ihre würdige Fortsetzung finden, zeigen Tiefe und Anspruch, geballte Schreibkraft und Phantasie dieses wichtigen zeitgenössischen Autors.
Information:
Zuletzt von T. Coraghessan Boyle auf Deutsch erschienen:
"Die Terranauten", Roman, 2017,
"Good Home", Stories, 2018.
Der Roman "Das Licht" erscheint 2019, alle Bücher bei Hanser.
Am 2. Dezember wird der amerikanische Autor Thomas Coraghessan Boyle siebzig Jahre alt, der gerne mit Dickens oder Updike, aber auch mit Punks, Hippies und Rockstars verglichen wird. Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich, und so passen diese Epitheta nicht so recht zusammen, autobiografisch-authentisch wäre nur der Punk (Boyle: "Ich bin ein Punk, der Regeln will").
Ein Geschenk in Form eines neuen, psychedelischen Romans ("Das Licht"/"Outside Looking In" im Original) bringt er in Kürze - die Lesereise nach Europa startet im Jänner 2019 - im Handgepäck mit. Von Greisenhaftigkeit weit entfernt ("70 ist das neue 50!"), kann der an der University of Southern California lehrende Literatur-Professor stolz darauf verweisen, ziemlich genauso alt wie die Erklärung der Menschenrechte zu sein, die von der Hauptversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündet wurde.
Auf seine eigene, kunstvoll-bilderreiche Art wirkt der immer "casual" gekleidete Boyle als Pro-tagonist und Verfechter der Menschenrechte, denn ein Großteil seiner Prosa gilt benachteiligten Personen und Outsidern, verwundbaren Minderheiten und der gefährdeten Umwelt. Vorausschauend und zugleich rückblickend warnt er vor Experimenten in virtuellen Lebensräumen wie in "Die Terranauten" (2017).
Schwarzer Humorist
Wie sein Lehrer John Irving, bei dem Boyle in Iowa in die "Schreibschule" ging, versteht er es, aus Katastrophen pechschwarze Humoresken zu gestalten - zuletzt in "Balto", einer der zwanzig Stories in "Good Home" (2018). Indem der Leser schmunzelt, wächst sein Verständnis für das Schicksal der Akteure, die Boyle oft aus historischen Figuren auswählt. Dieses Muster wandte er schon 1982 auf den schottischen Afrika-Forscher Munro an, dessen Erfolge und Scheitern am Niger er in dem Roman "Water Music" schilderte. Eine andere reale Figur ist Alfred Kinsey ("Dr. Sex"), den Boyle als sexsüchtig beschreibt.
Bizarre Wendungen und Metaphern durchziehen Boyles Prosa, für manche überdosiert, andere Leser delektieren sich an unkonventionellen Bildern, wie etwa jenem eines simplen Begrüßungsrituals: Eine kalte Mädchenhand fühlt sich an wie die "glotzäugigen Barsche", die ein Student im Biolabor sezieren muss ("World’s End"). Falter strömen "wie Konfetti" in die Kuppel eines Doms, eine Naturheilerin hat ein Gesicht "wie eine Senkgrube", ein "Marimba-Geprassel von Steinen" ergießt sich bei einer Vollbremsung auf den Fahrzeug-Unterboden ("América").
Boyles erster Erfolgsroman nach literarischen Gehversuchen in den Siebzigerjahren war "Water Music" (1982), der endgültige Durchbruch kam mit dem Roman "World’s End" 1987 (PEN/Faulkner-Preis), einem Siedler-Epos, das den niederländischen Vorfahren am Hudson-River gewidmet ist. Wortgewaltig wob der Pop-Poet die Handlung in historisch verschüttete Details ein, er erinnert an die holländischen Wurzeln von Brooklyn und dem Big Apple. Peter Stuyvesants Gründung von New York als Nieuw Amsterdam ist heute nur noch Rauchern und Amerikanisten geläufig. Der in einer Zigarettenmarke verewigte Niederländer war laut Boyle ein "Raufbold mit Holzbein". Ab dem 9. 9. 1664 hatten die Briten in "Manhattoes" das Sagen, ehe um 1776 die Unabhängigkeitserklärung und 125 Jahre nach der Anglisierung New Yorks die große Enttäuschung erfolgte, dass die Hauptstadt der USA woanders entstehen sollte.
Irische Vorfahren
In den hölzernen, aber pulsierend-modernen Bauten der aufstrebenden Metropole New York, das damals noch weit von einer Millionenstadt entfernt war, regte sich Unmut über das schwül-sumpfige Washington, das sein Namensgeber nie bezogen hat. Waren es nicht die Bürger von New York gewesen, an welche die hoch gebildeten Verfassungsexperten James Madison, Alexander Hamilton und John Jay die "Federalist Papers" adressiert hatten, um sie 1788 zur Zustimmung für die Bundesverfassung zu gewinnen? Boyle nimmt aber nicht diese Intellektuellen ins Visier, sondern die geldgierigen holländischen Kaufleute, die ihre Landsleute ausbeuteten und die Indianer betrogen.
Aufgewachsen ist der Autor unweit dieser historischen Stätten am Hudson River in Peekskill, einer Kleinstadt im Bundesstaat New York, die von Wäldern umgeben ist. Sein Studium absolvierte er in Iowa im mittleren Westen, die Familiengründung erfolgte an den Gestaden des Pazifiks. Seit Boyle in Montecito bei Santa Barbara in Kalifornien lebt, hat er sich schrittweise vom Ost- zum Westamerikaner entwickelt. Vom drogenaffinen Schulversager schwang er sich zu einem produktiv-diszipliniert Schreibenden auf.
Aus einer Kindheit mit alkoholkranken Eltern emanzipierte er sich zum verantwortungsbewussten Familienvater mit drei Kindern, dem die Natur wichtiger ist als das Treiben in Clubs. Dass sich Thomas John Boyle zu einer Lichtgestalt der literarischen Popszene entwickeln würde, hätte niemand prognostiziert. Den irischen Ahnennamen "Coraghessan" grub er selbst aus, seit dem 17. Lebensjahr trägt er ihn als Markenzeichen.
In Österreich und Deutschland hat der unkonventionell Schreibende eine treue Lesergemeinde, was exzellenten Übersetzern geschuldet ist (Anette Grube, Dirk van Gunsteren, Walter Richter). Als Autor ist er ein Gewinn für den deutschen Verlag Hanser und ein Werber in eigener Sache, der verlässlich und eloquent als Vortragender amtiert. Am 12. Fe-bruar wird er etwa in Innsbruck (als bisher einzigem Österreich-Termin) aus seinem neuen Werk "Das Licht", einem LSD-Roman, lesen.
Interessanterweise geht die deutsche Übersetzung diesmal der Originalpublikation voran, weshalb Besucher seiner Lesung Zeugen einer literarischen Pre-miere werden können. Boyle-Präsentationen, die hierzulande immer auf Englisch, aber zumeist unter Begleitung deutschsprachiger Gäste inszeniert werden, sind ein multimedial-mehrsprachiges Erlebnis.
Die schlanke "Schreibmaschine" bringt jährlich einen Roman oder einen Kurzgeschichtenband heraus. Als Literatur-Punk trägt er "etwas Blech" im Gesicht; Spitzbart und rote Converse-Latschen runden das Bild des sensi-blen Künstlers mit einer irischen Note ab. Das "Grün" der Insel, welche die hungernden Vorfahren verließen, spiegelt sich in seinem ökologischen Gewissen und im Roman "Als das Schlachten begann" (2011). Boyle geht auch ins Utopische, wie "Die Terranauten" zeigen, worin er 2017 das Experiment "Biosphere 2" im benachbarten Arizona in eine Beziehungsgeschichte von sieben Personen einwob. Als genau recherchierender Autor versteht es T.C. Boyle, Entwicklungen hinter Glas mit der Außenwelt zu verbinden und Interessenkonflikte aufzuzeigen, die etwa innerhalb der Öko-Bewegung herrschen.
Boyle und Zappa
Saxofonspieler Boyle erinnert ein wenig an den aus Baltimore stammenden Frank Zappa, denn beide sind Meister expliziter und schonungsloser Texte. Boyle hat Frauen eindrucksvoll in ihrer sozialen Einbettung geschildert ("América"); Zappa, der als Pornograf vorbestraft war, förderte schon in den 1960ern eine Mädchenband namens The GTOs und ließ als gereifter Bandleader auch seine Tochter Moon ans Mikrophon. Beide Autoren können den Lachmuskel strapazieren (erinnert sei u.a. an Zappas "dental floss tycoon" in Montana, seinen sexsüchtig-ausnützerischen Collegeboy "Bobby Brown" und an seinen beißenden Spott über die italienischstämmigen Hollywood-Produzenten mittels der Kunstfigur "Warren Cucurullo").
Boyle zeigt ähnliche Phänomene anhand von biografisch orientierten Romanen auf, er wagt sich an die "großen Themen" heran, wie sein Schriftstellerkollege Bret Easton Ellis anerkennend schrieb.
In Wien wurde sein zwölfter Roman, "América", über eine mexikanische Proletarierin, die ihr Baby im Freien zur Welt bringen muss, 2013 als Gratisbuch verteilt. "The Tortilla Curtain", wie das Buch im Originaltitel heißt, beschreibt den gesellschaftlich, aber auch faktisch massiver werdenden Grenzzaun zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko. Als der Roman um 1995 entstand, war US-Präsident Trump noch kein politisches Thema, wohl aber der kulturell-monetäre "gap". Hausangestellte und Hilfsarbeiter müssen als billige Arbeitssklaven den Luxus der Reichen und Schönen gewährleisten. Delany Mossbacher, ein deutschstämmiger Bürger, gerät in einen Verkehrsunfall, dann nimmt das Schicksal seinen Lauf. Das Schmerzensgeld beträgt nur rund 20 Euro, denn das Opfer stammt aus der Szene von illegalen Arbeitsmigranten.
Kritische Kommentare
In manchen Punkten hat Boyle die Trump-Ära vorweggenommen, seine heutigen politischen Kommentare sind überaus kritisch. Aber seine Analysen sind differenzierend, wie auch Boyles Hippieroman "Drop City" zeigt. Der Autor, der selbst kein "Blumenkind" ist, schildert eine Kolonie, die sich ins raue Alaska aufmacht, um dort zu scheitern.
Auch gegenüber der sexuellen Revolution zeigt Boyle Vorbehalte auf. Der sensibel verfasste Kinsey-Roman "Dr. Sex" (im Original mehrdeutig "The Inner Circle" benannt) dokumentiert Aufklärungsarbeit nach Freudianischem Muster. Die Spannung steigt ins Unermessliche, weil Dr. Sex alias "Prok" die Dinge im Hörsaal beim Namen nennt und großformatig-einschlägige Diapositive an die Wand projiziert - ein Kulturschock in den prüden USA. Doch der Sexologe wird zum promiskuitiven Despoten, der in Missbrauchsverdacht gerät und seine Schülerinnen verstört.
Der 1894 geborene Biologe Alfred Kinsey starb 1956, seine Datenerfassungen und publizistischen Erfolge über die männliche und weibliche Sexualität sind Anlass, berührende (fiktive) Einzelschicksale auszubreiten. Der Autor entlarvt den angeblich unbeschwert-leichten Zugang zur freien Sexualität, der meist in einem Desaster der Gefühle endet. Diese Beispiele, die in der 20 Kurzgeschichten umfassenden Kompilation "Good Home" ihre würdige Fortsetzung finden, zeigen Tiefe und Anspruch, geballte Schreibkraft und Phantasie dieses wichtigen zeitgenössischen Autors.
Information:
Zuletzt von T. Coraghessan Boyle auf Deutsch erschienen:
"Die Terranauten", Roman, 2017,
"Good Home", Stories, 2018.
Der Roman "Das Licht" erscheint 2019, alle Bücher bei Hanser.
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Gerhard Strejcek
Aus dem großen See der Wörter
Wiener Zeitung, 17.11.2018
Der österreichische Schriftsteller Janko Ferk wartet mit so lustvoll wie feinsinnig gefertigten Kürzestgeschichten auf.
In einem Zug von Klagenfurt nach Wien, in den nach dem Aussteigen einer aufgeregt lärmenden und herumwuselnden Schülergruppe etwas Ruhe Einzug gehalten hat, sitzt ein Autor in einem Abteil und schreibt. Er hat eine Schreibunterlage auf den Knien, neben ihm liegt eine zerknautschte Tasche, in der sich mindestens zehn Bücher und etwas Wäsche befinden. Der Autor versinkt lustvoll in den Vorgang des "Kritzelns", wie es Kafka genannt hat. Wort für Wort bannt er auf ein weißes Blatt. Die Kürzestgeschichte von Janko Ferk hat eine Pointe: weiße Socken. So lautet auch ihr Titel, der zum Nachdenken anregt.
Raum für Gedanken
Die in Österreich leider seltene Kunstform der Kürzestgeschichte lässt Raum für Phantasie - etwa über die Schülergruppe, die darin gar nicht vorkommt - und sie belässt den Lesenden allein mit seinen Gedanken und Interpretationen. Hier bleibt Raum auf dem weißen Blatt der Buchseite, nur verbietet es sich, anders als virtuell darauf weiter zu schreiben.
Janko Ferks "story" regt an, darüber nachzudenken, wie wohltuend gleichgültig und unaufgeregt der Autor weiße Socken ansieht. Dennoch schwingt sich des Lesers Geist, Geruchs- und Tastsinn bemühend, unwillkürlich in ungeahnte Höhen, er denkt an Polyesterhemden, an des Ex-Bundeskanzlers rote Socken in der Hofburg oder an die soziale Konnotation weißer Socken, die einst als "unmöglich", noch früher aber als sportlich galten und auch im Freizeitbereich "hip" waren und heute sogar schon wieder als unkonventionelle Provokation maskuliner Träger durchgehen können.
Die weißen Socken haben auch eine dialektische Bedeutung, wenn die Füße, welche sie wärmen und schützen sollen, einem Berufsrichter wie Janko Ferk gehören. Denn das "Amtskleid" des Richters verlangt eine dunkle Krawatte und schwarze Socken oder Kniestrümpfe. Widmet sich aber ein Richter außerhalb des Dienstes dem Sport oder dem Schreiben, dann bedeuten weiße Socken auch Bewegung, Ungezwungenheit und Freiraum.
Der Sammelband "Zwischenergebnis", dessen Gesamttitel als vorläufige Lebens- und Schaffensbilanz keiner Erläuterung bedarf, vereint anlässlich des 60. Geburtstags von Ferk (11. Dezember) belletristische Texte in chronologischer Reihenfolge. Nicht alle sind so kurz wie die "weißen Socken", die nur bis zur Wade reichen, es finden sich auch Kurzgeschichten, Novellen, experimentelle Prosa. Ein Lieblingstext des Rezensenten ist "Er", in dem das "Klimpern" einer Gitarre im Nebenraum förmlich hörbar wird, das im Text nur "er" vernimmt.
Ferk meint hier die rohe Behandlung des Instruments, in der Regel klimpern ja Unkundige auf Tasteninstrumenten, so wie der Rezensent einst auf dem "Blüthner" der Großmutter Clara in Währing oder auf dem Pianino der Tante Marietta in Gaaden.
Beim Wort nehmen
Es gibt freilich Virtuosen, welche als Pianisten eine Gitarre wie ein Klavier spielen können, etwa der amerikanische Meister Ralph Towner, der auch schon in Kärnten, unweit von Ferks Heimatort, aufgetreten ist. Dreiecke kommen in der Geschichte ebenfalls vor, und schon beflügeln diese die Phantasie wieder: das Plektrum ist dreieckig, aber auch so manches Abzeichen. "Indem ich den Gedanken beim Wort nehme, kommt er", könnte nach Karl Kraus das Motto des lustvoll Schreibenden und feinsinnigen Formulierenden lauten. Beim Lesen heißt es auf alle Einzelheiten zu achten, auch auf die slowenischen Topografica. "Landvermessung auf literarischem Weg" hat dies Konrad-Paul Liessmann treffend genannt.
Robert Gernhardt verfremdete den Wörthersee, den der am Klopeinersee geborene Ferk oft besucht (und von wo es nicht weit ist zum Klagenfurter Landesgericht, wo er als Richter wirkt), ganz bewusst zum "Wörtersee". Im "Zwischenergebnis" erkennt man, wie selektiv und sensibel Janko Ferk aus dem großen See der Wörter fischt, um uns Lesern zu Genuss und Reflexion zu verhelfen. Ad multos annos!
Information:
Janko Ferk
Zwischenergebnis
Gesammelte Prosa.
Leykam, Graz, 2018, 244 Seiten
In einem Zug von Klagenfurt nach Wien, in den nach dem Aussteigen einer aufgeregt lärmenden und herumwuselnden Schülergruppe etwas Ruhe Einzug gehalten hat, sitzt ein Autor in einem Abteil und schreibt. Er hat eine Schreibunterlage auf den Knien, neben ihm liegt eine zerknautschte Tasche, in der sich mindestens zehn Bücher und etwas Wäsche befinden. Der Autor versinkt lustvoll in den Vorgang des "Kritzelns", wie es Kafka genannt hat. Wort für Wort bannt er auf ein weißes Blatt. Die Kürzestgeschichte von Janko Ferk hat eine Pointe: weiße Socken. So lautet auch ihr Titel, der zum Nachdenken anregt.
Raum für Gedanken
Die in Österreich leider seltene Kunstform der Kürzestgeschichte lässt Raum für Phantasie - etwa über die Schülergruppe, die darin gar nicht vorkommt - und sie belässt den Lesenden allein mit seinen Gedanken und Interpretationen. Hier bleibt Raum auf dem weißen Blatt der Buchseite, nur verbietet es sich, anders als virtuell darauf weiter zu schreiben.
Janko Ferks "story" regt an, darüber nachzudenken, wie wohltuend gleichgültig und unaufgeregt der Autor weiße Socken ansieht. Dennoch schwingt sich des Lesers Geist, Geruchs- und Tastsinn bemühend, unwillkürlich in ungeahnte Höhen, er denkt an Polyesterhemden, an des Ex-Bundeskanzlers rote Socken in der Hofburg oder an die soziale Konnotation weißer Socken, die einst als "unmöglich", noch früher aber als sportlich galten und auch im Freizeitbereich "hip" waren und heute sogar schon wieder als unkonventionelle Provokation maskuliner Träger durchgehen können.
Die weißen Socken haben auch eine dialektische Bedeutung, wenn die Füße, welche sie wärmen und schützen sollen, einem Berufsrichter wie Janko Ferk gehören. Denn das "Amtskleid" des Richters verlangt eine dunkle Krawatte und schwarze Socken oder Kniestrümpfe. Widmet sich aber ein Richter außerhalb des Dienstes dem Sport oder dem Schreiben, dann bedeuten weiße Socken auch Bewegung, Ungezwungenheit und Freiraum.
Der Sammelband "Zwischenergebnis", dessen Gesamttitel als vorläufige Lebens- und Schaffensbilanz keiner Erläuterung bedarf, vereint anlässlich des 60. Geburtstags von Ferk (11. Dezember) belletristische Texte in chronologischer Reihenfolge. Nicht alle sind so kurz wie die "weißen Socken", die nur bis zur Wade reichen, es finden sich auch Kurzgeschichten, Novellen, experimentelle Prosa. Ein Lieblingstext des Rezensenten ist "Er", in dem das "Klimpern" einer Gitarre im Nebenraum förmlich hörbar wird, das im Text nur "er" vernimmt.
Ferk meint hier die rohe Behandlung des Instruments, in der Regel klimpern ja Unkundige auf Tasteninstrumenten, so wie der Rezensent einst auf dem "Blüthner" der Großmutter Clara in Währing oder auf dem Pianino der Tante Marietta in Gaaden.
Beim Wort nehmen
Es gibt freilich Virtuosen, welche als Pianisten eine Gitarre wie ein Klavier spielen können, etwa der amerikanische Meister Ralph Towner, der auch schon in Kärnten, unweit von Ferks Heimatort, aufgetreten ist. Dreiecke kommen in der Geschichte ebenfalls vor, und schon beflügeln diese die Phantasie wieder: das Plektrum ist dreieckig, aber auch so manches Abzeichen. "Indem ich den Gedanken beim Wort nehme, kommt er", könnte nach Karl Kraus das Motto des lustvoll Schreibenden und feinsinnigen Formulierenden lauten. Beim Lesen heißt es auf alle Einzelheiten zu achten, auch auf die slowenischen Topografica. "Landvermessung auf literarischem Weg" hat dies Konrad-Paul Liessmann treffend genannt.
Robert Gernhardt verfremdete den Wörthersee, den der am Klopeinersee geborene Ferk oft besucht (und von wo es nicht weit ist zum Klagenfurter Landesgericht, wo er als Richter wirkt), ganz bewusst zum "Wörtersee". Im "Zwischenergebnis" erkennt man, wie selektiv und sensibel Janko Ferk aus dem großen See der Wörter fischt, um uns Lesern zu Genuss und Reflexion zu verhelfen. Ad multos annos!
Information:
Janko Ferk
Zwischenergebnis
Gesammelte Prosa.
Leykam, Graz, 2018, 244 Seiten
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Gerhard Strejcek
Reizvolles Scheitern einer Utopie
Wiener Zeitung, 10.11.2018
Der österreichische Autor Andreas Schindl erinnert mit seinem Romandebüt "Paurs Traum" an das wahnhafte Individualprojekt eines Advokaten und Freimaurers.
Andreas Schindls Debütroman handelt von der Vision eines Advokaten und Freimaurers in der theresianischen Epoche, der eine "ideale Stadt" konzipiert. Das Sujet und dessen Urheber und Betreiber sind keine Erfindung des Wiener Dermatologen und Fachbuchautors, denn der Hofadvokat Leopold Paur lebte tatsächlich unter der Herrschaft der Erzherzogin und Kaisergattin sowie ihrer Söhne Josef II. und Leopold II., ehe er um 1800 verarmt aus dem Leben schied.
Wie weit sich Paur nun wirklich in die Wahnsinnsidee verstieg, aus einem unausgereiften Plan eine Lebensaufgabe zu machen, bleibt der Formulierungskunst und Phantasie des Autors vorbehalten, der nach zwei beachtlichen, nicht unsatirischen Fachbüchern über Österreich als "das Land zwischen den Gedankenstrichen" (2014) und die oftmals skurrilen Berufsbezeichnungen auf Wiener Grabsteinen den mutigen Schritt in die Fiktion wagt. Dass er sich die Freimauerei in der Epoche der Aufklärung als Rahmen für ein wahnhaftes Individualprojekt und -schicksal wählt, ist mutig. Immerhin bedarf es dafür eines stimmigen Aufbaus, einer exakten, zeitgemäßen Terminologie und einer ironieversetzten Fabuliergabe, welche den hohen Maßstäben eines Robert Musil oder Jörg Mauthe gerecht werden sollte.
Stadt auf dem Reißbrett
Anders als sein Held scheitert Andreas Schindl mit diesem utopisch anmutenden Romanprojekt nicht. Seine Begabung liegt darin, das Wiener Lokalkolorit wie auch die maurerischen Differenzen und Grabenkämpfe des 18. Jahrhunderts auf spannende und dabei unaufdringlich bildende Art zu vermitteln. Womöglich hätte auch Paur reüssieren können, denn die Stadt auf dem Reißbrett ist keine Erfindung der Jetztzeit oder eines österreichischen Kunstmalers um 1910, der ab 1933 zum Diktator wurde. So haben sich in den USA (Washington 1794) und (viel später) in Brasi-lien Architekten und Planer mit einer den Idealen der Aufklärung sowie der Moderne verbundenen Metropole befasst - und diese auch umgesetzt.
Bedenkt man, dass Washington in eine versumpfte Gegend mit mückenverseuchtem Feuchtklima hinein versetzt wurde, was die an Meeresluft und Gutshofatmosphäre gewöhnten, frankophilen Patrizier à la James Madison verstörte, so muss man rückblickend die Verwirklichung der Hauptstadt, die ihren Gründer gar nicht mehr beheimatete, als Wunder bezeichnen. Ein Wunder mit Abschlägen freilich, die nicht nur in der hohen Kriminalität zu sehen sind, sondern auch in der Erfolglosigkeit liegen, New York den Status der Wirtschaftsmetropole streitig zu machen. Man hat den Eindruck, die meisten Präsidenten "amtieren" und "residieren" in Washington D.C. zeitweise, wirklich leben aber wollen nur wenige im District of Columbia. In verkleinertem Maßstab gilt das übrigens auch für St. Pölten, das nur von Radl- und Hollabrunn sowie Klosterneuburg aus als "Regierungssitz" bereist wird, ohne den vormaligen Landeshauptmann und dessen Nachfolgerin wirklich zu beheimaten.
Aber zurück zur Utopie des Leopold Paur, welche schon in ihrer unprofessionellen Finanzierung und Kommunikation zum Scheitern verurteilt war. Grundsätzlich interessierte sich der erfolgversprechende Hofadvokat schon frühzeitig für das Bauwesen, aber die "ideale Stadt" konzipierte er vermutlich als freimaurerische Arbeit. Zweifellos stand für diese Idee des gebürtigen Waldviertlers aus Altenburg bei Horn Thomas Morus mit seinem 1516 erschienenen Werk "Utopia" Pate. Zu den späteren berühmten Beispielen des Genres zählen u.a. Tommaso Campanellas Utopie "La città del sole" (1602), H.G. Wells’ "A Modern Utopia" (1905), Aldous Huxleys "Island" (1962) oder Ernest Callenbachs "Ecotopia" aus dem Jahre 1975. Schließlich die Wiener Stadtverwaltung mit der Seestadt Aspern (nicht ganz ernst gemeint, aber hier auch passend).
Finanzierungsmodell
Anders als die an die U-Bahn angebundene, jedoch menschen- leere Seestadt, die der Steuerzahler finanziert, wollte Paur die ideale Stadt, die nördlich von Wien im Waldviertel gelegen wäre, mit Anleihen auf ein Medikament (eine Art frühes Antibiotikum als Heilmittel gegen die Syphilis) finanzieren. Er scheiterte schlussendlich an materiellen Nöten und technischen Problemen, obwohl er in einem - von Schindl packend erzählten - Initiationsritus selbst zum Maurer wird.
Seltsamerweise mutet gerade dieser Teil, den Schindl sehr berührend schildert, am wenigsten utopisch an. Die mächtige Bewegung der Freimaurer der theresianischen und josephinischen Epoche brachte nämlich ganz andere Projekte zustande als eine simple Kleinstadt. Kaum ein Pionier jener Zeit konnte ohne Hilfe der "masons" während der Regentschaft Franz Stephans und seiner Gattin, der Königin und Erzherzogin Maria Theresia, reüssieren. Der Kaiser selbst brachte mit Freunden das Zahlenlotto auf Schiene, das er in der Toskana kennengelernt hatte. Maria Theresia und ihr durchaus geliebter Gatte hielten "carati", Anteile als stille Teilhaber, mit denen sie sich an den erfolgreichen Visionen des Lotto-Pächters Ottavio Cataldi beteiligten. In Wien konnte Freiherr von Sonnenfels erstaunliche Leistungen mit Geldern aus Spielen, Manufakturen (Porzellan, Tabak) und Zöllen vollbringen, darunter eine Straßenbeleuchtung. Als ideelle Leistung gilt seine Grundlegung der Kameralwissenschaften und Nationalökonomie merkantilistischer Prägung.
Der empfehlenswerte Roman Schindls spielt in jener Epoche der Aufklärung, in welcher auch die Marktkommunikation bereits bedeutsam wurde. Genau auf dem Gebiet aber versagt der kluge und trotz Stottern gewandte Romanheld Paur kläglich. Statt sich des Netzwerks und der Medien der Habsburger Metropole (z.B. des "Wiener Diarium") zu bedienen, setzt er auf eine bedeutungslose Regionalzeitung in Regensburg, wo er den Reichstag und dessen Delegationen wähnt. Ein Jurist, der in höchsten Hofkreisen verkehrte, sollte nicht so kurzsichtig agiert haben.
Schindls Utopie "am rauen Stein" (Freimaurer-Symbol) lässt Paur vereinsamt für seine Vision sterben. Zwischen Grund- und Grabstein liegen indes fast 400 Seiten Lesevergnügen.
Information:
Andreas Schindl
Paurs Traum
Roman
Braumüller, Wien, 2018, 384 Seiten
Andreas Schindls Debütroman handelt von der Vision eines Advokaten und Freimaurers in der theresianischen Epoche, der eine "ideale Stadt" konzipiert. Das Sujet und dessen Urheber und Betreiber sind keine Erfindung des Wiener Dermatologen und Fachbuchautors, denn der Hofadvokat Leopold Paur lebte tatsächlich unter der Herrschaft der Erzherzogin und Kaisergattin sowie ihrer Söhne Josef II. und Leopold II., ehe er um 1800 verarmt aus dem Leben schied.
Wie weit sich Paur nun wirklich in die Wahnsinnsidee verstieg, aus einem unausgereiften Plan eine Lebensaufgabe zu machen, bleibt der Formulierungskunst und Phantasie des Autors vorbehalten, der nach zwei beachtlichen, nicht unsatirischen Fachbüchern über Österreich als "das Land zwischen den Gedankenstrichen" (2014) und die oftmals skurrilen Berufsbezeichnungen auf Wiener Grabsteinen den mutigen Schritt in die Fiktion wagt. Dass er sich die Freimauerei in der Epoche der Aufklärung als Rahmen für ein wahnhaftes Individualprojekt und -schicksal wählt, ist mutig. Immerhin bedarf es dafür eines stimmigen Aufbaus, einer exakten, zeitgemäßen Terminologie und einer ironieversetzten Fabuliergabe, welche den hohen Maßstäben eines Robert Musil oder Jörg Mauthe gerecht werden sollte.
Stadt auf dem Reißbrett
Anders als sein Held scheitert Andreas Schindl mit diesem utopisch anmutenden Romanprojekt nicht. Seine Begabung liegt darin, das Wiener Lokalkolorit wie auch die maurerischen Differenzen und Grabenkämpfe des 18. Jahrhunderts auf spannende und dabei unaufdringlich bildende Art zu vermitteln. Womöglich hätte auch Paur reüssieren können, denn die Stadt auf dem Reißbrett ist keine Erfindung der Jetztzeit oder eines österreichischen Kunstmalers um 1910, der ab 1933 zum Diktator wurde. So haben sich in den USA (Washington 1794) und (viel später) in Brasi-lien Architekten und Planer mit einer den Idealen der Aufklärung sowie der Moderne verbundenen Metropole befasst - und diese auch umgesetzt.
Bedenkt man, dass Washington in eine versumpfte Gegend mit mückenverseuchtem Feuchtklima hinein versetzt wurde, was die an Meeresluft und Gutshofatmosphäre gewöhnten, frankophilen Patrizier à la James Madison verstörte, so muss man rückblickend die Verwirklichung der Hauptstadt, die ihren Gründer gar nicht mehr beheimatete, als Wunder bezeichnen. Ein Wunder mit Abschlägen freilich, die nicht nur in der hohen Kriminalität zu sehen sind, sondern auch in der Erfolglosigkeit liegen, New York den Status der Wirtschaftsmetropole streitig zu machen. Man hat den Eindruck, die meisten Präsidenten "amtieren" und "residieren" in Washington D.C. zeitweise, wirklich leben aber wollen nur wenige im District of Columbia. In verkleinertem Maßstab gilt das übrigens auch für St. Pölten, das nur von Radl- und Hollabrunn sowie Klosterneuburg aus als "Regierungssitz" bereist wird, ohne den vormaligen Landeshauptmann und dessen Nachfolgerin wirklich zu beheimaten.
Aber zurück zur Utopie des Leopold Paur, welche schon in ihrer unprofessionellen Finanzierung und Kommunikation zum Scheitern verurteilt war. Grundsätzlich interessierte sich der erfolgversprechende Hofadvokat schon frühzeitig für das Bauwesen, aber die "ideale Stadt" konzipierte er vermutlich als freimaurerische Arbeit. Zweifellos stand für diese Idee des gebürtigen Waldviertlers aus Altenburg bei Horn Thomas Morus mit seinem 1516 erschienenen Werk "Utopia" Pate. Zu den späteren berühmten Beispielen des Genres zählen u.a. Tommaso Campanellas Utopie "La città del sole" (1602), H.G. Wells’ "A Modern Utopia" (1905), Aldous Huxleys "Island" (1962) oder Ernest Callenbachs "Ecotopia" aus dem Jahre 1975. Schließlich die Wiener Stadtverwaltung mit der Seestadt Aspern (nicht ganz ernst gemeint, aber hier auch passend).
Finanzierungsmodell
Anders als die an die U-Bahn angebundene, jedoch menschen- leere Seestadt, die der Steuerzahler finanziert, wollte Paur die ideale Stadt, die nördlich von Wien im Waldviertel gelegen wäre, mit Anleihen auf ein Medikament (eine Art frühes Antibiotikum als Heilmittel gegen die Syphilis) finanzieren. Er scheiterte schlussendlich an materiellen Nöten und technischen Problemen, obwohl er in einem - von Schindl packend erzählten - Initiationsritus selbst zum Maurer wird.
Seltsamerweise mutet gerade dieser Teil, den Schindl sehr berührend schildert, am wenigsten utopisch an. Die mächtige Bewegung der Freimaurer der theresianischen und josephinischen Epoche brachte nämlich ganz andere Projekte zustande als eine simple Kleinstadt. Kaum ein Pionier jener Zeit konnte ohne Hilfe der "masons" während der Regentschaft Franz Stephans und seiner Gattin, der Königin und Erzherzogin Maria Theresia, reüssieren. Der Kaiser selbst brachte mit Freunden das Zahlenlotto auf Schiene, das er in der Toskana kennengelernt hatte. Maria Theresia und ihr durchaus geliebter Gatte hielten "carati", Anteile als stille Teilhaber, mit denen sie sich an den erfolgreichen Visionen des Lotto-Pächters Ottavio Cataldi beteiligten. In Wien konnte Freiherr von Sonnenfels erstaunliche Leistungen mit Geldern aus Spielen, Manufakturen (Porzellan, Tabak) und Zöllen vollbringen, darunter eine Straßenbeleuchtung. Als ideelle Leistung gilt seine Grundlegung der Kameralwissenschaften und Nationalökonomie merkantilistischer Prägung.
Der empfehlenswerte Roman Schindls spielt in jener Epoche der Aufklärung, in welcher auch die Marktkommunikation bereits bedeutsam wurde. Genau auf dem Gebiet aber versagt der kluge und trotz Stottern gewandte Romanheld Paur kläglich. Statt sich des Netzwerks und der Medien der Habsburger Metropole (z.B. des "Wiener Diarium") zu bedienen, setzt er auf eine bedeutungslose Regionalzeitung in Regensburg, wo er den Reichstag und dessen Delegationen wähnt. Ein Jurist, der in höchsten Hofkreisen verkehrte, sollte nicht so kurzsichtig agiert haben.
Schindls Utopie "am rauen Stein" (Freimaurer-Symbol) lässt Paur vereinsamt für seine Vision sterben. Zwischen Grund- und Grabstein liegen indes fast 400 Seiten Lesevergnügen.
Information:
Andreas Schindl
Paurs Traum
Roman
Braumüller, Wien, 2018, 384 Seiten
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Gerhard Strejcek
Ein unvollendeter Staat
Wiener Zeitung, 09.11.2018
Kontinuitäten und Brüche zwischen dem Habsburgerreich und der Republik "Deutschösterreich" 1918/19.
Bekanntlich entstand die Republik Deutschösterreich Ende Oktober 1918 (offiziell erst am 12.11., dem "ungeliebten" Staatsfeiertag) revolutionär, das heißt, es bestand nach der offiziellen, staatsrechtlichen Doktrin keine Rechtskontinuität zur k.u.k. Monarchie. Der Bruch konnte aber nur auf Verfassungsebene und im Völkerrecht stringent argumentiert werden, was die Position der Österreicher beim oktroyierten Vertrag von St. Germain-en-Laye allerdings nicht verbessern sollte. Man werde hier "schlimmer als ein Feind" betrachtet, beklagte der 1970 verstorbene Rechtswissenschafter Adolf Merkl, obwohl doch die Republik Deutsch-Österreich nie Krieg gegen die Alliierten geführt habe.
Die Staatsmänner der Entente sahen dies anders und kümmerten sich im Sommer 1919 nicht um die Theoretiker in Wien. Im September musste die konstituierende Nationalversammlung den Vertrag nolens volens absegnen, unter Tränen und Beifall aller Fraktionen verließen die kooptierten Südtiroler Abgeordneten das Parlament. Auch der Staatsname musste geändert werden, die kurze Epoche "Deutsch-Österreich" war damit fast vorbei, ein Jahr später besiegelte die neue Verfassung vom 1. Oktober 1920 den Bundesstaat, in dem wir heute noch leben.
Der Übergang vom alten "Österreich" (vormals Cisleithanien, k.u.k. Monarchie) zur Republik Deutschösterreich verlief de facto eher schleichend und manifestierte sich in einer neuen, herrschenden politischen Kaste. Für den Laien hatte sich in der Tat wenig geändert, sah man von der Absenz des Kaiserhauses ab. Aber wer nicht gerade rund um Laxenburg oder in Baden gewohnt hatte, bekam den Kaiser in den Jahren 1917/18 nur mehr selten zu Gesicht, am ehesten beim Umsteigen ins Automobil an der Philadelphiabrücke (er benutzte durchaus ökologisch-korrekt und bequem den Hofzug der heutigen Badner Lokalbahn, um zwischen den Residenzen zu pendeln) oder unweit von Schönbrunn.
Aus Sicht der Normalverbraucher und in größeren Zusammenhängen betrachtet hinkt die von Hans Kelsen und Merkl vertretene Diskontinuitätstheorie, auch wenn das Sprichwort "Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" (es stammt vom deutschen Juristen Otto Mayer) allgemein einleuchtet und das System eines gefilterten Rechtsüberganges zwischen zwei staatlichen Gebilden treffend beschreibt. Von heute auf morgen kann ein neuer Staat ja kein komplettes Gerüst an Rechtsnormen aufbauen, schon gar nicht im existenziellen Überlebenskampf an allen Ecken und Enden und mit einer überforderten "provisorischen" Nationalversammlung, deren demokratische Legitimität zweifelhaft war. Das besserte sich erst mit den Wahlen vom 16. Februar 1919, als die Konstituante frei und allgemein gewählt wurde. Aber auch das misslang in einigen von Deutschösterreich beanspruchten Gebieten, wie vor allem in Südtirol, -mähren und in den deutschsprachigen Enklaven. Auf Verwaltungsebene galten die meisten Gesetze kraft ausdrücklicher Anordnung weiter, was übrigens auch in der Tschechoslowakei der Fall war, deren Sozialversicherungs-System mit veränderten Köpfen an der Spitze und geänderter Staatssprache wie unter dem Kaiser fortlief. Monarchisch ging es auch auf dem Hradschin und im Umfeld des neuen Präsidenten zu, der gewisse feudale Allüren zeigte. Tomaš Garrigue Masaryk legte Wert auf Stil, hielt eigene Pferde und ritt gerne aus wie einst Franz Joseph I. mit seiner Sisi. Echte Revolutionäre stellt man sich anders vor als den begabten Historiker, der mit seinem ehemaligen Abgeordnetenkollegen und Freund seit Kindestagen in Göding (Mähren), Josef Redlich, weiter ein gutes Einvernehmen behielt. Zeitweise stand sogar ein Ministeramt in Prag für den in der nachmaligen Kreisky-Villa in der Armbrustergasse wohnhaften, ehemals "deutsch-fortschrittlichen" Politiker jüdischer Herkunft im Raum. Zu einem Besuch am Hradschin kam es in den 1920ern nicht, aber zur politischen Berufung. Aus tschechischer Sicht hatte man sich im Herbst 1918 aus dem "Völkerkerker" befreit, und in Prag tobte die Menge am Wenzelsplatz und verteilte zynische Parten, auf denen der verblichenen Monarchie ohne Bedauern gedacht wurde. Doch auch die neue tschechoslowakische Republik, die auf eine Einigung in Pittsburgh und auf ein geschicktes Lobbying in London zurückging, barg bereits den nationalen Spaltpilz in sich, der den neuen südslawischen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (Bosnier und Montenegriner kamen im Namen nicht vor) noch viel stärker befallen sollte.
Ob hingegen auch in Wien tatsächlich, das heißt auch in empirisch-politischer Betrachtung, im Herbst 1918 "revolutionäre" Ereignisse stattfanden, kann nach der Beobachtung einiger Zeitgenossen dahingestellt bleiben. Die Massen in der Herrengasse (im Oktober) und vor dem Parlamentsgebäude (im November) blieben zumindest überschaubar, gezündelt wurde nur von Kommunisten, die ihre Chance gekommen sahen, aber mitunter eher "linkisch" agierten, wie der Autor Egon Erwin Kisch, der martialisch im Pressegebäude auftrat, wo er seinen Bruder traf, und Franz Werfel, der als Industriellensohn kurz zum "Mode-Linken" wurde und eine flammende Rede vor der roten Garde am Deutschmeisterplatz hielt. Laut Arthur Schnitzler, der im Oktober und Anfang November 1918 in Wien weilte, gingen zwar am 30.10. und am 12.11. "welthistorische" Ereignisse vor sich, die aber aus der Nähe betrachtet nicht allzu großartig auf ihn wirkten. Nicht unähnlich (kritisch) beurteilte Robert Musil die Kooperation der Organe der k.u.k. Monarchie, welche die Macht nahezu freiwillig an die Vertreter des neuen Staates abgaben. Als Offizier der k.u.k. Monarchie hatte Musil immerhin an der italienischen Front sein Leben für jenen Kaiser riskiert, der nun im Vorhinein alle Entscheidungen über die neue Staatsform akzeptierte und sich von den "Staatsgeschäften" zurückzog.
Auch die letzte k.k. ("österreichische") Regierung unter dem Strafrechtsprofessor Heinrich Lammasch demissionierte leise und ohne Aufhebens, obwohl ihr Staatsrechtsexperten wie Josef Redlich (Finanzen) und der wehrhafte Prälat Ignaz Seipel, ein redegewandter Verfassungskenner, angehörten. Einige dezidierte Monarchisten und Legitimisten, Reichsratsabgeordnete und Angehörige ehemaliger k.k. Regierungen sollten in der jungen Republik noch eine politische Rolle spielen, wie Franz Klein, welcher der Delegation in St. Germain angehörte oder Redlich, der auch unter der Regierung Buresch 1931 Finanzminister wurde. Als Treppenwitz der Geschichte gilt, dass sogar der zweite Bundespräsident der Republik Österreich, Wilhelm Miklas, der 1928 von der Bundesversammlung gewählt wurde, im Herbst 1918 noch für die Beibehaltung der Monarchie eingetreten war und dass auch sein am 8.12.1920 gewählter Vorgänger, der volkstümliche Hobby-Landwirt, liberale Ökonom und Dichter Michael Hainisch, zumindest optisch einem Autokraten ähnelte.
Völkerrecht und Staatsbürgerschaft
Aus völkerrechtlicher Sicht kann der Zerfall der Habsburgermonarchie in Nationalstaaten als "dismembratio" eingestuft werden. Ein ähnliches Schicksal ereilte Ende des 20. Jahrhunderts die Sowjetunion und die Volksrepublik Jugoslawien. Beide sind als Völkerrechtssubjekte untergegangen wie einst die Donaumonarchie Österreich-Ungarn, jener Staat, der "sich selbst nur noch mitmachte", wie einst Musil im Kapitel "Kakanien" seines Opus magnum schrieb. Die einzelnen, vormals weitgehend unselbständigen und durch zentrale Regierungen und zwei Parlamente zusammengehaltenen Glieder der Doppelmonarchie, welche Kaiser Karl I. in Personalunion regiert hatte, verfügten nun allesamt über Staatsgewalt und ein Staatsgebiet. Um Grenzen, Menschen und Umfang wurde aber noch in Kärnten bewaffnet und am grünen Tisch in Trianon und St. Germain gekämpft. Das Gesetz vom 5. Dezember 1918 (StGBl 91) "über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht" bestimmt vorsorglich eine größere Gruppe zu Bürgern. Merkl erläuterte dieses rasch hingeworfene Rumpfgesetz in seinem Werk "Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich", das 1919 bei Franz Deuticke als "kritisch-systematischer Grundriss" erschien und das einzige staatsrechtlich-monografische Werk dieser Ära darstellt. Kelsen gab 1919 allein einen Kommentar heraus, wogegen am B-VG-Kommentar 1922 Georg Fröhlich und Merkl und der junge Ludwig Adamovich mitwirkten. Weder ein Bekenntnis noch ein Verleihungsakt waren erforderlich, um dem neuen Staat anzugehören, Staatsbürger wurde, wer am 5.12.1918 in einer Gemeinde Deutschösterreichs heimatberechtigt war.
Eine Erklärung, zum neuen Staat gehören zu wollen, war für jene möglich, die nicht unter die generelle Regel fielen, weil sie außerhalb des neuen Staatsgebiets "heimatberechtigt" waren; das galt insbesondere für "deutsche Beamte, die in einem nichtdeutschen Teil der Monarchie ihren Dienst getan hatten" (etwa in Czernowitz, Lemberg, Tarnópol, Prag oder Trient). Ein Bekenntnis für einen anderen Staat war für jene möglich, die nicht Staatsbürger bleiben wollten und sich beispielsweise der Tschechoslowakei anschließen wollten, was auch einstige Politiker und Industrielle wie Minister Anton Urban (Brauerei) oder Redlichs Bruder (Gödinger Zuckerfabrik) in Anspruch nahmen. Maßgeblich war, dass eine Person seit 1.8.1914 ununterbrochen ihren Wohnsitz im nachmaligen Deutschösterreich hatte, der Militärdienst schadete dem nicht; auch Staatenlose oder Ausländer wurden so "Deutsch-Österreicher". Laut Kelsen wirkte das Gesetz deklarativ, laut Merkl hingegen konstitutiv für den Status als Inländer. Letzterer betonte, dass ein vernünftiges Ergebnis nur so möglich sei, dass die Staatsbürgerschaft demjenigen zuerkannt werde, der bei Fortbestand des alten Österreich in eine Gemeinde des von Deutschösterreich in Anspruch genommenen Staatsgebietes heimatberechtigt gewesen wäre. Das gilt auch für Südtirol, da dessen Gebiet von Deutschösterreich beansprucht wurde, das aber durch nachfolgende Verträge, die nach 1946 bestätigt wurden, endgültig an Italien fiel.
Bekanntlich entstand die Republik Deutschösterreich Ende Oktober 1918 (offiziell erst am 12.11., dem "ungeliebten" Staatsfeiertag) revolutionär, das heißt, es bestand nach der offiziellen, staatsrechtlichen Doktrin keine Rechtskontinuität zur k.u.k. Monarchie. Der Bruch konnte aber nur auf Verfassungsebene und im Völkerrecht stringent argumentiert werden, was die Position der Österreicher beim oktroyierten Vertrag von St. Germain-en-Laye allerdings nicht verbessern sollte. Man werde hier "schlimmer als ein Feind" betrachtet, beklagte der 1970 verstorbene Rechtswissenschafter Adolf Merkl, obwohl doch die Republik Deutsch-Österreich nie Krieg gegen die Alliierten geführt habe.
Die Staatsmänner der Entente sahen dies anders und kümmerten sich im Sommer 1919 nicht um die Theoretiker in Wien. Im September musste die konstituierende Nationalversammlung den Vertrag nolens volens absegnen, unter Tränen und Beifall aller Fraktionen verließen die kooptierten Südtiroler Abgeordneten das Parlament. Auch der Staatsname musste geändert werden, die kurze Epoche "Deutsch-Österreich" war damit fast vorbei, ein Jahr später besiegelte die neue Verfassung vom 1. Oktober 1920 den Bundesstaat, in dem wir heute noch leben.
Der Übergang vom alten "Österreich" (vormals Cisleithanien, k.u.k. Monarchie) zur Republik Deutschösterreich verlief de facto eher schleichend und manifestierte sich in einer neuen, herrschenden politischen Kaste. Für den Laien hatte sich in der Tat wenig geändert, sah man von der Absenz des Kaiserhauses ab. Aber wer nicht gerade rund um Laxenburg oder in Baden gewohnt hatte, bekam den Kaiser in den Jahren 1917/18 nur mehr selten zu Gesicht, am ehesten beim Umsteigen ins Automobil an der Philadelphiabrücke (er benutzte durchaus ökologisch-korrekt und bequem den Hofzug der heutigen Badner Lokalbahn, um zwischen den Residenzen zu pendeln) oder unweit von Schönbrunn.
Aus Sicht der Normalverbraucher und in größeren Zusammenhängen betrachtet hinkt die von Hans Kelsen und Merkl vertretene Diskontinuitätstheorie, auch wenn das Sprichwort "Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" (es stammt vom deutschen Juristen Otto Mayer) allgemein einleuchtet und das System eines gefilterten Rechtsüberganges zwischen zwei staatlichen Gebilden treffend beschreibt. Von heute auf morgen kann ein neuer Staat ja kein komplettes Gerüst an Rechtsnormen aufbauen, schon gar nicht im existenziellen Überlebenskampf an allen Ecken und Enden und mit einer überforderten "provisorischen" Nationalversammlung, deren demokratische Legitimität zweifelhaft war. Das besserte sich erst mit den Wahlen vom 16. Februar 1919, als die Konstituante frei und allgemein gewählt wurde. Aber auch das misslang in einigen von Deutschösterreich beanspruchten Gebieten, wie vor allem in Südtirol, -mähren und in den deutschsprachigen Enklaven. Auf Verwaltungsebene galten die meisten Gesetze kraft ausdrücklicher Anordnung weiter, was übrigens auch in der Tschechoslowakei der Fall war, deren Sozialversicherungs-System mit veränderten Köpfen an der Spitze und geänderter Staatssprache wie unter dem Kaiser fortlief. Monarchisch ging es auch auf dem Hradschin und im Umfeld des neuen Präsidenten zu, der gewisse feudale Allüren zeigte. Tomaš Garrigue Masaryk legte Wert auf Stil, hielt eigene Pferde und ritt gerne aus wie einst Franz Joseph I. mit seiner Sisi. Echte Revolutionäre stellt man sich anders vor als den begabten Historiker, der mit seinem ehemaligen Abgeordnetenkollegen und Freund seit Kindestagen in Göding (Mähren), Josef Redlich, weiter ein gutes Einvernehmen behielt. Zeitweise stand sogar ein Ministeramt in Prag für den in der nachmaligen Kreisky-Villa in der Armbrustergasse wohnhaften, ehemals "deutsch-fortschrittlichen" Politiker jüdischer Herkunft im Raum. Zu einem Besuch am Hradschin kam es in den 1920ern nicht, aber zur politischen Berufung. Aus tschechischer Sicht hatte man sich im Herbst 1918 aus dem "Völkerkerker" befreit, und in Prag tobte die Menge am Wenzelsplatz und verteilte zynische Parten, auf denen der verblichenen Monarchie ohne Bedauern gedacht wurde. Doch auch die neue tschechoslowakische Republik, die auf eine Einigung in Pittsburgh und auf ein geschicktes Lobbying in London zurückging, barg bereits den nationalen Spaltpilz in sich, der den neuen südslawischen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (Bosnier und Montenegriner kamen im Namen nicht vor) noch viel stärker befallen sollte.
Ob hingegen auch in Wien tatsächlich, das heißt auch in empirisch-politischer Betrachtung, im Herbst 1918 "revolutionäre" Ereignisse stattfanden, kann nach der Beobachtung einiger Zeitgenossen dahingestellt bleiben. Die Massen in der Herrengasse (im Oktober) und vor dem Parlamentsgebäude (im November) blieben zumindest überschaubar, gezündelt wurde nur von Kommunisten, die ihre Chance gekommen sahen, aber mitunter eher "linkisch" agierten, wie der Autor Egon Erwin Kisch, der martialisch im Pressegebäude auftrat, wo er seinen Bruder traf, und Franz Werfel, der als Industriellensohn kurz zum "Mode-Linken" wurde und eine flammende Rede vor der roten Garde am Deutschmeisterplatz hielt. Laut Arthur Schnitzler, der im Oktober und Anfang November 1918 in Wien weilte, gingen zwar am 30.10. und am 12.11. "welthistorische" Ereignisse vor sich, die aber aus der Nähe betrachtet nicht allzu großartig auf ihn wirkten. Nicht unähnlich (kritisch) beurteilte Robert Musil die Kooperation der Organe der k.u.k. Monarchie, welche die Macht nahezu freiwillig an die Vertreter des neuen Staates abgaben. Als Offizier der k.u.k. Monarchie hatte Musil immerhin an der italienischen Front sein Leben für jenen Kaiser riskiert, der nun im Vorhinein alle Entscheidungen über die neue Staatsform akzeptierte und sich von den "Staatsgeschäften" zurückzog.
Auch die letzte k.k. ("österreichische") Regierung unter dem Strafrechtsprofessor Heinrich Lammasch demissionierte leise und ohne Aufhebens, obwohl ihr Staatsrechtsexperten wie Josef Redlich (Finanzen) und der wehrhafte Prälat Ignaz Seipel, ein redegewandter Verfassungskenner, angehörten. Einige dezidierte Monarchisten und Legitimisten, Reichsratsabgeordnete und Angehörige ehemaliger k.k. Regierungen sollten in der jungen Republik noch eine politische Rolle spielen, wie Franz Klein, welcher der Delegation in St. Germain angehörte oder Redlich, der auch unter der Regierung Buresch 1931 Finanzminister wurde. Als Treppenwitz der Geschichte gilt, dass sogar der zweite Bundespräsident der Republik Österreich, Wilhelm Miklas, der 1928 von der Bundesversammlung gewählt wurde, im Herbst 1918 noch für die Beibehaltung der Monarchie eingetreten war und dass auch sein am 8.12.1920 gewählter Vorgänger, der volkstümliche Hobby-Landwirt, liberale Ökonom und Dichter Michael Hainisch, zumindest optisch einem Autokraten ähnelte.
Völkerrecht und Staatsbürgerschaft
Aus völkerrechtlicher Sicht kann der Zerfall der Habsburgermonarchie in Nationalstaaten als "dismembratio" eingestuft werden. Ein ähnliches Schicksal ereilte Ende des 20. Jahrhunderts die Sowjetunion und die Volksrepublik Jugoslawien. Beide sind als Völkerrechtssubjekte untergegangen wie einst die Donaumonarchie Österreich-Ungarn, jener Staat, der "sich selbst nur noch mitmachte", wie einst Musil im Kapitel "Kakanien" seines Opus magnum schrieb. Die einzelnen, vormals weitgehend unselbständigen und durch zentrale Regierungen und zwei Parlamente zusammengehaltenen Glieder der Doppelmonarchie, welche Kaiser Karl I. in Personalunion regiert hatte, verfügten nun allesamt über Staatsgewalt und ein Staatsgebiet. Um Grenzen, Menschen und Umfang wurde aber noch in Kärnten bewaffnet und am grünen Tisch in Trianon und St. Germain gekämpft. Das Gesetz vom 5. Dezember 1918 (StGBl 91) "über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht" bestimmt vorsorglich eine größere Gruppe zu Bürgern. Merkl erläuterte dieses rasch hingeworfene Rumpfgesetz in seinem Werk "Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich", das 1919 bei Franz Deuticke als "kritisch-systematischer Grundriss" erschien und das einzige staatsrechtlich-monografische Werk dieser Ära darstellt. Kelsen gab 1919 allein einen Kommentar heraus, wogegen am B-VG-Kommentar 1922 Georg Fröhlich und Merkl und der junge Ludwig Adamovich mitwirkten. Weder ein Bekenntnis noch ein Verleihungsakt waren erforderlich, um dem neuen Staat anzugehören, Staatsbürger wurde, wer am 5.12.1918 in einer Gemeinde Deutschösterreichs heimatberechtigt war.
Eine Erklärung, zum neuen Staat gehören zu wollen, war für jene möglich, die nicht unter die generelle Regel fielen, weil sie außerhalb des neuen Staatsgebiets "heimatberechtigt" waren; das galt insbesondere für "deutsche Beamte, die in einem nichtdeutschen Teil der Monarchie ihren Dienst getan hatten" (etwa in Czernowitz, Lemberg, Tarnópol, Prag oder Trient). Ein Bekenntnis für einen anderen Staat war für jene möglich, die nicht Staatsbürger bleiben wollten und sich beispielsweise der Tschechoslowakei anschließen wollten, was auch einstige Politiker und Industrielle wie Minister Anton Urban (Brauerei) oder Redlichs Bruder (Gödinger Zuckerfabrik) in Anspruch nahmen. Maßgeblich war, dass eine Person seit 1.8.1914 ununterbrochen ihren Wohnsitz im nachmaligen Deutschösterreich hatte, der Militärdienst schadete dem nicht; auch Staatenlose oder Ausländer wurden so "Deutsch-Österreicher". Laut Kelsen wirkte das Gesetz deklarativ, laut Merkl hingegen konstitutiv für den Status als Inländer. Letzterer betonte, dass ein vernünftiges Ergebnis nur so möglich sei, dass die Staatsbürgerschaft demjenigen zuerkannt werde, der bei Fortbestand des alten Österreich in eine Gemeinde des von Deutschösterreich in Anspruch genommenen Staatsgebietes heimatberechtigt gewesen wäre. Das gilt auch für Südtirol, da dessen Gebiet von Deutschösterreich beansprucht wurde, das aber durch nachfolgende Verträge, die nach 1946 bestätigt wurden, endgültig an Italien fiel.
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Gerhard Strejcek
Krankenkassen können sich gegen Fusion wehren
Der Standard, 30.10.2018
Ein direkter Weg zum Verfassungsgerichtshof ist möglich, zeigt ein Präzedenzfall
Wien – Angesichts der massiven Zweifel an der Verfassungskonformität der Sozialversicherungsreform ist es sehr wahrscheinlich, dass die Causa vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) landen wird.
Um die Reform dort anzufechten, gibt es mehrere Wege, die über die Länder, den Bundesrat und Gerichte führen können. Ob auch einer der betroffenen Selbstverwaltungskörper, etwa eine der Gebietskrankenkassen, der Weg zum Höchstgericht offensteht, um sich gegen die Zusammenlegung zu wehren, ist umstritten.
Der gelegentlich vorgebrachte Vergleich mit Vereinen, die ihre Auflösung beim VfGH anfechten können, ist unbefriedigend. Denn ein Verein ist eine juristische Person des Privatrechts, die von Privaten gegründet wird und alle möglichen ideellen Ziele verfolgen kann; hier geht es aber um Gliederungen der gesetzlichen Sozialversicherung, die auch Pflichtmitglieder hat.
Aber hier gibt es einen klaren Präzedenzfall in einem VfGH-Erkenntnis aus dem Jahr 2014 (VfSlg 19.919). Damals ging es darum, dass die Wirtschaftskammer Österreich per Satzung (=Verordnung) eine ihrer Gliederungen, nämlich den Fachverband Gießerei, auflöste und diesen gegen seinen Willen mit dem Fachverband der Metallverarbeiter zusammenlegte.
Eingriff in Rechte
Hier hat der VfGH eindeutig anerkannt, dass sich ein (dort nur satzungsmäßig) aufgelöster Selbstverwaltungskörper gegen seine Auflösung und damit den Verlust seiner Rechtspersönlichkeit wehren kann; warum sollte das nicht auch die Oberösterreichische oder Tiroler Gebietskrankenkasse können, auch wenn die Zusammenlegung durch Gesetz erfolgt?
Maßgeblich ist nicht die Rechtsform, sondern die Frage, ob die Auflösung direkt, d. h. unmittelbar und aktuell in Rechte eingreift. Und das wäre der Fall. Die künftig nicht mehr existierenden Kassen können daher das Gesetz zulässigerweise per Individualantrag (Art 140 Abs 1 B-VG) anfechten; es bedarf keines Umwegs über ein Land, den Bundesrat oder ein Drittel des Nationalrats.
Damit ist noch nichts über die inhaltliche Entscheidung gesagt, ob eine Zusammenlegung aus wirtschaftlichen Gründen rechtens ist. Im zitierten Fall wies der VfGH den Antrag mit der Begründung ab, dass der Gießerei-Fachverband zum Zeitpunkt der Auflösung nur noch wenige Mitglieder hatte.
Im Fall der Sozialversicherungsträger wird es aber sehr wohl Thema sein, ob die Zusammenlegung und Zentralisierung tatsächlich sachgerecht und im Einklang mit den Grundsätzen der personalen Selbstverwaltung (Art 120a-c B-VG) erfolgt sind.
Wien – Angesichts der massiven Zweifel an der Verfassungskonformität der Sozialversicherungsreform ist es sehr wahrscheinlich, dass die Causa vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) landen wird.
Um die Reform dort anzufechten, gibt es mehrere Wege, die über die Länder, den Bundesrat und Gerichte führen können. Ob auch einer der betroffenen Selbstverwaltungskörper, etwa eine der Gebietskrankenkassen, der Weg zum Höchstgericht offensteht, um sich gegen die Zusammenlegung zu wehren, ist umstritten.
Der gelegentlich vorgebrachte Vergleich mit Vereinen, die ihre Auflösung beim VfGH anfechten können, ist unbefriedigend. Denn ein Verein ist eine juristische Person des Privatrechts, die von Privaten gegründet wird und alle möglichen ideellen Ziele verfolgen kann; hier geht es aber um Gliederungen der gesetzlichen Sozialversicherung, die auch Pflichtmitglieder hat.
Aber hier gibt es einen klaren Präzedenzfall in einem VfGH-Erkenntnis aus dem Jahr 2014 (VfSlg 19.919). Damals ging es darum, dass die Wirtschaftskammer Österreich per Satzung (=Verordnung) eine ihrer Gliederungen, nämlich den Fachverband Gießerei, auflöste und diesen gegen seinen Willen mit dem Fachverband der Metallverarbeiter zusammenlegte.
Eingriff in Rechte
Hier hat der VfGH eindeutig anerkannt, dass sich ein (dort nur satzungsmäßig) aufgelöster Selbstverwaltungskörper gegen seine Auflösung und damit den Verlust seiner Rechtspersönlichkeit wehren kann; warum sollte das nicht auch die Oberösterreichische oder Tiroler Gebietskrankenkasse können, auch wenn die Zusammenlegung durch Gesetz erfolgt?
Maßgeblich ist nicht die Rechtsform, sondern die Frage, ob die Auflösung direkt, d. h. unmittelbar und aktuell in Rechte eingreift. Und das wäre der Fall. Die künftig nicht mehr existierenden Kassen können daher das Gesetz zulässigerweise per Individualantrag (Art 140 Abs 1 B-VG) anfechten; es bedarf keines Umwegs über ein Land, den Bundesrat oder ein Drittel des Nationalrats.
Damit ist noch nichts über die inhaltliche Entscheidung gesagt, ob eine Zusammenlegung aus wirtschaftlichen Gründen rechtens ist. Im zitierten Fall wies der VfGH den Antrag mit der Begründung ab, dass der Gießerei-Fachverband zum Zeitpunkt der Auflösung nur noch wenige Mitglieder hatte.
Im Fall der Sozialversicherungsträger wird es aber sehr wohl Thema sein, ob die Zusammenlegung und Zentralisierung tatsächlich sachgerecht und im Einklang mit den Grundsätzen der personalen Selbstverwaltung (Art 120a-c B-VG) erfolgt sind.
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Gerhard Strejcek
Letzter Frühling eines Poeten
Wiener Zeitung, 20.10.2018
Der deutsche Autor und Kritiker Volker Hage beschäftigt sich in seinem neuen Roman, "Des Lebens fünfter Akt", mit Arthur Schnitzler und dessen Frauenquartett.
Der tragische Tod der noch nicht einmal neunzehnjährigen Lili Schnitzer am 26. Juli 1928 ist Ausgangspunkt eines Schnitzler-Romans über die letzten drei Lebensjahre des Wiener Dichters, der am 21. Oktober 1931 starb.
Die aufgeweckte, frühreife Lili, die einst Vätern, welche die Familie verlassen, den Galgen empfahl, schoss sich nach einem streitgeladenen Hitzetag in Venedig eine Kugel in die Brust. Ihre italienische Wartefrau sprach von einem nervösen Anfall, aber der Analytiker Schnitzler fand in den Aufzeichnungen von Lili den suizidaffinen Wunsch "vorrei morire" ("ich möchte sterben"); zudem hatte die verheiratete Lili eine Affäre mit einem Besucher aus Mailand begonnen und eine Bekannte in unheilschwangerer Vorahnung gebeten, den Vater in Wien zu grüßen.
Lebensnahe Dialoge
Ihr Gatte, der stramme Faschistenführer Arnoldo Cappellini, wollte sie bereits verlassen, besann sich dann aber eines Besseren, denn immerhin lebte das Paar von den Tantiemen und Honoraren des berühmten Vaters. Die besondere Tragik von Lilis Selbstmordversuch bestand darin, dass er mit einer österreichischen Armeepistole erfolgte, in deren Lauf eine rostige Kugel steckte. Der Exitus trat infolge einer Sepsis ein; Olga und Arthur Schnitzler, aber auch Bruder Heini waren am Boden zerstört.
All diese Fakten sind nicht unbekannt und wurden von mehreren Biografen, wie etwa Renate Wagner und Giuseppe Farese, bereits aufbereitet. Zudem lassen sich Details, wie der Linienflug des geschiedenen Paars von Wien nach Venedig mit der OeLAG (der Vorgängerin der heutigen Austrian Airlines) und die bangen Begegnungen im Spital sowie am jüdischen Friedhof, minutiös aus dem Tagebuch zusammenreimen.
Lilis Schicksal hat bereits andere belletristische Versuche inspiriert. Dennoch ist Volker Hage ein Wurf gelungen, denn seine lebensnah verfassten Dialoge klingen so, als ob sie tatsächlich über Lido und Canal Grande gehallt wären.
"Ménage à quatre"
Lebensnah beschreibt er auch die schwierige Situation des Autors, der zwischen Beziehungen zu seiner Lebensgefährtin (Clara Pol- laczek), seiner eifersüchtigen Ex-Frau (Olga), einer jungen Bankangestellten (Hedy Kempny) und einer von der Ehe frustrierten Französisch-Übersetzerin (Suzanne Clauser) balancieren musste. Zumindest mit Letzterer hatte er auch ein erotisches Verhältnis, mit Hedy knisterte es, wogegen Olga das Familiäre und Clara das Geistige abdeckten und durch kluge Statements sowie - im Fall von Frau Pollaczek (geb. Loeb) - durch eigene Romanversuche punkteten.
Dass Schnitzler in seiner ménage à quatre nicht unterging, verdankte er einer fünften Frau, seiner Sekretärin Frieda Pollak, (nach Lilis legasthenischer Verdrehung "Kolap" genannt), die in ihrer Diskretion und Loyalität den Autor vor einigen, aber nicht allen Szenen bewahrte. Zu Recht bedauert Hage, dass die Schwester eines dichtenden Juristen keine Aufzeichnungen überliefert hat. Sie pilgerte fast täglich von ihrer Wohnung in der Hörlgasse in die Schnitzler-Villa nach Währing, wo sie Diktate entgegennahm und dem alternden Poeten zur Hand ging.
Der 1949 in Hamburg geborene Kritiker ("Die Zeit", "Spiegel") und Autor ("Die freie Liebe") Volker Hage hat Sekundärliteratur und Primärquellen, wie Lilis persönliche Aufzeichnungen, studiert. Da es sich um Belletristik handelt, fehlen Anmerkungen, ein Epilog gibt Aufschluss über die handelnden Personen. Hage dankt jenen, die den Nachlass aufbereitet haben, wobei Werner Welzig als Tagebucheditor eine namentliche Erwähnung verdient hätte.
Neben der Durchleuchtung von Schnitzlers Liebes- und Lebensnöten schärft Hage das Verständnis für den "politischen" Schnitzler. Außen- und Innenpolitik hätten mehr Raum verdient, da sich das Alter Ego Freuds über den frühzeitig erduldeten Antisemitismus hinausgehend höchst kritisch geäußert hat, wie übrigens auch über alle Kritiker. Insgesamt gelingt es dem Autor in sensibler Weise, Schnitzlers fünften "Lebensakt" zu vermitteln, wozu auch exzeptionell gelungene Formulierungen das Ihre beitragen.
Information:
Volker Hage
Des Lebens fünfter Akt
Roman
Luchterhand, München, 2018, 320 Seiten
Der tragische Tod der noch nicht einmal neunzehnjährigen Lili Schnitzer am 26. Juli 1928 ist Ausgangspunkt eines Schnitzler-Romans über die letzten drei Lebensjahre des Wiener Dichters, der am 21. Oktober 1931 starb.
Die aufgeweckte, frühreife Lili, die einst Vätern, welche die Familie verlassen, den Galgen empfahl, schoss sich nach einem streitgeladenen Hitzetag in Venedig eine Kugel in die Brust. Ihre italienische Wartefrau sprach von einem nervösen Anfall, aber der Analytiker Schnitzler fand in den Aufzeichnungen von Lili den suizidaffinen Wunsch "vorrei morire" ("ich möchte sterben"); zudem hatte die verheiratete Lili eine Affäre mit einem Besucher aus Mailand begonnen und eine Bekannte in unheilschwangerer Vorahnung gebeten, den Vater in Wien zu grüßen.
Lebensnahe Dialoge
Ihr Gatte, der stramme Faschistenführer Arnoldo Cappellini, wollte sie bereits verlassen, besann sich dann aber eines Besseren, denn immerhin lebte das Paar von den Tantiemen und Honoraren des berühmten Vaters. Die besondere Tragik von Lilis Selbstmordversuch bestand darin, dass er mit einer österreichischen Armeepistole erfolgte, in deren Lauf eine rostige Kugel steckte. Der Exitus trat infolge einer Sepsis ein; Olga und Arthur Schnitzler, aber auch Bruder Heini waren am Boden zerstört.
All diese Fakten sind nicht unbekannt und wurden von mehreren Biografen, wie etwa Renate Wagner und Giuseppe Farese, bereits aufbereitet. Zudem lassen sich Details, wie der Linienflug des geschiedenen Paars von Wien nach Venedig mit der OeLAG (der Vorgängerin der heutigen Austrian Airlines) und die bangen Begegnungen im Spital sowie am jüdischen Friedhof, minutiös aus dem Tagebuch zusammenreimen.
Lilis Schicksal hat bereits andere belletristische Versuche inspiriert. Dennoch ist Volker Hage ein Wurf gelungen, denn seine lebensnah verfassten Dialoge klingen so, als ob sie tatsächlich über Lido und Canal Grande gehallt wären.
"Ménage à quatre"
Lebensnah beschreibt er auch die schwierige Situation des Autors, der zwischen Beziehungen zu seiner Lebensgefährtin (Clara Pol- laczek), seiner eifersüchtigen Ex-Frau (Olga), einer jungen Bankangestellten (Hedy Kempny) und einer von der Ehe frustrierten Französisch-Übersetzerin (Suzanne Clauser) balancieren musste. Zumindest mit Letzterer hatte er auch ein erotisches Verhältnis, mit Hedy knisterte es, wogegen Olga das Familiäre und Clara das Geistige abdeckten und durch kluge Statements sowie - im Fall von Frau Pollaczek (geb. Loeb) - durch eigene Romanversuche punkteten.
Dass Schnitzler in seiner ménage à quatre nicht unterging, verdankte er einer fünften Frau, seiner Sekretärin Frieda Pollak, (nach Lilis legasthenischer Verdrehung "Kolap" genannt), die in ihrer Diskretion und Loyalität den Autor vor einigen, aber nicht allen Szenen bewahrte. Zu Recht bedauert Hage, dass die Schwester eines dichtenden Juristen keine Aufzeichnungen überliefert hat. Sie pilgerte fast täglich von ihrer Wohnung in der Hörlgasse in die Schnitzler-Villa nach Währing, wo sie Diktate entgegennahm und dem alternden Poeten zur Hand ging.
Der 1949 in Hamburg geborene Kritiker ("Die Zeit", "Spiegel") und Autor ("Die freie Liebe") Volker Hage hat Sekundärliteratur und Primärquellen, wie Lilis persönliche Aufzeichnungen, studiert. Da es sich um Belletristik handelt, fehlen Anmerkungen, ein Epilog gibt Aufschluss über die handelnden Personen. Hage dankt jenen, die den Nachlass aufbereitet haben, wobei Werner Welzig als Tagebucheditor eine namentliche Erwähnung verdient hätte.
Neben der Durchleuchtung von Schnitzlers Liebes- und Lebensnöten schärft Hage das Verständnis für den "politischen" Schnitzler. Außen- und Innenpolitik hätten mehr Raum verdient, da sich das Alter Ego Freuds über den frühzeitig erduldeten Antisemitismus hinausgehend höchst kritisch geäußert hat, wie übrigens auch über alle Kritiker. Insgesamt gelingt es dem Autor in sensibler Weise, Schnitzlers fünften "Lebensakt" zu vermitteln, wozu auch exzeptionell gelungene Formulierungen das Ihre beitragen.
Information:
Volker Hage
Des Lebens fünfter Akt
Roman
Luchterhand, München, 2018, 320 Seiten
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Gerhard Strejcek
Die Trolle sind unter uns
Die Presse, 29.09.2018
Martin Bolz demonstriert, wie heutig die Gestalten aus norwegischen Märchen sind.
Norwegische Märchen sind hierzulande wenig bekannt. Martin Bolz, der vielseitige Philosoph und evangelische Theologe rückt sie durch eine fundierte Auswahl in den Mittelpunkt eines illustrierten Bandes. Rund hundert Seiten widmet er der sprachlich feinsinnigen Nacherzählung auf den Spuren der Göttinger Professoren und Märchensammler. Die übrigen dreißig Seiten enthalten Illustrationen und philologische Hinweise, die nicht oberlehrerhaft wirken, sondern hilfreich sind.
Auf einer Skandinavienreise sammelte der seit 1971 in Wien wirkende Autor vor Ort, stöberte in Antiquariaten und konsultierte nordische Märchenexperten wie Petter Olsen. Dazu fotografierte und dokumentierte er wärmende Feuer und eigentümliche Gestalten mit der Anmutung von Gartenzwergen und einer Wurzelsepp-Physiognomie.
Trolle sind eigentümliche und gefräßige Wesen mit Schwänzen und langen Nasen, welche dänische und norwegische Bauern seit je heimsuchen und quälen. Mitunter fallen sie auf die Nase, etwa wenn der Landwirt zufällig einen Eisbären beherbergt oder scharfe Hunde den Hof hüten. Aber zumeist piesacken sie mit psychischer und physischer Gewalt die redlichen Bürger, Bauern und Edelleute. Hand aufs Herz: Wer hat nicht einen klagewütigen Troll in seiner Nachbarschaft?
Wer Bolz' schönes Büchlein genießend, zu Jan Garbareks Sopransaxofonklängen lauschend, über die Trolle nachsinnt, gelangt zur assoziativen Erkenntnis: Heutige Märchengestalten sind durchwegs in der Politik tätig. Der schlaue Stimmbruch-Fuchs, der den Dachs von der Macht entfernt hat, der kreideschluckende Wehrsport-Wolf, der die rauen Töne zu verbergen sucht, aber sich immer wieder verrät. Das tapfere Schneiderlein hoch zu Ross, das die Spezialausrüstung der Polizei anprobiert. Die EU-Trolle, die einander umarmen und gleichzeitig hinter dem Rücken Zeichen geben, wie in selbigen zu fallen sei. Dem Leser fällt es wie Schuppen von den Augen, dass sich seit den wilden Zeiten des gebannten Königs Sverre vor 1020 Jahren schier gar nichts geändert hat.
Jeder Figur kommt eine Rolle zu
Aufbau, Muster und die "Weisheiten" der nordischen Märchen sind uns vertraut. Es herrschen ein strenge Chronologie und Handlungseinheit, jeder Figur kommt eine Rolle zu, die "Moral" darf nicht fehlen. Bolz erklärt Märchen als mündlich überlieferte "Ur-Kunden", die in ihrer Grundaussage zeitlos sind: Wer den Fuchs betrügt, handelt zwar unredlich, aber hier gilt die Devise "Undank ist der Welten Lohn". Wenn der Bauer im Wald vom Bären bedroht wird, täuscht er einen im Forst versteckten Jäger vor, der sich laut rufend bemerkbar macht und Anweisungen gibt, bis sich der Bär freiwillig auf den Schlitten fesseln lässt.
Schlösser und Sakralbauten stellen in den Märchen den Inbegriff der Macht und des Reichtums dar. Doch mitunter scheitert sogar ein König wie der kirchenstiftende Olaf an einem Troll aus der Baubranche. Dieser erscheint äußerlich als Riese und gibt vor, binnen kurzem und wohlfeil eine Kathedrale zu errichten, die ihresgleichen sucht wie etwa ein heutiger Flughafen, Inbegriff des Weekend-Vergnügens einer Wellness-Gesellschaft. Aber weder die Kirche noch die Landepiste, der ganze (Berliner) Flughafen gelangt je zu seiner/ihrer Bestimmung, denn der Troll hat gründliche Arbeit geleistet und alles ganz bewusst verpfuscht, um dem König eine Lehre zu erteilen.
Information:
Martin Bolz (Hrsg.)
Sverre, ewiger König
Zeitlose Märchen
Noack & Block, Berlin, 2018, ca 130 Seiten
Norwegische Märchen sind hierzulande wenig bekannt. Martin Bolz, der vielseitige Philosoph und evangelische Theologe rückt sie durch eine fundierte Auswahl in den Mittelpunkt eines illustrierten Bandes. Rund hundert Seiten widmet er der sprachlich feinsinnigen Nacherzählung auf den Spuren der Göttinger Professoren und Märchensammler. Die übrigen dreißig Seiten enthalten Illustrationen und philologische Hinweise, die nicht oberlehrerhaft wirken, sondern hilfreich sind.
Auf einer Skandinavienreise sammelte der seit 1971 in Wien wirkende Autor vor Ort, stöberte in Antiquariaten und konsultierte nordische Märchenexperten wie Petter Olsen. Dazu fotografierte und dokumentierte er wärmende Feuer und eigentümliche Gestalten mit der Anmutung von Gartenzwergen und einer Wurzelsepp-Physiognomie.
Trolle sind eigentümliche und gefräßige Wesen mit Schwänzen und langen Nasen, welche dänische und norwegische Bauern seit je heimsuchen und quälen. Mitunter fallen sie auf die Nase, etwa wenn der Landwirt zufällig einen Eisbären beherbergt oder scharfe Hunde den Hof hüten. Aber zumeist piesacken sie mit psychischer und physischer Gewalt die redlichen Bürger, Bauern und Edelleute. Hand aufs Herz: Wer hat nicht einen klagewütigen Troll in seiner Nachbarschaft?
Wer Bolz' schönes Büchlein genießend, zu Jan Garbareks Sopransaxofonklängen lauschend, über die Trolle nachsinnt, gelangt zur assoziativen Erkenntnis: Heutige Märchengestalten sind durchwegs in der Politik tätig. Der schlaue Stimmbruch-Fuchs, der den Dachs von der Macht entfernt hat, der kreideschluckende Wehrsport-Wolf, der die rauen Töne zu verbergen sucht, aber sich immer wieder verrät. Das tapfere Schneiderlein hoch zu Ross, das die Spezialausrüstung der Polizei anprobiert. Die EU-Trolle, die einander umarmen und gleichzeitig hinter dem Rücken Zeichen geben, wie in selbigen zu fallen sei. Dem Leser fällt es wie Schuppen von den Augen, dass sich seit den wilden Zeiten des gebannten Königs Sverre vor 1020 Jahren schier gar nichts geändert hat.
Jeder Figur kommt eine Rolle zu
Aufbau, Muster und die "Weisheiten" der nordischen Märchen sind uns vertraut. Es herrschen ein strenge Chronologie und Handlungseinheit, jeder Figur kommt eine Rolle zu, die "Moral" darf nicht fehlen. Bolz erklärt Märchen als mündlich überlieferte "Ur-Kunden", die in ihrer Grundaussage zeitlos sind: Wer den Fuchs betrügt, handelt zwar unredlich, aber hier gilt die Devise "Undank ist der Welten Lohn". Wenn der Bauer im Wald vom Bären bedroht wird, täuscht er einen im Forst versteckten Jäger vor, der sich laut rufend bemerkbar macht und Anweisungen gibt, bis sich der Bär freiwillig auf den Schlitten fesseln lässt.
Schlösser und Sakralbauten stellen in den Märchen den Inbegriff der Macht und des Reichtums dar. Doch mitunter scheitert sogar ein König wie der kirchenstiftende Olaf an einem Troll aus der Baubranche. Dieser erscheint äußerlich als Riese und gibt vor, binnen kurzem und wohlfeil eine Kathedrale zu errichten, die ihresgleichen sucht wie etwa ein heutiger Flughafen, Inbegriff des Weekend-Vergnügens einer Wellness-Gesellschaft. Aber weder die Kirche noch die Landepiste, der ganze (Berliner) Flughafen gelangt je zu seiner/ihrer Bestimmung, denn der Troll hat gründliche Arbeit geleistet und alles ganz bewusst verpfuscht, um dem König eine Lehre zu erteilen.
Information:
Martin Bolz (Hrsg.)
Sverre, ewiger König
Zeitlose Märchen
Noack & Block, Berlin, 2018, ca 130 Seiten
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Gerhard Strejcek
Alma Mahlers Dichter-Onkel
Wiener Zeitung, 23.09.2018
Vor 200 Jahren, am 26. September 1818, wurde der Schriftsteller und Politiker Alexander Julius Schindler alias Julius von der Traun geboren, dessen Werk heute zu
Unrecht vergessen ist.
Wer sich in Alma Mahler-Werfels Tagebuchsuiten vertieft, erkennt die Formulierungsgabe der jungen Autorin, die ihr gefälliges Äußeres noch stärker wirken ließ. In Paulus Mankers bilderreicher Darstellung erscheint uns die Muse der Künstler um 1900 als erotisch-bebendes Kraftzentrum, doch als Mädchen war Alma wohlbehütet und genoss eine humanistische Erziehung.
Lange bevor ihre lebenslange Freundschaft mit Arthur Schnitzler begann und geraume Zeit vor ihrer Ehe mit Franz Werfel (sie währte von 1929 bis 1945) betätigte sich Alma literarisch und musikalisch. Ihre Anziehungskraft auf den Komponisten Alexander von Zemlinsky und den symphonischen Genius Gustav Mahler erscheint so nachvollziehbar. Früh verwitwet, stieß die in einer Josef-Hoffmann-Villa auf der Hohen Warte lebende Ästhetin auf den Architekten Walter Gropius und wurde in Puppenform zum Kokoschka-Sehnsuchtstraum, ehe sie an den begabten Lyriker und Erzähler Franz Werfel geriet, der von seinem Prager Kollegen Kafka liebevoll "der kleine Franz" genannt wurde (der große war er ja selbst!).
Lob von Theodor Storm
Sowohl im Schreibatelier in Döbling als auch im kalifornischen Exil erbrachte Werfel unter Almas Ehe-Herrschaft publizistische Höchstleistungen und erreichte dank Buchgemeinschaftsausgaben hohe Auflagenzahlen. Der Sohn eines Prager Handschuherzeugers bezahlte diese Erfolge, die er mit Romanbiografien (Verdi) und historischen Darstellungen ("Die vierzig Tage des Musa Dagh") erzielte, mit einem frühen Tod, den Alma nicht ihrem ehrgeizbeflügenden Schaffensdruck, sondern seinem exzessiven Kaffee- und Zigarrenkonsum zuschrieb.
Das literarische Talent der 1879 als Alma Schindler Geborenen könnte auf einen Vorfahren zurückgehen, der heute, 133 Jahre nach seinem Tod am 6. März 1885, fast vergessen ist. Am 26. September 1818 wurde Almas Großonkel, Alexander Julius Schindler, geboren, mit dem sie über den Maler Emil Jakob Schindler verwandt war. Im August 1872 war Julius von der Traun, wie er sich als Autor nannte, in seinem Schloss Leopoldskron bei Salzburg Gastgeber von Theodor Storm.
Der Jurist aus dem hohen Norden war, nachdem er das Reisegeld endlich erübrigen konnte, den mehrfachen Einladungen aus Österreich gefolgt und erlebte rund um Salzburg einen seltenen Auslandsaufenthalt voller Idyllen und Naturschönheiten. Kein Wunder, dass er Schindler in hohen Tönen lobte. Im Stall des schönen Rokoko-Lustschlosses warteten nicht nur zwei Reitpferde auf einen Ausritt, sondern auch prächtige Zugtiere, die Storm nach Hellbrunn und zum Unterberg brachten, der den norddeutschen Autor besonders faszinierte.
Schindler war eine vielseitige Persönlichkeit mit einer exzellenten Formulierungsgabe. Sei es als liberales Mitglied im Abgeordnetenhaus des Reichsrats, sei es als Autor volksnaher Dramen und von Reiseerzählungen, stets fielen dem Sohn eines Tuchfabrikanten originell-humorvolle Wendungen ein. Im Reichsrat duellierte er sich mit klerikalen Abgeordneten zum Amüsement seiner politischen Freunde. Sie bereiteten ihm allerdings eine Niederlage und hintertrieben seine Kandidatur, sodass er 1870 nicht mehr dem Parlament angehörte. Damals wurde noch indirekt gewählt: Grundbesitzer, Städte, Landtage, Gemeinden und Kammern beschickten das Abgeordnetenhaus. Erst ab 1873 entwickelte sich schrittweise das direkte Wahlrecht, zu spät für Schindler.
Interesse an Chemie
Der umtriebige Autor gab ab 1848 revolutionäre Schriften ("Zwanglose Blätter für Oberösterreich") heraus, die seine Karriere empfindlich behinderten. Er verfasste kritische Pamphlete, welche nicht mit Kritik am "Gesamtministerium" und dem Justizminister sparten. Ein Aliasname schien angebracht, wobei "Traun" auf Schindlers Tätigkeit in Steyr zurückgeht, wo er als Richter am Gut des Grafen Lamberg angestellt war.
Später amtierte er auch im Unterkärntner Wolfsberg als Patrimonialjustiziar. Schindler hatte sich erst in einem zweiten Anlauf für die juristische Laufbahn entschieden und zunächst an der Wiener Universität Philosophie studiert. Sein Interesse galt den Naturwissenschaften, namentlich der Chemie. In der Färberei eines Onkels setzte er seine Kenntnisse um, kehrte dann aber mit 23 Jahren in die Residenzstadt zurück, um Jus zu studieren. Sodann wollte er Notar werden, doch dazu bedurfte es einer freien Stelle und Beziehungen zur Obrigkeit, die dem liberal gesinnten Schindler abgingen. Anders als in Frankreich, wo der Ämterschacher (siehe Stendhals "Rot und Schwarz") blühte, war eine Notarstelle nicht erwerbbar.
Somit musste sich Schindler gedulden und zunächst als Richter und Staatsanwalt amtieren. Noch konnten Grundherren im Zivil- und Strafrecht ihre Untertanen richten, wozu sich betuchte Adelige geschulter Juristen bedienten. Bei Schindler dürfte diese Tätigkeit, angesichts seiner Aufgeschlossenheit für moderne soziale Ideen, für ein Umdenken und Hinterfragen von Vorurteilen gesorgt haben, die in Adelskreisen "einfachen" Leuten gegenüber bestanden.
Dieses Gedankengut floss in seine Dramen ein, von denen vor allem der "Theophrastus Paracelsus" Bekanntheit erlangte. Das Drama aus den 1850er Jahren dreht sich, nicht ganz überraschend, um ein Pest-Wundermittel ("Laudanum"), das nur der modern und egalitär eingestellte Arzt und Naturheiler kennt und einsetzt und das ihm die weniger erfolgreichen Fachkollegen aller Art abjagen wollen.
Einen geistlichen Herrn heilt Paracelsus so rasch von der Tuberkulose, dass ihm dieser das Honorar schuldig bleiben will. Der Reiz des Dramas besteht abgesehen von diesen kleinen Weisheiten im Salzburger Lokalkolorit und in den ironischen Zwischentönen, die an Raimund, aber auch an Nestroys Couplets erinnern. Richtig erkennt der Autor, dass künftig nicht das "Haben" (also der Besitz), sondern das "Wissen" die Welt regieren werde. Tatsächlich haben innovative Softwarepäpste und gewitzte Technologieentwickler wie Bill Gates, Mark Zuckerberg und Elon Musk diese These bestätigt.
Nicht mehr gespielt
Ein anderes zeitloses Paracelsus-Thema ist die Desinformation: Die Menschen plappern nur das nach, was sie von "Landfahrern, Scheerern und Nachrichtern" vorgesetzt bekommen. Schindler nahm somit bereits Nachrichtendienste wie Twitter und Instagram sowie Gratiszeitungen vorweg.
Ein Julius von heute hätte vermutlich über Wahlmanipulationen, die von fernen Zwiebeltürmen und verbotenen Städten bis zum Kongress und dem Bundestag reichen, geschrieben. Gnadenlos verurteilt sein Paracelsus die Unwissenheit und die Vorurteile der Bürger, aber auch der konservativ eingestellten Fachkollegen ("Schulfüchse").
Dass Schindler ausgerechnet dem Scharfrichter, den er auch in seiner Prosa anspricht ("Die Geschichte vom Scharfrichter Rosenfeld und seinem Pathen", 1853) eine humane, fürsorgliche Rolle beimisst, mag aus eigener Erfahrung oder einem besonders ironischen Einfall herrühren. Da sich einst niemand in der Nähe eines Henkers ansiedeln wollte, kann man heute noch an Szenerien wie dem "Rabenstein" erkennen, den Schindler beim Salzburger Linzertor unweit des alten "Hochgerichts" ansiedelte, wo er illustre Figuren wie den Famulus Oporinus nach Knochen und Versatzstücken für Laudanum suchen ließ.
So stellt sich die Frage, warum der "Paracelsus", den ein Wahlsalzburger schrieb, nicht mehr geschätzt und aufgeführt wird. Immerhin spielt das Stück unweit der Erzbischöflichen Residenz, wo Schindler sein ererbtes Vermögen in das Schloss Leopoldskron investierte, statt es zu verprassen.
Am Domplatz stellt Jahr für Jahr der "Jedermann", den Hugo von Hofmannsthal ja auch aus einem alten Volksstück kompiliert hat, einen der dramatischen Höhepunkte der Festspiele dar. Der von Schnitzler als "dämonisch" und sogar "satanisch" punzierte Sie-Freund Hugo hat aus der bäuerlichen Posse ein Drama über das Leben und Sterben des (in der Region gehäuft auftretenden) reichen Mannes und des (bis in den Pinzgau hinab) allseits herrschenden Mammon stilisiert.
Erlebnisreisen
Schon Grillparzer erkannte um 1852 in seiner heute unbekannten Rolle als Analytiker von fremden Theaterstücken, dass sich der spanische Dichter Lope de Vega deshalb so erfolgreich hielt, weil sich das gebildete Publikum seiner Heimat mit all seinen Anspielungen identifizieren konnte. Dasselbe gilt für Schindlers Figuren. Obwohl somit der "Jedermann" in Salzburg eine Art sakrosankten Dauerbrenner darstellt, an dem zu rühren noch kein Intendant wagte, könnte mit dem "Theophrastus Paracelsus" ein weiteres Werk mit einem ähnlichen, regional-literarischen Strickmuster samt tiefsinniger Aussage und Wiedererkennungswert neu belebt werden.
Was Schindlers materielle Verhältnisse betraf, hatte er trotz der Rückschläge in der politischen und juristischen Karriere stets sein Auskommen. Er lernte die Reformer und Großen seiner Zeit persönlich kennen, darunter Bauernfeld, Hartmann, Seidl, Storm und andere bedeutende Dichter.
Obwohl er nach einem Intermezzo als Staatsanwalt in Leoben und Graz den Staatsdienst quittieren musste (um 1854), fand er eine lukrative Stelle als Bevollmächtigter und Syndicus für die k.k. ungarischen Staatsbahnen. Nach den politischen Intrigen, die ihn sein Mandat kosteten, konnte er sich dank seines Erbes in Leopoldskron der Literatur widmen, musste aber krankheitsbedingt um 1883 wieder nach Wien zurückziehen.
Seine 1881 erschienenen "Exkursionen eines Österreichers", die in zwei Bänden mit fast 600 Seiten erschienen, umfassen zahlreiche Reiseberichte zwischen 1840 und 1879. Von "Herbsttagen im Mühlviertel" bis zu italienischen und mährischen Erlebnissen reicht das Spektrum des Dichterjuristen. Sie sind heute als Nach- und Neudrucke bei Hansabooks wieder verfügbar.
Wer sich in Alma Mahler-Werfels Tagebuchsuiten vertieft, erkennt die Formulierungsgabe der jungen Autorin, die ihr gefälliges Äußeres noch stärker wirken ließ. In Paulus Mankers bilderreicher Darstellung erscheint uns die Muse der Künstler um 1900 als erotisch-bebendes Kraftzentrum, doch als Mädchen war Alma wohlbehütet und genoss eine humanistische Erziehung.
Lange bevor ihre lebenslange Freundschaft mit Arthur Schnitzler begann und geraume Zeit vor ihrer Ehe mit Franz Werfel (sie währte von 1929 bis 1945) betätigte sich Alma literarisch und musikalisch. Ihre Anziehungskraft auf den Komponisten Alexander von Zemlinsky und den symphonischen Genius Gustav Mahler erscheint so nachvollziehbar. Früh verwitwet, stieß die in einer Josef-Hoffmann-Villa auf der Hohen Warte lebende Ästhetin auf den Architekten Walter Gropius und wurde in Puppenform zum Kokoschka-Sehnsuchtstraum, ehe sie an den begabten Lyriker und Erzähler Franz Werfel geriet, der von seinem Prager Kollegen Kafka liebevoll "der kleine Franz" genannt wurde (der große war er ja selbst!).
Lob von Theodor Storm
Sowohl im Schreibatelier in Döbling als auch im kalifornischen Exil erbrachte Werfel unter Almas Ehe-Herrschaft publizistische Höchstleistungen und erreichte dank Buchgemeinschaftsausgaben hohe Auflagenzahlen. Der Sohn eines Prager Handschuherzeugers bezahlte diese Erfolge, die er mit Romanbiografien (Verdi) und historischen Darstellungen ("Die vierzig Tage des Musa Dagh") erzielte, mit einem frühen Tod, den Alma nicht ihrem ehrgeizbeflügenden Schaffensdruck, sondern seinem exzessiven Kaffee- und Zigarrenkonsum zuschrieb.
Das literarische Talent der 1879 als Alma Schindler Geborenen könnte auf einen Vorfahren zurückgehen, der heute, 133 Jahre nach seinem Tod am 6. März 1885, fast vergessen ist. Am 26. September 1818 wurde Almas Großonkel, Alexander Julius Schindler, geboren, mit dem sie über den Maler Emil Jakob Schindler verwandt war. Im August 1872 war Julius von der Traun, wie er sich als Autor nannte, in seinem Schloss Leopoldskron bei Salzburg Gastgeber von Theodor Storm.
Der Jurist aus dem hohen Norden war, nachdem er das Reisegeld endlich erübrigen konnte, den mehrfachen Einladungen aus Österreich gefolgt und erlebte rund um Salzburg einen seltenen Auslandsaufenthalt voller Idyllen und Naturschönheiten. Kein Wunder, dass er Schindler in hohen Tönen lobte. Im Stall des schönen Rokoko-Lustschlosses warteten nicht nur zwei Reitpferde auf einen Ausritt, sondern auch prächtige Zugtiere, die Storm nach Hellbrunn und zum Unterberg brachten, der den norddeutschen Autor besonders faszinierte.
Schindler war eine vielseitige Persönlichkeit mit einer exzellenten Formulierungsgabe. Sei es als liberales Mitglied im Abgeordnetenhaus des Reichsrats, sei es als Autor volksnaher Dramen und von Reiseerzählungen, stets fielen dem Sohn eines Tuchfabrikanten originell-humorvolle Wendungen ein. Im Reichsrat duellierte er sich mit klerikalen Abgeordneten zum Amüsement seiner politischen Freunde. Sie bereiteten ihm allerdings eine Niederlage und hintertrieben seine Kandidatur, sodass er 1870 nicht mehr dem Parlament angehörte. Damals wurde noch indirekt gewählt: Grundbesitzer, Städte, Landtage, Gemeinden und Kammern beschickten das Abgeordnetenhaus. Erst ab 1873 entwickelte sich schrittweise das direkte Wahlrecht, zu spät für Schindler.
Interesse an Chemie
Der umtriebige Autor gab ab 1848 revolutionäre Schriften ("Zwanglose Blätter für Oberösterreich") heraus, die seine Karriere empfindlich behinderten. Er verfasste kritische Pamphlete, welche nicht mit Kritik am "Gesamtministerium" und dem Justizminister sparten. Ein Aliasname schien angebracht, wobei "Traun" auf Schindlers Tätigkeit in Steyr zurückgeht, wo er als Richter am Gut des Grafen Lamberg angestellt war.
Später amtierte er auch im Unterkärntner Wolfsberg als Patrimonialjustiziar. Schindler hatte sich erst in einem zweiten Anlauf für die juristische Laufbahn entschieden und zunächst an der Wiener Universität Philosophie studiert. Sein Interesse galt den Naturwissenschaften, namentlich der Chemie. In der Färberei eines Onkels setzte er seine Kenntnisse um, kehrte dann aber mit 23 Jahren in die Residenzstadt zurück, um Jus zu studieren. Sodann wollte er Notar werden, doch dazu bedurfte es einer freien Stelle und Beziehungen zur Obrigkeit, die dem liberal gesinnten Schindler abgingen. Anders als in Frankreich, wo der Ämterschacher (siehe Stendhals "Rot und Schwarz") blühte, war eine Notarstelle nicht erwerbbar.
Somit musste sich Schindler gedulden und zunächst als Richter und Staatsanwalt amtieren. Noch konnten Grundherren im Zivil- und Strafrecht ihre Untertanen richten, wozu sich betuchte Adelige geschulter Juristen bedienten. Bei Schindler dürfte diese Tätigkeit, angesichts seiner Aufgeschlossenheit für moderne soziale Ideen, für ein Umdenken und Hinterfragen von Vorurteilen gesorgt haben, die in Adelskreisen "einfachen" Leuten gegenüber bestanden.
Dieses Gedankengut floss in seine Dramen ein, von denen vor allem der "Theophrastus Paracelsus" Bekanntheit erlangte. Das Drama aus den 1850er Jahren dreht sich, nicht ganz überraschend, um ein Pest-Wundermittel ("Laudanum"), das nur der modern und egalitär eingestellte Arzt und Naturheiler kennt und einsetzt und das ihm die weniger erfolgreichen Fachkollegen aller Art abjagen wollen.
Einen geistlichen Herrn heilt Paracelsus so rasch von der Tuberkulose, dass ihm dieser das Honorar schuldig bleiben will. Der Reiz des Dramas besteht abgesehen von diesen kleinen Weisheiten im Salzburger Lokalkolorit und in den ironischen Zwischentönen, die an Raimund, aber auch an Nestroys Couplets erinnern. Richtig erkennt der Autor, dass künftig nicht das "Haben" (also der Besitz), sondern das "Wissen" die Welt regieren werde. Tatsächlich haben innovative Softwarepäpste und gewitzte Technologieentwickler wie Bill Gates, Mark Zuckerberg und Elon Musk diese These bestätigt.
Nicht mehr gespielt
Ein anderes zeitloses Paracelsus-Thema ist die Desinformation: Die Menschen plappern nur das nach, was sie von "Landfahrern, Scheerern und Nachrichtern" vorgesetzt bekommen. Schindler nahm somit bereits Nachrichtendienste wie Twitter und Instagram sowie Gratiszeitungen vorweg.
Ein Julius von heute hätte vermutlich über Wahlmanipulationen, die von fernen Zwiebeltürmen und verbotenen Städten bis zum Kongress und dem Bundestag reichen, geschrieben. Gnadenlos verurteilt sein Paracelsus die Unwissenheit und die Vorurteile der Bürger, aber auch der konservativ eingestellten Fachkollegen ("Schulfüchse").
Dass Schindler ausgerechnet dem Scharfrichter, den er auch in seiner Prosa anspricht ("Die Geschichte vom Scharfrichter Rosenfeld und seinem Pathen", 1853) eine humane, fürsorgliche Rolle beimisst, mag aus eigener Erfahrung oder einem besonders ironischen Einfall herrühren. Da sich einst niemand in der Nähe eines Henkers ansiedeln wollte, kann man heute noch an Szenerien wie dem "Rabenstein" erkennen, den Schindler beim Salzburger Linzertor unweit des alten "Hochgerichts" ansiedelte, wo er illustre Figuren wie den Famulus Oporinus nach Knochen und Versatzstücken für Laudanum suchen ließ.
So stellt sich die Frage, warum der "Paracelsus", den ein Wahlsalzburger schrieb, nicht mehr geschätzt und aufgeführt wird. Immerhin spielt das Stück unweit der Erzbischöflichen Residenz, wo Schindler sein ererbtes Vermögen in das Schloss Leopoldskron investierte, statt es zu verprassen.
Am Domplatz stellt Jahr für Jahr der "Jedermann", den Hugo von Hofmannsthal ja auch aus einem alten Volksstück kompiliert hat, einen der dramatischen Höhepunkte der Festspiele dar. Der von Schnitzler als "dämonisch" und sogar "satanisch" punzierte Sie-Freund Hugo hat aus der bäuerlichen Posse ein Drama über das Leben und Sterben des (in der Region gehäuft auftretenden) reichen Mannes und des (bis in den Pinzgau hinab) allseits herrschenden Mammon stilisiert.
Erlebnisreisen
Schon Grillparzer erkannte um 1852 in seiner heute unbekannten Rolle als Analytiker von fremden Theaterstücken, dass sich der spanische Dichter Lope de Vega deshalb so erfolgreich hielt, weil sich das gebildete Publikum seiner Heimat mit all seinen Anspielungen identifizieren konnte. Dasselbe gilt für Schindlers Figuren. Obwohl somit der "Jedermann" in Salzburg eine Art sakrosankten Dauerbrenner darstellt, an dem zu rühren noch kein Intendant wagte, könnte mit dem "Theophrastus Paracelsus" ein weiteres Werk mit einem ähnlichen, regional-literarischen Strickmuster samt tiefsinniger Aussage und Wiedererkennungswert neu belebt werden.
Was Schindlers materielle Verhältnisse betraf, hatte er trotz der Rückschläge in der politischen und juristischen Karriere stets sein Auskommen. Er lernte die Reformer und Großen seiner Zeit persönlich kennen, darunter Bauernfeld, Hartmann, Seidl, Storm und andere bedeutende Dichter.
Obwohl er nach einem Intermezzo als Staatsanwalt in Leoben und Graz den Staatsdienst quittieren musste (um 1854), fand er eine lukrative Stelle als Bevollmächtigter und Syndicus für die k.k. ungarischen Staatsbahnen. Nach den politischen Intrigen, die ihn sein Mandat kosteten, konnte er sich dank seines Erbes in Leopoldskron der Literatur widmen, musste aber krankheitsbedingt um 1883 wieder nach Wien zurückziehen.
Seine 1881 erschienenen "Exkursionen eines Österreichers", die in zwei Bänden mit fast 600 Seiten erschienen, umfassen zahlreiche Reiseberichte zwischen 1840 und 1879. Von "Herbsttagen im Mühlviertel" bis zu italienischen und mährischen Erlebnissen reicht das Spektrum des Dichterjuristen. Sie sind heute als Nach- und Neudrucke bei Hansabooks wieder verfügbar.
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weitere Informationen...
Gerhard Strejcek
Wahlrecht: Strafen für Fehler bei Auszählung zu streng
Die Presse, 09.09.2018
Im Parlament wird über eine Reform von Briefwahl und Wahlgerichtsbarkeit diskutiert. Diese funktioniert allerdings ohnehin vorbildlich. Und nicht alles, was nach Verbesserung klingt,
ist auch juristisch umsetzbar.
Wien. Am Donnerstag (13.September) findet im Parlament eine Enquete statt, bei der sich Präsident Wolfgang Sobotka und die Klubobleute Vorschläge zur Reform von Briefwahl und Wahlgerichtsbarkeit anhören wollen; auch die Experten des Innenministeriums, darunter der Bundeswahlleiter, sind vertreten. Also eine eher hochkarätige Runde, die auch Zugang zu Umsetzungen hat, wenn es dafür einen politischen Konsens geben sollte.
Dass sich Beobachter aus der sogenannten Zivilgesellschaft für Wahlrecht und Wahlgerichtsbarkeit interessieren, ist eher neu in Österreich. Grundsätzlich ist es von Vorteil, wenn ein sachlicher Diskurs über eine Reform stattfindet, und wenn sich daran auch Laien beteiligen. Aber nicht alles, was nach Verbesserung klingt, ist juristisch umsetzbar und bringt ein Mehr an Rechtsschutz.
Schon im Vorfeld gab es, wie „Die Presse“ berichtete, von NGOs Vorschläge, wie z. B. eine neue Gestaltung der Anfechtungsregeln im Zusammenhang mit den Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Von einer Möglichkeit des präventiven (vorläufigen) Rechtsschutzes war die Rede und, dass der VfGH künftig nur mehr Wahlen aufheben soll, wenn eine „Manipulation tatsächlich stattfand“. Als langjähriger Analytiker und Kompilator der Wahlgerichtsbarkeit machen mich diese Ideen besorgt. Sie sind weder neu, noch passen sie in das bewährte System der Kontrolle im Nachhinein (ex post). Einstweilige Verfügungen (z. B. wegen dirty campaigning, wie sie Kanzler Kurz anregte), gehören den Zivilgerichten. Der Wahlschutz ist hingegen Teil der Strafjustiz, soll Nötigungen, Fälschungen und andere „Manipulationen“ hintanhalten.
Der VfGH hingegen soll weiterhin ex post über Anfechtungen von Wahlen und direktdemokratischen Instrumenten entscheiden und das aktive Wahlrecht Einzelner wahren, die zu Unrecht an der Wahl nicht teilnehmen dürfen, sowie über den Mandatsverlust entscheiden. Dieser betrifft das passive Wahlrecht von Mandatsträgern, die meinen, zu Unrecht von Behörden „abgesetzt“ worden zu sein, oder die aus anderen Gründen des Mandats verlustig gehen, womöglich erst auf Antrag eines Vertretungskörpers beim VfGH selbst (Fall „Rosenstingl“ usw.). Kaum ein Land bietet einen solchen umfassenden Rechtsschutz, weshalb gerade hier der Reformbedarf gering ist. Dennoch sollen hier Pro und Contra erwogen werden.
Schon im Zusammenhang mit der Aufhebung der Stichwahl der Bundespräsidentenwahl 2016 war oft von möglichen „Manipulationen“ die Rede; der VfGH hat allerdings über Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens zu entscheiden, das ist nicht deckungsgleich. Manipulationen sind eher ein Fall für die Strafgerichte, den sogenannten Wahlschutz gibt es im Justizstrafrecht bereits seit 1906.
Von Manipulation keine Spur
Nicht unmittelbar dazu zählen Amtsdelikte und Falschbeurkundungen, wie sie unlängst in Klagenfurt judiziert wurden. Ich kann den Beifall für die strengen Strafen nicht teilen; zwar muss ein Beamter die Finger von arrogierten Zuständigkeiten lassen und darf keinesfalls einen Vorgang (Auszählung durch Wahlkommission), der so nicht stattgefunden hat, auch noch wissentlich falsch protokollieren. Aber angesichts der Tatsache, dass die Betroffenen sehr unter Druck standen und korrekt gezählt haben, fielen die Strafen zu streng aus. Soll uns nichts Schlimmeres passieren, als übereifrige und fleißige Beamte und Bürgermeister, die ein solches Verhalten, wenn auch klar rechtswidrig, decken. Von Manipulation (z. B. Wahlfälschung) oder einem anderen Wahlschutzthema (Wählernötigung) war aber wieder keine Rede.
Demnach hätte der VfGH, ginge es nach den NGOs, bis Sommer 2018 mit einer Entscheidung zuwarten müssen, um Klarheit darüber zu haben, dass nichts „manipuliert“ wurde. Absurd, oder? Selbst aber kann und darf der VfGH solche Vorgänge nicht im Detail aufklären; schon gar nicht darf der VfGH das Wahlgeheimnis brechen oder die freie Wahl beeinträchtigen (Art 3 1. ZPMRK).
Hingegen soll der VfGH weiterhin ergebnisrelevante „Wahlfehler“ ahnden. Was erheblich ist, muss der VfGH im Wege einer Prognose entscheiden, für die er keine Statistiker braucht. Das können die Mitglieder auch selbst, die allesamt eine hohe intellektuelle Kapazität aufweisen und die auch ihre eigene Judikatur gut kennen.
Nach wie vor bin ich daher der Ansicht, dass der VfGH (zu W I-6/ 2016) richtig entschieden hat und, dass genau dieser Fall gezeigt hat, dass unser System seit Georg Jellineks theoretischer Pionierleistung vorbildlich funktioniert. Von Jellinek stammt das Gutachten für ein echtes Wahlgericht, das er vor 1900 erstellt hat; umgesetzt wurde es aber erst im B-VG 1920 als Anfechtungsmöglichkeit von Wahlen des National-, des Bundesrats, der Landtage und sonstiger allgemeiner Vertretungskörper durch Wählergruppen von Kelsen. Alle anderen Zuständigkeiten kamen später dazu; wenn man neue will, kann man darüber reden, die bisherigen sollen aber so bleiben, wie sie sind.
Wien. Am Donnerstag (13.September) findet im Parlament eine Enquete statt, bei der sich Präsident Wolfgang Sobotka und die Klubobleute Vorschläge zur Reform von Briefwahl und Wahlgerichtsbarkeit anhören wollen; auch die Experten des Innenministeriums, darunter der Bundeswahlleiter, sind vertreten. Also eine eher hochkarätige Runde, die auch Zugang zu Umsetzungen hat, wenn es dafür einen politischen Konsens geben sollte.
Dass sich Beobachter aus der sogenannten Zivilgesellschaft für Wahlrecht und Wahlgerichtsbarkeit interessieren, ist eher neu in Österreich. Grundsätzlich ist es von Vorteil, wenn ein sachlicher Diskurs über eine Reform stattfindet, und wenn sich daran auch Laien beteiligen. Aber nicht alles, was nach Verbesserung klingt, ist juristisch umsetzbar und bringt ein Mehr an Rechtsschutz.
Schon im Vorfeld gab es, wie „Die Presse“ berichtete, von NGOs Vorschläge, wie z. B. eine neue Gestaltung der Anfechtungsregeln im Zusammenhang mit den Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Von einer Möglichkeit des präventiven (vorläufigen) Rechtsschutzes war die Rede und, dass der VfGH künftig nur mehr Wahlen aufheben soll, wenn eine „Manipulation tatsächlich stattfand“. Als langjähriger Analytiker und Kompilator der Wahlgerichtsbarkeit machen mich diese Ideen besorgt. Sie sind weder neu, noch passen sie in das bewährte System der Kontrolle im Nachhinein (ex post). Einstweilige Verfügungen (z. B. wegen dirty campaigning, wie sie Kanzler Kurz anregte), gehören den Zivilgerichten. Der Wahlschutz ist hingegen Teil der Strafjustiz, soll Nötigungen, Fälschungen und andere „Manipulationen“ hintanhalten.
Der VfGH hingegen soll weiterhin ex post über Anfechtungen von Wahlen und direktdemokratischen Instrumenten entscheiden und das aktive Wahlrecht Einzelner wahren, die zu Unrecht an der Wahl nicht teilnehmen dürfen, sowie über den Mandatsverlust entscheiden. Dieser betrifft das passive Wahlrecht von Mandatsträgern, die meinen, zu Unrecht von Behörden „abgesetzt“ worden zu sein, oder die aus anderen Gründen des Mandats verlustig gehen, womöglich erst auf Antrag eines Vertretungskörpers beim VfGH selbst (Fall „Rosenstingl“ usw.). Kaum ein Land bietet einen solchen umfassenden Rechtsschutz, weshalb gerade hier der Reformbedarf gering ist. Dennoch sollen hier Pro und Contra erwogen werden.
Schon im Zusammenhang mit der Aufhebung der Stichwahl der Bundespräsidentenwahl 2016 war oft von möglichen „Manipulationen“ die Rede; der VfGH hat allerdings über Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens zu entscheiden, das ist nicht deckungsgleich. Manipulationen sind eher ein Fall für die Strafgerichte, den sogenannten Wahlschutz gibt es im Justizstrafrecht bereits seit 1906.
Von Manipulation keine Spur
Nicht unmittelbar dazu zählen Amtsdelikte und Falschbeurkundungen, wie sie unlängst in Klagenfurt judiziert wurden. Ich kann den Beifall für die strengen Strafen nicht teilen; zwar muss ein Beamter die Finger von arrogierten Zuständigkeiten lassen und darf keinesfalls einen Vorgang (Auszählung durch Wahlkommission), der so nicht stattgefunden hat, auch noch wissentlich falsch protokollieren. Aber angesichts der Tatsache, dass die Betroffenen sehr unter Druck standen und korrekt gezählt haben, fielen die Strafen zu streng aus. Soll uns nichts Schlimmeres passieren, als übereifrige und fleißige Beamte und Bürgermeister, die ein solches Verhalten, wenn auch klar rechtswidrig, decken. Von Manipulation (z. B. Wahlfälschung) oder einem anderen Wahlschutzthema (Wählernötigung) war aber wieder keine Rede.
Demnach hätte der VfGH, ginge es nach den NGOs, bis Sommer 2018 mit einer Entscheidung zuwarten müssen, um Klarheit darüber zu haben, dass nichts „manipuliert“ wurde. Absurd, oder? Selbst aber kann und darf der VfGH solche Vorgänge nicht im Detail aufklären; schon gar nicht darf der VfGH das Wahlgeheimnis brechen oder die freie Wahl beeinträchtigen (Art 3 1. ZPMRK).
Hingegen soll der VfGH weiterhin ergebnisrelevante „Wahlfehler“ ahnden. Was erheblich ist, muss der VfGH im Wege einer Prognose entscheiden, für die er keine Statistiker braucht. Das können die Mitglieder auch selbst, die allesamt eine hohe intellektuelle Kapazität aufweisen und die auch ihre eigene Judikatur gut kennen.
Nach wie vor bin ich daher der Ansicht, dass der VfGH (zu W I-6/ 2016) richtig entschieden hat und, dass genau dieser Fall gezeigt hat, dass unser System seit Georg Jellineks theoretischer Pionierleistung vorbildlich funktioniert. Von Jellinek stammt das Gutachten für ein echtes Wahlgericht, das er vor 1900 erstellt hat; umgesetzt wurde es aber erst im B-VG 1920 als Anfechtungsmöglichkeit von Wahlen des National-, des Bundesrats, der Landtage und sonstiger allgemeiner Vertretungskörper durch Wählergruppen von Kelsen. Alle anderen Zuständigkeiten kamen später dazu; wenn man neue will, kann man darüber reden, die bisherigen sollen aber so bleiben, wie sie sind.
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Gerhard Strejcek
Wo sogar Ehen gestiftet wurden
Wiener Zeitung, 01.09.2018
Der Wiener Stadtforscher Peter Payer hat eine eindrucksvolle Kulturgeschichte der Aufzüge vorgelegt.
In Karl Kraus’ epischer Abrechnung mit dem Ersten Weltkrieg, "Die letzten Tagen der Menschheit", deren Epilog 1917 im Schweizer Kanton Glarus entstand, spielt das "Sirk-Eck" eine wichtige Rolle. Gegenüber der Hofoper (heute: Staatsoper) defilierten die modebewussten Wienerinnen mit Hüten, die in Ascot Furore gemacht hätten und betörten die wohlhabenden sowie einflussreichen Geschäftsleute, die sich mit ihren Gehröcken, -stöcken und Zylindern auf der Ringstraße vor dem Hotel "Bristol" wichtig machten. Darunter befanden sich der Präsident der "Anglobank", Julius von Landesberger, und der "Bodencredit"-Gouverneur Rudolf Sieghart, die Kraus besonders aufs Korn nahm, weil sie als Financiers und Einflüsterer der Habsburger galten.
Wer im wahrsten Sinn des Wortes hinter die Kulissen dieser Szenerie blicken möchte, sollte das neue, bibliophile Werk von Stadtforscher und Historiker Peter Payer zur Hand nehmen. Payer, der auch als Kurator im Technischen Museum wirkt, gelingt mit der Aufzugsgeschichte "Auf und Ab" ein großer kulturgeschichtlicher Wurf. Der Autor zeigt dem Leser das "Bristol" und die Rotisserie "Sirk" nicht nur mit den fotografischen Augen des Literaten und Chronisten, sondern er liefert dem Betrachter auch Einblick in einen Aufzug der Sonderklasse.
Mit Ledercouch
Der vergoldete "Bristol"-Fahrstuhl (renoviert 1995) mit Marmorboden und einer Ledercouch für müde Hotelgäste ist an Luxus kaum zu überbieten. Vor der Schiebetür des Lifts weisen Messingschilder zu den noblen Salons im Unter- und Obergeschoß. Wer diese Transporthilfe betreten darf, der hat es geschafft und zählt zu den Oberen Zehntausend, möchte man meinen.
Im Gegensatz dazu nehmen sich die zahlreichen Paternoster, welche Payer dokumentiert, wie basisdemokratische Statements der Technikgeschichte aus. Jedem Benutzer steht derselbe, meist schmucklose Kabinentyp zur Verfügung, auch die noble Hofratswitwe muss das Bein heben, um rasch den offen dahingleitenden Aufzug zu betreten. Leider handelt es sich bei den hölzernen Permanentaufzügen, die durch niedrige Wartezeiten und hohes Passagieraufkommen punkten, um eine aussterbende Spezies.
Wer in Wien mit einem Paternoster auf- oder abwärts fahren möchte, muss diese erlebnisreiche Fahrt in einem der wenigen öffentlich zugänglichen Gebäude verrichten, wofür sich vor allem das Rathaus auf der - vom Zentrum aus gesehen - "rechten" Seite der Felderstraße (Ein- und Ausgang wenden sich der Votivkirche zu) anbietet. Aber auch hier gilt, dass der gute alte Paternoster der Favoritner Firma Freissler, der mehr als hundert Jahre auf der Umlenk-Welle hat, immer seltener in Betrieb ist.
Die meisten Benutzer der Wien-Bibliothek scheuen den Umweg zum Holzaufzug und nehmen den modernen Kone-Glaskobel, der eine beachtliche Rundumsicht in einen der Höfe bietet und zudem rasch das Ziel im dritten Zwischengeschoß erreicht. Der Paternoster-Benutzer rumpelt hingegen mit gemischten Gefühlen an drei Auslässen vorbei und erwischt im schlimmsten Fall den richtigen Ausstieg nicht rechtzeitig.
Sodann beginnt ein Abschnitt, den Internet-User und Aufzugsfans zu Recht als "spooky" bezeichnen, weil der Paternoster in einem kafkaesk-dachbodenartigen, nur matt von einer Glühbirne beleuchteten Raum die Kabine über den Totpunkt hebt, die dann, natürlich ohne umzudrehen, sanft bergab gleitet.
Allein die Akustik dieses Vorgangs und der kurze Einblick in die Umlenkmechanik sind den Ausflug wert. Man kann auch bei Zusehern für Furore sorgen, indem man sich den kleinen Scherz erlaubt und beim Umlenken einen Kopfstand macht, was aber nicht empfehlenswert ist.
Der NIG-Paternoster
Die Gründe, warum die Paternoster verschwinden (zuletzt fand eine Still-Legung im Bundesrechenzentrum 2017 statt), liegen bei Wartungskosten und der Fehlbedienung dieser sicheren Aufzüge, welche laut Payer keiner Fangvorrichtung bedürfen.
Ein Paternoster, der überaus nutzbringend war, brachte im Neuen Institutsgebäude an der Universitätsstraße Studierende, Lehrende und Gäste von den 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende bis fast in die Mensa im Dachgeschoß und überwand dabei immerhin acht Etagen. Doch eines Tages stieg eine junge Mutter mit Kinderwagen in den dafür nicht zugelassenen Lift und verkeilte diesen, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Lastentransporte sind in Paternostern immer verboten, dasselbe gilt für schweres Gepäck, Fahrräder und eben auch Kinderwagen.
Der Vorfall markierte das Ende des modernen Umlauflifts mit Resopalanmutung, in dem zwei Fahrgäste zusammengewürfelt wurden. Vermutlich stiftete der Paternoster sogar Ehen, es sei denn eine dritte Person stieg im ersten Stock unerlaubt hinzu. Der NIG-Paternoster ist jedenfalls Geschichte, seither müssen Mensabesucher auf einen der Pendellifte warten. Dafür ist man heute rascher am Ziel.
Film-Klassiker
Auch das Wiener Straflandesgericht, das "Einser-Landl" an der alten Lastenstraße (= Landesgerichtsstraße oder "Zweier-Linie") verfügte, wie sich aus Payers Monumentalwerk ergibt, über einen Paternoster, der auch fotografisch dokumentiert ist. Unweigerlich denkt der Leser an den "Fahrstuhl zum Schaffott" ("L’ascenseur pour l‘échafaud"), einen Krimi, den Louis Malle 1958 mit Jeanne Moreau verfilmt und den Jazztrompeter Miles Davis musikalisch in Szene gesetzt hat.
Doch sowohl der Würgegalgen der Österreicher als auch die Guillotine der NS-Machthaber standen im Erdgeschoss, die Delinquenten gingen zu Fuß von den Zellen bergab in diese Stätte des Schreckens, die heute einen Gedenkraum beherbergt.
Payer klärt den Leser auf, dass Hamburg die eigentliche Paternoster-Hochburg war, aber auch die Wiener Firma Freissler einige dieser in der Anschaffung teuren, im Betrieb jedoch (mangels Aufzugsbegleiters) billigen Massenbeförderungsmittel herstellte und liebevoll individualisierte, wie den noch existenten Lift im "Haus der Industrie" am Schwarzenbergplatz. Freissler stieg zum liberalen Abgeordneten im Reichsrat auf und belieferte vom Favoritner Davidplatz aus internationale Kunden mit seinen innovativen Produkten. Neben Aufzügen entwarf er auch imposante Lastenkräne, die in Docks und Bergwerken Verwendung fanden. Die Firma wurde später vom amerikanischen Aufzugsgiganten Otis übernommen. Am Wienerberg stand auch die Fabrik von Wertheim, neben Füglister (seit 1888) und Theodor d’Ester Marktführer in Wien.
Gesamtkunstwerk
Payer beschränkt sich nicht auf Paternoster, sondern zeigt Rolltreppen und Pendellifte, darunter wunderschöne Jugendstilmodelle. Edle Kabinen-Modelle stammten vom Hersteller Petravic, der Aufzugs- und Tresorfirma Wertheim sowie von Freissler und d’Ester. Kristallglas und Furniere gestalteten die Kabinen, die mit moderner Steuerungstechnik und Fangvorrichtungen ausgestattet waren oder nachgerüstet wurden. Allein die Schalter aus Porzellan und die kunstvollen Messingknöpfe und -schilder formierten ein Gesamtkunstwerk, dessen kulturhistorische Bedeutung der technikaffine Autor in den Vordergrund hebt.
Payer lässt aber auch die soziale Komponente des Aufzugsbaus nicht außer Acht. Denn während in der k.u.k. Monarchie und noch weit in die Erste Republik hinein das edle Berganschweben in Wohn- und Geschäftshäusern das Vorrecht privilegierter Wiener Bürger und bis zum März 1919 auch Adeliger war, ließ in der Zweiten Republik das wiedererstandene Wohnbauprogramm der Gemeinde verbunden mit einfacheren Aufzugskonstruktionen eine technische Aufrüstung der jüngeren Gemeindebauten zu. Dasselbe galt für die Wohnhäuser von Genossenschaften.
Das vorliegende Werk vermittelt eindrucksvoll, wie eng die Geschichte der mechanisierten Aufzüge mit kulturellen und sozialhistorischen Aspekten verbunden ist. Payer gelingt es, die paradigmatische Funktion und das Protzgehabe, das mit den "SUVs" der Gründerzeit verbunden war, in Wort und Bild zu bannen, wobei mehr als 150 Abbildungen auch den Preis einer halben Tankfüllung rechtfertigen.
Information:
Peter Payer
Auf und Ab
Eine Kulturgeschichte des Aufzugs in Wien.
Brandstätter 2018, ca 200 Seiten
In Karl Kraus’ epischer Abrechnung mit dem Ersten Weltkrieg, "Die letzten Tagen der Menschheit", deren Epilog 1917 im Schweizer Kanton Glarus entstand, spielt das "Sirk-Eck" eine wichtige Rolle. Gegenüber der Hofoper (heute: Staatsoper) defilierten die modebewussten Wienerinnen mit Hüten, die in Ascot Furore gemacht hätten und betörten die wohlhabenden sowie einflussreichen Geschäftsleute, die sich mit ihren Gehröcken, -stöcken und Zylindern auf der Ringstraße vor dem Hotel "Bristol" wichtig machten. Darunter befanden sich der Präsident der "Anglobank", Julius von Landesberger, und der "Bodencredit"-Gouverneur Rudolf Sieghart, die Kraus besonders aufs Korn nahm, weil sie als Financiers und Einflüsterer der Habsburger galten.
Wer im wahrsten Sinn des Wortes hinter die Kulissen dieser Szenerie blicken möchte, sollte das neue, bibliophile Werk von Stadtforscher und Historiker Peter Payer zur Hand nehmen. Payer, der auch als Kurator im Technischen Museum wirkt, gelingt mit der Aufzugsgeschichte "Auf und Ab" ein großer kulturgeschichtlicher Wurf. Der Autor zeigt dem Leser das "Bristol" und die Rotisserie "Sirk" nicht nur mit den fotografischen Augen des Literaten und Chronisten, sondern er liefert dem Betrachter auch Einblick in einen Aufzug der Sonderklasse.
Mit Ledercouch
Der vergoldete "Bristol"-Fahrstuhl (renoviert 1995) mit Marmorboden und einer Ledercouch für müde Hotelgäste ist an Luxus kaum zu überbieten. Vor der Schiebetür des Lifts weisen Messingschilder zu den noblen Salons im Unter- und Obergeschoß. Wer diese Transporthilfe betreten darf, der hat es geschafft und zählt zu den Oberen Zehntausend, möchte man meinen.
Im Gegensatz dazu nehmen sich die zahlreichen Paternoster, welche Payer dokumentiert, wie basisdemokratische Statements der Technikgeschichte aus. Jedem Benutzer steht derselbe, meist schmucklose Kabinentyp zur Verfügung, auch die noble Hofratswitwe muss das Bein heben, um rasch den offen dahingleitenden Aufzug zu betreten. Leider handelt es sich bei den hölzernen Permanentaufzügen, die durch niedrige Wartezeiten und hohes Passagieraufkommen punkten, um eine aussterbende Spezies.
Wer in Wien mit einem Paternoster auf- oder abwärts fahren möchte, muss diese erlebnisreiche Fahrt in einem der wenigen öffentlich zugänglichen Gebäude verrichten, wofür sich vor allem das Rathaus auf der - vom Zentrum aus gesehen - "rechten" Seite der Felderstraße (Ein- und Ausgang wenden sich der Votivkirche zu) anbietet. Aber auch hier gilt, dass der gute alte Paternoster der Favoritner Firma Freissler, der mehr als hundert Jahre auf der Umlenk-Welle hat, immer seltener in Betrieb ist.
Die meisten Benutzer der Wien-Bibliothek scheuen den Umweg zum Holzaufzug und nehmen den modernen Kone-Glaskobel, der eine beachtliche Rundumsicht in einen der Höfe bietet und zudem rasch das Ziel im dritten Zwischengeschoß erreicht. Der Paternoster-Benutzer rumpelt hingegen mit gemischten Gefühlen an drei Auslässen vorbei und erwischt im schlimmsten Fall den richtigen Ausstieg nicht rechtzeitig.
Sodann beginnt ein Abschnitt, den Internet-User und Aufzugsfans zu Recht als "spooky" bezeichnen, weil der Paternoster in einem kafkaesk-dachbodenartigen, nur matt von einer Glühbirne beleuchteten Raum die Kabine über den Totpunkt hebt, die dann, natürlich ohne umzudrehen, sanft bergab gleitet.
Allein die Akustik dieses Vorgangs und der kurze Einblick in die Umlenkmechanik sind den Ausflug wert. Man kann auch bei Zusehern für Furore sorgen, indem man sich den kleinen Scherz erlaubt und beim Umlenken einen Kopfstand macht, was aber nicht empfehlenswert ist.
Der NIG-Paternoster
Die Gründe, warum die Paternoster verschwinden (zuletzt fand eine Still-Legung im Bundesrechenzentrum 2017 statt), liegen bei Wartungskosten und der Fehlbedienung dieser sicheren Aufzüge, welche laut Payer keiner Fangvorrichtung bedürfen.
Ein Paternoster, der überaus nutzbringend war, brachte im Neuen Institutsgebäude an der Universitätsstraße Studierende, Lehrende und Gäste von den 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende bis fast in die Mensa im Dachgeschoß und überwand dabei immerhin acht Etagen. Doch eines Tages stieg eine junge Mutter mit Kinderwagen in den dafür nicht zugelassenen Lift und verkeilte diesen, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Lastentransporte sind in Paternostern immer verboten, dasselbe gilt für schweres Gepäck, Fahrräder und eben auch Kinderwagen.
Der Vorfall markierte das Ende des modernen Umlauflifts mit Resopalanmutung, in dem zwei Fahrgäste zusammengewürfelt wurden. Vermutlich stiftete der Paternoster sogar Ehen, es sei denn eine dritte Person stieg im ersten Stock unerlaubt hinzu. Der NIG-Paternoster ist jedenfalls Geschichte, seither müssen Mensabesucher auf einen der Pendellifte warten. Dafür ist man heute rascher am Ziel.
Film-Klassiker
Auch das Wiener Straflandesgericht, das "Einser-Landl" an der alten Lastenstraße (= Landesgerichtsstraße oder "Zweier-Linie") verfügte, wie sich aus Payers Monumentalwerk ergibt, über einen Paternoster, der auch fotografisch dokumentiert ist. Unweigerlich denkt der Leser an den "Fahrstuhl zum Schaffott" ("L’ascenseur pour l‘échafaud"), einen Krimi, den Louis Malle 1958 mit Jeanne Moreau verfilmt und den Jazztrompeter Miles Davis musikalisch in Szene gesetzt hat.
Doch sowohl der Würgegalgen der Österreicher als auch die Guillotine der NS-Machthaber standen im Erdgeschoss, die Delinquenten gingen zu Fuß von den Zellen bergab in diese Stätte des Schreckens, die heute einen Gedenkraum beherbergt.
Payer klärt den Leser auf, dass Hamburg die eigentliche Paternoster-Hochburg war, aber auch die Wiener Firma Freissler einige dieser in der Anschaffung teuren, im Betrieb jedoch (mangels Aufzugsbegleiters) billigen Massenbeförderungsmittel herstellte und liebevoll individualisierte, wie den noch existenten Lift im "Haus der Industrie" am Schwarzenbergplatz. Freissler stieg zum liberalen Abgeordneten im Reichsrat auf und belieferte vom Favoritner Davidplatz aus internationale Kunden mit seinen innovativen Produkten. Neben Aufzügen entwarf er auch imposante Lastenkräne, die in Docks und Bergwerken Verwendung fanden. Die Firma wurde später vom amerikanischen Aufzugsgiganten Otis übernommen. Am Wienerberg stand auch die Fabrik von Wertheim, neben Füglister (seit 1888) und Theodor d’Ester Marktführer in Wien.
Gesamtkunstwerk
Payer beschränkt sich nicht auf Paternoster, sondern zeigt Rolltreppen und Pendellifte, darunter wunderschöne Jugendstilmodelle. Edle Kabinen-Modelle stammten vom Hersteller Petravic, der Aufzugs- und Tresorfirma Wertheim sowie von Freissler und d’Ester. Kristallglas und Furniere gestalteten die Kabinen, die mit moderner Steuerungstechnik und Fangvorrichtungen ausgestattet waren oder nachgerüstet wurden. Allein die Schalter aus Porzellan und die kunstvollen Messingknöpfe und -schilder formierten ein Gesamtkunstwerk, dessen kulturhistorische Bedeutung der technikaffine Autor in den Vordergrund hebt.
Payer lässt aber auch die soziale Komponente des Aufzugsbaus nicht außer Acht. Denn während in der k.u.k. Monarchie und noch weit in die Erste Republik hinein das edle Berganschweben in Wohn- und Geschäftshäusern das Vorrecht privilegierter Wiener Bürger und bis zum März 1919 auch Adeliger war, ließ in der Zweiten Republik das wiedererstandene Wohnbauprogramm der Gemeinde verbunden mit einfacheren Aufzugskonstruktionen eine technische Aufrüstung der jüngeren Gemeindebauten zu. Dasselbe galt für die Wohnhäuser von Genossenschaften.
Das vorliegende Werk vermittelt eindrucksvoll, wie eng die Geschichte der mechanisierten Aufzüge mit kulturellen und sozialhistorischen Aspekten verbunden ist. Payer gelingt es, die paradigmatische Funktion und das Protzgehabe, das mit den "SUVs" der Gründerzeit verbunden war, in Wort und Bild zu bannen, wobei mehr als 150 Abbildungen auch den Preis einer halben Tankfüllung rechtfertigen.
Information:
Peter Payer
Auf und Ab
Eine Kulturgeschichte des Aufzugs in Wien.
Brandstätter 2018, ca 200 Seiten
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Gerhard Strejcek
Dacapo für einen Tiefgang
Wiener Zeitung, 04.08.2018
"Das Boot" wurde neu gedreht und kommt im Herbst als TV-Serie heraus. Inzwischen ist über den Autor einiges mehr bekannt geworden.
Der deutsche Autor, Maler und ehemalige Kriegsberichterstatter Lothar-Günther Buchheim (1918 2007) veröffentlichte Anfang der Siebzigerjahre den Roman "Das Boot", in dem er das Schicksal einer deutschen U-Bootbesatzung im Zweiten Weltkrieg beleuchtete. Die Verfilmung erregte weit über den deutschen Sprachraum hinaus Aufmerksamkeit und initiierte eine Debatte über die geschickte Manipulation einer ganzen Generation durch das NS-Regime und die gezielte Desinformation über den desaströsen Verlauf des U-Bootkriegs.
Zehntausende junge Männer meldeten sich - einen konstruierten Heldenmythos vor Augen - als Marinesoldaten freiwillig zur gefährlichen "U-Bootwaffe", obwohl die Opferbilanz mit 27.600 Toten und dem Verlust von über 340 Besatzungen auf deutscher Seite erschütternd ausfiel, unzählige Matrosen von alliierten und neutralen Handelsschiffen ihr Leben lassen mussten und die Ozeane zu ölverseuchten Schiffsfriedhöfen wurden.
Trotz Hekatomben versenkten und vernichteten Schiffsraums in einem totalen U-Bootkrieg vermochte die Kriegsmarine die alliierten Landungen nicht zu verhindern. Ab 1944 operierte die von Fliegerschutz entblößte Kriegsmarine nur mehr von Norwegen und den Ostseehäfen aus, konnte aber kaum mehr wirksame Angriffe starten. Nach der Kapitulation wurden die noch intakten Boote nach Loch Eriboll gebracht und im November 1945 von britischen und polnischen Zerstörern in der Irischen See versenkt ("Operation Deadlight").
Musik von Doldinger
In der Kinovariante der Urfassung, die am 17. 9. 1981 Premiere hatte, zählte "Das Boot" unter der Regie von Wolfgang Petersen zu den erfolgreichsten deutschen Produktionen und machte Hauptdarsteller Jürgen Prochnow (als Kommandant) international bekannt. Die einprägsame Musik von Klaus Doldinger mit dem berühmten "Ping" und dem wehmütig-dramatischen "Boot"-Thema entwickelte sich zu einem Klassiker der Filmmusik. Vier Jahre später folgte eine Fernsehserie, ehe 1997 ein Director’s Cut auf DVD auf den Markt kam.
Der technische Aufwand war bereits in der Originalvariante beträchtlich, die Nachfolgeproduktion konnte 2017 mit einem Etat von 26,5 Millionen Euro rechnen. Die Neuauflage des Films unter der Regie von Andreas Prochaska ("Morgen bist du tot", "Das Wunder von Kärnten") steht unter bayerischer Ägide (Bavaria Fiction) in Kooperation mit der britischen Sky-Mediengruppe. Im November 2018 wird "Das Boot" (zunächst nur) im Pay-TV als Serie ausgestrahlt werden.
Die Drehbücher beruhen auf Buchheims Nachfolgeromanen "Die Festung" (1996) und "Der Abschied" (2001). Sie enthalten Familien- und Beziehungsepisoden an Land als zweiten Handlungsstrang. Die Landszenen drehte Prochaska im Frühjahr in Prag und München. Das Team repräsentiert eine neue Generation von Schauspielern, darunter Tom Wlaschiha ("Game of Thrones") und den 29-jährigen Rick Okon. Der aus Brandenburg stammende "Tatort-Kommissar" erhielt eine Kommandantenrolle. Das Spektrum der femininen Rollen decken Lizzy Caplan ("Masters of Sex") und die Luxemburgerin Vicky Krieps ("Phantom Thread") ab, auch wenn sie notgedrungen an Land bleiben müssen, um Geliebte, Gattinnen, aber auch Resistance-Kämpferinnen zu mimen.
Für die Innenaufnahmen der Neuproduktion standen mehrere Drehorte zur Verfügung, darunter ein historisches U-Boot im Dock von La Rochelle. In dem als Museum dienenden, siebenundsechzig Meter langen Original-U-Boot erfuhren Kameraleute und Schauspieler, welche bedrückend-klaustrophobische Atmosphäre in der sauerstoffarmen Innenwelt eines Atlantik-U-Bootes herrschte.
Räumliche Enge
Regisseur Andreas Prochaska gilt als Spezialist für die Inszenierung von Angst- und Beklemmungs-Erlebnissen, auch im "Wunder von Kärnten" drehte er die Innenszenen in einem einzigen Raum, was den psychischen Druck der Betroffenen unmittelbar spürbar machte. Aber in einem "eisernen Sarg" von 6,5 Meter Breite, der von hunderten Leitungen durchzogen und von Wassertanks umgeben ist und nur gebückt durchquert werden kann, hat die Enge noch eine ganz andere räumliche und psychische Dimension. Jede Anstrengung wird darin zur Qual, jedes ungute Gefühl erreicht sofort ein Maximum an Intensität, die Angst ist ein ständiger Begleiter, gleichgültig, ob das Boot in einen Sturm gerät und nach Wassereinbruch die Luken schließen muss, oder ob es mit einem Wasserbombenangriff von Zerstörern und Flugzeugen "beharkt" wird.
Lothar-Günther Buchheim, der auf U 96 unter dem Kommando von Heinrich Lehmann-Willenbrock, einem aus Bremen stammenden Kapitänleutnant, eine Unternehmung dokumentierte, schilderte die bangen Momente in dem Dokumentationsband "Der U-Bootkrieg" (zuletzt 2001). Die Matrosen leisteten beim Torpedoziehen Schwerarbeit, Wachen mussten an Deck im Turm und "Wintergarten" stundenlang gegen Sonne oder Sturm ankämpfen. Auch die Filmcrew unter Prochaskas Leitung hatte in der Enge der U-Boot-Röhre unter Sauerstoffmangel zu leiden.
Die U-Bootfahrer waren Meister des Understatements und der Euphemismen, höchst beunruhigende Vorgänge wurden in verharmlosend-tarnende Worte gekleidet. Der "Fächer", mit dem eine Angriffstechnik bezeichnet wurde, stammt aus der Galanterie- und Opernszene. Auch aus der Zoologie bezogen die Marinesoldaten Begriffe: Ein mit Pressluft oder elektrisch betriebener Torpedo galt als "Aal"; eine akustikgesteuerte Variante, welche sich im Zickzackkurs an eine Lärmquelle anheftete, hieß im Fachjargon "Zaunkönig".
Diese elektrisch angetriebenen Todesbringer konnten auch das eigene Boot vernichten, wenn die eigenen Geräusche den abgelassenen Torpedo wieder anzogen. Vermutlich wurde ein versehentlicher Selbstangriff dem berühmten U-Bootfahrer Günther Prien ("Mein Weg nach Scapa Flow") im März 1941 samt seiner Besatzung zum Verhängnis. Diese Version bestätigte der in britische Kriegsgefangenschaft geratene Kommandant Otto Kretschmer, der als erfolgreichster U-Bootfahrer galt und im Nachkriegsdeutschland wieder in Marinediensten stand.
Realität und Fiktion
Während die U-Boote, deren Besatzungen und ihr Schicksal gut dokumentiert sind, zählen soziale und politische Aspekte zu den weniger erforschten Gebieten der Marinegeschichte. Im Gegensatz zum alten "Boot", einem von männlichen Rollen dominierten Kriegsfilm, dessen Story über weite Strecken auf Buchheims Erstlingsroman basiert, verfolgt die Neuverfilmung ein anderes Konzept, weil der Film nun auch das "Privatleben" der Marinesoldaten sichtbar machen soll.
Frauen sollen aus nahe liegenden Gründen nicht auf die Rolle von Prostituierten im nachgebauten Hafenbordell reduziert werden, daher nehmen am Gelage in La Rochelle vor einer kriegerischen Ausfahrt (im Fachjargon: Unternehmung) auch getarnte Widerstandskämpferinnen teil. In der Realität war der Aufenthalt in den Wartungsdocks (etwa in St. Nazaire) allerdings oft so kurz, dass die Mannschaften gar keinen Ausgang erhielten und selbst die Offiziere in der Messe des Flottillen-Stützpunkts bleiben mussten, während das Boot überholt und mit Munition versorgt wurde.
Die sozialen Kontakte der jungen U-Bootfahrer blieben defizitär, weil die Seekadetten schon als Jugendliche in Stralsund, oft fern der Heimat, einrückten. Nach der Infanterieausbildung dienten sie auf Schulschiffen oder in der U-Bootschule in Pillau. Aus Österreich stammten u.a. der in Wien geborene Spross eines Kontreadmirals, Hardo Rodler von Roithberg, der an seinem 27. Geburtstag (25. 2. 1945) bei den Färöer-Inseln fiel (U 989), der aus Baden stammende Oberleutnant Carl-Gabriel von Gudenus sowie mein Onkel Gottfried Schiffmann (19232014), der als Erster Wachoffizier und Leutnant zur See auf einem modernen Boot der Klasse XXIII diente.
Die für den neuen Film "Das Boot" verwertete Geschichte der Liebe zwischen einem Marineangehörigen und einer Résistance-Kämpferin mag fiktional erscheinen, doch sie beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Leben von Lothar-Günther Buchheim. Die dramatische Beziehung wurde durch eine kritische Biografie bekannt, die Sohn Yves Buchheim heuer zur hundertsten Wiederkehr des väterlichen Geburtstags (6. 2. 1918) publiziert hat.
Vater als Despot
Während seiner von der NS-Propaganda geförderten Dokumentation, die Marine-Malerei und Fotostrecken mit der "Leica" beinhaltete, bereiste Buchheim die von der deutschen Wehrmacht im Mai 1940 eroberten Häfen von La Rochelle (= La Pallice), Brest und St. Nazaire. Er lernte die Französin Geneviève Militon kennen und lieben, was angesichts der Überwachung durch die Gestapo und geheime Feldpolizei ein gefährliches Unterfangen war.
Geneviève wurde denunziert, von der Gestapo verhaftet und in das KZ Ravensbrück deportiert, kehrte aber nach dem Krieg ebenso wie ihr Vater schwer gezeichnet aus der Haft zurück. Als Frau Militon als Corporale des französischen Geheimdiensts im Frühjahr 1947 im besetzten Bayern nach den Verrätern suchte und in Feldafing auf Klaus Buchheim, den Bruder des Ex-Geliebten stieß, war ihr Ansinnen zunächst Vergeltung. Das Leben schrieb aber eine andere, versöhnlichere Geschichte, sie erneuerte ihre Beziehung zu Lothar-Günther Buchheim und heiratete ihn.
Sohn Yves Buchheim (68), selbst Vater von zwei Töchtern, der im schweizerischen Fribourg als Unternehmensberater tätig ist, entstammt dieser Beziehung. Folgt man ihm, der die Rolle des Vaters als Sammler und dessen autoritäre Erziehungsmethoden kritisch beleuchtet, schrieb ein wahrer Despot den Roman "Das Boot".
Der deutsche Autor, Maler und ehemalige Kriegsberichterstatter Lothar-Günther Buchheim (1918 2007) veröffentlichte Anfang der Siebzigerjahre den Roman "Das Boot", in dem er das Schicksal einer deutschen U-Bootbesatzung im Zweiten Weltkrieg beleuchtete. Die Verfilmung erregte weit über den deutschen Sprachraum hinaus Aufmerksamkeit und initiierte eine Debatte über die geschickte Manipulation einer ganzen Generation durch das NS-Regime und die gezielte Desinformation über den desaströsen Verlauf des U-Bootkriegs.
Zehntausende junge Männer meldeten sich - einen konstruierten Heldenmythos vor Augen - als Marinesoldaten freiwillig zur gefährlichen "U-Bootwaffe", obwohl die Opferbilanz mit 27.600 Toten und dem Verlust von über 340 Besatzungen auf deutscher Seite erschütternd ausfiel, unzählige Matrosen von alliierten und neutralen Handelsschiffen ihr Leben lassen mussten und die Ozeane zu ölverseuchten Schiffsfriedhöfen wurden.
Trotz Hekatomben versenkten und vernichteten Schiffsraums in einem totalen U-Bootkrieg vermochte die Kriegsmarine die alliierten Landungen nicht zu verhindern. Ab 1944 operierte die von Fliegerschutz entblößte Kriegsmarine nur mehr von Norwegen und den Ostseehäfen aus, konnte aber kaum mehr wirksame Angriffe starten. Nach der Kapitulation wurden die noch intakten Boote nach Loch Eriboll gebracht und im November 1945 von britischen und polnischen Zerstörern in der Irischen See versenkt ("Operation Deadlight").
Musik von Doldinger
In der Kinovariante der Urfassung, die am 17. 9. 1981 Premiere hatte, zählte "Das Boot" unter der Regie von Wolfgang Petersen zu den erfolgreichsten deutschen Produktionen und machte Hauptdarsteller Jürgen Prochnow (als Kommandant) international bekannt. Die einprägsame Musik von Klaus Doldinger mit dem berühmten "Ping" und dem wehmütig-dramatischen "Boot"-Thema entwickelte sich zu einem Klassiker der Filmmusik. Vier Jahre später folgte eine Fernsehserie, ehe 1997 ein Director’s Cut auf DVD auf den Markt kam.
Der technische Aufwand war bereits in der Originalvariante beträchtlich, die Nachfolgeproduktion konnte 2017 mit einem Etat von 26,5 Millionen Euro rechnen. Die Neuauflage des Films unter der Regie von Andreas Prochaska ("Morgen bist du tot", "Das Wunder von Kärnten") steht unter bayerischer Ägide (Bavaria Fiction) in Kooperation mit der britischen Sky-Mediengruppe. Im November 2018 wird "Das Boot" (zunächst nur) im Pay-TV als Serie ausgestrahlt werden.
Die Drehbücher beruhen auf Buchheims Nachfolgeromanen "Die Festung" (1996) und "Der Abschied" (2001). Sie enthalten Familien- und Beziehungsepisoden an Land als zweiten Handlungsstrang. Die Landszenen drehte Prochaska im Frühjahr in Prag und München. Das Team repräsentiert eine neue Generation von Schauspielern, darunter Tom Wlaschiha ("Game of Thrones") und den 29-jährigen Rick Okon. Der aus Brandenburg stammende "Tatort-Kommissar" erhielt eine Kommandantenrolle. Das Spektrum der femininen Rollen decken Lizzy Caplan ("Masters of Sex") und die Luxemburgerin Vicky Krieps ("Phantom Thread") ab, auch wenn sie notgedrungen an Land bleiben müssen, um Geliebte, Gattinnen, aber auch Resistance-Kämpferinnen zu mimen.
Für die Innenaufnahmen der Neuproduktion standen mehrere Drehorte zur Verfügung, darunter ein historisches U-Boot im Dock von La Rochelle. In dem als Museum dienenden, siebenundsechzig Meter langen Original-U-Boot erfuhren Kameraleute und Schauspieler, welche bedrückend-klaustrophobische Atmosphäre in der sauerstoffarmen Innenwelt eines Atlantik-U-Bootes herrschte.
Räumliche Enge
Regisseur Andreas Prochaska gilt als Spezialist für die Inszenierung von Angst- und Beklemmungs-Erlebnissen, auch im "Wunder von Kärnten" drehte er die Innenszenen in einem einzigen Raum, was den psychischen Druck der Betroffenen unmittelbar spürbar machte. Aber in einem "eisernen Sarg" von 6,5 Meter Breite, der von hunderten Leitungen durchzogen und von Wassertanks umgeben ist und nur gebückt durchquert werden kann, hat die Enge noch eine ganz andere räumliche und psychische Dimension. Jede Anstrengung wird darin zur Qual, jedes ungute Gefühl erreicht sofort ein Maximum an Intensität, die Angst ist ein ständiger Begleiter, gleichgültig, ob das Boot in einen Sturm gerät und nach Wassereinbruch die Luken schließen muss, oder ob es mit einem Wasserbombenangriff von Zerstörern und Flugzeugen "beharkt" wird.
Lothar-Günther Buchheim, der auf U 96 unter dem Kommando von Heinrich Lehmann-Willenbrock, einem aus Bremen stammenden Kapitänleutnant, eine Unternehmung dokumentierte, schilderte die bangen Momente in dem Dokumentationsband "Der U-Bootkrieg" (zuletzt 2001). Die Matrosen leisteten beim Torpedoziehen Schwerarbeit, Wachen mussten an Deck im Turm und "Wintergarten" stundenlang gegen Sonne oder Sturm ankämpfen. Auch die Filmcrew unter Prochaskas Leitung hatte in der Enge der U-Boot-Röhre unter Sauerstoffmangel zu leiden.
Die U-Bootfahrer waren Meister des Understatements und der Euphemismen, höchst beunruhigende Vorgänge wurden in verharmlosend-tarnende Worte gekleidet. Der "Fächer", mit dem eine Angriffstechnik bezeichnet wurde, stammt aus der Galanterie- und Opernszene. Auch aus der Zoologie bezogen die Marinesoldaten Begriffe: Ein mit Pressluft oder elektrisch betriebener Torpedo galt als "Aal"; eine akustikgesteuerte Variante, welche sich im Zickzackkurs an eine Lärmquelle anheftete, hieß im Fachjargon "Zaunkönig".
Diese elektrisch angetriebenen Todesbringer konnten auch das eigene Boot vernichten, wenn die eigenen Geräusche den abgelassenen Torpedo wieder anzogen. Vermutlich wurde ein versehentlicher Selbstangriff dem berühmten U-Bootfahrer Günther Prien ("Mein Weg nach Scapa Flow") im März 1941 samt seiner Besatzung zum Verhängnis. Diese Version bestätigte der in britische Kriegsgefangenschaft geratene Kommandant Otto Kretschmer, der als erfolgreichster U-Bootfahrer galt und im Nachkriegsdeutschland wieder in Marinediensten stand.
Realität und Fiktion
Während die U-Boote, deren Besatzungen und ihr Schicksal gut dokumentiert sind, zählen soziale und politische Aspekte zu den weniger erforschten Gebieten der Marinegeschichte. Im Gegensatz zum alten "Boot", einem von männlichen Rollen dominierten Kriegsfilm, dessen Story über weite Strecken auf Buchheims Erstlingsroman basiert, verfolgt die Neuverfilmung ein anderes Konzept, weil der Film nun auch das "Privatleben" der Marinesoldaten sichtbar machen soll.
Frauen sollen aus nahe liegenden Gründen nicht auf die Rolle von Prostituierten im nachgebauten Hafenbordell reduziert werden, daher nehmen am Gelage in La Rochelle vor einer kriegerischen Ausfahrt (im Fachjargon: Unternehmung) auch getarnte Widerstandskämpferinnen teil. In der Realität war der Aufenthalt in den Wartungsdocks (etwa in St. Nazaire) allerdings oft so kurz, dass die Mannschaften gar keinen Ausgang erhielten und selbst die Offiziere in der Messe des Flottillen-Stützpunkts bleiben mussten, während das Boot überholt und mit Munition versorgt wurde.
Die sozialen Kontakte der jungen U-Bootfahrer blieben defizitär, weil die Seekadetten schon als Jugendliche in Stralsund, oft fern der Heimat, einrückten. Nach der Infanterieausbildung dienten sie auf Schulschiffen oder in der U-Bootschule in Pillau. Aus Österreich stammten u.a. der in Wien geborene Spross eines Kontreadmirals, Hardo Rodler von Roithberg, der an seinem 27. Geburtstag (25. 2. 1945) bei den Färöer-Inseln fiel (U 989), der aus Baden stammende Oberleutnant Carl-Gabriel von Gudenus sowie mein Onkel Gottfried Schiffmann (19232014), der als Erster Wachoffizier und Leutnant zur See auf einem modernen Boot der Klasse XXIII diente.
Die für den neuen Film "Das Boot" verwertete Geschichte der Liebe zwischen einem Marineangehörigen und einer Résistance-Kämpferin mag fiktional erscheinen, doch sie beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Leben von Lothar-Günther Buchheim. Die dramatische Beziehung wurde durch eine kritische Biografie bekannt, die Sohn Yves Buchheim heuer zur hundertsten Wiederkehr des väterlichen Geburtstags (6. 2. 1918) publiziert hat.
Vater als Despot
Während seiner von der NS-Propaganda geförderten Dokumentation, die Marine-Malerei und Fotostrecken mit der "Leica" beinhaltete, bereiste Buchheim die von der deutschen Wehrmacht im Mai 1940 eroberten Häfen von La Rochelle (= La Pallice), Brest und St. Nazaire. Er lernte die Französin Geneviève Militon kennen und lieben, was angesichts der Überwachung durch die Gestapo und geheime Feldpolizei ein gefährliches Unterfangen war.
Geneviève wurde denunziert, von der Gestapo verhaftet und in das KZ Ravensbrück deportiert, kehrte aber nach dem Krieg ebenso wie ihr Vater schwer gezeichnet aus der Haft zurück. Als Frau Militon als Corporale des französischen Geheimdiensts im Frühjahr 1947 im besetzten Bayern nach den Verrätern suchte und in Feldafing auf Klaus Buchheim, den Bruder des Ex-Geliebten stieß, war ihr Ansinnen zunächst Vergeltung. Das Leben schrieb aber eine andere, versöhnlichere Geschichte, sie erneuerte ihre Beziehung zu Lothar-Günther Buchheim und heiratete ihn.
Sohn Yves Buchheim (68), selbst Vater von zwei Töchtern, der im schweizerischen Fribourg als Unternehmensberater tätig ist, entstammt dieser Beziehung. Folgt man ihm, der die Rolle des Vaters als Sammler und dessen autoritäre Erziehungsmethoden kritisch beleuchtet, schrieb ein wahrer Despot den Roman "Das Boot".
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Gerhard Strejcek
Vor dem Gesetz steht (k)ein Türhüter
Die Presse, 01.08.2018
Bezirksgerichte dienen dem Rechtsstaat, ein Wegfall hilft niemandem, Ausdünnung gefährdet aber deren Existenz.
Viele Österreicher kennen das „heitere Bezirksgericht“, eine Endlosserie in einer Boulevardzeitung, die immer wieder menschliche Seiten der Justiz aufzeigt. Das Bezirksgericht ist nicht nur Tribunal und Justizeinrichtung, sondern eine bedeutsame soziale Einrichtung, die sich, vergleichbar dem britischen Court of Chancery und dem US-Friedensrichter auch als Gericht der „kleinen Leute“ versteht, obwohl die zu klärenden Rechts- und Tatsachenfragen hohes juristisches Niveau voraussetzen.
Das ist auch mit ein Grund, warum trotz der Möglichkeit der Verfahrenshilfe nicht weiter an der Gebührenschraube gedreht werden und dieser Gerichtstyp keinesfalls verschwinden sollte. Nachbarsstreitigkeiten, Familienrecht, Verlassenschaften im Außerstreitverfahren, die Ahndung minderschwerer Delikte, all das liegt im Spektrum eines Bezirksgerichts.
An den Amtstagen können kostenfrei wichtige Informationen in Rechtssachen am Gericht selbst eingeholt werden, ein bürgerfreundliches Service, das nicht in derselben Weise von Verwaltungsbehörden oder den schwerer zugänglichen Landesgerichten erfüllt werden kann.
Bürgerfreundliches Service
Zudem gebietet die Menschenrechtskonvention, dass über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen ein unabhängiges, auf Gesetz beruhendes Tribunal entscheidet. Dort wo es kaum mehr Instanzenzüge gibt, gebricht es auch an wirksamen Beschwerdemöglichkeiten.
Bezirksgerichte sollen nicht weiter ausgedünnt, mit Aufgaben beladen werden oder wie Ex-Minister Böhmdorfer meint, zu Gunsten der Landesgerichte ganz wegfallen. Selbst in der Bundeshauptstadt Wien stellen die bestehenden „BGs“ einen wichtigen Anlaufpunkt dar. Vorbildhaft ist das BG Hernals, ein „freundliches“ Gericht, dessen Vorsteherin Dotter großen Wert auf ein sachliches und bürgerfreundliches Klima legt. Niemand soll hier Angst oder Beklemmung empfinden, die Türen stehen offen. Das BG Hernals bildet auch junge Rechtshörerinnen und -hörer aus, Jus-Studierende, die dort wertvolle Einblicke erhalten und die den Staat so gut wie nichts kosten, weil die Richterinnen und Richter die Zeit opfern, um den Nachwuchs einzuschulen.
Ein neuer Typ von Bittsteller
Bedingt durch Immigration und Flüchtlingsflut müssen die BGs auch Vorfragen der Mindestsicherung klären, etwa ob Unterhaltsansprüche junger Fremder gegenüber Verwandten bestehen – eine mühsame Aufgabe, die einen neuen Typ von Bittsteller kreiert hat, der nicht weiß, warum er oder sie vor ein „Gericht“ muss. Womöglich beließe man besser die Kernaufgaben der Justiz bei den Bezirksgerichten, statt hier müßige Fleißaufgaben zu schaffen.
Oft wird kritisiert, dass Gerichts-Verfahren in Österreich zu lange dauern. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig und liegen nicht stets in der Sphäre der Justiz selbst. Sie haben zum Beispiel in Zivilprozessen auch oft mit Verschleppung seitens der Parteien, aber auch mit Wartezeiten auf Sachverständige zu tun..
Veraltete Infrastruktur
Die von manchen als kafkaesk vermutete, „untätige“ Justiz mit Tagesfreizeit gibt es heute nicht mehr, wohl aber technische Probleme und eine veraltete Infrastruktur. Aus Sicht der Richterschaft und der Aufsicht durch die LG-Präsidenten sind Ausfertigungsrückstände unerwünscht und auch für die Betroffenen unerfreulich. Daher ist es auch wichtig, dass einmal abdiktierte Texte auch schnell geschrieben und ausgedruckt werden, wozu aber Hilfskräfte vonnöten sind. Ohne moderne EDV und eine entsprechende Infrastruktur bleibt auch das Recht auf der Strecke.
Sachverständige sollten auch nur dann in ein Verfahren integriert werden, wenn sie mit ihrem Fachwissen tatsächlich einen Beitrag dazu leisten können. Für die Parteien ist es oft schwer nachvollziehbar, wenn etwa in Verlassenschaftsverfahren eine Phalanx von Gutachtern auf den Plan tritt und verhältnismäßig wertlose Fahrnisse zu schätzen beginnt, was Zeit und Geld kostet.
Am Land stellt das „Bezirksgericht“ ebenfalls eine wichtige Institution dar. Wer in der Stadt wohnt und das „weite Land“ hauptsächlich von Oldtimer-Ausfahrten kennt, unterschätzt oft die Anreiseproblematik „einfacher“ Parteien und deren soziale Struktur. Obwohl das LG Korneuburg nur ein paar Kilometer Luftlinie vom BG Klosterneuburg entfernt liegt, ist die Anreise nur via Tulln oder Wien-Nord möglich und dauert oft eine Stunde. Der legendäre Vorsteher des BG Spittal/Drau, das in Oberkärnten einen riesigen Bezirk – vergleichbar ganz Vorarlberg – umfasst, amtierte einst auch in Millstatt und in Gmünd, wohin er mit seinem VW Käfer 1200 Mitte der Woche fuhr. Unter den Landwirten galt er als strenger, aber gerechter Mann der Justiz.
Für einen Bergbauern aus Sappl oder aus Trebesing machte es einen gewaltigen Unterschied aus, wenn er nach einer Verhandlung binnen kurzem wieder auf der Alm oder im Stall weiter arbeiten konnte und nicht durch das ganze Liesertal in die Bezirkshauptstadt fahren musste.
Obwohl Recht in Österreich über das Internet und Gesetzblätter im Druck überall verfügbar ist, fragt es sich doch auch, ob nicht lokale Kenntnisse von Vorteil, ja unabdingbar sind. Kennt der Richter am LG Innsbruck auch die Tiroler Besonderheiten von Sachenrechten an Bäumen im Ziller- oder im Oberinntal, lassen sich von Wien oder Korneuburg aus Fischereistreitigkeiten an Thaya und March aus schlichten? Sind Leoben, Bruck an der Mur oder gar Graz der geeignete Standort, um Streitigkeiten über Wegerechte auf der Tauplitzalm zu entscheiden? Können Videos und Fotos den Lokalaugenschein ersetzen? Werden die Anreisekosten auch in die laufenden Analysen einberechnet? Sprechen künftig nur mehr Sachverständige oder Fern-Richter in elektronischen Aktenverfahren „Recht“? Dann sind Kafkas Visionen vom „Process“ unbekannter Richter im Dachgebälk eines Vorstadthauses nicht mehr weit.
Nachteilige Konzentration
Aber auch, wenn man es weniger dramatisch anlegt, bestehen Nachteile einer Konzentration von Gerichten für Parteien. Denn die Anreise von Mödling nach Wiener Neustadt oder von Dellach im Drautal nach Klagenfurt ist oft beschwerlich und zeitaufwendig. Daher sollen die lokalen Bezirksgerichte nicht zerstört, sondern deren engagierte und juristisch-akademisch geschulte Richterinnen und Richter durch bessere Infrastruktur gefördert statt durch Reduktionen, Hilfskräftemangel und letztlich die regionale Ausholzung frustriert werden.
Viele Österreicher kennen das „heitere Bezirksgericht“, eine Endlosserie in einer Boulevardzeitung, die immer wieder menschliche Seiten der Justiz aufzeigt. Das Bezirksgericht ist nicht nur Tribunal und Justizeinrichtung, sondern eine bedeutsame soziale Einrichtung, die sich, vergleichbar dem britischen Court of Chancery und dem US-Friedensrichter auch als Gericht der „kleinen Leute“ versteht, obwohl die zu klärenden Rechts- und Tatsachenfragen hohes juristisches Niveau voraussetzen.
Das ist auch mit ein Grund, warum trotz der Möglichkeit der Verfahrenshilfe nicht weiter an der Gebührenschraube gedreht werden und dieser Gerichtstyp keinesfalls verschwinden sollte. Nachbarsstreitigkeiten, Familienrecht, Verlassenschaften im Außerstreitverfahren, die Ahndung minderschwerer Delikte, all das liegt im Spektrum eines Bezirksgerichts.
An den Amtstagen können kostenfrei wichtige Informationen in Rechtssachen am Gericht selbst eingeholt werden, ein bürgerfreundliches Service, das nicht in derselben Weise von Verwaltungsbehörden oder den schwerer zugänglichen Landesgerichten erfüllt werden kann.
Bürgerfreundliches Service
Zudem gebietet die Menschenrechtskonvention, dass über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen ein unabhängiges, auf Gesetz beruhendes Tribunal entscheidet. Dort wo es kaum mehr Instanzenzüge gibt, gebricht es auch an wirksamen Beschwerdemöglichkeiten.
Bezirksgerichte sollen nicht weiter ausgedünnt, mit Aufgaben beladen werden oder wie Ex-Minister Böhmdorfer meint, zu Gunsten der Landesgerichte ganz wegfallen. Selbst in der Bundeshauptstadt Wien stellen die bestehenden „BGs“ einen wichtigen Anlaufpunkt dar. Vorbildhaft ist das BG Hernals, ein „freundliches“ Gericht, dessen Vorsteherin Dotter großen Wert auf ein sachliches und bürgerfreundliches Klima legt. Niemand soll hier Angst oder Beklemmung empfinden, die Türen stehen offen. Das BG Hernals bildet auch junge Rechtshörerinnen und -hörer aus, Jus-Studierende, die dort wertvolle Einblicke erhalten und die den Staat so gut wie nichts kosten, weil die Richterinnen und Richter die Zeit opfern, um den Nachwuchs einzuschulen.
Ein neuer Typ von Bittsteller
Bedingt durch Immigration und Flüchtlingsflut müssen die BGs auch Vorfragen der Mindestsicherung klären, etwa ob Unterhaltsansprüche junger Fremder gegenüber Verwandten bestehen – eine mühsame Aufgabe, die einen neuen Typ von Bittsteller kreiert hat, der nicht weiß, warum er oder sie vor ein „Gericht“ muss. Womöglich beließe man besser die Kernaufgaben der Justiz bei den Bezirksgerichten, statt hier müßige Fleißaufgaben zu schaffen.
Oft wird kritisiert, dass Gerichts-Verfahren in Österreich zu lange dauern. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig und liegen nicht stets in der Sphäre der Justiz selbst. Sie haben zum Beispiel in Zivilprozessen auch oft mit Verschleppung seitens der Parteien, aber auch mit Wartezeiten auf Sachverständige zu tun..
Veraltete Infrastruktur
Die von manchen als kafkaesk vermutete, „untätige“ Justiz mit Tagesfreizeit gibt es heute nicht mehr, wohl aber technische Probleme und eine veraltete Infrastruktur. Aus Sicht der Richterschaft und der Aufsicht durch die LG-Präsidenten sind Ausfertigungsrückstände unerwünscht und auch für die Betroffenen unerfreulich. Daher ist es auch wichtig, dass einmal abdiktierte Texte auch schnell geschrieben und ausgedruckt werden, wozu aber Hilfskräfte vonnöten sind. Ohne moderne EDV und eine entsprechende Infrastruktur bleibt auch das Recht auf der Strecke.
Sachverständige sollten auch nur dann in ein Verfahren integriert werden, wenn sie mit ihrem Fachwissen tatsächlich einen Beitrag dazu leisten können. Für die Parteien ist es oft schwer nachvollziehbar, wenn etwa in Verlassenschaftsverfahren eine Phalanx von Gutachtern auf den Plan tritt und verhältnismäßig wertlose Fahrnisse zu schätzen beginnt, was Zeit und Geld kostet.
Am Land stellt das „Bezirksgericht“ ebenfalls eine wichtige Institution dar. Wer in der Stadt wohnt und das „weite Land“ hauptsächlich von Oldtimer-Ausfahrten kennt, unterschätzt oft die Anreiseproblematik „einfacher“ Parteien und deren soziale Struktur. Obwohl das LG Korneuburg nur ein paar Kilometer Luftlinie vom BG Klosterneuburg entfernt liegt, ist die Anreise nur via Tulln oder Wien-Nord möglich und dauert oft eine Stunde. Der legendäre Vorsteher des BG Spittal/Drau, das in Oberkärnten einen riesigen Bezirk – vergleichbar ganz Vorarlberg – umfasst, amtierte einst auch in Millstatt und in Gmünd, wohin er mit seinem VW Käfer 1200 Mitte der Woche fuhr. Unter den Landwirten galt er als strenger, aber gerechter Mann der Justiz.
Für einen Bergbauern aus Sappl oder aus Trebesing machte es einen gewaltigen Unterschied aus, wenn er nach einer Verhandlung binnen kurzem wieder auf der Alm oder im Stall weiter arbeiten konnte und nicht durch das ganze Liesertal in die Bezirkshauptstadt fahren musste.
Obwohl Recht in Österreich über das Internet und Gesetzblätter im Druck überall verfügbar ist, fragt es sich doch auch, ob nicht lokale Kenntnisse von Vorteil, ja unabdingbar sind. Kennt der Richter am LG Innsbruck auch die Tiroler Besonderheiten von Sachenrechten an Bäumen im Ziller- oder im Oberinntal, lassen sich von Wien oder Korneuburg aus Fischereistreitigkeiten an Thaya und March aus schlichten? Sind Leoben, Bruck an der Mur oder gar Graz der geeignete Standort, um Streitigkeiten über Wegerechte auf der Tauplitzalm zu entscheiden? Können Videos und Fotos den Lokalaugenschein ersetzen? Werden die Anreisekosten auch in die laufenden Analysen einberechnet? Sprechen künftig nur mehr Sachverständige oder Fern-Richter in elektronischen Aktenverfahren „Recht“? Dann sind Kafkas Visionen vom „Process“ unbekannter Richter im Dachgebälk eines Vorstadthauses nicht mehr weit.
Nachteilige Konzentration
Aber auch, wenn man es weniger dramatisch anlegt, bestehen Nachteile einer Konzentration von Gerichten für Parteien. Denn die Anreise von Mödling nach Wiener Neustadt oder von Dellach im Drautal nach Klagenfurt ist oft beschwerlich und zeitaufwendig. Daher sollen die lokalen Bezirksgerichte nicht zerstört, sondern deren engagierte und juristisch-akademisch geschulte Richterinnen und Richter durch bessere Infrastruktur gefördert statt durch Reduktionen, Hilfskräftemangel und letztlich die regionale Ausholzung frustriert werden.
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Gerhard Strejcek
Akronyme und Erzengel
Wiener Zeitung, 29.07.2018
Rolling Stones und Beatles haben es vorgemacht: Ein klangvoller Name kann für den Erfolg einer Band mitentscheidend sein.
Bandnamen sind wichtig, sie wecken Assoziationen und regen die Fantasie an. Sie sind mehr als eine bloße "Marke", sie stehen auch für einen Lebensstil. Ein klangvoller Name kann für den Erfolg einer Pop-Formation mitentscheidend sein. Das zeigen die Geschichten der zwei bekanntesten britischen Bands der 70er Jahre.
Man muss kein Popexperte sein, um den Sinn von Bandnamen wie Rolling Stones oder Beatles zu erraten, die Assoziationen mit dem jeweils dargebotenen Musikstil wecken - also Rock ’n’ Roll oder Beat. Unter den Millionen Fans der Liverpooler Band etwa fanden sich nicht wenige, die vermeinten, dass Beatles entweder Pilzköpfe oder Käfer seien, wobei man Letztere bei identer Aussprache "Beetles" schreiben müsste.
Ein Missverständnis
Ein zu langer und öder Bandname wäre beinahe einem der bekanntesten Frontmen des Rock aller Zeiten zum Verhängnis geworden. Wer würde sich, bitte, für eine unbekannte und erfolglose Band interessieren, die den Namen Little Boy Blue And The Blue Boys trägt, und deren mit zweifelhaften Gesten agierender Twen-Sänger mit dem Allerweltsvornamen Michael von hagerer Statur, dicker Lippe und fragwürdiger Anmutung ist?
Vermutlich niemand! Doch dieser Little Boy Blue war kein Geringerer als Mick Jagger, der einst keinen Brotberuf hatte, aber einen gefährlich wirkenden Freund namens Keith Richard (im Reisepass ohne "s", denn Richards ist ein Künstlername), der zwei, drei gute Gitarren-Riffs beherrschte.
Das einzige Bandmitglied, das damals regelmäßig Geld verdiente, war der Werbegrafiker Charlie Watts. Die im Gegensatz zu den "sauberen" Beatles zunächst als aufsässig-schmuddelige Garagenband wahrgenommenen Stones begannen dann im Sommer 1962 ihren Aufstieg mit dem neuen Bandnamen Rolling Stones, den sie einem Song von Muddy Waters entlehnten.
Muddy Waters’ blueslastige Komposition, die Jagger und Richards inspirierte, hieß schlicht "Rollin’ Stone", womit bereits ursprünglich ein unsteter, nicht sesshafter Vater adressiert war, der immer dort sein Heim hat, wo er sich gerade niederlegt.
Im Jahr 1963, als ihre erste Single mit alten Hadern wie "Come On" (von Bo Diddley) erschien, lebten Mick Jagger und Keith Richards gemeinsam mit ihrem Kollegen Brian Jones in einer heruntergekommenen Wohnung und kamen dem Ideal eines solchen Rolling Stone durchaus nahe. Und irgendwie passt das Bild stetig umher ziehender Steine heute noch auf die Band, die nach wie vor live performt und solcherart überall zu Hause ist.
Während Jagger und Richard (ab 1977: Richards) richtig die Ohren spitzten, als sie vor Jahrzehnten andächtig dem "Rollin’ Stone" von Muddy Waters lauschten, geht eine andere britische Band auf einen Hörfehler oder ein Missverständnis zurück: Prefab Sprout, die in den 80er Jahren einem komplizierten, sophisticated Pop huldigten, für den der aus Durham im Nordosten Englands stammende Sänger, Multiinstrumentalist und Komponist Patrick McAloon ab Mitte der 1980er Jahre verantwortlich zeichnete.
Der stets umtriebig-schelmische Patrick Joseph lauschte gerade Nancy Sinatra und Lee Hazlewood, die das Lied "Jackson" zum Besten gaben, das von einer Hochzeit in einer Art Fieber handelt und den erotischen Vergleich mit einer Pfefferschote ("pepper sprout") enthält - doch daraus machte Mc Aloon "Prefab Sprout", was auf ein vorfabriziertes Naturprodukt hindeutet, das es realiter gar nicht gibt. Unter dem Namen performt der Songwriter seit dem Abgang seines Bruders Martin und der Sängerin Wendy Smith unbeirrt bis heute allein weiter.
Literatur & Satanismus
Zu den bekanntesten britischen Formationen, die nicht zuletzt aufgrund ihres Albums "The Wall" immer noch weltweit populär sind, zählen Pink Floyd. Ihr Name leitet sich von Pink Anderson und Floyd Council, zwei amerikanischen Countryblues-Musikern, ab, die das im Jahr 2006 verstorbene Gründungsmitglied Syd Barrett inspirierten. Barrett prägte in den Sechzigerjahren als Sänger und Gitarrist nicht nur den esoterischen Sound der Band, er gab ihr zunächst auch den Namen The Pink Floyd Sound.
Doch auf der ersten LP, "The Piper At The Gates Of Dawn", die vor mittlerweile 51 Jahren erschienen ist, firmierte die Band bereits unter Pink Floyd. Kaum zu glauben, dass die Gruppe damals in Alt-Ossiach auf Einladung von Friedrich Gulda aufgetreten ist und dort einen Ansturm an Freaks auslöste, die der beschauliche Kurort noch nicht gesehen hatte.
Wie intellektuell manche Bands ihre Namensfindung betrieben, zeigen nicht nur Deep Purple, die unter anderem Irving Berlin reflektierten, sondern auch Uriah Heep, die eine besonders unsympathisch gezeichnete Figur aus Charles Dickens’ Schlüsselroman "David Copperfield" auswählten, um sich zu vermarkten. Als frühe Vertreter eines teilweise harten, orgellastigen Glamourrock gelang es der Band, den negativ besetzten Romanhelden Uriah Heep allerdings in eine positiv konnotierte künstlerische Formation umzuwandeln.
Denn der von Dickens beschriebene Uriah Heep gilt seit dem Erscheinen des Romans um 1850 als der Inbegriff des Kriechers, Intriganten und infamen Heuchlers. Bedenkt man, dass Dickens seine eigene Jugend darin Revue passieren ließ, möchte man lieber nicht genau wissen, wer das Vorbild für Mister Heep war, der einen wohltätigen Rechtsanwalt namens Wickfield schamlos ausnützte und hinterging und dessen bösartigen Machenschaften erst ein Freund von Copperfield namens Micawber ein Ende machte. Doch mit dem Bandnamen Micawber wären Uriah Heep aus Marketinggründen wohl eher gescheitert.
Mitunter soll der Bandname selbst für sich sprechen und ankündigen, was hier gespielt wird. Dann muss etwa die englische Abkürzung für Gleich- und Wechselstrom herhalten (AC/DC), oder es weht ein Hauch von Satanismus durch das Studio und die Konzerthallen (Black Sabbath; Judas Priest).
Es gibt aber auch harmlose Schöpfungen wie die niederländische Legende Focus oder die US-Hardcore-Punk-Band The Teen Idles (rund um meinen Namensvetter Nathan Strejcek). Nicht nur Linguisten wird auffallen, dass in Bandnamen einiger bekannter Rock-Formationen absichtlich Umlaute eingefügt wurden. So ein "Ö" oder ein"Ü" war für US-Garagenpunks und Rocker der Inbegriff der Coolness oder erinnerte an skandinavische Rockergangs. Namen wie Motörhead, Mötley Crüe und Blue Öyster Cult sprechen für sich, die Nomenklatur hat durchaus Methode, sie will das "Harte" oder das Exotische zitieren.
Glauben & Religion
Die einfachste und zudem recht "seriöse", aber auch etwas langweilige Variante des Bandnamens ist das Namensakronym. Entweder wählten die Protagonisten ihre Familiennamen aus (wie ELP, also Emerson, Lake & Palmer), oder sie gestalteten aus ihren Vornamen ein weltbekanntes Akronym wie ABBA (Agnetha, Benny, Björn, Anni-Frid). Gert Steinbäcker, Günter Timischl und Schiffkowitz, der eigentlich Helmut Röhrling heißt, bildeten die Formation STS.
Kein Namensakronym ist CCR, die Abkürzung von Creedence Clearwater Revival. Dieser Name hat Gründe, die in der Bandgeschichte lagen, da sich die beiden Musiker nach dem Militärdienst wieder zusammenfanden und dann die Elemente Glauben (Creed) und Reinheit der Natur (Clearwater) nach guter alter Hippie-Art zitierten.
Akronyme können auch aus mehr oder minder sinnvollen Zusammensetzungen von Anfangsbuchstaben in EAV (Erste Allgemeine Verunsicherung), DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft) oder DÖF (Deutsch-Österreichisches Feingefühl) münden.
Die vermutlich berühmteste Band, die sich hingegen das erste Buch Mose als Bandname gewählt hat, ist Genesis, deren ehemalige Mitglieder auch bemerkenswerte Solokarrieren gemacht haben. Hier wären Peter Gabriel (der ja im Übrigen auch wie ein Erzengel heißt), Phil Collins, Mike Rutherford und Steve Hackett zu nennen, die auch als Einzelkämpfer die Charts stürm(t)en.
Auch die Hardrock-Formation Judas Priest, von der ein Hit mit Titel "Turbo Lover" stammt, schöpft aus der Bibel und zitiert jenen Mann, der in christlichen Kreisen wegen seines Verrats nicht beliebt ist, dem aber Jesus selbst einst vergeben hat.
Weniger bekannt als Genesis, künstlerisch aber sehr ergiebig sind die Shoegazer The Jesus And Mary Chain. Der geniale Sänger und Komponist Taj Mahal hat sich den Künstlernamen aus Indien geholt. Tatsächlich sind oft gerade jene Performer recht religiös, die mitunter sehr grantig auftreten - wie etwa Van Morisson -, wohingegen sich die schillernde Pfarrerstochter Katy Perry, so scheint es, vom Glauben ihrer Familie abgewandt hat.
Familiensinn
Ausgeprägter Familiensinn äußert sich in Bandnamen wie Sly And The Family Stone, Sister Sledge oder The Pointer Sisters. Aber nicht nur in afroamerikanischen Musikerkreisen erfreuen sich familiäre Bezüge großer Beliebtheit, wie etwa die Doobie oder die Allman Brothers, The Mamas & The Papas, die Kelly Family und die Corrs zeigen.
Altschocker Alice Cooper, der gerne Kunstblut vergießt und seine Fans mit morbiden Versatzstücken irritiert, bedient seit jeher das Genre des Gruftrocks. Und seit jeher hat der Sensenmann Rockbands ebenso angezogen wie Frankenstein und Dracula.
Hier tat sich auch Edgar Winter mit einer Frankenstein-Eloge hervor, sein Bruder Johnny faszinierte als Hardrockgitarrist. Wer Bandnamen wie Dead Kennedys als pietätlos empfindet, wird auch die Dead Nittels nicht als ethischen Höhenflug empfinden. Auch die Toten Hosen müssen sich hier einordnen lassen, wenngleich ihre Wortkombination von Tod und Hose nur metaphorisch gemeint ist und nicht den Waschmaschinen-Exitus der Lieblingsjeans meint, sondern das Faktum, dass manchmal (auf einer Party) nichts los ist. Was natürlich von Anfang an streng ironisch gemeint war.
Bandnamen sind wichtig, sie wecken Assoziationen und regen die Fantasie an. Sie sind mehr als eine bloße "Marke", sie stehen auch für einen Lebensstil. Ein klangvoller Name kann für den Erfolg einer Pop-Formation mitentscheidend sein. Das zeigen die Geschichten der zwei bekanntesten britischen Bands der 70er Jahre.
Man muss kein Popexperte sein, um den Sinn von Bandnamen wie Rolling Stones oder Beatles zu erraten, die Assoziationen mit dem jeweils dargebotenen Musikstil wecken - also Rock ’n’ Roll oder Beat. Unter den Millionen Fans der Liverpooler Band etwa fanden sich nicht wenige, die vermeinten, dass Beatles entweder Pilzköpfe oder Käfer seien, wobei man Letztere bei identer Aussprache "Beetles" schreiben müsste.
Ein Missverständnis
Ein zu langer und öder Bandname wäre beinahe einem der bekanntesten Frontmen des Rock aller Zeiten zum Verhängnis geworden. Wer würde sich, bitte, für eine unbekannte und erfolglose Band interessieren, die den Namen Little Boy Blue And The Blue Boys trägt, und deren mit zweifelhaften Gesten agierender Twen-Sänger mit dem Allerweltsvornamen Michael von hagerer Statur, dicker Lippe und fragwürdiger Anmutung ist?
Vermutlich niemand! Doch dieser Little Boy Blue war kein Geringerer als Mick Jagger, der einst keinen Brotberuf hatte, aber einen gefährlich wirkenden Freund namens Keith Richard (im Reisepass ohne "s", denn Richards ist ein Künstlername), der zwei, drei gute Gitarren-Riffs beherrschte.
Das einzige Bandmitglied, das damals regelmäßig Geld verdiente, war der Werbegrafiker Charlie Watts. Die im Gegensatz zu den "sauberen" Beatles zunächst als aufsässig-schmuddelige Garagenband wahrgenommenen Stones begannen dann im Sommer 1962 ihren Aufstieg mit dem neuen Bandnamen Rolling Stones, den sie einem Song von Muddy Waters entlehnten.
Muddy Waters’ blueslastige Komposition, die Jagger und Richards inspirierte, hieß schlicht "Rollin’ Stone", womit bereits ursprünglich ein unsteter, nicht sesshafter Vater adressiert war, der immer dort sein Heim hat, wo er sich gerade niederlegt.
Im Jahr 1963, als ihre erste Single mit alten Hadern wie "Come On" (von Bo Diddley) erschien, lebten Mick Jagger und Keith Richards gemeinsam mit ihrem Kollegen Brian Jones in einer heruntergekommenen Wohnung und kamen dem Ideal eines solchen Rolling Stone durchaus nahe. Und irgendwie passt das Bild stetig umher ziehender Steine heute noch auf die Band, die nach wie vor live performt und solcherart überall zu Hause ist.
Während Jagger und Richard (ab 1977: Richards) richtig die Ohren spitzten, als sie vor Jahrzehnten andächtig dem "Rollin’ Stone" von Muddy Waters lauschten, geht eine andere britische Band auf einen Hörfehler oder ein Missverständnis zurück: Prefab Sprout, die in den 80er Jahren einem komplizierten, sophisticated Pop huldigten, für den der aus Durham im Nordosten Englands stammende Sänger, Multiinstrumentalist und Komponist Patrick McAloon ab Mitte der 1980er Jahre verantwortlich zeichnete.
Der stets umtriebig-schelmische Patrick Joseph lauschte gerade Nancy Sinatra und Lee Hazlewood, die das Lied "Jackson" zum Besten gaben, das von einer Hochzeit in einer Art Fieber handelt und den erotischen Vergleich mit einer Pfefferschote ("pepper sprout") enthält - doch daraus machte Mc Aloon "Prefab Sprout", was auf ein vorfabriziertes Naturprodukt hindeutet, das es realiter gar nicht gibt. Unter dem Namen performt der Songwriter seit dem Abgang seines Bruders Martin und der Sängerin Wendy Smith unbeirrt bis heute allein weiter.
Literatur & Satanismus
Zu den bekanntesten britischen Formationen, die nicht zuletzt aufgrund ihres Albums "The Wall" immer noch weltweit populär sind, zählen Pink Floyd. Ihr Name leitet sich von Pink Anderson und Floyd Council, zwei amerikanischen Countryblues-Musikern, ab, die das im Jahr 2006 verstorbene Gründungsmitglied Syd Barrett inspirierten. Barrett prägte in den Sechzigerjahren als Sänger und Gitarrist nicht nur den esoterischen Sound der Band, er gab ihr zunächst auch den Namen The Pink Floyd Sound.
Doch auf der ersten LP, "The Piper At The Gates Of Dawn", die vor mittlerweile 51 Jahren erschienen ist, firmierte die Band bereits unter Pink Floyd. Kaum zu glauben, dass die Gruppe damals in Alt-Ossiach auf Einladung von Friedrich Gulda aufgetreten ist und dort einen Ansturm an Freaks auslöste, die der beschauliche Kurort noch nicht gesehen hatte.
Wie intellektuell manche Bands ihre Namensfindung betrieben, zeigen nicht nur Deep Purple, die unter anderem Irving Berlin reflektierten, sondern auch Uriah Heep, die eine besonders unsympathisch gezeichnete Figur aus Charles Dickens’ Schlüsselroman "David Copperfield" auswählten, um sich zu vermarkten. Als frühe Vertreter eines teilweise harten, orgellastigen Glamourrock gelang es der Band, den negativ besetzten Romanhelden Uriah Heep allerdings in eine positiv konnotierte künstlerische Formation umzuwandeln.
Denn der von Dickens beschriebene Uriah Heep gilt seit dem Erscheinen des Romans um 1850 als der Inbegriff des Kriechers, Intriganten und infamen Heuchlers. Bedenkt man, dass Dickens seine eigene Jugend darin Revue passieren ließ, möchte man lieber nicht genau wissen, wer das Vorbild für Mister Heep war, der einen wohltätigen Rechtsanwalt namens Wickfield schamlos ausnützte und hinterging und dessen bösartigen Machenschaften erst ein Freund von Copperfield namens Micawber ein Ende machte. Doch mit dem Bandnamen Micawber wären Uriah Heep aus Marketinggründen wohl eher gescheitert.
Mitunter soll der Bandname selbst für sich sprechen und ankündigen, was hier gespielt wird. Dann muss etwa die englische Abkürzung für Gleich- und Wechselstrom herhalten (AC/DC), oder es weht ein Hauch von Satanismus durch das Studio und die Konzerthallen (Black Sabbath; Judas Priest).
Es gibt aber auch harmlose Schöpfungen wie die niederländische Legende Focus oder die US-Hardcore-Punk-Band The Teen Idles (rund um meinen Namensvetter Nathan Strejcek). Nicht nur Linguisten wird auffallen, dass in Bandnamen einiger bekannter Rock-Formationen absichtlich Umlaute eingefügt wurden. So ein "Ö" oder ein"Ü" war für US-Garagenpunks und Rocker der Inbegriff der Coolness oder erinnerte an skandinavische Rockergangs. Namen wie Motörhead, Mötley Crüe und Blue Öyster Cult sprechen für sich, die Nomenklatur hat durchaus Methode, sie will das "Harte" oder das Exotische zitieren.
Glauben & Religion
Die einfachste und zudem recht "seriöse", aber auch etwas langweilige Variante des Bandnamens ist das Namensakronym. Entweder wählten die Protagonisten ihre Familiennamen aus (wie ELP, also Emerson, Lake & Palmer), oder sie gestalteten aus ihren Vornamen ein weltbekanntes Akronym wie ABBA (Agnetha, Benny, Björn, Anni-Frid). Gert Steinbäcker, Günter Timischl und Schiffkowitz, der eigentlich Helmut Röhrling heißt, bildeten die Formation STS.
Kein Namensakronym ist CCR, die Abkürzung von Creedence Clearwater Revival. Dieser Name hat Gründe, die in der Bandgeschichte lagen, da sich die beiden Musiker nach dem Militärdienst wieder zusammenfanden und dann die Elemente Glauben (Creed) und Reinheit der Natur (Clearwater) nach guter alter Hippie-Art zitierten.
Akronyme können auch aus mehr oder minder sinnvollen Zusammensetzungen von Anfangsbuchstaben in EAV (Erste Allgemeine Verunsicherung), DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft) oder DÖF (Deutsch-Österreichisches Feingefühl) münden.
Die vermutlich berühmteste Band, die sich hingegen das erste Buch Mose als Bandname gewählt hat, ist Genesis, deren ehemalige Mitglieder auch bemerkenswerte Solokarrieren gemacht haben. Hier wären Peter Gabriel (der ja im Übrigen auch wie ein Erzengel heißt), Phil Collins, Mike Rutherford und Steve Hackett zu nennen, die auch als Einzelkämpfer die Charts stürm(t)en.
Auch die Hardrock-Formation Judas Priest, von der ein Hit mit Titel "Turbo Lover" stammt, schöpft aus der Bibel und zitiert jenen Mann, der in christlichen Kreisen wegen seines Verrats nicht beliebt ist, dem aber Jesus selbst einst vergeben hat.
Weniger bekannt als Genesis, künstlerisch aber sehr ergiebig sind die Shoegazer The Jesus And Mary Chain. Der geniale Sänger und Komponist Taj Mahal hat sich den Künstlernamen aus Indien geholt. Tatsächlich sind oft gerade jene Performer recht religiös, die mitunter sehr grantig auftreten - wie etwa Van Morisson -, wohingegen sich die schillernde Pfarrerstochter Katy Perry, so scheint es, vom Glauben ihrer Familie abgewandt hat.
Familiensinn
Ausgeprägter Familiensinn äußert sich in Bandnamen wie Sly And The Family Stone, Sister Sledge oder The Pointer Sisters. Aber nicht nur in afroamerikanischen Musikerkreisen erfreuen sich familiäre Bezüge großer Beliebtheit, wie etwa die Doobie oder die Allman Brothers, The Mamas & The Papas, die Kelly Family und die Corrs zeigen.
Altschocker Alice Cooper, der gerne Kunstblut vergießt und seine Fans mit morbiden Versatzstücken irritiert, bedient seit jeher das Genre des Gruftrocks. Und seit jeher hat der Sensenmann Rockbands ebenso angezogen wie Frankenstein und Dracula.
Hier tat sich auch Edgar Winter mit einer Frankenstein-Eloge hervor, sein Bruder Johnny faszinierte als Hardrockgitarrist. Wer Bandnamen wie Dead Kennedys als pietätlos empfindet, wird auch die Dead Nittels nicht als ethischen Höhenflug empfinden. Auch die Toten Hosen müssen sich hier einordnen lassen, wenngleich ihre Wortkombination von Tod und Hose nur metaphorisch gemeint ist und nicht den Waschmaschinen-Exitus der Lieblingsjeans meint, sondern das Faktum, dass manchmal (auf einer Party) nichts los ist. Was natürlich von Anfang an streng ironisch gemeint war.
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Gerhard Strejcek
Topsportler haben kein Recht zu verschwinden
Der Standard, 12.06.2018
Strenge Vorschriften, wonach Spitzensportler für unangemeldete Dopingtests stets ihren Aufenthaltsort melden müssen, verstoßen nicht gegen das Recht auf Privatsphäre
Mit der Fußball-WM in Russland steht wieder ein sportlicher Megaevent an, bei dem auch die Dopingtester gefordert sind. Doping zählt auch in den Ballsportarten zu den ernsten Problemen, vor allem weil durch professionelle Dosierung die Nachweise immer schwieriger werden.
Daher mussten die nationalen Dopingagenturen – in Österreich ist das die bundes- und landesgesetzlich ermächtigte Nada Austria – nachziehen und bereits in der Aufbauphase des Trainings Proben ziehen und Tests durchführen. Dies entspricht seit 2010 dem internationalen Wada-Code.
Vor allem die vor Wettbewerben üblichen "pre-competition tests" sind gefürchtet, wenn sich Leichtathleten oder Mannschaftssportler beim verschärften Training oder bei Probematches für eine fixe Startaufstellung qualifizieren wollen und ihrer Fitness oder Leistungsfähigkeit in unerlaubter Weise nachhelfen.
Häufig schlägt hier die Keule des Dopingtests mit massiver Sperre zu, wogegen nach den Qualifikationsspielen oder dem Bewerb keine oder kaum mehr unerlaubte Substanzen nachweisbar wären.
Urteil aus Straßburg
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg bestätigte im Fall FNASS/Frankreich (18. 1. 2018, 48.151/11 und 77.769/13) das aktuelle Regulativ und die Kompetenzen der französischen Dopingagenturen. Seit dem 18. April ist das Urteil, dem eine Beschwerde gegen die Entscheidung des – mit dem Verfassungsgerichtshof vergleichbaren – conseil constitutionel zugrunde lag, definitiv.
Unter den Antragstellern waren Fußball-, Handball- und Basketballverbände sowie Radfahrer, die zu einer Probandengruppe zählten. Sie wehrten sich gegen das "Whereabout-System", wonach Topsportler verpflichtet sind, ständig Angaben über Aufenthaltsort und Erreichbarkeit zu machen.
Vorbilder für die Jugend
Der EGMR entschied in (kleiner) Kammer, dass das ausufernde Dopingproblem strenge Kontrollen rechtfertigt, vor allem auch weil Sportler Vorbilder für die Jugend sind. Daher sind auch Eingriffe in das Recht auf Privatheit und Familienleben (Art. 8 EMRK) durch das öffentliche Interesse am Gesundheitsschutz und an der Fairness im Sport gerechtfertigt. Die Zuseher und die fairen Wettbewerbsteilnehmer, die sauber bleiben, haben das Recht, dass sie nicht von gedopten Athleten hinters Licht geführt werden.
Daher sind die strengen Vorschriften über die tägliche Verfügbarkeit von Sportlern für Kontrollen, welche nach internationalem Muster auch in Frankreich (Beklagter) und in Österreich gelten, nach Meinung der Straßburger Richter grundrechtskonform. Sie verpflichten die Mitglieder einer Gruppe zu Ein-Stunden-Slots, in denen genaue Informationspflicht über den Aufenthalt und den Tagesablauf der Sportler herrscht.
Diese müssen angeben, wo sie zu einer bestimmten Tageszeit anzutreffen sind, um vor einem Großereignis Blut- oder Harnproben zu ziehen. Die "whereabout regulatives" können somit den Trainingsplan durcheinanderbringen, aber sie sind zur Erreichung des Ziels effektiver Dopingtests unumgänglich und auch grundrechtskonform.
So streng wie der EuGH
In dieser Deutlichkeit haben dies internationale Höchstgerichte bisher nicht ausgeführt, obwohl auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) seit den Urteilen in den Causen David Meca-Medina und Igor Majcen von 2006 (C 519/04) eine strenge Linie gegen Dopingsünder verfolgt. Demnach unterliegt das Recht, das Sportverbände setzen, zwar den Wettbewerbsregeln der EU (Art 81 f. EG), aber wegen des legitimen Zwecks sind Dopingregeln als "reine" Sportregeln davon ausgenommen.
EuGH und EGMR treffen sich in der Beurteilung erlaubter Eingriffe in einem wesentlichen Punkt. Entscheidungen einer Kammer des EGMR sind prinzipiell anfechtbar und können von allen Parteien vor die große Kammer gezogen werden, was aber hier unterblieb.
Somit ist die Ansicht des Straßburger Gerichts nun europaweit maßgeblich: Die Richtlinien der nationalen Dopingagenturen haben den Charakter von Gesetzen, wenn sie hinreichend publiziert sind. Das ist in Österreich dank der Nada-Website www.nada.at der Fall.
Mit der Fußball-WM in Russland steht wieder ein sportlicher Megaevent an, bei dem auch die Dopingtester gefordert sind. Doping zählt auch in den Ballsportarten zu den ernsten Problemen, vor allem weil durch professionelle Dosierung die Nachweise immer schwieriger werden.
Daher mussten die nationalen Dopingagenturen – in Österreich ist das die bundes- und landesgesetzlich ermächtigte Nada Austria – nachziehen und bereits in der Aufbauphase des Trainings Proben ziehen und Tests durchführen. Dies entspricht seit 2010 dem internationalen Wada-Code.
Vor allem die vor Wettbewerben üblichen "pre-competition tests" sind gefürchtet, wenn sich Leichtathleten oder Mannschaftssportler beim verschärften Training oder bei Probematches für eine fixe Startaufstellung qualifizieren wollen und ihrer Fitness oder Leistungsfähigkeit in unerlaubter Weise nachhelfen.
Häufig schlägt hier die Keule des Dopingtests mit massiver Sperre zu, wogegen nach den Qualifikationsspielen oder dem Bewerb keine oder kaum mehr unerlaubte Substanzen nachweisbar wären.
Urteil aus Straßburg
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg bestätigte im Fall FNASS/Frankreich (18. 1. 2018, 48.151/11 und 77.769/13) das aktuelle Regulativ und die Kompetenzen der französischen Dopingagenturen. Seit dem 18. April ist das Urteil, dem eine Beschwerde gegen die Entscheidung des – mit dem Verfassungsgerichtshof vergleichbaren – conseil constitutionel zugrunde lag, definitiv.
Unter den Antragstellern waren Fußball-, Handball- und Basketballverbände sowie Radfahrer, die zu einer Probandengruppe zählten. Sie wehrten sich gegen das "Whereabout-System", wonach Topsportler verpflichtet sind, ständig Angaben über Aufenthaltsort und Erreichbarkeit zu machen.
Vorbilder für die Jugend
Der EGMR entschied in (kleiner) Kammer, dass das ausufernde Dopingproblem strenge Kontrollen rechtfertigt, vor allem auch weil Sportler Vorbilder für die Jugend sind. Daher sind auch Eingriffe in das Recht auf Privatheit und Familienleben (Art. 8 EMRK) durch das öffentliche Interesse am Gesundheitsschutz und an der Fairness im Sport gerechtfertigt. Die Zuseher und die fairen Wettbewerbsteilnehmer, die sauber bleiben, haben das Recht, dass sie nicht von gedopten Athleten hinters Licht geführt werden.
Daher sind die strengen Vorschriften über die tägliche Verfügbarkeit von Sportlern für Kontrollen, welche nach internationalem Muster auch in Frankreich (Beklagter) und in Österreich gelten, nach Meinung der Straßburger Richter grundrechtskonform. Sie verpflichten die Mitglieder einer Gruppe zu Ein-Stunden-Slots, in denen genaue Informationspflicht über den Aufenthalt und den Tagesablauf der Sportler herrscht.
Diese müssen angeben, wo sie zu einer bestimmten Tageszeit anzutreffen sind, um vor einem Großereignis Blut- oder Harnproben zu ziehen. Die "whereabout regulatives" können somit den Trainingsplan durcheinanderbringen, aber sie sind zur Erreichung des Ziels effektiver Dopingtests unumgänglich und auch grundrechtskonform.
So streng wie der EuGH
In dieser Deutlichkeit haben dies internationale Höchstgerichte bisher nicht ausgeführt, obwohl auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) seit den Urteilen in den Causen David Meca-Medina und Igor Majcen von 2006 (C 519/04) eine strenge Linie gegen Dopingsünder verfolgt. Demnach unterliegt das Recht, das Sportverbände setzen, zwar den Wettbewerbsregeln der EU (Art 81 f. EG), aber wegen des legitimen Zwecks sind Dopingregeln als "reine" Sportregeln davon ausgenommen.
EuGH und EGMR treffen sich in der Beurteilung erlaubter Eingriffe in einem wesentlichen Punkt. Entscheidungen einer Kammer des EGMR sind prinzipiell anfechtbar und können von allen Parteien vor die große Kammer gezogen werden, was aber hier unterblieb.
Somit ist die Ansicht des Straßburger Gerichts nun europaweit maßgeblich: Die Richtlinien der nationalen Dopingagenturen haben den Charakter von Gesetzen, wenn sie hinreichend publiziert sind. Das ist in Österreich dank der Nada-Website www.nada.at der Fall.
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Gerhard Strejcek
Der lange Kampf für Frauenrechte
Wiener Zeitung, 12.05.2018
Das Wiener Volkskundemuseum widmet sich zurzeit den Wiener Frauenhäusern. Ein guter Anlass zum Rückblick auf historische und juristische Initiativen.
Seit Ende April bietet das Volkskundemuseum im Palais Schönborn in (1080) Wien eine Ausstellung mit dem Titel "Am Anfang war ich sehr verliebt . . ." an. Hier geht es nicht um Romanzen, sondern um die dunkle Seite maskuliner Gewalt, die zur Einrichtung von Zufluchtsstätten für misshandelte Frauen führte.
Der Verein Wiener Frauenhäuser wurde im Jahr 1978 gegründet, feiert in diesem Jahr also sein 40. Jubiläum. Zudem erhielt die Geschäftsführerin, Andrea Brem, im Jänner eine hohe Ehrung der Stadt, die auch der zuständigen Vereinsobfrau und Gemeinderätin, Martina Faymann-Ludwig gilt. Es gibt vier Frauenhäuser in Wien, die misshandelten oder bedrohten Frauen und ihren Kindern Schutz und Hilfe bieten. Insgesamt stehen rund 175 Plätze für Frauen und Kinder zur Verfügung.
Für Frauen, die Hilfe benötigen, bietet der Verein auch eine ambulante Beratungsstelle an, in der die Betroffenen anonym und kostenlos Auskunft erhalten, wie sie der Beziehungshölle entkommen oder rechtliche Mittel einsetzen können. Der Verein verfügt über ein Übergangswohnhaus und mehrere Prekariumswohnungen. Das sind, rechtlich betrachtet, freiwillig überlassene, aber nicht langfristig mietbare Wohnstätten. Das römischrechtliche Prekarium war ursprünglich eine Art "Bittleihe".
Lostag in Erster Republik
Die Frauenhäuser sind auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine bedeutsame, auf Privatinitia- tive nach dem Vereinsgesetz beruhende und als juristische Person des Privatrechts errichtete, aber unter staatlicher Förderung (Bundesministerium für Gesundheit und Frauen; Stadt Wien) stehende Einrichtung. Sie nehmen unter dem Gesichtspunkt des Frauenschutzes und der Gewaltprävention eine wichtige öffentliche Aufgabe wahr, die es auch im Lichte internationaler Übereinkommen zu fördern gilt.
Aus Sicht der Viktimologie, einer Unterdisziplin der Kriminologie, die auf der Kriminalstatistik beruht, stellen im Sektor häusliche Gewalt Frauen zu mehr als neunzig Prozent die Opfer dar. Frauenhäuser erfüllen so auch die Aufgabe einer Verbrechensprävention, vielfach kann durch den Aufenthalt und die räumliche Trennung vom Täter das Schlimmste verhindert werden, wenn auch die psychischen und physischen Wunden bestehen bleiben, die Gewalt in irreversibler und traumatisierender Weise bewirkt.
Die Ausstellung im Volkskundemuseum soll Anlass sein, den Blick auch auf andere Initiativen für Frauenrechte zu schärfen, die vielfach schon in der Ersten Republik ihren Ausgangspunkt hatten. So etablierte sich nach einigem Hin und Her der 8. März als Frauentag, der auch an die Pariser Kommune und die Märzrevolution 1848 erinnert. Ein Lostag für politische Frauenrechte in der Ersten Republik war aber auch der 16. Februar 1919, weil an diesem Tag die ersten Wahlen nach dem Allgemeinen Wahlrecht stattfanden, erstmals "ohne Unterscheid des Geschlechts".
Schon das erste Verfassungsgesetz der Republik hatte im Herbst 1918 angekündigt, dass erstmals Wahlen nach dem gleichen und allgemeinem Wahlrecht stattfinden sollten. Im Jahr 1907 war zwar das "allgemeine" Männerwahlrecht eingeführt worden, aber vor allem die politisch engagierten Frauen wurden dadurch benachteiligt, weshalb korrekterweise der Begriff der Allgemeinheit unangebracht ist.
Frauen waren nach der Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung sowohl aktiv als auch passiv wahlberechtigt, und es gelang einigen Bewerberinnen auch, auf eine wählbare Stelle der Parteilisten zu kommen (damals kandidierten die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP, die die Wahl gewann, aber auch Christlichsoziale, Großdeutsche, eine jüdische und eine liberale demokratische Partei) und in der konstituierenden Nationalversammlung vertreten zu sein. Das war auch im Lichte der Hauptaufgabe der Nationalversammlung wichtig, die im Sommer 1920 die Bundesverfassung (das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920) beschloss.
Damit Frauen ihre Rechte besser wahrnehmen konnten, war es von eminenter Bedeutung, den Zugang zum Jusstudium zu erkämpfen, was erst in der Repu-blik ab 1919 gelang. Zunächst sollten Frauen mit dem Studium der Staatswissenschaften zu reinen Theoretikerinnen und bestenfalls juristisch geschulten Beamtinnen werden. Aber emanzipierte Frauen erkannten, dass ihnen so der Zugang zu den Rechtsberufen verschlossen blieb.
So ging der Zulassung zum Studium der Rechtswissenschaften ab dem Wintersemester 1919 ein langer Kampf voran. Gutachten und Vorarbeiten des Unterrichtsministeriums - es gab kein eigenes Wissenschaftsressort in der k.u.k. Monarchie - reichen aber länger zurück. Der Staatsrechtslehrer Edmund Bernatzik hatte ein Gutachten erstellt, worin er attestierte, dass der Ausschluss von Frauen vom Jusstudium gegen die Berufswahlfreiheit verstoße und nicht sachlich begründet werden könnte. Er führte auch die positiven Erfahrungen mit Studentinnen beim Medizinstudium an, da dieses Frauen bereits geöffnet war. Gemeinsam mit Marianne Beth (zu ihr etwas später) erkämpfte auch seine Tochter den Zugang zum Jusstudium. Edmund Bernatzik starb im März 1919 und konnte ihren Studienabschluss nicht mehr erleben.
Juristische Pionierin
Wegen der Behandlung muslimischer Frauen in Bosnien-Herzegowina stand die Donaumonarchie bereits seit 1878 und stärker noch nach der Annexion 1908 vor der Aufgabe, Ärztinnen auszubilden. Frauen konnten zunächst an der Wiener Universität Medizin und philosophische Fächer, nicht aber Jus oder Theologie studieren.
Frauen aus beiden Teilen der Monarchie waren gefragt, sich der medizinischen Ausbildung zu stellen und die Muslima zu behandeln. Dass ausgerechnet eine auf Bismarcks Pläne zurückgehende Gebietserweiterung und der Islam als in Bosnien vorherrschende Religion diesen wichtigen Bildungszugang indirekt öffneten, ist eine Ironie der Geschichte.
Marianne Beth ist eine der juristischen Pionierinnen der Ersten Republik. Sie wurde am 6. März 1890 als Marianne Weisl, Tochter jüdischer Eltern, in der k.u.k. Monarchie geboren. Marianne Weisl promovierte 1912 an der philosophischen Fakultät im Fach Orientalistik; aber das genügte ihr nicht, sie schaffte es auch, als erste Frau ein Doktorat der Rechtswissenschaften zu erreichen. Dies gelang ihr in lediglich sechs Semestern, da ihr für das (nach sieben oder acht Semestern vorgesehene) Absolutorium Teile des Philosophiestudiums angerechnet wurden. Somit war Marianne Beth ab 1921 doppelte Doktorin und ließ sich auch nach dem Gerichtsjahr und ihrer Konzipientenzeit in die Liste der Rechtsanwälte als erste "Advokatin" eintragen.
Beth hatte also nicht nur als Erste ein Jusstudium absolviert (1921), sie ließ sich auch gegen alle Widerstände als erste Frau in die Liste der Rechtsanwälte eintragen und verfasste ein Buch mit dem Titel "Das Recht der Frau", das sie 1931 im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei vorlegte. Leider erschien das Kompendium, das vor allem die arbeits- und familienrechtliche Stellung der Frau beleuchtete, in Frakturschrift, die Anfang der 1930er Jahre wieder in Mode gekommen war. Beth heiratete den deutschen Religionshistoriker Theodor Beth, der auch publizistisch tätig war und eine Studie über die Weltreligionen verfasste. Das Paar wurde von den Nationalsozialisten in den 1930er Jahren gezwungen, die advokatorische und wissenschaftliche Tätigkeit einzustellen und das "Reich" zu verlassen; in den USA (Chicago und New York) setzten sie aber ihr Wirken in der Emigration fort.
In der NS-Zeit waren Maiaufmärsche und der Frauentag verboten, an seine Stelle trat ideologiekonform der Muttertag. Dieser Zwang zur Mutterverehrung betraf die Republik Österreich nach dem 12. März 1938, als der "Anschluss" erfolgte.
Der Nationalsozialismus sah in der deutschen Frau das Ideal als Mutter, die möglichst viele fronttaugliche Männer und weitere potentielle Mütter gebar. Für eine große Kinderschar gab es das "Mutterkreuz". Töchter waren für die Hausarbeit bestimmt, Berufstätigkeit war unerwünscht. Das galt auch für den Öffentlichen Dienst, denn bereits das Gesetz zum "Schutz des Berufsbeamtentums" (ein Euphemismus, von Schutz war keine Rede, zahlreiche Entlassungen stützten sich gerade auf dieses Gesetz) hatte die sofortige Beendigung des Dienstverhältnisses von Beamtinnen bewirkt, wenn auch der Ehegatte diesen Beruf ausübte. Dasselbe galt für jüdische Beamte, wobei nicht die Konfession, sondern die Abstammung relevant war.
Apolitische Dienerinnen
Allerdings gelang es auch in der Zivilgesellschaft Nazideutschlands einigen Frauen, sich zu emanzipieren. Wie ich in der eigenen Familie feststellte, etwa der Schwester meines Großvaters, der Dresdner Kunststudentin Charlotte Hassebrauk, einer erklärten Regimegegnerin. Ihr Mann war Maler und fiel als expressionistischer Künstler, der weder den "deutschen Herrenmenschen" noch das Ideal des Arbeiters im sowjetrealistischen Stil hochhielt, 1933 im Nationalsozialismus und, nach kurzer Professur, 1948 bei den Sowjets und DDR-Kulturbeauftragten in Ungnade; dennoch konnte die Künstlerin nach der Hochzeit 1935 den KFZ-Führerschein erwerben.
Kriegsbedingt nahmen Frauen auch die Rolle der Arbeiter in Rüstungsbetrieben und anderen "kriegsnotwendigen" Bereichen (Fliegerabwehr usw.) ein. Die Motive des Regimes waren aber eindeutig gegen die selbstständige Entfaltung gerichtet, Frauen sollten gleichgeschaltet und zu apolitischen Dienerinnen des Systems erzogen werden. Auch am Frauentag gab es vor allem sozialistischen und feministischen Widerstand gegen das NS-Regime, etwa durch das "Auslüften" von roten Gegenständen am 8. März, die am Fenster drapiert wurden. Neben den rassisch verfolgten Frauen landeten auch engagierte Feministinnen wie Milena Jesenská im KZ; sie verstarb als Aushängeschild der Prager Moderne 1944 im NS-Frauenlager Ravensbrück.
Information
Ausstellung:
Am Anfang war ich sehr verliebt..."
(40 Jahre Wiener Frauenhäuser)
läuft bis 30. September 2018 im Wiener Volkskundemuseum
Laudongasse 15-19
1080 Wien
Literatur:
Das Wahlrecht der Ersten Republik
Manz 2008
Erlerntes Recht. Zur Ausbildung von Juristinnen und Juristen an der Wiener Universität 1365 2015
new academic press 2015
Beide von Gerhard Strejcek
Seit Ende April bietet das Volkskundemuseum im Palais Schönborn in (1080) Wien eine Ausstellung mit dem Titel "Am Anfang war ich sehr verliebt . . ." an. Hier geht es nicht um Romanzen, sondern um die dunkle Seite maskuliner Gewalt, die zur Einrichtung von Zufluchtsstätten für misshandelte Frauen führte.
Der Verein Wiener Frauenhäuser wurde im Jahr 1978 gegründet, feiert in diesem Jahr also sein 40. Jubiläum. Zudem erhielt die Geschäftsführerin, Andrea Brem, im Jänner eine hohe Ehrung der Stadt, die auch der zuständigen Vereinsobfrau und Gemeinderätin, Martina Faymann-Ludwig gilt. Es gibt vier Frauenhäuser in Wien, die misshandelten oder bedrohten Frauen und ihren Kindern Schutz und Hilfe bieten. Insgesamt stehen rund 175 Plätze für Frauen und Kinder zur Verfügung.
Für Frauen, die Hilfe benötigen, bietet der Verein auch eine ambulante Beratungsstelle an, in der die Betroffenen anonym und kostenlos Auskunft erhalten, wie sie der Beziehungshölle entkommen oder rechtliche Mittel einsetzen können. Der Verein verfügt über ein Übergangswohnhaus und mehrere Prekariumswohnungen. Das sind, rechtlich betrachtet, freiwillig überlassene, aber nicht langfristig mietbare Wohnstätten. Das römischrechtliche Prekarium war ursprünglich eine Art "Bittleihe".
Lostag in Erster Republik
Die Frauenhäuser sind auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine bedeutsame, auf Privatinitia- tive nach dem Vereinsgesetz beruhende und als juristische Person des Privatrechts errichtete, aber unter staatlicher Förderung (Bundesministerium für Gesundheit und Frauen; Stadt Wien) stehende Einrichtung. Sie nehmen unter dem Gesichtspunkt des Frauenschutzes und der Gewaltprävention eine wichtige öffentliche Aufgabe wahr, die es auch im Lichte internationaler Übereinkommen zu fördern gilt.
Aus Sicht der Viktimologie, einer Unterdisziplin der Kriminologie, die auf der Kriminalstatistik beruht, stellen im Sektor häusliche Gewalt Frauen zu mehr als neunzig Prozent die Opfer dar. Frauenhäuser erfüllen so auch die Aufgabe einer Verbrechensprävention, vielfach kann durch den Aufenthalt und die räumliche Trennung vom Täter das Schlimmste verhindert werden, wenn auch die psychischen und physischen Wunden bestehen bleiben, die Gewalt in irreversibler und traumatisierender Weise bewirkt.
Die Ausstellung im Volkskundemuseum soll Anlass sein, den Blick auch auf andere Initiativen für Frauenrechte zu schärfen, die vielfach schon in der Ersten Republik ihren Ausgangspunkt hatten. So etablierte sich nach einigem Hin und Her der 8. März als Frauentag, der auch an die Pariser Kommune und die Märzrevolution 1848 erinnert. Ein Lostag für politische Frauenrechte in der Ersten Republik war aber auch der 16. Februar 1919, weil an diesem Tag die ersten Wahlen nach dem Allgemeinen Wahlrecht stattfanden, erstmals "ohne Unterscheid des Geschlechts".
Schon das erste Verfassungsgesetz der Republik hatte im Herbst 1918 angekündigt, dass erstmals Wahlen nach dem gleichen und allgemeinem Wahlrecht stattfinden sollten. Im Jahr 1907 war zwar das "allgemeine" Männerwahlrecht eingeführt worden, aber vor allem die politisch engagierten Frauen wurden dadurch benachteiligt, weshalb korrekterweise der Begriff der Allgemeinheit unangebracht ist.
Frauen waren nach der Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung sowohl aktiv als auch passiv wahlberechtigt, und es gelang einigen Bewerberinnen auch, auf eine wählbare Stelle der Parteilisten zu kommen (damals kandidierten die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP, die die Wahl gewann, aber auch Christlichsoziale, Großdeutsche, eine jüdische und eine liberale demokratische Partei) und in der konstituierenden Nationalversammlung vertreten zu sein. Das war auch im Lichte der Hauptaufgabe der Nationalversammlung wichtig, die im Sommer 1920 die Bundesverfassung (das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920) beschloss.
Damit Frauen ihre Rechte besser wahrnehmen konnten, war es von eminenter Bedeutung, den Zugang zum Jusstudium zu erkämpfen, was erst in der Repu-blik ab 1919 gelang. Zunächst sollten Frauen mit dem Studium der Staatswissenschaften zu reinen Theoretikerinnen und bestenfalls juristisch geschulten Beamtinnen werden. Aber emanzipierte Frauen erkannten, dass ihnen so der Zugang zu den Rechtsberufen verschlossen blieb.
So ging der Zulassung zum Studium der Rechtswissenschaften ab dem Wintersemester 1919 ein langer Kampf voran. Gutachten und Vorarbeiten des Unterrichtsministeriums - es gab kein eigenes Wissenschaftsressort in der k.u.k. Monarchie - reichen aber länger zurück. Der Staatsrechtslehrer Edmund Bernatzik hatte ein Gutachten erstellt, worin er attestierte, dass der Ausschluss von Frauen vom Jusstudium gegen die Berufswahlfreiheit verstoße und nicht sachlich begründet werden könnte. Er führte auch die positiven Erfahrungen mit Studentinnen beim Medizinstudium an, da dieses Frauen bereits geöffnet war. Gemeinsam mit Marianne Beth (zu ihr etwas später) erkämpfte auch seine Tochter den Zugang zum Jusstudium. Edmund Bernatzik starb im März 1919 und konnte ihren Studienabschluss nicht mehr erleben.
Juristische Pionierin
Wegen der Behandlung muslimischer Frauen in Bosnien-Herzegowina stand die Donaumonarchie bereits seit 1878 und stärker noch nach der Annexion 1908 vor der Aufgabe, Ärztinnen auszubilden. Frauen konnten zunächst an der Wiener Universität Medizin und philosophische Fächer, nicht aber Jus oder Theologie studieren.
Frauen aus beiden Teilen der Monarchie waren gefragt, sich der medizinischen Ausbildung zu stellen und die Muslima zu behandeln. Dass ausgerechnet eine auf Bismarcks Pläne zurückgehende Gebietserweiterung und der Islam als in Bosnien vorherrschende Religion diesen wichtigen Bildungszugang indirekt öffneten, ist eine Ironie der Geschichte.
Marianne Beth ist eine der juristischen Pionierinnen der Ersten Republik. Sie wurde am 6. März 1890 als Marianne Weisl, Tochter jüdischer Eltern, in der k.u.k. Monarchie geboren. Marianne Weisl promovierte 1912 an der philosophischen Fakultät im Fach Orientalistik; aber das genügte ihr nicht, sie schaffte es auch, als erste Frau ein Doktorat der Rechtswissenschaften zu erreichen. Dies gelang ihr in lediglich sechs Semestern, da ihr für das (nach sieben oder acht Semestern vorgesehene) Absolutorium Teile des Philosophiestudiums angerechnet wurden. Somit war Marianne Beth ab 1921 doppelte Doktorin und ließ sich auch nach dem Gerichtsjahr und ihrer Konzipientenzeit in die Liste der Rechtsanwälte als erste "Advokatin" eintragen.
Beth hatte also nicht nur als Erste ein Jusstudium absolviert (1921), sie ließ sich auch gegen alle Widerstände als erste Frau in die Liste der Rechtsanwälte eintragen und verfasste ein Buch mit dem Titel "Das Recht der Frau", das sie 1931 im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei vorlegte. Leider erschien das Kompendium, das vor allem die arbeits- und familienrechtliche Stellung der Frau beleuchtete, in Frakturschrift, die Anfang der 1930er Jahre wieder in Mode gekommen war. Beth heiratete den deutschen Religionshistoriker Theodor Beth, der auch publizistisch tätig war und eine Studie über die Weltreligionen verfasste. Das Paar wurde von den Nationalsozialisten in den 1930er Jahren gezwungen, die advokatorische und wissenschaftliche Tätigkeit einzustellen und das "Reich" zu verlassen; in den USA (Chicago und New York) setzten sie aber ihr Wirken in der Emigration fort.
In der NS-Zeit waren Maiaufmärsche und der Frauentag verboten, an seine Stelle trat ideologiekonform der Muttertag. Dieser Zwang zur Mutterverehrung betraf die Republik Österreich nach dem 12. März 1938, als der "Anschluss" erfolgte.
Der Nationalsozialismus sah in der deutschen Frau das Ideal als Mutter, die möglichst viele fronttaugliche Männer und weitere potentielle Mütter gebar. Für eine große Kinderschar gab es das "Mutterkreuz". Töchter waren für die Hausarbeit bestimmt, Berufstätigkeit war unerwünscht. Das galt auch für den Öffentlichen Dienst, denn bereits das Gesetz zum "Schutz des Berufsbeamtentums" (ein Euphemismus, von Schutz war keine Rede, zahlreiche Entlassungen stützten sich gerade auf dieses Gesetz) hatte die sofortige Beendigung des Dienstverhältnisses von Beamtinnen bewirkt, wenn auch der Ehegatte diesen Beruf ausübte. Dasselbe galt für jüdische Beamte, wobei nicht die Konfession, sondern die Abstammung relevant war.
Apolitische Dienerinnen
Allerdings gelang es auch in der Zivilgesellschaft Nazideutschlands einigen Frauen, sich zu emanzipieren. Wie ich in der eigenen Familie feststellte, etwa der Schwester meines Großvaters, der Dresdner Kunststudentin Charlotte Hassebrauk, einer erklärten Regimegegnerin. Ihr Mann war Maler und fiel als expressionistischer Künstler, der weder den "deutschen Herrenmenschen" noch das Ideal des Arbeiters im sowjetrealistischen Stil hochhielt, 1933 im Nationalsozialismus und, nach kurzer Professur, 1948 bei den Sowjets und DDR-Kulturbeauftragten in Ungnade; dennoch konnte die Künstlerin nach der Hochzeit 1935 den KFZ-Führerschein erwerben.
Kriegsbedingt nahmen Frauen auch die Rolle der Arbeiter in Rüstungsbetrieben und anderen "kriegsnotwendigen" Bereichen (Fliegerabwehr usw.) ein. Die Motive des Regimes waren aber eindeutig gegen die selbstständige Entfaltung gerichtet, Frauen sollten gleichgeschaltet und zu apolitischen Dienerinnen des Systems erzogen werden. Auch am Frauentag gab es vor allem sozialistischen und feministischen Widerstand gegen das NS-Regime, etwa durch das "Auslüften" von roten Gegenständen am 8. März, die am Fenster drapiert wurden. Neben den rassisch verfolgten Frauen landeten auch engagierte Feministinnen wie Milena Jesenská im KZ; sie verstarb als Aushängeschild der Prager Moderne 1944 im NS-Frauenlager Ravensbrück.
Information
Ausstellung:
Am Anfang war ich sehr verliebt..."
(40 Jahre Wiener Frauenhäuser)
läuft bis 30. September 2018 im Wiener Volkskundemuseum
Laudongasse 15-19
1080 Wien
Literatur:
Das Wahlrecht der Ersten Republik
Manz 2008
Erlerntes Recht. Zur Ausbildung von Juristinnen und Juristen an der Wiener Universität 1365 2015
new academic press 2015
Beide von Gerhard Strejcek
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Gerhard Strejcek
Schillernd
Wiener Zeitung, 06.05.2018
Neues von Pablo Held und seinem Trio.
Der im Jahr 1986 geborene deutsche Pianist Pablo Held und sein Trio loten auf "Investigations", dem bereits zehnten Album der Soundworker, eine schillernde Welt der Synkopen aus und bieten dem Hörer elegant verdichtete Solopassagen, überraschende rhythmische Momente und eine Klangwelt, die vielfach an die ECM-Sphären erinnert.
Das ist kein Zufall, denn Dave Stapletons kleines britisches Label Edition eifert der Münchener Talentschmiede in Sachen Nachwuchsaufspürung nach und fördert die junge europäische Jazz-Szene von Barcelona bis Rüsselsheim. Kein Geringerer als String- und Klaviervirtuose Ralph Towner attestiert den "Untersuchungen" des Pablo Held Trios mit Schlagzeug, Bass und Klavier höchste Innovationskraft und eine "beachtliche musikalische Weiterentwicklung", die nicht nur dem junggebliebenen Altmeister aus Oregon ehrliche Freude bereitet - sondern auch uns.
Der im Jahr 1986 geborene deutsche Pianist Pablo Held und sein Trio loten auf "Investigations", dem bereits zehnten Album der Soundworker, eine schillernde Welt der Synkopen aus und bieten dem Hörer elegant verdichtete Solopassagen, überraschende rhythmische Momente und eine Klangwelt, die vielfach an die ECM-Sphären erinnert.
Das ist kein Zufall, denn Dave Stapletons kleines britisches Label Edition eifert der Münchener Talentschmiede in Sachen Nachwuchsaufspürung nach und fördert die junge europäische Jazz-Szene von Barcelona bis Rüsselsheim. Kein Geringerer als String- und Klaviervirtuose Ralph Towner attestiert den "Untersuchungen" des Pablo Held Trios mit Schlagzeug, Bass und Klavier höchste Innovationskraft und eine "beachtliche musikalische Weiterentwicklung", die nicht nur dem junggebliebenen Altmeister aus Oregon ehrliche Freude bereitet - sondern auch uns.
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Gerhard Strejcek
Die Verfassung schützt die Sozialversicherungen
Der Standard, 30.04.2018
Die Regierungspläne zur Zusammenlegung von Sozialversicherungsträgern und dem radikalen Umbau der Unfallversicherung AUVA stehen im Konflikt mit der Verfassung
Wien – Die Pläne der Bundesregierung zur Reduktion der 21 Sozialversicherungsträger auf fünf und zur möglichen Auflösung oder maßgeblichen Änderung der Aufgaben der Allgemeinen Unfall-Versicherungsanstalt (AUVA) berühren den Kern der beruflichen und der sozialen Selbstverwaltung, die verfassungsgesetzlich geschützt und seit 1848 gesetzlich umgesetzt ist.
Das gilt auch für die Überlegungen, an der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern zu rütteln oder zumindest die Beiträge deutlich zu reduzieren. All diese Pläne stoßen gleich mehrfach an die Grenzen der Bundesverfassung.
Hier geht es einerseits um die seit 2008 im Bundesverfassungsgesetz festgeschriebene Anerkennung der Sozialpartner durch die Republik (Art 120a B-VG) sowie die Grundsätze der Autonomie in der "sonstigen" Selbstverwaltung – in Abgrenzung zu Gemeinden und Universitäten, für die andere Regeln gelten. Aber verfassungsrechtlich sind auch die existierenden Strukturen der Kammern und deren Organisationsmodell vor Eingriffen des einfachen Gesetzgebers geschützt (VfGH 23. 6. 2014, G 87/2013).
Demokratisch und verfassungskonform
Es spricht zwar nichts gegen sachlich begründete Reformen, die zu mehr Effizienz führen, aber sehr wohl gegen allzu radikale Umbaupläne. Explizit steht im B-VG, dass der Bestellungsmodus der Organe demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Das derzeitige, indirekte Modell der Sozialversicherungsträger – gewählte Organe der Arbeiterkammern und Wirtschaftskammern bestellen die SV-Organe – ist zwar nicht in Stein gemeißelt, wurde aber vom Verfassungsgerichtshof als demokratisch und verfassungskonform anerkannt.
Möglich wäre auch eine Direktwahl der Organe, wie sie etwa der Sozialrechtsexperte Wolfgang Mazal vorgeschlagen hat; hingegen wäre ein Wechsel zu autokratischer Besetzung verfassungswidrig. Es ist nach geltender Rechtslage ausreichend, wenn Verfassung und Gesetze die SV-Träger zu Sparsamkeit anhalten und der Bund eine Rechtsaufsicht hat.
Wenn Regierungsmitglieder selbst Organe ernennen oder von weisungsgebundenen Gremien bestellen lassen bzw. auf Einrichtungen oder konkrete Maßnahmen der SV-Träger durchgreifen, wäre dies ein Eingriff in die Autonomie und daher verfassungswidrig.
Auch die Zusammenlegung ist nicht unbegrenzt möglich. In der sozialen Selbstverwaltung hat ein einzelner SV-Träger zwar keine explizite Bestandsgarantie, aber das System insgesamt ist abgesichert. Zudem müssen Neuverteilungen der Aufgaben dem Gleichheitssatz entsprechen. Angesichts der Grundsätze der VfGH-Rechtsprechung sind nur sachkonforme Zusammenlegungen gestattet, so 2002 die Verschmelzung der Pensionsversicherungsträger der Arbeiter und Angestellten.
Aber ob es sachlich gerechtfertigt ist, Beamte und Bauern sowie Vorarlberger und Burgenländer in einem bundesweiten Krankenversicherungsträger zu vereinen, ist höchst fraglich – da auch die Steigerung der Effizienz angezweifelt wird. Westösterreich lebt gesünder und vorsorgeorientiert, daher wäre die Zusammenlegung in regionaler Hinsicht kein Vorteil.
Kein Grund für AUVA-Umbau
Dasselbe gilt für die AUVA mit ihrer 130-jährigen Tradition. Es gibt keinen sachlichen Grund, gerade diese Einrichtung, die ja bei der betrieblichen Unfallversicherung ein Alleinstellungsmerkmal hat, zu eliminieren. Zu erklären, wie dies die Sozialministerin mehrmals getan hat, dass die Unfallkrankenanstalten ja ohnehin erhalten bleiben, genügt nicht.
Wenn der Staat der AUVA die Krankenhäuser wegnimmt, wäre dies ein Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Autonomie. Und die Aufgaben der AUVA an einen anderen Träger zu übertragen oder einen neuen Träger zu gründen wäre ebenfalls unberechtigt. Eine effiziente Erfüllung der betrieblichen Unfallversicherung wird nach allen Erfahrungen am besten von der AUVA geleistet. Das sichert sie verfassungsrechtlich ab.
Wien – Die Pläne der Bundesregierung zur Reduktion der 21 Sozialversicherungsträger auf fünf und zur möglichen Auflösung oder maßgeblichen Änderung der Aufgaben der Allgemeinen Unfall-Versicherungsanstalt (AUVA) berühren den Kern der beruflichen und der sozialen Selbstverwaltung, die verfassungsgesetzlich geschützt und seit 1848 gesetzlich umgesetzt ist.
Das gilt auch für die Überlegungen, an der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern zu rütteln oder zumindest die Beiträge deutlich zu reduzieren. All diese Pläne stoßen gleich mehrfach an die Grenzen der Bundesverfassung.
Hier geht es einerseits um die seit 2008 im Bundesverfassungsgesetz festgeschriebene Anerkennung der Sozialpartner durch die Republik (Art 120a B-VG) sowie die Grundsätze der Autonomie in der "sonstigen" Selbstverwaltung – in Abgrenzung zu Gemeinden und Universitäten, für die andere Regeln gelten. Aber verfassungsrechtlich sind auch die existierenden Strukturen der Kammern und deren Organisationsmodell vor Eingriffen des einfachen Gesetzgebers geschützt (VfGH 23. 6. 2014, G 87/2013).
Demokratisch und verfassungskonform
Es spricht zwar nichts gegen sachlich begründete Reformen, die zu mehr Effizienz führen, aber sehr wohl gegen allzu radikale Umbaupläne. Explizit steht im B-VG, dass der Bestellungsmodus der Organe demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Das derzeitige, indirekte Modell der Sozialversicherungsträger – gewählte Organe der Arbeiterkammern und Wirtschaftskammern bestellen die SV-Organe – ist zwar nicht in Stein gemeißelt, wurde aber vom Verfassungsgerichtshof als demokratisch und verfassungskonform anerkannt.
Möglich wäre auch eine Direktwahl der Organe, wie sie etwa der Sozialrechtsexperte Wolfgang Mazal vorgeschlagen hat; hingegen wäre ein Wechsel zu autokratischer Besetzung verfassungswidrig. Es ist nach geltender Rechtslage ausreichend, wenn Verfassung und Gesetze die SV-Träger zu Sparsamkeit anhalten und der Bund eine Rechtsaufsicht hat.
Wenn Regierungsmitglieder selbst Organe ernennen oder von weisungsgebundenen Gremien bestellen lassen bzw. auf Einrichtungen oder konkrete Maßnahmen der SV-Träger durchgreifen, wäre dies ein Eingriff in die Autonomie und daher verfassungswidrig.
Auch die Zusammenlegung ist nicht unbegrenzt möglich. In der sozialen Selbstverwaltung hat ein einzelner SV-Träger zwar keine explizite Bestandsgarantie, aber das System insgesamt ist abgesichert. Zudem müssen Neuverteilungen der Aufgaben dem Gleichheitssatz entsprechen. Angesichts der Grundsätze der VfGH-Rechtsprechung sind nur sachkonforme Zusammenlegungen gestattet, so 2002 die Verschmelzung der Pensionsversicherungsträger der Arbeiter und Angestellten.
Aber ob es sachlich gerechtfertigt ist, Beamte und Bauern sowie Vorarlberger und Burgenländer in einem bundesweiten Krankenversicherungsträger zu vereinen, ist höchst fraglich – da auch die Steigerung der Effizienz angezweifelt wird. Westösterreich lebt gesünder und vorsorgeorientiert, daher wäre die Zusammenlegung in regionaler Hinsicht kein Vorteil.
Kein Grund für AUVA-Umbau
Dasselbe gilt für die AUVA mit ihrer 130-jährigen Tradition. Es gibt keinen sachlichen Grund, gerade diese Einrichtung, die ja bei der betrieblichen Unfallversicherung ein Alleinstellungsmerkmal hat, zu eliminieren. Zu erklären, wie dies die Sozialministerin mehrmals getan hat, dass die Unfallkrankenanstalten ja ohnehin erhalten bleiben, genügt nicht.
Wenn der Staat der AUVA die Krankenhäuser wegnimmt, wäre dies ein Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Autonomie. Und die Aufgaben der AUVA an einen anderen Träger zu übertragen oder einen neuen Träger zu gründen wäre ebenfalls unberechtigt. Eine effiziente Erfüllung der betrieblichen Unfallversicherung wird nach allen Erfahrungen am besten von der AUVA geleistet. Das sichert sie verfassungsrechtlich ab.
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Gerhard Strejcek
Franz Kafka und die AUVA
Wiener Zeitung, 29.04.2018
Vor 100 Jahren, am 2. Mai 1918, kehrte der Schriftsteller nach längerer Absenz auf seinen Beamtenposten bei der Versicherung zurück. Ein Blick auf seine diesbezügliche Karriere.
Dr. Franz Kafka kehrte am 2. Mai 1918 nach achtmonatiger Absenz auf seinen Beamtenposten in der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt (AUVA) für das Königreich Böhmen zurück. Mäßig erholt, fuhr er mit der Eisenbahn aus dem Hopfenort Zürau nach Prag, damals noch böhmische Hauptstadt und sein "Mütterchen", das ihn beinahe lebenslang in den urbanen Klauen hielt.
Literarisch war er nur wenig produktiv gewesen, im Lehnstuhl hatte er ab und zu Aphorismen notiert. Kafka sinnierte über das Paradies und formulierte kryptische Sätze wie den folgenden: "Die Tatsache, dass es nur eine geistige Welt gibt, raubt uns die Hoffnung und gibt uns Gewissheit."
Freund Max Brod, sonst uneingeschränkter Bewunderer, sah die Zweizeiler als mageres Ergebnis des "Faulenzens", er empfand sich als Manager und Motivator für den schüchternen Freund. Kafkas TBC-Diagnose kannte er, aber einem Pakt der beiden entsprechend hielt er sie vor den Eltern geheim. Julie Kafka sollte lediglich wissen, dass ihr Sohn einen längeren Kuraufenthalt mit seiner Schwester in Nordböhmen genoss, wofür ihn die "Anstalt" frei gestellt hatte.
Kurzer Antrag
Kafkas Pensionsgesuch blieb der Familie unbekannt, der kurze Antrag zum langen Abschied wurde von der Direktion zunächst abschlägig beschieden. Biografen sind sich darüber einig, dass mit diesem Schreiben und dem Zürauer Aufenthalt die endgültige Ablösung Kafkas vom Dienst begann. Fünf Jahre nach der Nichtstattgabe seines ersten Antrags warf sein Arbeitgeber das Handtuch und pensionierte den verdienten Beamten vorzeitig im Alter von nur 39 Jahren.
Kafka war, seinem Naturell entsprechend, in Zürau körperlich nicht untätig geblieben, sondern beteiligte sich mit Interesse an der Landwirtschaft. Er lobte die stille Produktivität der Bauern, die ihm als nobel erschien. Eines Tages führte er eine Stute zum Hufschmied in den Nachbarort Flöhau. Schon in Troja, einem Vorort von Prag, und in Nusle, dem städtischen Gartenbezirk, hatte Kafka Spaten und Rechen zur Hand genommen, um in den Obstgärten zu arbeiten.
Da sich die Adressbücher der k.u.k. Monarchie erhalten haben, können die zahlreichen Gärtnerei-Betriebe heute noch abgerufen werden, darunter die Firma Dvorsky, bei der Kafka selbst bei Schlechtwetter seinen Nachmittagsdienst antrat. Wiederum wunderte sich Brod über diese Art der Energieverschwendung, welche Kafka auch im heißen Juni des Jahres 1918 fortsetzte, statt sich seiner literarischen Karriere zu widmen.
Brod, Felix Weltsch und andere Freunde hatten den Zürauer Bauernhof besucht, der einem Verwandten des Kafka-Schwagers Josef David gehörte. Der Autor selbst beriet seine Schwester Ottilie, die jüngste von dreien, die alle nur "Ottla" nannten, er holte Prospekte von "önologischen und pomologischen Anstalten" ein, damit die Schwester sich im Wein- und Obstbau fortbilden konnte.
Als renommierteste derartige Anstalt in der "österreichischen" Reichshälfte erschien Kafka jene in Klosterneuburg, die er nachhaltig empfahl. Vor den Toren Wiens konnte auch ein Gasthörer binnen kurzem wichtige Kenntnisse erwerben. Kafka ahnte nicht, dass er selbst im Mai 1924 nicht weit von dieser Lehr-Anstalt seine letzten Gesprächszettel verfassen würde, weil er den höllisch brennenden und zersetzten Kehlkopf nicht mehr bewegen konnte.
Im Kriegsfrühjahr 1918 war der Zustand des Autors noch besser, es bestand kein Grund zur Besorgnis. Doch eine Infektion mit der "Spanischen Grippe" warf den Prager Beamten mehrere Wochen auf das Krankenbett und ließ den "Lungenspitzenkatarrh" wieder aufflammen. Obwohl Kafka die "Anstalt" für seine Krankheit mitverantwortlich machte und das "Bureau" mied, wann er nur konnte, verhielt sich sein Arbeitgeber loyal und fürsorglich. Wie hätte eine Paradeeinrichtung der sozialen Sicherheit ihre eigenen Mitarbeiter im Stich lassen können?
Loyalität zur Anstalt
Jetzt lohnte sich Kafkas Loyalität zur Anstalt. Nie hatte er gemurrt, wenn er zu sachfremden Tätigkeiten wie dem "Schönen" von Jahresberichten eingesetzt wurde, in denen davon die Rede war, dass sich die notorisch defizitäre Anstalt zu neuen Höhen aufschwingen würde. Sein Vorgesetzter, Oberinspektor Eugen Pfohl, dessen Tage bereits gezählt waren - er starb kurz nach seiner Zwangspensionierung im Folgejahr -, notierte am 4. Mai 1918 handschriftlich den Wiederantritt des Dienstes im Personalakt, ohne ein böses Wort zu verlieren.
Dass Kafka Urlaub gewährt worden war, verdankte er auch dem wohlmeinenden Direktor der "Anstalt", Universitätsdozent Dr. Robert Marschner, der Kafkas literarisches Talent kannte und schätzte. Marschner leitete die AUVA seit dem März 1909, nach genau zehn Jahren endete aber seine operative Tätigkeit, weil der nunmehr tschechisch dominierte Verwaltungsausschuss einen Landsmann, Dr. Bedrich Odstrcil nominierte und auch Pfohl durch Kafkas Kollegen Jindrich Valenta ersetzte. Aber auch diese beiden Beamten stützten ihren kranken Kollegen und verlängerten nach Bedarf seine Urlaube. Noch bestand die Hoffnung, dass sich der technisch und juristisch versierte Mitarbeiter erholen und in einen geordneten Dienstbetrieb zurückkehren würde. Kafka war zwar in Pfohls großer Betriebsabteilung und später (nach 1919) als Leiter einer "Einmann-Konzeptabteilung" nicht unentbehrlich, aber kaum jemand anderer verstand es, die Anliegen der AUVA nach außen zu vertreten.
Die Rolle der Anstalt, neben den Bezirkskrankenkassen eine Pioniereinrichtung der Sozialversicherung und wie diese "öffentlichrechtlich" organisiert, war keine einfache. Dr. Kafka musste mehr als einmal den Puffer zwischen aufgebrachten Unternehmern und der Anstaltsexekutive in den nordböhmischen Bezirken Reichenberg (Liberec) und Friedland spielen.
Die Höhe der Beiträge der Arbeitgeber zur Unfall-Versicherung hingen von der konkreten Einstufung in eine "Gefahrenklasse" ab, die zu seinen Hauptaufgaben zählte. Als Vice-Sekretär unterstanden ihm 65 Bedienstete. Kafka, der sich bei Dienstreisen überfordert fühlte, nahm einen vermittelnden Standpunkt ein und versprach den Unternehmern, ihre Beschwerden an die zuständigen Leiter weiterzuleiten. Eine zu hohe Einstufung ging meist mit mangelnder Mitwirkung der Betroffenen Hand in Hand. Wer keine aktuellen Daten lieferte, musste mit einer amtlichen Schätzung rechnen, die selten zugunsten des Beitragsschuldners ausfiel.
Keine Landsturmpflicht
Die Kriegszeit brachte Kafka eine Erleichterung ein, die keineswegs selbstverständlich war. Lange bevor seine ernste Diagnose durch zwei Amtsärzte gestellt wurde, hatte die Anstalt Kafkas Freistellung von der Landsturmpflicht beantragt. Tatsächlich folgte das Militärkommando dem Antrag in unbefristeter Weise, obwohl Tätigkeiten wie die Betriebseinstufung, Vorträge über Unfallvorsorge und Erste Hilfe zwar plakativ klangen, aber im Lichte der Kriegsnotwendigkeiten kaum eine "Unentbehrlichkeit" des stellvertretenden Abteilungsleiters rechtfertigten.
Während sich Kafkas Literatenkollege Robert Musil als Landsturmhauptmann in Südtirol militärisch betätigte oder als Redakteur der "Tiroler Soldatenzeitung" fungierte und in Frontnähe ernsten Gefahren durch Granaten und "Fliegerpfeile" ausgesetzt war, konnte der Versicherungsbedienstete seinen Sechsstundentag weiterführen und das Nötigste für seine fragile Gesundheit tun. Seiner Psyche tat diese privilegierte Behandlung weniger gut und zeitweise betrieb Kafka sogar die Aufhebung der Relegierung vom Landsturm, aber zum Nutzen aller Beteiligten blieb seine Freistellung aufrecht.
Der Pazifist und private Hebräisch-Student Kafka hätte gewiss keine große Überlebenschance als Soldat gehabt, ganz abgesehen von der Folter der gemeinsamen Verrichtungen und der schmutzstarrenden Unterkünfte. So blieb Kafka bis zum letzten Kriegstag weiter im Dienst, die Ausrufung der tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober (die von der Nationalversammlung in Prag am 12. 11. 1918 bestätigt wurde) bekam er aber kaum mit, weil er seit Mitte Oktober an der Grippe laborierte und erst Anfang November wieder einen Brief an die Anstalt schreiben konnte, diesmal mit der Urlaubsbitte für einen Aufenthalt in Matliary, wo er seine letzte Verlobte Julie Wohryzek kennenlernen sollte.
Langer Dienstabschied
Wir wollen aber hier im dienstlichen Bereich verweilen und die letzte Phase von Kafkas langem, dienstlichem Abschied begleiten. Nach der Reform und personellen "Slawisierung" der Anstalt avancierte Kafka noch zum Sekretär und knapp vor seiner Pensionierung 1922 sogar zum Obersekretär, obwohl er den Dienst nicht mehr angetreten hatte, was eigentlich die Bedingung für die Beförderung gewesen war.
Wiederum zeigte sich die schützende Hand der Vorgesetzten, hinter der Kafka auch eine Geste an die deutschsprachigen Mitarbeiter witterte. Im dienstlichen Verkehr musste auch er ab 1919 Konzepte und amtliche Schreiben auf Tschechisch verfassen, unterstützt durch die heimliche Hilfe seines Schwagers Josef "Pepa" David, Ottlas Gatten. Legendär ist die Korrespondenz zwischen Kafka und "Pepa", in welcher er diesem für das perfekte Tschechisch dankt und bekannt gibt, dass er dem Direktor zuliebe noch ein paar kleine Fehler einbauen würde.
In seinem letzten "amtlichen" Schreiben vom März 1924 erwähnt Kafka, wiederum auf Tschechisch, dass er wegen der massiven Verschlechterung seines Gesundheitszustands vorhabe, mit seinem Onkel (dem mährischen Landarzt Dr. Siegfried Kafka) auf Lungenheilkur nach Davos zu fahren. Tatsächlich aber reiste Kafka mit Dora Diamant via Prag nach Pernitz ins Sanatorium "Wienerwald" bei Ortmann, wo sein letzter Leidensweg begann.
Da "Onkel" auf Tschechisch "strýc" heißt und Kafka das Wort appositionell benutzte, schrieb er handschriftlich "strycem". Dieses Zitat aus Kafkas letztem amtlichen Schreiben berührt den Autor dieser Zeilen persönlich, denn seither weiß er, wie sein Name in Kafkas Handschrift ausgesehen hätte . . .
Information
Literaturhinweis:
Gerhard Strejcek
Franz Kafka und die Unfallversicherung
Facultas Verlag 2006
Kafkas Zürauer Aphorismen sind abgedruckt in:
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II
hrsg. von Jost Schillemeit
S. Fischer, Frankfurt/Main 2002
Dr. Franz Kafka kehrte am 2. Mai 1918 nach achtmonatiger Absenz auf seinen Beamtenposten in der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt (AUVA) für das Königreich Böhmen zurück. Mäßig erholt, fuhr er mit der Eisenbahn aus dem Hopfenort Zürau nach Prag, damals noch böhmische Hauptstadt und sein "Mütterchen", das ihn beinahe lebenslang in den urbanen Klauen hielt.
Literarisch war er nur wenig produktiv gewesen, im Lehnstuhl hatte er ab und zu Aphorismen notiert. Kafka sinnierte über das Paradies und formulierte kryptische Sätze wie den folgenden: "Die Tatsache, dass es nur eine geistige Welt gibt, raubt uns die Hoffnung und gibt uns Gewissheit."
Freund Max Brod, sonst uneingeschränkter Bewunderer, sah die Zweizeiler als mageres Ergebnis des "Faulenzens", er empfand sich als Manager und Motivator für den schüchternen Freund. Kafkas TBC-Diagnose kannte er, aber einem Pakt der beiden entsprechend hielt er sie vor den Eltern geheim. Julie Kafka sollte lediglich wissen, dass ihr Sohn einen längeren Kuraufenthalt mit seiner Schwester in Nordböhmen genoss, wofür ihn die "Anstalt" frei gestellt hatte.
Kurzer Antrag
Kafkas Pensionsgesuch blieb der Familie unbekannt, der kurze Antrag zum langen Abschied wurde von der Direktion zunächst abschlägig beschieden. Biografen sind sich darüber einig, dass mit diesem Schreiben und dem Zürauer Aufenthalt die endgültige Ablösung Kafkas vom Dienst begann. Fünf Jahre nach der Nichtstattgabe seines ersten Antrags warf sein Arbeitgeber das Handtuch und pensionierte den verdienten Beamten vorzeitig im Alter von nur 39 Jahren.
Kafka war, seinem Naturell entsprechend, in Zürau körperlich nicht untätig geblieben, sondern beteiligte sich mit Interesse an der Landwirtschaft. Er lobte die stille Produktivität der Bauern, die ihm als nobel erschien. Eines Tages führte er eine Stute zum Hufschmied in den Nachbarort Flöhau. Schon in Troja, einem Vorort von Prag, und in Nusle, dem städtischen Gartenbezirk, hatte Kafka Spaten und Rechen zur Hand genommen, um in den Obstgärten zu arbeiten.
Da sich die Adressbücher der k.u.k. Monarchie erhalten haben, können die zahlreichen Gärtnerei-Betriebe heute noch abgerufen werden, darunter die Firma Dvorsky, bei der Kafka selbst bei Schlechtwetter seinen Nachmittagsdienst antrat. Wiederum wunderte sich Brod über diese Art der Energieverschwendung, welche Kafka auch im heißen Juni des Jahres 1918 fortsetzte, statt sich seiner literarischen Karriere zu widmen.
Brod, Felix Weltsch und andere Freunde hatten den Zürauer Bauernhof besucht, der einem Verwandten des Kafka-Schwagers Josef David gehörte. Der Autor selbst beriet seine Schwester Ottilie, die jüngste von dreien, die alle nur "Ottla" nannten, er holte Prospekte von "önologischen und pomologischen Anstalten" ein, damit die Schwester sich im Wein- und Obstbau fortbilden konnte.
Als renommierteste derartige Anstalt in der "österreichischen" Reichshälfte erschien Kafka jene in Klosterneuburg, die er nachhaltig empfahl. Vor den Toren Wiens konnte auch ein Gasthörer binnen kurzem wichtige Kenntnisse erwerben. Kafka ahnte nicht, dass er selbst im Mai 1924 nicht weit von dieser Lehr-Anstalt seine letzten Gesprächszettel verfassen würde, weil er den höllisch brennenden und zersetzten Kehlkopf nicht mehr bewegen konnte.
Im Kriegsfrühjahr 1918 war der Zustand des Autors noch besser, es bestand kein Grund zur Besorgnis. Doch eine Infektion mit der "Spanischen Grippe" warf den Prager Beamten mehrere Wochen auf das Krankenbett und ließ den "Lungenspitzenkatarrh" wieder aufflammen. Obwohl Kafka die "Anstalt" für seine Krankheit mitverantwortlich machte und das "Bureau" mied, wann er nur konnte, verhielt sich sein Arbeitgeber loyal und fürsorglich. Wie hätte eine Paradeeinrichtung der sozialen Sicherheit ihre eigenen Mitarbeiter im Stich lassen können?
Loyalität zur Anstalt
Jetzt lohnte sich Kafkas Loyalität zur Anstalt. Nie hatte er gemurrt, wenn er zu sachfremden Tätigkeiten wie dem "Schönen" von Jahresberichten eingesetzt wurde, in denen davon die Rede war, dass sich die notorisch defizitäre Anstalt zu neuen Höhen aufschwingen würde. Sein Vorgesetzter, Oberinspektor Eugen Pfohl, dessen Tage bereits gezählt waren - er starb kurz nach seiner Zwangspensionierung im Folgejahr -, notierte am 4. Mai 1918 handschriftlich den Wiederantritt des Dienstes im Personalakt, ohne ein böses Wort zu verlieren.
Dass Kafka Urlaub gewährt worden war, verdankte er auch dem wohlmeinenden Direktor der "Anstalt", Universitätsdozent Dr. Robert Marschner, der Kafkas literarisches Talent kannte und schätzte. Marschner leitete die AUVA seit dem März 1909, nach genau zehn Jahren endete aber seine operative Tätigkeit, weil der nunmehr tschechisch dominierte Verwaltungsausschuss einen Landsmann, Dr. Bedrich Odstrcil nominierte und auch Pfohl durch Kafkas Kollegen Jindrich Valenta ersetzte. Aber auch diese beiden Beamten stützten ihren kranken Kollegen und verlängerten nach Bedarf seine Urlaube. Noch bestand die Hoffnung, dass sich der technisch und juristisch versierte Mitarbeiter erholen und in einen geordneten Dienstbetrieb zurückkehren würde. Kafka war zwar in Pfohls großer Betriebsabteilung und später (nach 1919) als Leiter einer "Einmann-Konzeptabteilung" nicht unentbehrlich, aber kaum jemand anderer verstand es, die Anliegen der AUVA nach außen zu vertreten.
Die Rolle der Anstalt, neben den Bezirkskrankenkassen eine Pioniereinrichtung der Sozialversicherung und wie diese "öffentlichrechtlich" organisiert, war keine einfache. Dr. Kafka musste mehr als einmal den Puffer zwischen aufgebrachten Unternehmern und der Anstaltsexekutive in den nordböhmischen Bezirken Reichenberg (Liberec) und Friedland spielen.
Die Höhe der Beiträge der Arbeitgeber zur Unfall-Versicherung hingen von der konkreten Einstufung in eine "Gefahrenklasse" ab, die zu seinen Hauptaufgaben zählte. Als Vice-Sekretär unterstanden ihm 65 Bedienstete. Kafka, der sich bei Dienstreisen überfordert fühlte, nahm einen vermittelnden Standpunkt ein und versprach den Unternehmern, ihre Beschwerden an die zuständigen Leiter weiterzuleiten. Eine zu hohe Einstufung ging meist mit mangelnder Mitwirkung der Betroffenen Hand in Hand. Wer keine aktuellen Daten lieferte, musste mit einer amtlichen Schätzung rechnen, die selten zugunsten des Beitragsschuldners ausfiel.
Keine Landsturmpflicht
Die Kriegszeit brachte Kafka eine Erleichterung ein, die keineswegs selbstverständlich war. Lange bevor seine ernste Diagnose durch zwei Amtsärzte gestellt wurde, hatte die Anstalt Kafkas Freistellung von der Landsturmpflicht beantragt. Tatsächlich folgte das Militärkommando dem Antrag in unbefristeter Weise, obwohl Tätigkeiten wie die Betriebseinstufung, Vorträge über Unfallvorsorge und Erste Hilfe zwar plakativ klangen, aber im Lichte der Kriegsnotwendigkeiten kaum eine "Unentbehrlichkeit" des stellvertretenden Abteilungsleiters rechtfertigten.
Während sich Kafkas Literatenkollege Robert Musil als Landsturmhauptmann in Südtirol militärisch betätigte oder als Redakteur der "Tiroler Soldatenzeitung" fungierte und in Frontnähe ernsten Gefahren durch Granaten und "Fliegerpfeile" ausgesetzt war, konnte der Versicherungsbedienstete seinen Sechsstundentag weiterführen und das Nötigste für seine fragile Gesundheit tun. Seiner Psyche tat diese privilegierte Behandlung weniger gut und zeitweise betrieb Kafka sogar die Aufhebung der Relegierung vom Landsturm, aber zum Nutzen aller Beteiligten blieb seine Freistellung aufrecht.
Der Pazifist und private Hebräisch-Student Kafka hätte gewiss keine große Überlebenschance als Soldat gehabt, ganz abgesehen von der Folter der gemeinsamen Verrichtungen und der schmutzstarrenden Unterkünfte. So blieb Kafka bis zum letzten Kriegstag weiter im Dienst, die Ausrufung der tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober (die von der Nationalversammlung in Prag am 12. 11. 1918 bestätigt wurde) bekam er aber kaum mit, weil er seit Mitte Oktober an der Grippe laborierte und erst Anfang November wieder einen Brief an die Anstalt schreiben konnte, diesmal mit der Urlaubsbitte für einen Aufenthalt in Matliary, wo er seine letzte Verlobte Julie Wohryzek kennenlernen sollte.
Langer Dienstabschied
Wir wollen aber hier im dienstlichen Bereich verweilen und die letzte Phase von Kafkas langem, dienstlichem Abschied begleiten. Nach der Reform und personellen "Slawisierung" der Anstalt avancierte Kafka noch zum Sekretär und knapp vor seiner Pensionierung 1922 sogar zum Obersekretär, obwohl er den Dienst nicht mehr angetreten hatte, was eigentlich die Bedingung für die Beförderung gewesen war.
Wiederum zeigte sich die schützende Hand der Vorgesetzten, hinter der Kafka auch eine Geste an die deutschsprachigen Mitarbeiter witterte. Im dienstlichen Verkehr musste auch er ab 1919 Konzepte und amtliche Schreiben auf Tschechisch verfassen, unterstützt durch die heimliche Hilfe seines Schwagers Josef "Pepa" David, Ottlas Gatten. Legendär ist die Korrespondenz zwischen Kafka und "Pepa", in welcher er diesem für das perfekte Tschechisch dankt und bekannt gibt, dass er dem Direktor zuliebe noch ein paar kleine Fehler einbauen würde.
In seinem letzten "amtlichen" Schreiben vom März 1924 erwähnt Kafka, wiederum auf Tschechisch, dass er wegen der massiven Verschlechterung seines Gesundheitszustands vorhabe, mit seinem Onkel (dem mährischen Landarzt Dr. Siegfried Kafka) auf Lungenheilkur nach Davos zu fahren. Tatsächlich aber reiste Kafka mit Dora Diamant via Prag nach Pernitz ins Sanatorium "Wienerwald" bei Ortmann, wo sein letzter Leidensweg begann.
Da "Onkel" auf Tschechisch "strýc" heißt und Kafka das Wort appositionell benutzte, schrieb er handschriftlich "strycem". Dieses Zitat aus Kafkas letztem amtlichen Schreiben berührt den Autor dieser Zeilen persönlich, denn seither weiß er, wie sein Name in Kafkas Handschrift ausgesehen hätte . . .
Information
Literaturhinweis:
Gerhard Strejcek
Franz Kafka und die Unfallversicherung
Facultas Verlag 2006
Kafkas Zürauer Aphorismen sind abgedruckt in:
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II
hrsg. von Jost Schillemeit
S. Fischer, Frankfurt/Main 2002
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Gerhard Strejcek
AUVA-Reform: Vorsicht mit radikaler Umgestaltung
Die Presse, 23.04.2018
Eine Organisationsform mit Jahrhunderttradition sollte man nicht für den Pfifferling einer „Strukturreform“ hingeben.
Die österreichischen Unfallversicherungsanstalten (AUVA steht für Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) haben eine mehr als 130 Jahre währende Tradition. Doch Details des damals neuen Modells stießen schon in k.u.k. Zeiten auf Widerstand. So war die Versicherung gegen Unfälle zunächst auf Arbeiter in Betrieben mit Maschineneinsatz beschränkt. Laut Verwaltungsgerichtshof (VwGH) unterlagen auch Gerüsteaufsteller der Versicherungspflicht, obwohl Gerüste manuell errichtet wurden.
Wirtschaftliche Konflikte, die Einstufung in Gefahrenklassen, Ausdehnungsgesetze des Parlaments (unter anderem auf gewerbliche Automobile), Einzelfallentscheidungen durch Gerichte, Gewerbebehörden und das k.k. Innenministerium kennzeichneten die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: Arbeitgeber empörten sich über ausufernde Beiträge, Betroffene waren mit den Leistungen unzufrieden, die „Anstalt“ beklagte ihre Machtlosigkeit und bilanzierte negativ. Technisch fundierte Bemühungen um die Unfallvorsorge fanden zunächst nicht die entsprechende Resonanz in den Betrieben, die vor allem in Böhmen und Mähren und in den innerösterreichischen Kerngebieten lagen.
Franz Kafka und die AUVA
Wegen des Unmuts der regionalen Unternehmer musste der Prager AUVA-Beamte und heute weltberühmte Schriftsteller Franz Kafka mehrfach schlichtend in den böhmischen Gerichts- und Verwaltungsbezirken (etwa Friedland, Gablonz, Reichenberg) auf die meist deutschsprachigen Gewerke einwirken, aber auch sachverständige Stellungnahmen und fachgerechte Berichte für die Leitung verfassen.
Diese gingen ins technische Detail – so etwa zur Frage, wie durch den Einsatz besser abgedeckter Wellen und rotierender Hobelmesser die verheerenden Verstümmelungen von Arbeitern in holz- und metallverarbeitenden Betrieben hintangehalten werden konnten.
Ein großer Kongress zur Unfallverhütung, an dem maßgebliche AUVA-Experten, darunter auch Franz Kafka, teilnahmen, fand 1913 im Wiener Parlamentsgebäude statt. Mehrere Hundert Zuhörer lauschten den Ausführungen des Prager AUVA-Direktors Franz Marschner, eines anerkannten Uni-Lehrers und Experten, und seines Abteilungsleiters Pfohl. Die Reden der beiden aber hatte Kafka in maßgeblichen Punkten verfasst.
Weder 1918 noch 1920 schien die AUVA in der republikanischen Verfassung ausdrücklich auf. Aber sie wurde als Modell eines modernen Sozialversicherungsträgers auf Basis von Selbstverwaltung (mit demokratisch gewählten Organen) „vorgefunden“, akzeptiert und rechtlich wie technisch weiterentwickelt. Später kamen die Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung und Sozialpartner ins Spiel, um die Leitung des Sozialversicherungsträgers zu bestellen.
Erst seit 2008 enthält Art 120c Bundesverfassungsgesetz eine ausdrückliche Verfassungsgrundlage. Doch hat der Verfassungsgerichtshof die maßgeblichen Grundsätze (etwa demokratische Fundierung, verfassungsrechtliche Zulässigkeit indirekter Bestellung und Entsendung der Organe durch die Sozialpartner für Träger der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung) in seiner Rechtsprechung längst ausjudiziert.
Die Bundesverfassung garantiert zwar nicht jede einzelne Einrichtung. Aber sie ermöglicht es den Organen der beruflichen und sozialen Selbstverwaltung als Wirtschaftskörper, eigene Unternehmungen zu führen und Vermögen zu besitzen.
Nicht nur die Republik Österreich behielt das Modell bei, sondern auch der tschechoslowakische Nachbar setzte dieses ab 1918 bis zur deutschen Besetzung und dem Zweiten Weltkrieg sowie der sowjetischen Hegemonie im Warschauer Pakt fort.
Langfristige Verschlechterung
Auf den fachkundigen Direktor Franz Marschner folgte der ebenso gebildete Fritz (Bed?ich) Odstr?il, Kafkas Chef von 1919 bis 1922, dem Jahr der Pensionierung des AUVA-Obersekretärs „Frantisek“ Kafka aufgrund von Tuberkulose.
Die Umgestaltungen in der ?SR und dann in der ?SSR zeigen uns eindrucksvoll, dass die radikale Reform einer Unfallversicherung Probleme und langfristige Verschlechterungen mit sich bringen kann. Ab 1946 ging es mit der tschechischen Versicherung sichtbar bergab. In einem kommunistisch-planwirtschaftlichen System nach Moskauer Vorbild (ab 1948) fehlten der in der Marktwirtschaft übliche Gegensatz, aber auch die demokratisch fundierte Kooperation zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Der Staat selbst übernahm die Rolle des Versicherers mit mageren Renten für Unfallopfer.
Rudimentäre Mitbestimmung
Nach der Wende 1989/90 wechselten die ?SFR und nach der Trennung von der Slowakei (1993) die ?SR in ein fremdes Modell nach dänisch-britischem Muster. Nun mussten sich die Arbeiter selbst privat versichern. Die Wettbewerbssituation der tschechischen Betriebe verbesserte sich dadurch zwar unmaßgeblich, doch die bewährte Unfallversicherung fehlte und führte zu zahlreichen Streitfällen, die vor Gericht ausgetragen werden und zu sozialen Härten führen. Arbeitnehmermitbestimmung ist in vielen ehemaligen Comecon-Staaten seit deren EU-Beitritt ein rudimentäres Kapitel.
Die heutige österreichische AUVA hat organisatorisch eine demokratisch fundierte Struktur. Sie ist keine Behörde, sondern ein zwischen den Behörden (BMASV, Arbeitsinspektoriate, Gewerbebehörden) und Sozialpartnern sowie den Teilnehmern am Wirtschaftsleben gelagerte öffentlich-rechtliche, juristische Person. Die erfüllt wichtige soziale und medizinische Aufgaben und bietet in den zwei Wiener Unfallkrankenanstalten (UKA Meidling sowie KA Lorenz-Böhler, Wien-Leopoldstadt) sowie in den Rehab-Einrichtungen in den Bundesländern höchstes medizinisches, humanes und technisches Know-how, für das uns viele andere EU-Mitglieder beneiden.
Gewiss gibt es ein Spar- und Synergiepotenzial, vor allem im Bereich der Ausweitung von Diensten (zum Beispiel Prothesen, Rehab-Maßnahmen) auf private und sportliche Unfälle, die außerhalb des Haftungsprivilegs von Lehrern, Schülern auch bei uns privat zu bestreiten oder zu versichern sind.
Zeitlose Organisationsform
Vorsicht ist aber mit allzu radikaler Umgestaltung geboten. So können weder private Versicherungen aufgrund ihrer Gewinnorientierung und der Interessen ihrer Stakeholder noch ein rasch zurechtgezimmertes neues Organisationsmodell die AUVA ersetzen. Auch sollte bei Reformen nicht auf die bundesverfassungsrechtliche Bestandsgarantie der Systemgrundsätze der Sozialversicherung (Art 120c B-VG), wie vor allem die bewährte und verantwortungsbewusste Selbstverwaltung nach demokratischen Grundsätzen, vergessen werden. Eine zeitlose Organisationsform mit Jahrhunderttradition gibt man nicht für den Pfifferling einer „Strukturreform“ hin.
Die österreichischen Unfallversicherungsanstalten (AUVA steht für Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) haben eine mehr als 130 Jahre währende Tradition. Doch Details des damals neuen Modells stießen schon in k.u.k. Zeiten auf Widerstand. So war die Versicherung gegen Unfälle zunächst auf Arbeiter in Betrieben mit Maschineneinsatz beschränkt. Laut Verwaltungsgerichtshof (VwGH) unterlagen auch Gerüsteaufsteller der Versicherungspflicht, obwohl Gerüste manuell errichtet wurden.
Wirtschaftliche Konflikte, die Einstufung in Gefahrenklassen, Ausdehnungsgesetze des Parlaments (unter anderem auf gewerbliche Automobile), Einzelfallentscheidungen durch Gerichte, Gewerbebehörden und das k.k. Innenministerium kennzeichneten die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: Arbeitgeber empörten sich über ausufernde Beiträge, Betroffene waren mit den Leistungen unzufrieden, die „Anstalt“ beklagte ihre Machtlosigkeit und bilanzierte negativ. Technisch fundierte Bemühungen um die Unfallvorsorge fanden zunächst nicht die entsprechende Resonanz in den Betrieben, die vor allem in Böhmen und Mähren und in den innerösterreichischen Kerngebieten lagen.
Franz Kafka und die AUVA
Wegen des Unmuts der regionalen Unternehmer musste der Prager AUVA-Beamte und heute weltberühmte Schriftsteller Franz Kafka mehrfach schlichtend in den böhmischen Gerichts- und Verwaltungsbezirken (etwa Friedland, Gablonz, Reichenberg) auf die meist deutschsprachigen Gewerke einwirken, aber auch sachverständige Stellungnahmen und fachgerechte Berichte für die Leitung verfassen.
Diese gingen ins technische Detail – so etwa zur Frage, wie durch den Einsatz besser abgedeckter Wellen und rotierender Hobelmesser die verheerenden Verstümmelungen von Arbeitern in holz- und metallverarbeitenden Betrieben hintangehalten werden konnten.
Ein großer Kongress zur Unfallverhütung, an dem maßgebliche AUVA-Experten, darunter auch Franz Kafka, teilnahmen, fand 1913 im Wiener Parlamentsgebäude statt. Mehrere Hundert Zuhörer lauschten den Ausführungen des Prager AUVA-Direktors Franz Marschner, eines anerkannten Uni-Lehrers und Experten, und seines Abteilungsleiters Pfohl. Die Reden der beiden aber hatte Kafka in maßgeblichen Punkten verfasst.
Weder 1918 noch 1920 schien die AUVA in der republikanischen Verfassung ausdrücklich auf. Aber sie wurde als Modell eines modernen Sozialversicherungsträgers auf Basis von Selbstverwaltung (mit demokratisch gewählten Organen) „vorgefunden“, akzeptiert und rechtlich wie technisch weiterentwickelt. Später kamen die Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung und Sozialpartner ins Spiel, um die Leitung des Sozialversicherungsträgers zu bestellen.
Erst seit 2008 enthält Art 120c Bundesverfassungsgesetz eine ausdrückliche Verfassungsgrundlage. Doch hat der Verfassungsgerichtshof die maßgeblichen Grundsätze (etwa demokratische Fundierung, verfassungsrechtliche Zulässigkeit indirekter Bestellung und Entsendung der Organe durch die Sozialpartner für Träger der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung) in seiner Rechtsprechung längst ausjudiziert.
Die Bundesverfassung garantiert zwar nicht jede einzelne Einrichtung. Aber sie ermöglicht es den Organen der beruflichen und sozialen Selbstverwaltung als Wirtschaftskörper, eigene Unternehmungen zu führen und Vermögen zu besitzen.
Nicht nur die Republik Österreich behielt das Modell bei, sondern auch der tschechoslowakische Nachbar setzte dieses ab 1918 bis zur deutschen Besetzung und dem Zweiten Weltkrieg sowie der sowjetischen Hegemonie im Warschauer Pakt fort.
Langfristige Verschlechterung
Auf den fachkundigen Direktor Franz Marschner folgte der ebenso gebildete Fritz (Bed?ich) Odstr?il, Kafkas Chef von 1919 bis 1922, dem Jahr der Pensionierung des AUVA-Obersekretärs „Frantisek“ Kafka aufgrund von Tuberkulose.
Die Umgestaltungen in der ?SR und dann in der ?SSR zeigen uns eindrucksvoll, dass die radikale Reform einer Unfallversicherung Probleme und langfristige Verschlechterungen mit sich bringen kann. Ab 1946 ging es mit der tschechischen Versicherung sichtbar bergab. In einem kommunistisch-planwirtschaftlichen System nach Moskauer Vorbild (ab 1948) fehlten der in der Marktwirtschaft übliche Gegensatz, aber auch die demokratisch fundierte Kooperation zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Der Staat selbst übernahm die Rolle des Versicherers mit mageren Renten für Unfallopfer.
Rudimentäre Mitbestimmung
Nach der Wende 1989/90 wechselten die ?SFR und nach der Trennung von der Slowakei (1993) die ?SR in ein fremdes Modell nach dänisch-britischem Muster. Nun mussten sich die Arbeiter selbst privat versichern. Die Wettbewerbssituation der tschechischen Betriebe verbesserte sich dadurch zwar unmaßgeblich, doch die bewährte Unfallversicherung fehlte und führte zu zahlreichen Streitfällen, die vor Gericht ausgetragen werden und zu sozialen Härten führen. Arbeitnehmermitbestimmung ist in vielen ehemaligen Comecon-Staaten seit deren EU-Beitritt ein rudimentäres Kapitel.
Die heutige österreichische AUVA hat organisatorisch eine demokratisch fundierte Struktur. Sie ist keine Behörde, sondern ein zwischen den Behörden (BMASV, Arbeitsinspektoriate, Gewerbebehörden) und Sozialpartnern sowie den Teilnehmern am Wirtschaftsleben gelagerte öffentlich-rechtliche, juristische Person. Die erfüllt wichtige soziale und medizinische Aufgaben und bietet in den zwei Wiener Unfallkrankenanstalten (UKA Meidling sowie KA Lorenz-Böhler, Wien-Leopoldstadt) sowie in den Rehab-Einrichtungen in den Bundesländern höchstes medizinisches, humanes und technisches Know-how, für das uns viele andere EU-Mitglieder beneiden.
Gewiss gibt es ein Spar- und Synergiepotenzial, vor allem im Bereich der Ausweitung von Diensten (zum Beispiel Prothesen, Rehab-Maßnahmen) auf private und sportliche Unfälle, die außerhalb des Haftungsprivilegs von Lehrern, Schülern auch bei uns privat zu bestreiten oder zu versichern sind.
Zeitlose Organisationsform
Vorsicht ist aber mit allzu radikaler Umgestaltung geboten. So können weder private Versicherungen aufgrund ihrer Gewinnorientierung und der Interessen ihrer Stakeholder noch ein rasch zurechtgezimmertes neues Organisationsmodell die AUVA ersetzen. Auch sollte bei Reformen nicht auf die bundesverfassungsrechtliche Bestandsgarantie der Systemgrundsätze der Sozialversicherung (Art 120c B-VG), wie vor allem die bewährte und verantwortungsbewusste Selbstverwaltung nach demokratischen Grundsätzen, vergessen werden. Eine zeitlose Organisationsform mit Jahrhunderttradition gibt man nicht für den Pfifferling einer „Strukturreform“ hin.
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Gerhard Strejcek
Gendern, gendern über alles
Wiener Zeitung, 17.03.2018
Gedanken zur deutschen Nationalhymne, deren Text von August Hoffmann (von Fallersleben) - und zur Funktion von Hymnen im Allgemeinen.
Nun soll auch der Text der deutschen Hymne, deren Melodie vom Österreicher Josef Haydn (geboren 31. 3. 1732 in Rohrau, NÖ) stammt, "gegendert", das heißt von allzu ausgeprägten, maskulin-patriarchalischen Elementen befreit werden. Das betrifft folgende, hier in Klammern gesetzte Änderungen bzw. Varianten, die derzeit nur angedacht sind: "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland" (neu wäre: Heimatland); danach lasst uns alle streben brüderlich (neu: couragiert) mit Herz und Hand".
In Deutschland kommt der Versuch, statt "Vaterland" künftig "Heimatland" und statt "brüderlich" das Fremdwort "couragiert" zu verwenden, nicht bei allen Adressaten gut an. Auch Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier reagierten skeptisch bis ablehnend auf den Vorstoß, der im Gefolge der Anpassung der kanadischen Hymne und der österreichischen Bundeshymne erfolgt. Und ein französisches Fremdwort, das Bert Brecht zu seiner "Mutter Courage" anregte, ausgerechnet im "Lied der Deutschen", na ja, das wird nicht jedem gefallen.
In Österreich ist es vor allem die Passage "Heimat großer Töchter und Söhne" anstatt "Heimat, bist du großer Söhne", die zunächst für Anstoß sorgte, heute aber trotz der geringfügig ungünstigeren Anpassung der (zu vielen) betonten und unbetonten Vokale an die Melodie und des Eingriffs in das Original von Paula von Preradovi? (der laut Judikatur zulässig ist und weder Rechte der Autorin noch des Sessler-Verlags verletzt hat) bereits etabliert ist. - Der ursprüngliche Text erschien übrigens zunächst nach einer TV-Ansprache des damaligen Unterrichts-Ministers Hurdes in der "Wiener Zeitung" Nr. 58 vom 9. März 1947.
Hoffmanns Text
Derzeit singen die Deutschen die dritte Strophe eines von August Hoffmann, genannt Hoffmann von Fallersleben (2. April 1798 in Fallersleben - 19. Jänner 1874 in Höxter), betont national gedichteten Texts. Während die Melodie schon um 1797 entstand und dem Habsburger Kaiser Franz gewidmet war, folgte Hoffmanns Text erst um 1841. Der Autor von "Alle Vögel sind schon da" nannte diesen Liedtext "Das Lied der Deutschen", umgangssprachlich wurde dieser als "Deutschlandlied" bekannt.
Lange bevor dieser Text Hymnenehren erhielt, sangen ihn deutschnationale Burschenschafter und Verbindungen, auch in "österreichischen" Corps natürlich, was eine eindeutige Botschaft an die Habsburger beinhaltete. Wer demnach das "Lied der Deutschen" öffentlich, das heißt den Ohren der Obrigkeit zugänglich sang, konnte mit Verhaftung oder Anklage wegen Hochverrats rechnen. Viele Burschenschafter sahen, vor allem nach der Reichsgründung 1871, die Hohenzollern als das eigentliche deutsche Herrschergeschlecht an und wollten vom Vielvölkerstaat nichts mehr wissen. Wohin dies letztlich führte, ist bekannt.
Aber zurück zum "Lied der Deutschen": Unter dieser Überschrift und der fortlaufenden Nummer 24 (S. 22f.) finden sich Noten und Text in Schauenburgs "Allgemeinem Deutschen Kommersbuch" (Hrsg. Silcher/Erk, 81.85. Aufl., Lahr um 1900). Unsere gut 80 Millionen Nachbarn haben demnach keine Hemmung, ein Lied aus einem Kommersbuch zu singen, wie sanft ironisch angemerkt sei. Und es stört sie auch nicht, bei internationalen Anlässen den Text genau so zu singen, wie er in damals verbotener Weise auch schon bei den Burschenschaften in der k.u.k. Monarchie und in der Ersten Republik anstelle des "Kaiserlieds" und der nachfolgenden Kernstock-Hymne gesungen wurde. Warum auch nicht?, könnte man antworten. Was kümmert es die Deutschen, dass unsere Burschenschafter - und ab 1871, aber auch um 1918/19 sowie in den späten 1920er Jahren - auch viele Politiker (außerhalb der NSDAP) "Anschluss"-Phantasien entwickelten?
Ganz unproblematisch scheint es dennoch nicht zu sein, einfach eine einzelne Strophe aus dem nationalistischen Kontext des Fallersleben-Textes zu reißen, der natürlich auch in der dritten Strophe deutschnationale Codes enthält. Aber das soll jeder und jede selbst beurteilen, denn der Text hat auch seine Qualität: "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, danach lasst uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand. Blüh’ im Glanze deines Glückes, blühe, deutsches Vaterland!" So lautet die Strophe des hundert Jahre vor dem Unternehmen "Barbarossa" entstandenen Liedes, das auch in jener Zeit gesungen wurde, als Deutschland beinahe moralisch und physisch verblüht wäre.
Ist der heute gängige Text der deutschen Hymne verständlich? Weiß tatsächlich jeder Zweitligisten-Verteidiger in der deutschen Bundesliga, was "des Glückes Unterpfand" bedeutet? Es reimt sich zwar "Unterpfand" sehr schön auf "Vaterland", aber Pfandrecht ist, wie jeder Jusstudent weiß, nicht nur eine römische (ja, Herr von Fallersleben, ein Import aus Rom/ Konstantinopel!), sondern eine diffizile Angelegenheit. Und warum gerade Einigkeit und Recht und Freiheit zum Glück in einem sachenrechtlichen Verhältnis stehen sollen, mag womöglich auf Unverständnis stoßen.
Deutsche Werte
Aber was soll man sonst auf "Vaterland" oder, meinetwegen, "Heimatland" reimen: Getriebesand? Ostseestrand? Weltenbrand? Festtagsg’wand? Oder auf Wienerisch: Klump’ und Tand? Das war jetzt bitte nicht ernst gemeint, also weiter "des Glückes Unterpfand", es wird schon jeder wissen, dass Einigkeit+Recht+Freiheit glücklich machen können, es sei denn, man setzt Einigkeit mit Wiedervereinigung, Recht mit Hartz IV und Freiheit mit schrankenlosem Zuzug gleich.
Wird nun über kurz oder lang die Debatte darüber anheben, ob die Deutschen ihren Hymnentext neu dichten, neu fassen oder einen Wettbewerb hiefür ausloben? Oder bleibt es bei einzelnen Versuchen der Genderei. Es gäbe ja noch die Variante, alles beim Alten zu belassen. Die Frauen sind genaugenommen schon sichtbar, nämlich im Text der zweiten Fallersleben-Strophe. Wie ein Treppenwitz der Geschichte mutet an, dass und wie der Dichter des "Lieds der Deutschen" die deutschen Frauen besingt: "Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang sollen in der Welt behalten ihren alten schönen Klang, uns zu edler Tat begeistern unser ganzes Leben lang".
Hier ist anzumerken, dass Fallersleben mit dem Attribut "deutsch" nicht gerade sparsam umgeht und, obwohl sich "Sang" auf "Klang" vortrefflich reimt, der Autor elegant kaschiert, dass weder Frauen noch Treue noch Wein einen "Klang" haben. Wer von den vier genannten deutschen Werten (Frau, Treue, Wein, Sang), und vor allem in welcher Weise, zur "edlen Tat" begeistern soll, ist wirklich nicht ganz klar.
Kommen wir zum heiklen Teil der Hymne. Bekanntlich sind die ersten zwei Strophen des "Lieds der Deutschen" heute verpönt, obwohl sie, abgesehen von einem etwas zu stark "deutschtümelnden" und x-mal wiederholten Vers in der ersten Strophe, die heute "verboten" ist, nicht sonderlich anrüchig sind. Punziert wurde dieser Text ("Deutschland, Deutschland über alles") allerdings historisch dadurch, dass ihn nicht nur (auch) die Nationalsozialisten sangen und vor allem in der Phase deutscher Etappensiege 193941, die halb Europa galten, der restlichen Welt den Eindruck vermittelten, dass die Wehrmacht buchstäblich über alles, so auch über Hekatomben von Leichen ging (auch ihrer eigenen Soldaten), um eben "D, D über alles" zu erheben. Die Deutschen spüren bis heute im Ausland instinktiv, dass die Welt sie durchaus mag, aber nicht, wenn sie "D, D über alles" stellen...
Die erste Strophe aus dem "Lied der Deutschen" war demnach in einem modernen Deutschland unter der Ägide des Bonner Grundgesetzes und seiner Betonung der Menschenwürde inakzeptabel. Daher fand sich die Nachkriegs-BRD (in der DDR sang man eine andere Hymne) darein, nur die dritte Strophe zu singen, was insofern auch angenehm für die Deutschen ist, weil sie nur eine Strophe ihrer Hymne kennen müssen, wogegen wir Österreicher alle drei Strophen unserer Bundeshymne kennen sollten, aber meist bereits bei der ersten stolpern. Hand aufs Herz, wer kennt schon die dritte Strophe unserer Hymne oder kann diese sogar flüssig absingen? Übrigens kommen dort ja auch Vaterland und Bruderchöre vor, die nach deutschem Muster in "Heimatland" (Mutterland?) und "mutig’ Chören" re-genderiert werden müssten. Das ginge dann aber zu weit.
Hymne stiftet Identität
Meine persönliche Meinung ist daher jene: Im Zweifel soll alles so bleiben wie es ist. Mein konservativer Standpunkt beruht auf der identitätsstiftenden Funktion der Hymne. Ein Hymnentext ist ein Text sui generis, dessen Details nicht auf die Waagschale gelegt werden dürfen.
Auch der Preradovi?-Text hat meines Erachtens eine grundlegende, nicht zu behebende Schwäche, weil er Österreich als ein pittoreskes Agrarland mit zahlreichen Äckern und Domen hinstellt, aber nicht den Kern der österreichischen Kultur erreicht. Der Text ist vielmehr so oberflächlich wie ein Provinz-Idyll, eine Kleinbahnszenerie mit Häuserln und Schuppen, ein Diarama oder eine der tausend TV-Dokus im "Land der Berge"-Stil.
Österreich ist sicherlich mehr als seine Berge, Dome, Äcker, großen Töchter und Söhne. Die Gewerke-Hämmer schlagen kaum mehr, die Industrie kennzeichnet unser Land kaum, und auf Dienstleistungen kann man keine Hymne gründen. Wie würde das denn klingen, wenn Musils ironische Formulierung vom "Land der Friseure und Kellner" zur Hymne geworden wäre? Aber die Preradovi?-Zeilen passen zur Melodie, deren Komponist vermutlich Mozart ist, der sie für eine Freimaurerloge komponierte (Bundeslied: "Einig reicht die Hand zum Bunde"); dasselbe gilt für Hoffmann von Fallerslebens dritte Strophe mit Bezug auf die Haydn-Melodie.
Und deshalb können wir getrost weiter unser Freimaurerlied singen - und die Deutschen (weitaus öfter, weil sie ja auch mehr gewinnen) ihren national konnotierten, aber genaugenommen nicht so bösen Kommers-Text aus dem Jahr 1841.
Nun soll auch der Text der deutschen Hymne, deren Melodie vom Österreicher Josef Haydn (geboren 31. 3. 1732 in Rohrau, NÖ) stammt, "gegendert", das heißt von allzu ausgeprägten, maskulin-patriarchalischen Elementen befreit werden. Das betrifft folgende, hier in Klammern gesetzte Änderungen bzw. Varianten, die derzeit nur angedacht sind: "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland" (neu wäre: Heimatland); danach lasst uns alle streben brüderlich (neu: couragiert) mit Herz und Hand".
In Deutschland kommt der Versuch, statt "Vaterland" künftig "Heimatland" und statt "brüderlich" das Fremdwort "couragiert" zu verwenden, nicht bei allen Adressaten gut an. Auch Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier reagierten skeptisch bis ablehnend auf den Vorstoß, der im Gefolge der Anpassung der kanadischen Hymne und der österreichischen Bundeshymne erfolgt. Und ein französisches Fremdwort, das Bert Brecht zu seiner "Mutter Courage" anregte, ausgerechnet im "Lied der Deutschen", na ja, das wird nicht jedem gefallen.
In Österreich ist es vor allem die Passage "Heimat großer Töchter und Söhne" anstatt "Heimat, bist du großer Söhne", die zunächst für Anstoß sorgte, heute aber trotz der geringfügig ungünstigeren Anpassung der (zu vielen) betonten und unbetonten Vokale an die Melodie und des Eingriffs in das Original von Paula von Preradovi? (der laut Judikatur zulässig ist und weder Rechte der Autorin noch des Sessler-Verlags verletzt hat) bereits etabliert ist. - Der ursprüngliche Text erschien übrigens zunächst nach einer TV-Ansprache des damaligen Unterrichts-Ministers Hurdes in der "Wiener Zeitung" Nr. 58 vom 9. März 1947.
Hoffmanns Text
Derzeit singen die Deutschen die dritte Strophe eines von August Hoffmann, genannt Hoffmann von Fallersleben (2. April 1798 in Fallersleben - 19. Jänner 1874 in Höxter), betont national gedichteten Texts. Während die Melodie schon um 1797 entstand und dem Habsburger Kaiser Franz gewidmet war, folgte Hoffmanns Text erst um 1841. Der Autor von "Alle Vögel sind schon da" nannte diesen Liedtext "Das Lied der Deutschen", umgangssprachlich wurde dieser als "Deutschlandlied" bekannt.
Lange bevor dieser Text Hymnenehren erhielt, sangen ihn deutschnationale Burschenschafter und Verbindungen, auch in "österreichischen" Corps natürlich, was eine eindeutige Botschaft an die Habsburger beinhaltete. Wer demnach das "Lied der Deutschen" öffentlich, das heißt den Ohren der Obrigkeit zugänglich sang, konnte mit Verhaftung oder Anklage wegen Hochverrats rechnen. Viele Burschenschafter sahen, vor allem nach der Reichsgründung 1871, die Hohenzollern als das eigentliche deutsche Herrschergeschlecht an und wollten vom Vielvölkerstaat nichts mehr wissen. Wohin dies letztlich führte, ist bekannt.
Aber zurück zum "Lied der Deutschen": Unter dieser Überschrift und der fortlaufenden Nummer 24 (S. 22f.) finden sich Noten und Text in Schauenburgs "Allgemeinem Deutschen Kommersbuch" (Hrsg. Silcher/Erk, 81.85. Aufl., Lahr um 1900). Unsere gut 80 Millionen Nachbarn haben demnach keine Hemmung, ein Lied aus einem Kommersbuch zu singen, wie sanft ironisch angemerkt sei. Und es stört sie auch nicht, bei internationalen Anlässen den Text genau so zu singen, wie er in damals verbotener Weise auch schon bei den Burschenschaften in der k.u.k. Monarchie und in der Ersten Republik anstelle des "Kaiserlieds" und der nachfolgenden Kernstock-Hymne gesungen wurde. Warum auch nicht?, könnte man antworten. Was kümmert es die Deutschen, dass unsere Burschenschafter - und ab 1871, aber auch um 1918/19 sowie in den späten 1920er Jahren - auch viele Politiker (außerhalb der NSDAP) "Anschluss"-Phantasien entwickelten?
Ganz unproblematisch scheint es dennoch nicht zu sein, einfach eine einzelne Strophe aus dem nationalistischen Kontext des Fallersleben-Textes zu reißen, der natürlich auch in der dritten Strophe deutschnationale Codes enthält. Aber das soll jeder und jede selbst beurteilen, denn der Text hat auch seine Qualität: "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, danach lasst uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand. Blüh’ im Glanze deines Glückes, blühe, deutsches Vaterland!" So lautet die Strophe des hundert Jahre vor dem Unternehmen "Barbarossa" entstandenen Liedes, das auch in jener Zeit gesungen wurde, als Deutschland beinahe moralisch und physisch verblüht wäre.
Ist der heute gängige Text der deutschen Hymne verständlich? Weiß tatsächlich jeder Zweitligisten-Verteidiger in der deutschen Bundesliga, was "des Glückes Unterpfand" bedeutet? Es reimt sich zwar "Unterpfand" sehr schön auf "Vaterland", aber Pfandrecht ist, wie jeder Jusstudent weiß, nicht nur eine römische (ja, Herr von Fallersleben, ein Import aus Rom/ Konstantinopel!), sondern eine diffizile Angelegenheit. Und warum gerade Einigkeit und Recht und Freiheit zum Glück in einem sachenrechtlichen Verhältnis stehen sollen, mag womöglich auf Unverständnis stoßen.
Deutsche Werte
Aber was soll man sonst auf "Vaterland" oder, meinetwegen, "Heimatland" reimen: Getriebesand? Ostseestrand? Weltenbrand? Festtagsg’wand? Oder auf Wienerisch: Klump’ und Tand? Das war jetzt bitte nicht ernst gemeint, also weiter "des Glückes Unterpfand", es wird schon jeder wissen, dass Einigkeit+Recht+Freiheit glücklich machen können, es sei denn, man setzt Einigkeit mit Wiedervereinigung, Recht mit Hartz IV und Freiheit mit schrankenlosem Zuzug gleich.
Wird nun über kurz oder lang die Debatte darüber anheben, ob die Deutschen ihren Hymnentext neu dichten, neu fassen oder einen Wettbewerb hiefür ausloben? Oder bleibt es bei einzelnen Versuchen der Genderei. Es gäbe ja noch die Variante, alles beim Alten zu belassen. Die Frauen sind genaugenommen schon sichtbar, nämlich im Text der zweiten Fallersleben-Strophe. Wie ein Treppenwitz der Geschichte mutet an, dass und wie der Dichter des "Lieds der Deutschen" die deutschen Frauen besingt: "Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang sollen in der Welt behalten ihren alten schönen Klang, uns zu edler Tat begeistern unser ganzes Leben lang".
Hier ist anzumerken, dass Fallersleben mit dem Attribut "deutsch" nicht gerade sparsam umgeht und, obwohl sich "Sang" auf "Klang" vortrefflich reimt, der Autor elegant kaschiert, dass weder Frauen noch Treue noch Wein einen "Klang" haben. Wer von den vier genannten deutschen Werten (Frau, Treue, Wein, Sang), und vor allem in welcher Weise, zur "edlen Tat" begeistern soll, ist wirklich nicht ganz klar.
Kommen wir zum heiklen Teil der Hymne. Bekanntlich sind die ersten zwei Strophen des "Lieds der Deutschen" heute verpönt, obwohl sie, abgesehen von einem etwas zu stark "deutschtümelnden" und x-mal wiederholten Vers in der ersten Strophe, die heute "verboten" ist, nicht sonderlich anrüchig sind. Punziert wurde dieser Text ("Deutschland, Deutschland über alles") allerdings historisch dadurch, dass ihn nicht nur (auch) die Nationalsozialisten sangen und vor allem in der Phase deutscher Etappensiege 193941, die halb Europa galten, der restlichen Welt den Eindruck vermittelten, dass die Wehrmacht buchstäblich über alles, so auch über Hekatomben von Leichen ging (auch ihrer eigenen Soldaten), um eben "D, D über alles" zu erheben. Die Deutschen spüren bis heute im Ausland instinktiv, dass die Welt sie durchaus mag, aber nicht, wenn sie "D, D über alles" stellen...
Die erste Strophe aus dem "Lied der Deutschen" war demnach in einem modernen Deutschland unter der Ägide des Bonner Grundgesetzes und seiner Betonung der Menschenwürde inakzeptabel. Daher fand sich die Nachkriegs-BRD (in der DDR sang man eine andere Hymne) darein, nur die dritte Strophe zu singen, was insofern auch angenehm für die Deutschen ist, weil sie nur eine Strophe ihrer Hymne kennen müssen, wogegen wir Österreicher alle drei Strophen unserer Bundeshymne kennen sollten, aber meist bereits bei der ersten stolpern. Hand aufs Herz, wer kennt schon die dritte Strophe unserer Hymne oder kann diese sogar flüssig absingen? Übrigens kommen dort ja auch Vaterland und Bruderchöre vor, die nach deutschem Muster in "Heimatland" (Mutterland?) und "mutig’ Chören" re-genderiert werden müssten. Das ginge dann aber zu weit.
Hymne stiftet Identität
Meine persönliche Meinung ist daher jene: Im Zweifel soll alles so bleiben wie es ist. Mein konservativer Standpunkt beruht auf der identitätsstiftenden Funktion der Hymne. Ein Hymnentext ist ein Text sui generis, dessen Details nicht auf die Waagschale gelegt werden dürfen.
Auch der Preradovi?-Text hat meines Erachtens eine grundlegende, nicht zu behebende Schwäche, weil er Österreich als ein pittoreskes Agrarland mit zahlreichen Äckern und Domen hinstellt, aber nicht den Kern der österreichischen Kultur erreicht. Der Text ist vielmehr so oberflächlich wie ein Provinz-Idyll, eine Kleinbahnszenerie mit Häuserln und Schuppen, ein Diarama oder eine der tausend TV-Dokus im "Land der Berge"-Stil.
Österreich ist sicherlich mehr als seine Berge, Dome, Äcker, großen Töchter und Söhne. Die Gewerke-Hämmer schlagen kaum mehr, die Industrie kennzeichnet unser Land kaum, und auf Dienstleistungen kann man keine Hymne gründen. Wie würde das denn klingen, wenn Musils ironische Formulierung vom "Land der Friseure und Kellner" zur Hymne geworden wäre? Aber die Preradovi?-Zeilen passen zur Melodie, deren Komponist vermutlich Mozart ist, der sie für eine Freimaurerloge komponierte (Bundeslied: "Einig reicht die Hand zum Bunde"); dasselbe gilt für Hoffmann von Fallerslebens dritte Strophe mit Bezug auf die Haydn-Melodie.
Und deshalb können wir getrost weiter unser Freimaurerlied singen - und die Deutschen (weitaus öfter, weil sie ja auch mehr gewinnen) ihren national konnotierten, aber genaugenommen nicht so bösen Kommers-Text aus dem Jahr 1841.
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Gerhard Strejcek
Zweite Chance für unglückliche Online-Glücksspieler
Der Standard, 05.03.2018
Gericht zwingt Anbieter mit maltesischer Lizenz, die Hälfte des Verlustes zu ersetzen - im Sinne der österreichischen Schutzregeln
Wien - Verträge mit Online-Glücksspielanbietern, die mit einer nichtösterreichischen Lizenz in Österreich arbeiten, können nichtig sein. Ein Spieler profitiert nun von dieser Rechtsprechung des OGH. Das Oberlandesgericht Wien entschied vor kurzem rechtskräftig, dass ihm ein Glücksspielunternehmen mit maltesischer Lizenz mehr als die Hälfte seiner über zwei Jahre angehäuften Verluste - insgesamt 70.000 Euro - zurückzahlen muss (4 R 155/16t). Das OLG Wien bestätigte damit die Rechtsansicht der ersten Instanz. Der User kann davon einen Großteil seiner angehäuften Schulden bezahlen.
Indirekt stützt sich die OLG-Entscheidung auf ein Verfahren vor dem OGH, der im Vorjahr die grundsätzlichen Bedenken der beklagten Gesellschaft verwarf, wonach das österreichische Glücksspielgesetz, das eine heimische Konzession verlangt, dem Unionsrecht widerspricht (OGH 27.7.2017, 4 Ob 124/17i). Damit haben nunmehr alle drei Höchstgerichte die Geltung des Glücksspielgesetzes bestätigt - und damit auch die immer noch im Schrifttum vertretene Rechtsmeinung verworfen, wonach die Konzessionsregeln des Glücksspielgesetzes (§§ 14 und §§ 21 ff) wegen Widerspruchs zur Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) unanwendbar seien. Darauf beziehen sich Unternehmen, die in Österreich mit maltesischer Lizenz oder einer anderen Offshore-Bewilligung aus einem EU-Mitgliedsstaat heimischen Kunden Online-Glücksspiele anbieten. Aus Sicht des heimischen Gesetzgebers untergräbt das den Spielerschutz und damit schützenswerte Gemeinwohlinteressen. Der Europäische Gerichtshof hat vergleichbare Vorschriften in anderen EU-Mitgliedsstaaten mehrfach für rechtmäßig erklärt. Überdies hat der EuGH zuletzt unter Bestätigung des EU-Gerichts erster Instanz klargestellt, dass es auf europäischer Ebene kein verbindliches Online-Regulativ gibt, sondern lediglich Empfehlungen (Belgien gegen EU-Kommission C-16/16p vom 20.2.2018). Umso wichtiger ist daher die nationale Rechtsprechung für die betroffenen User. Das jüngste EuGH-Urteil (C-3/17 Sporting Odds vom 28.2.2018) gegen eine ungarische Regelung, die eine Kasinolizenz als Voraussetzung für eine Online-Konzession vorschreibt, hat für Österreich keine Bedeutung, weil es solche Vorschriften hier nicht gibt.
Nach der inzwischen gesicherten Judikatur des OGH bleibt das österreichische Glücksspielgesetz anwendbar. Ein Angebot konzessionspflichtiger Glücksspiele ohne inländische Konzession verstößt demnach nicht nur gegen das Strafgesetzbuch, sondern kann auch - wie in diesem Fall - unangenehme zivilrechtliche Folgen haben. Die Luft für Geschäftsmodelle, die mit Berufung auf die EU-Dienstleistungsfreiheit Online-Glücksspiele in Österreich anbieten, ist damit deutlich dünner geworden. Selbst wenn das Finanzministerium den jüngsten Entwurf zur Novelle des Glücksspielgesetzes zurückgezogen hat, ist die Absicht der Regierung klar. Sie will den Spielerschutz auch im Internet verstärken. Und auch andere unglückliche Online-Spieler werden wohl in Zukunft den Weg über die österreichischen Zivilgerichte bestreiten, um sich zumindest einen Teil ihrer Verluste zurückzuholen.
Wien - Verträge mit Online-Glücksspielanbietern, die mit einer nichtösterreichischen Lizenz in Österreich arbeiten, können nichtig sein. Ein Spieler profitiert nun von dieser Rechtsprechung des OGH. Das Oberlandesgericht Wien entschied vor kurzem rechtskräftig, dass ihm ein Glücksspielunternehmen mit maltesischer Lizenz mehr als die Hälfte seiner über zwei Jahre angehäuften Verluste - insgesamt 70.000 Euro - zurückzahlen muss (4 R 155/16t). Das OLG Wien bestätigte damit die Rechtsansicht der ersten Instanz. Der User kann davon einen Großteil seiner angehäuften Schulden bezahlen.
Indirekt stützt sich die OLG-Entscheidung auf ein Verfahren vor dem OGH, der im Vorjahr die grundsätzlichen Bedenken der beklagten Gesellschaft verwarf, wonach das österreichische Glücksspielgesetz, das eine heimische Konzession verlangt, dem Unionsrecht widerspricht (OGH 27.7.2017, 4 Ob 124/17i). Damit haben nunmehr alle drei Höchstgerichte die Geltung des Glücksspielgesetzes bestätigt - und damit auch die immer noch im Schrifttum vertretene Rechtsmeinung verworfen, wonach die Konzessionsregeln des Glücksspielgesetzes (§§ 14 und §§ 21 ff) wegen Widerspruchs zur Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) unanwendbar seien. Darauf beziehen sich Unternehmen, die in Österreich mit maltesischer Lizenz oder einer anderen Offshore-Bewilligung aus einem EU-Mitgliedsstaat heimischen Kunden Online-Glücksspiele anbieten. Aus Sicht des heimischen Gesetzgebers untergräbt das den Spielerschutz und damit schützenswerte Gemeinwohlinteressen. Der Europäische Gerichtshof hat vergleichbare Vorschriften in anderen EU-Mitgliedsstaaten mehrfach für rechtmäßig erklärt. Überdies hat der EuGH zuletzt unter Bestätigung des EU-Gerichts erster Instanz klargestellt, dass es auf europäischer Ebene kein verbindliches Online-Regulativ gibt, sondern lediglich Empfehlungen (Belgien gegen EU-Kommission C-16/16p vom 20.2.2018). Umso wichtiger ist daher die nationale Rechtsprechung für die betroffenen User. Das jüngste EuGH-Urteil (C-3/17 Sporting Odds vom 28.2.2018) gegen eine ungarische Regelung, die eine Kasinolizenz als Voraussetzung für eine Online-Konzession vorschreibt, hat für Österreich keine Bedeutung, weil es solche Vorschriften hier nicht gibt.
Nach der inzwischen gesicherten Judikatur des OGH bleibt das österreichische Glücksspielgesetz anwendbar. Ein Angebot konzessionspflichtiger Glücksspiele ohne inländische Konzession verstößt demnach nicht nur gegen das Strafgesetzbuch, sondern kann auch - wie in diesem Fall - unangenehme zivilrechtliche Folgen haben. Die Luft für Geschäftsmodelle, die mit Berufung auf die EU-Dienstleistungsfreiheit Online-Glücksspiele in Österreich anbieten, ist damit deutlich dünner geworden. Selbst wenn das Finanzministerium den jüngsten Entwurf zur Novelle des Glücksspielgesetzes zurückgezogen hat, ist die Absicht der Regierung klar. Sie will den Spielerschutz auch im Internet verstärken. Und auch andere unglückliche Online-Spieler werden wohl in Zukunft den Weg über die österreichischen Zivilgerichte bestreiten, um sich zumindest einen Teil ihrer Verluste zurückzuholen.
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Gerhard Strejcek
Sprache, Recht, Gerechtigkeit
Wiener Zeitung, 17.12.2017
Der Jurist und Schriftsteller Janko Ferk hat einen Essayband über Leben und Werk dreier bedeutender Fachkollegen veröffentlicht:
Hans Gross, Franz Kafka und Walther Rode.
Dass ein Buch von Janko Ferk in großer Dichte und einem höchst lesenswerten Schreibstil verfasst ist, bedürfte keiner Erwähnung. In gewisser Hinsicht ist auch sein neu erschienener Band über drei sehr unterschiedliche Juristen minimalistisch und aufwendig zugleich geraten. Mit wenigen Worten gelingt es dem Autor, ein ganzes Universum an Assoziationen, Gedanken und auch Emotionen aufzuschließen. Weiterführende Anmerkungen und ein repräsentatives Literaturverzeichnis ermöglichen es dem Leser überdies, den Autor geistig zu begleiten oder selbst ein wenig ins zitierte Schrifttum abzuschweifen, was sehr lustvoll sein kann.
Auch für den Kafka-Novizen bietet der zweisprachig tätige Autor Ferk eine Höchstleistung an Präzision und Treffsicherheit. Sein Kafka-Beitrag vermag das Wichtige im Leben des Prager Juristen komprimiert und pointiert darzulegen, ohne sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Dort wo es angezeigt und passend ist, geht der Klagenfurter Richter und Honorarprofessor ins Detail, so etwa wenn er die Symbolik der unfertigen Gerechtigkeit im "Process" erklärt.
Kunst und Theorie
Im Hintergrund schwingen dabei die sehr komplexen Thesen von John Rawls mit, dem 2002 verstorbenen Harvard-Philosophen, der eine "Theorie der Gerechtigkeit" und einen Nachtrag hiezu ("Gerechtigkeit als Fairness") verfasste. Wie spannend, dass einige von Rawls Gedanken schon achtzig Jahre zuvor von Kafka in Metaphern gegossen und in Dachkammern eingesperrt wurden! Und wie bequem, dass man die gewaltigen zwei Bände von Rawls nicht zur Gänze durchackern muss, sondern von Ferk (mit Kafkas Hilfe) zentrale Ideen in verdaulichen Mengen serviert bekommt.
Janko Ferk wählt in seinem Essay die Schreibweise "Der Proceß", womit er der Kritischen Ausgabe Malcolm Pasleys folgt. Diese Ausgabe kommt jenen Lesern zupass, die philologisch interessiert sind. Zitiert man den berühmten Erzählungstorso nach dem Original-Manuskript, den es als Faksimileausgabe um gutes Geld zu erwerben gibt, so lautet der Titel aber "Der Process", denn Kafka verwendete kein "ß", das ihm erst Brod (Prozeß) und dann Pasley (Proceß) verpassten.
Insgesamt gibt es naturgemäß vier unterschiedliche Varianten, den aus dem Lateinischen stammenden juristischen Titel von Kafkas Roman zu schreiben, unüblich ist bezeichnender Weise nur die heute regelkonforme Schreibweise. Dabei geht es im Roman doch unbestrittenermaßen um einen "Prozess" im strafrechtlichen Sinn, wenn auch unter den seltsamsten Rahmenbedingungen, die an Feme und Geheimpolizei erinnern. Ein Iraker, der Kafkas Sterbeort Kierling, der heute zu Klosterneuburg gehört, besuchte, schrieb folgerichtig in das dortige Gästebuch: "Kafka you have foreseen it all!"
Im Zentrum der drei wissenschaftlichen Essays steht bei Janko Ferk also der Aufsatz über Kafka, eingebettet in die Darstellungen von Hans Gross und Walther Rode. Die drei Autoren verbindet eine unsichtbare Klammer miteinander. Gross war einer der prägenden Universitätslehrer des Prager Juristen Kafka, der in den "Process" sowohl seine strafrechtlichen als auch seine rechtsphilosophischen Kenntnisse einbrachte. Diese Kenntnisse verdankte er hauptsächlich Professor Gross, vielleicht auch dem eigenwilligen Brentano, der in Prag beliebt war.
Liest man Biografica von Philosophieprofessoren, die um 1900 in Prag lehrten (z.B. Ernst Mach, Friedrich Jodl), so ergibt sich daraus, dass die meisten Jus-Studenten das Pflichtfach Philosophie als Zwangsbeglückung empfanden, den Lehrern aber die Kollegiengelder der Bürgersöhne willkommen waren, weil ihre Lehre nur vor einem Häuflein Philosophiestudierender brotlos war.
Die Studienordnung stammte vom Unterrichtsminister Madeyski, dem man vorwarf, nepotistisch seinen Sohn zu fördern, der aber eine bemerkenswert langlebige Reform für das Jus-Studium initiierte.
Die für Kafkas und Rodes Studium maßgebliche Staatsprüfungs- und Rigorosenordnung hatte der von 1849 bis 1860 amtierende Minister Leo Graf Thun-Hohenstein vorangetrieben. Aus den jungen Jus-Studierenden sollten loyale Staatsdiener werden, so lautete das Hauptanliegen der damaligen Politik. Diese Grund-Loyalität kann selbst einem in Werk und Phantasie hochfliegenden "Dichterjuristen", wie ihn Ferk typologisch im Nachwort zu seinem Buch fundiert, niemand absprechen.
Einflussreiche Lehrer
Wie intensiv der Einfluss der Jus-Professoren der Karls-Universität auf Brod und Kafka war, lässt sich, abgesehen von Gross, schwer feststellen. Jeder einzelne, darunter der seriöse Verfassungsjurist Josef Ulbrich, Max Webers Bruder und Kafka-Promotor Alfred Weber oder der politisch zwielichtige Handelsrechtler Anton Rintelen, verdiente einen derart dichten und spannenden Essay, wie ihn Ferk dem Kriminologen widmet. Er bezeichnet Gross zutreffend als guten akademischen Lehrer, verfasste dieser doch zwei Standardwerke, wirkte als anerkannter Vortragender und als empirisch fundierter Forensiker.
Mit dem Professor konnte sich der unter seinem Vater, dem Galanteriewaren-Pedanten Hermann Kafka, leidende "große" Franz identifizieren (der kleine war Werfel!). Denn Gross wäre es nie eingefallen, seine Studierenden "zahlende Feinde" zu nennen, während Hermann Kafka seine Angestellten als "bezahlte Feinde" titulierte.
Trotzdem könnte man Hans Gross auch als schlechten Vater identifizieren. Dass er seinen Sohn, den späteren Psychoanalytiker Otto in das Irrenhaus von Troppau in Österreichisch-Schle- sien (heute Opava, Mähren in der Tschechischen Republik) einweisen ließ, mutet bedenklich an.
Aber so ähnlich verfuhr auch Kafkas Fast-Schwiegervater, der tschechisch-nationale Zahnarzt Jan Jesenský mit seiner aufmüpfigen Tochter Milena Jesenská, deren Bild an meiner Bürowand hängt und mich gerade vorwurfsvoll ansieht. Jene Milena, die ihre Liebesbriefe an Kafka von der Wohnung in der Lerchenfelderstraße ins Postamt in der Josefstädter Bennogasse trug, während ihr Gatte Ernst Polak fremdging. Jene Milena, deren Tod die NS-Schergen zu verantworten hatten, die auch Kafkas Schwestern deportierten, wie Janko Ferk erwähnt.
Der kämpferische Jurist
Über Walther Rode und seine justiz- sowie gesellschaftskritischen Studien berichtet Janko Ferk Hochinteressantes. Darüber hinaus lassen sich dank der Hinweise im Anhang einige biografische Details in einem anderen Band finden, an dem die Literaturkritikerin Daniela Strigl und der habilitierte Jurist und Liste-Pilz-Abgeordnete Alfred J. Noll mitgeschrieben haben (Roland Knie, Alfred J. Noll und Daniela Strigl: Walther Rode. Aspekte seiner Biografie. Czernin Verlag, Wien 2015).
Noll hat die erstaunliche Resistenz Rodes gegen die brutale Kriegsjustiz der Jahre 1914/15 thematisiert, als die nach Spionen und Feinden im Inneren wühlende Macht den Rechtsstaat mit Füßen trat. Während heute die NS-Kriegsverbrechen hinreichend bekannt sind, bleiben immer noch nebulose Züge rund um das "Aufknüpfen von Popen" und standrechtliche Erschießungen serbischer Gefangener im Ersten Weltkrieg, die auch auf das Konto des goldenen Wienerherzen gehen.
Zu seinem Unglück wäre Rode ein Militärstaatsanwalt gewesen, der das absurde Kriegsrecht anzuwenden gehabt hätte. Wissend, dass Recht im Krieg zu Unrecht wird, rückte der Oberleutnant-Auditor Rode erst gar nicht ein, sondern bezeichnete Österreich-Ungarn treffend als im "Krieg mit den eigenen Völkern befindlich".
Ferk würdigt in seinem Rode-Essay auch Gerd Baumgartner, den akribischen Forscher und Herausgeber einer fast zweitausend Seiten umfassenden Rode-Werkausgabe, die 2007 im Wiener Löcker-Verlag erschienen ist. Baumgartner hat die Spuren seines Autors bis nach Czernowitz verfolgt.
Dort, in der nachmalig rumänisierten Hauptstadt der Bukowina (Cernauti), die heute in der Westukraine liegt (Tscherniwzi), konnte man bis 1916 übrigens dem Mitbegründer der Rechtssoziologie und Rechtstatsachen-Sammler Eugen Ehrlich begegnen, der nach dem Verlust der Stadt und der Schließung der k.u.k. Universität eine Eliteschule in Wien gründen wollte. Ebenso wie heute bis ins ferne Japan des Schwechater Juristen Ehrlich gedacht wird, ist auch Walther Rodes Fußabdruck in der Bukowina noch erkennbar.
Dosierte Würze
Janko Ferk ist es zu verdanken, dass er Rode in seiner kulturkritischen Funktion und Schreibgewalt auf knappem Raum und mit treffenden Worten skizziert. Deshalb sollte ihm, der mit über dreißig Büchern zu den produktivsten heimischen Autoren zählt, und der hauptberuflich Recht spricht und lehrt, für alle drei Essays ein "Preis für dosierte Würze in leseökonomischer Kürze in einem unprätentiös bildenden Rahmen" verliehen werden.
Dem Grazer Universitätsverlag, der zur Leykam-Gruppe zählt, ist zu danken, dass er vielsagende Fotos aller drei Biografierten reproduzierte, wobei jenes von Rode einen streng dreinblickenden Vorleser zeigt, der Hand an (seine?) Bücher legt, so als ob er gerade anhebe zu lesen und vom Pult aus zu dozieren. Kafka kennt man aus vielen Bildbänden, Gross wird auch mitunter in den Kafka-Jugendbiografien von Klaus Wagenbach und Reiner Stach abgebildet, aber von Rode hatte der Rezensent kein Bild vor Augen.
Die drei Köpfe erscheinen auch als silbrig glänzende Intarsien und als Miniaturen am Buchdeckel außen wie innen, das Rotweißrot des Hardcovers verheißt für eine neu gestartete essayistische Reihe das Beste, nämlich milden Patriotismus, der sich auf wissenschaftliche und literarische Leistungen gründet. Ein bibliophiles Werk also, eine geeignete Gabe für Genießer, wissenschaftlich Interessierte und für alle Literaturfreunde. Sollte sie nicht unter dem Weihnachtsbaum oder auf dem Silvestertisch liegen, wäre sie auch wohlfeil in Eigenregie zu erwerben.
Literatur
Janko Ferk:
Drei Juristen.
Gross - Kafka - Rode
Wissenschaftliche Essays Band 1
Grazer Universitätsverlag 2017
Dass ein Buch von Janko Ferk in großer Dichte und einem höchst lesenswerten Schreibstil verfasst ist, bedürfte keiner Erwähnung. In gewisser Hinsicht ist auch sein neu erschienener Band über drei sehr unterschiedliche Juristen minimalistisch und aufwendig zugleich geraten. Mit wenigen Worten gelingt es dem Autor, ein ganzes Universum an Assoziationen, Gedanken und auch Emotionen aufzuschließen. Weiterführende Anmerkungen und ein repräsentatives Literaturverzeichnis ermöglichen es dem Leser überdies, den Autor geistig zu begleiten oder selbst ein wenig ins zitierte Schrifttum abzuschweifen, was sehr lustvoll sein kann.
Auch für den Kafka-Novizen bietet der zweisprachig tätige Autor Ferk eine Höchstleistung an Präzision und Treffsicherheit. Sein Kafka-Beitrag vermag das Wichtige im Leben des Prager Juristen komprimiert und pointiert darzulegen, ohne sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Dort wo es angezeigt und passend ist, geht der Klagenfurter Richter und Honorarprofessor ins Detail, so etwa wenn er die Symbolik der unfertigen Gerechtigkeit im "Process" erklärt.
Kunst und Theorie
Im Hintergrund schwingen dabei die sehr komplexen Thesen von John Rawls mit, dem 2002 verstorbenen Harvard-Philosophen, der eine "Theorie der Gerechtigkeit" und einen Nachtrag hiezu ("Gerechtigkeit als Fairness") verfasste. Wie spannend, dass einige von Rawls Gedanken schon achtzig Jahre zuvor von Kafka in Metaphern gegossen und in Dachkammern eingesperrt wurden! Und wie bequem, dass man die gewaltigen zwei Bände von Rawls nicht zur Gänze durchackern muss, sondern von Ferk (mit Kafkas Hilfe) zentrale Ideen in verdaulichen Mengen serviert bekommt.
Janko Ferk wählt in seinem Essay die Schreibweise "Der Proceß", womit er der Kritischen Ausgabe Malcolm Pasleys folgt. Diese Ausgabe kommt jenen Lesern zupass, die philologisch interessiert sind. Zitiert man den berühmten Erzählungstorso nach dem Original-Manuskript, den es als Faksimileausgabe um gutes Geld zu erwerben gibt, so lautet der Titel aber "Der Process", denn Kafka verwendete kein "ß", das ihm erst Brod (Prozeß) und dann Pasley (Proceß) verpassten.
Insgesamt gibt es naturgemäß vier unterschiedliche Varianten, den aus dem Lateinischen stammenden juristischen Titel von Kafkas Roman zu schreiben, unüblich ist bezeichnender Weise nur die heute regelkonforme Schreibweise. Dabei geht es im Roman doch unbestrittenermaßen um einen "Prozess" im strafrechtlichen Sinn, wenn auch unter den seltsamsten Rahmenbedingungen, die an Feme und Geheimpolizei erinnern. Ein Iraker, der Kafkas Sterbeort Kierling, der heute zu Klosterneuburg gehört, besuchte, schrieb folgerichtig in das dortige Gästebuch: "Kafka you have foreseen it all!"
Im Zentrum der drei wissenschaftlichen Essays steht bei Janko Ferk also der Aufsatz über Kafka, eingebettet in die Darstellungen von Hans Gross und Walther Rode. Die drei Autoren verbindet eine unsichtbare Klammer miteinander. Gross war einer der prägenden Universitätslehrer des Prager Juristen Kafka, der in den "Process" sowohl seine strafrechtlichen als auch seine rechtsphilosophischen Kenntnisse einbrachte. Diese Kenntnisse verdankte er hauptsächlich Professor Gross, vielleicht auch dem eigenwilligen Brentano, der in Prag beliebt war.
Liest man Biografica von Philosophieprofessoren, die um 1900 in Prag lehrten (z.B. Ernst Mach, Friedrich Jodl), so ergibt sich daraus, dass die meisten Jus-Studenten das Pflichtfach Philosophie als Zwangsbeglückung empfanden, den Lehrern aber die Kollegiengelder der Bürgersöhne willkommen waren, weil ihre Lehre nur vor einem Häuflein Philosophiestudierender brotlos war.
Die Studienordnung stammte vom Unterrichtsminister Madeyski, dem man vorwarf, nepotistisch seinen Sohn zu fördern, der aber eine bemerkenswert langlebige Reform für das Jus-Studium initiierte.
Die für Kafkas und Rodes Studium maßgebliche Staatsprüfungs- und Rigorosenordnung hatte der von 1849 bis 1860 amtierende Minister Leo Graf Thun-Hohenstein vorangetrieben. Aus den jungen Jus-Studierenden sollten loyale Staatsdiener werden, so lautete das Hauptanliegen der damaligen Politik. Diese Grund-Loyalität kann selbst einem in Werk und Phantasie hochfliegenden "Dichterjuristen", wie ihn Ferk typologisch im Nachwort zu seinem Buch fundiert, niemand absprechen.
Einflussreiche Lehrer
Wie intensiv der Einfluss der Jus-Professoren der Karls-Universität auf Brod und Kafka war, lässt sich, abgesehen von Gross, schwer feststellen. Jeder einzelne, darunter der seriöse Verfassungsjurist Josef Ulbrich, Max Webers Bruder und Kafka-Promotor Alfred Weber oder der politisch zwielichtige Handelsrechtler Anton Rintelen, verdiente einen derart dichten und spannenden Essay, wie ihn Ferk dem Kriminologen widmet. Er bezeichnet Gross zutreffend als guten akademischen Lehrer, verfasste dieser doch zwei Standardwerke, wirkte als anerkannter Vortragender und als empirisch fundierter Forensiker.
Mit dem Professor konnte sich der unter seinem Vater, dem Galanteriewaren-Pedanten Hermann Kafka, leidende "große" Franz identifizieren (der kleine war Werfel!). Denn Gross wäre es nie eingefallen, seine Studierenden "zahlende Feinde" zu nennen, während Hermann Kafka seine Angestellten als "bezahlte Feinde" titulierte.
Trotzdem könnte man Hans Gross auch als schlechten Vater identifizieren. Dass er seinen Sohn, den späteren Psychoanalytiker Otto in das Irrenhaus von Troppau in Österreichisch-Schle- sien (heute Opava, Mähren in der Tschechischen Republik) einweisen ließ, mutet bedenklich an.
Aber so ähnlich verfuhr auch Kafkas Fast-Schwiegervater, der tschechisch-nationale Zahnarzt Jan Jesenský mit seiner aufmüpfigen Tochter Milena Jesenská, deren Bild an meiner Bürowand hängt und mich gerade vorwurfsvoll ansieht. Jene Milena, die ihre Liebesbriefe an Kafka von der Wohnung in der Lerchenfelderstraße ins Postamt in der Josefstädter Bennogasse trug, während ihr Gatte Ernst Polak fremdging. Jene Milena, deren Tod die NS-Schergen zu verantworten hatten, die auch Kafkas Schwestern deportierten, wie Janko Ferk erwähnt.
Der kämpferische Jurist
Über Walther Rode und seine justiz- sowie gesellschaftskritischen Studien berichtet Janko Ferk Hochinteressantes. Darüber hinaus lassen sich dank der Hinweise im Anhang einige biografische Details in einem anderen Band finden, an dem die Literaturkritikerin Daniela Strigl und der habilitierte Jurist und Liste-Pilz-Abgeordnete Alfred J. Noll mitgeschrieben haben (Roland Knie, Alfred J. Noll und Daniela Strigl: Walther Rode. Aspekte seiner Biografie. Czernin Verlag, Wien 2015).
Noll hat die erstaunliche Resistenz Rodes gegen die brutale Kriegsjustiz der Jahre 1914/15 thematisiert, als die nach Spionen und Feinden im Inneren wühlende Macht den Rechtsstaat mit Füßen trat. Während heute die NS-Kriegsverbrechen hinreichend bekannt sind, bleiben immer noch nebulose Züge rund um das "Aufknüpfen von Popen" und standrechtliche Erschießungen serbischer Gefangener im Ersten Weltkrieg, die auch auf das Konto des goldenen Wienerherzen gehen.
Zu seinem Unglück wäre Rode ein Militärstaatsanwalt gewesen, der das absurde Kriegsrecht anzuwenden gehabt hätte. Wissend, dass Recht im Krieg zu Unrecht wird, rückte der Oberleutnant-Auditor Rode erst gar nicht ein, sondern bezeichnete Österreich-Ungarn treffend als im "Krieg mit den eigenen Völkern befindlich".
Ferk würdigt in seinem Rode-Essay auch Gerd Baumgartner, den akribischen Forscher und Herausgeber einer fast zweitausend Seiten umfassenden Rode-Werkausgabe, die 2007 im Wiener Löcker-Verlag erschienen ist. Baumgartner hat die Spuren seines Autors bis nach Czernowitz verfolgt.
Dort, in der nachmalig rumänisierten Hauptstadt der Bukowina (Cernauti), die heute in der Westukraine liegt (Tscherniwzi), konnte man bis 1916 übrigens dem Mitbegründer der Rechtssoziologie und Rechtstatsachen-Sammler Eugen Ehrlich begegnen, der nach dem Verlust der Stadt und der Schließung der k.u.k. Universität eine Eliteschule in Wien gründen wollte. Ebenso wie heute bis ins ferne Japan des Schwechater Juristen Ehrlich gedacht wird, ist auch Walther Rodes Fußabdruck in der Bukowina noch erkennbar.
Dosierte Würze
Janko Ferk ist es zu verdanken, dass er Rode in seiner kulturkritischen Funktion und Schreibgewalt auf knappem Raum und mit treffenden Worten skizziert. Deshalb sollte ihm, der mit über dreißig Büchern zu den produktivsten heimischen Autoren zählt, und der hauptberuflich Recht spricht und lehrt, für alle drei Essays ein "Preis für dosierte Würze in leseökonomischer Kürze in einem unprätentiös bildenden Rahmen" verliehen werden.
Dem Grazer Universitätsverlag, der zur Leykam-Gruppe zählt, ist zu danken, dass er vielsagende Fotos aller drei Biografierten reproduzierte, wobei jenes von Rode einen streng dreinblickenden Vorleser zeigt, der Hand an (seine?) Bücher legt, so als ob er gerade anhebe zu lesen und vom Pult aus zu dozieren. Kafka kennt man aus vielen Bildbänden, Gross wird auch mitunter in den Kafka-Jugendbiografien von Klaus Wagenbach und Reiner Stach abgebildet, aber von Rode hatte der Rezensent kein Bild vor Augen.
Die drei Köpfe erscheinen auch als silbrig glänzende Intarsien und als Miniaturen am Buchdeckel außen wie innen, das Rotweißrot des Hardcovers verheißt für eine neu gestartete essayistische Reihe das Beste, nämlich milden Patriotismus, der sich auf wissenschaftliche und literarische Leistungen gründet. Ein bibliophiles Werk also, eine geeignete Gabe für Genießer, wissenschaftlich Interessierte und für alle Literaturfreunde. Sollte sie nicht unter dem Weihnachtsbaum oder auf dem Silvestertisch liegen, wäre sie auch wohlfeil in Eigenregie zu erwerben.
Literatur
Janko Ferk:
Drei Juristen.
Gross - Kafka - Rode
Wissenschaftliche Essays Band 1
Grazer Universitätsverlag 2017
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Gerhard Strejcek
Der schwierige Nachbar
Wiener Zeitung, 18.11.2017
Die Geschichte zeigt, dass ein Dialog mit Ungarn sinnvoll ist, ein "Beitritt" zur Visegrád-Gruppe aber nicht.
Noch in den frühen 1980er Jahren kursierte anlässlich von Fußball-Länderspielen zwischen der damaligen Volksrepublik Ungarn und Österreich ein Witz, der das Fortwirken der Donaumonarchie aufs Korn nahm. In einem fiktiven Dialog sagte ein Mitarbeiter zu Otto Habsburg, der als bayerischer Abgeordneter für die CSU im Europaparlament wirkte, zugleich aber Oberhaupt der Familie und potenzieller Thronfolger beider "Erbländer" war: "Kaiserliche Hoheit, heut’ spielt Österreich-Ungarn". Die Antwort fiel soigniert aus: "Fein, fein, gegen wen spiel’n wir denn?"
Gegenseitige Sympathie
Abgesehen vom Hause Habsburg und seinen paneuropäischen Bemühungen gab es wenig Gemeinsamkeiten, aber die Bevölkerung handelte stets solidarisch, gewährte beim Ungarnaufstand und anlässlich der Grenzöffnung knapp vor der deutschen Wiedervereinigung sofort bereitwillig Einlass und bot den Ungarn-Flüchtlingen vor sechzig Jahren Nahrung und Quartier.
Trotz aller Widrigkeiten seit den Verträgen von Saint-Germain-en-Laye 1919 (betraf die Grenze Österreich/Ungarn und die Nachkriegsordnung der Republik) und Trianon 1920 (betraf Ungarns Grenze zu Rumänien) und der langen Durststrecke unserer Nachbarn im sozialistischen System war das Verhältnis "unten" stets herzlich, von gegenseitiger Sympathie und einem regen Handelsaustausch gekennzeichnet.
Heute lautet das Match indessen eher "EU mit Österreich" gegen Ungarn oder "EU mit Österreich" gegen Visegrád; gemeinsame europapolitische Interessen verfolgen die beiden "verfreundeten" Nachbarn kaum. Als der tschechische Präsident Milo Zeman 2016 vorschlug, dass Österreich zu den Visegrád-Konferenzen eingeladen werden sollte, beeilten sich die Ungarn rund um Ministerpräsident Orbán, den Wiener Nachbarn wieder auszuladen.
Aber die Idee einer Annäherung an die 60 Millionen Unionsbürger vertretende, informelle osteuropäische Interessensgruppe hält sich hartnäckig und fasziniert rechtspopulistische Politiker. Neuerdings, seit den Wahlen vom 15. Oktober 2017, geistert eine Annäherung an diese osteuropäische Vierergruppe durch die Medien. In freiheitlichen Kreisen scheint eine Annäherung an Ungarn, Polen, die tschechische Republik und die slowakische Republik das probate Mittel, der "mächtigen" und "zentralistischen" EU die Stirn zu bieten.
Dagegen sprechen sich vehement langjährige Spitzendiplomaten wie Albert Rohan aus, die befürchten, dass über das Donauknie von Visegrád der Weg in eine selbstgewählte Außenseiterrolle am Rand der EU führen würde. Und nachdem schon deutsche Medien Befürchtungen über "Habsburg light" angestellt haben, fand es auch der amtierende Außenminister und baldige Bundeskanzler Sebastian Kurz angebracht, in Brüssel Entwarnung zu geben. Nein, Österreich werde der Vise-grád-Gruppe auch künftig nicht beitreten, so lautete kurz und bündig die Stellungnahme aus dem Außenamt. Doch kann man einer informellen Gruppe "beitreten"? Freihandel besteht ja schon kraft der EU-Verträge, solcherart entstünde eine Art ex-post-Bekräftigung eines bereits existierenden Vertrags. Die heutige Visegrád-Gruppe geht ja auf ein durch den EU-Beitritt aller Beteiligten überholtes Freihandelsabkommen von 1991 zurück.
Antiösterreichische Note
Historisch spricht aus österreichischer Sicht viel gegen, aber nichts für Visegrád. Die Symbolik dieses Treffpunkts trägt eine antihabsburgische und somit unter den politischen Kautelen eindeutig antiösterreichische Note. Denn im Oktober 1335, als das Dreikönigstreffen in der ungarischen Donaufestung stattfand, war kein Habsburger eingeladen. Vielmehr konferierten König Kasimir der Große von Polen, der Ungarn-König Karl von Anjou sowie der Böhmen-König Johann in Visegrád in trialistischer Manier, ohne Beisein eines Wiener Gasts.
Der in Prag residierende Johann, Vater des späteren römisch-deutschen Kaisers Karl IV., war ein heftiger Gegner der Habsburger, er stammte aus dem Geschlecht der Luxemburger. Johann und Karl befanden sich im Konkurrenzkampf mit den Herzögen in Wien, Rudolf IV. behalf sich sogar der Fälschung des privilegium maius, um sein Ansprüche zu wahren. Konkurrenz wurde auch bei Gründungen, Bauten und Stiftungen in Wien, Prag und Budapest sichtbar. Schon als König von Böhmen setzte Karl Akzente, wie etwa die Gründung der Prager Universität, die nach ihm benannt ist und siebzehn Jahre vor der Wiener Gründung des ehrgeizigen Rudolf IV. stattfand.
Sich Visegrád anzuschließen ist weder historisch-symbolisch angebracht noch zweckmäßig, völkerrechtlich zudem schwierig bis unmöglich. Integrationspolitisch betrachtet ist die Ausrichtung der Gruppe umstritten. Die Bielefelder Soziologen Marcel Schütz und Finn-Rasmus Bull haben die "Unverstandene Union" in den politischen Wissenschaften aufgearbeitet. Sie sehen die Visegrád-Gruppe als eine interne strukturelle Sonderform der EU und ihrer Organisationen.
Konfrontation mit EU
Da im EU-Verband die Mitglieder grundsätzlich gleichberechtigt sind und in wichtigen Fragen einstimmig handeln, kommt es ersatzweise und hinter den Kulissen zu internen Zweckbündnissen wie jenem der vier Staaten. So entstehen dauerhafte Allianzen, die aber letztlich auf Konfrontation mit den EU-Organen ausgerichtet sind. Die Visegrád-Gruppe habe somit den Status einer Art widerspenstiger Binnenorganisation innerhalb der EU, so die Autoren.
Ungarn und Polen stehen meist in einem betonten Gegensatz, ja in politischer Opposition zu den Machtträgern in Brüssel und Straßburg. Die Antworten der EU-Organe fallen in letzter Zeit recht harsch aus. Der EuGH befand im September 2017, dass Ungarn aus den abgesprochenen, aber nicht eingehaltenen Flüchtlingsquoten umgehend rund 1300 Personen aufnehmen müsste - und unterließ es nicht, die mangelnde Solidarität Ungarns zu geißeln. Die Kommission setzte noch eines drauf und verweigerte eine Refundierung der Kosten von rund 400 Millionen Euro, welche Viktor Orbán für den Grenzzaun im Süden eingefordert hatte. Grenzzäune zu errichten, zähle nicht zu den Aufgaben der EU, so die Begründung, zudem hätte Ungarn bestimmte Fördermittel verfallen lassen, die allerdings nur ein Zehntel der gewünschten Summe abgedeckt hätten.
Gegen die wenig freundliche EU-Politik hat sich Widerstand in Wiener Kreisen formiert. Das Nicht-Kooperieren und die Missachtung der Donauachse könnte sich längerfristig als ein Fehler erweisen, so lautet die Befürchtung jener Gruppe, sie sich stärker von Kanzlerin Merkels "Einladungspolitik" distanziert.
Auf Grund der geopolitischen Lage und der historischen Rolle Ungarns als Bollwerk gegen Vorstöße aus dem Balkan, aus Russland und aus Vorderasien, sollte Österreich den Blick stärker nach Osten wenden. Es gehe nicht (nur) um eine Annäherung an Visegrád, sondern auch um kulturelle und akademische Zusammenarbeit im Sinne des als "Rechten" unverdächtigen Erhard Busek und des renommierten Instituts für den Donauraum (IDM), wo seit Jahrzehnten ein Dialog mit Ungarn, Polen, der slowakischen und der tschechischen Republik stattfindet.
Auch die Idee einer außenpolitischen Zusammenarbeit ist nicht neu, denn Verteidigungs- und Innenministerium kooperieren seit dem ersten großen Flüchtlingsansturm intensiv. Österreichische Polizei hilft an der serbischen Außengrenze und fährt im Burgenland gemeinsame Grenzpatrouillen, auch im Rahmen des Bundesheer-Assistenzeinsatzes gab es keine Probleme mit dem ungarischen Militär, an der Grenzinfrastruktur wird gemeinsam gearbeitet.
Ausgleichsverhandlung
Eine lange, gemeinsame Geschichte zeigt, dass es stets schwierig war, auf einen grünen Zweig zu kommen. Die ab 1867 im Zehnjahresturnus zu führenden Ausgleichsverhandlungen waren dem heutigen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden vergleichbar. Sie beschworen regelmäßig Krisen und heftigste Auseinandersetzungen herauf. Das Königreich Ungarn sah sich als gleichberechtigter Partner, die Residenzstadt Budapest beanspruchte Präsenz der Habsburger, hatte ab 1867 eine eigene Regierung und ein autonomes Parlament, nur zwei Ressorts waren "k.u.k.", das heißt gemeinsam verwaltet, sodass letztlich nur die gemeinsame Armee (mit Besonderheiten) und die gemeinsame Außenpolitik die lose Personalunion aneinander schmiedeten.
Die cisleithanische Reichshälfte durfte sich auch verfassungsmäßig gar nicht "Österreich" nennen, was Robert Musil in seinem legendären Kapitel "Kakanien" im Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften" thematisiert hat. Erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg wurde diese uns so vertraute und zudem 1000 Jahre alte Bezeichnung offizieller Staatsname Cisleithaniens, da der Kaiser zuvor die ungarischen Reaktionen fürchtete. Als sich 1908 nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina Wappenfragen stellten, ging der Streit wiederum los.
Maßnahmen zur Zollvereinheitlichung und Durchsetzung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets misslangen. Die Tabakregie konnte in Budapest und dessen transleithanischem Herrschaftsbereich (inklusive Slowakei und Kroatien, Bosnien wurde nach Besetzung und Annexion gemeinsam verwaltet) kein Monopol etablieren. Die ungarischen Adeligen pochten auf Sonderrechte, die ihrer Ansicht nach den Staatsgrundgesetzen und dem Ausgleichsrecht vorangingen. Grenznahe Magnaten beharrten darauf, dass Tabakmühlen den an der Leitha geschmuggelten oder selbst angebauten Tabak verarbeiten durften. In ihrer Verzweiflung setzte die k.k. Tabakregie auf Dumpingpreise in Budapest und die Politik suchte nach Verbündeten an der Universität.
Hans Kelsen las nach seiner Habilitation 1911 "Ausgleichsrecht", die rasch abfolgenden Ministerpräsidenten Cisleithaniens verbrauchten zahlreiche Verfassungsexperten für die Verhandlungen. Im Reichsrat, der die Ausgleichsfragen ebenfalls abzusegnen hatte, kam es regelmäßig zu einem Eklat, wenn sich ein Jahr mit einem "7er" anbahnte und das Thema "Ausgleich" wieder auf der Tagesordnung stand.
Statt das Dreißigjahrjubiläum der Verfassung 1867 gebührend zu feiern, zerbrach das Wiener Parlament 1897 beinahe an der Nationalitätenfrage, nicht zuletzt weil sich die zahlenmäßig stärkeren slawischen Bevölkerungsgruppen die Bevormundung nicht mehr länger gefallen lassen wollten und die deutschsprachigen Österreicher um ihren Primat fürchteten. Bis heute gelingt es Budapest und Wien über Fragen zu streiten, die in die Zeit der Donaumonarchie zurückreichen, wie etwa die Eigentümerschaft am Österreichischen Hospiz, welche Erzbischof Schönborn mit guten Gründen für Wien reklamierte.
Blieben der ungarische Nationalismus und die Tendenz zu illiberalen Strömungen beim Nachbarn. Nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich ein sozialistisches System, denn die Bolschewisten rund um Bela Kún und seinen "Vollstrecker" Samuely hatten bereits 1918/19 Angst und Schrecken verbreitet. Der ehemalige k.u.k. Admiral und Reichsverweser Horthy erschien vielen Enteigneten als Erlöser, kann aber auch nicht gerade als liberaler Machthaber bezeichnet werden.
Der heute vorherrschende Orbánismus ist nicht antidemokratisch, aber, wie der Ministerpräsident selbst freimütig zugibt, von seiner Ausrichtung her antiliberal. Damit steht Ungarn aber im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die es als Europaratsstaat anerkannt und ratifiziert hat. Aus mehreren Artikeln der EMRK wird deutlich, dass es in Europa nicht nur um demokratische Fundierung der Regierungen und der Parlamente geht (wie es das erste Zusatzprotokoll verlangt). Vielmehr liegt der EMRK eine Vorstellung von Demokratie zugrunde, in der Meinungs- und Informationsfreiheit herrschen. Einschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie in einem demokratischen Staat (unbedingt) notwendig sind und zur Verfolgung öffentlicher Interessen oder der Rechte Dritter dienen.
Somit lässt der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte nur in Ausnahmefällen Bestrafungen von Medien und Journalisten zu, etwa wenn es um die Privatsphäre von Personen geht, die keine "public figures" sind, wie es ja auch das österreichische Me-dienstrafrecht vorsieht. Aus der Judikatur des EGMR folgt im Umkehrschluss, dass Politiker wie der Ministerpräsident oder sein Außenminister wegen ihrer Wortwahl und illiberalen Maßnahmen kritisiert werden dürfen. Sie müssen in einem liberal-demokratischen System diese Werturteile erdulden, auch wenn das ihrer Vorstellung von Demokratie mit einem Hauch autoritären Regierens missfällt.
Kritik am EuGH
Dasselbe gilt für die Anerkennung der grundsätzlich endgültigen und durch Rechtsmittel nicht mehr bekämpfbaren Rechtsprechung internationaler Instanzen. Wenn Ungarn ankündigt, das Urteil des EuGH vom 6. 9. 2017 über die Flüchtlingsquoten mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen, dann verkennt es, dass ebenso wie der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte auch der Gerichtshof der Europäischen Union endgültig entscheidet. Zwar mag es legitim sein, politische Maßnahmen zu setzen, um eine Änderung der EU-Flüchtlingspolitik zu erwirken - und es sieht so aus, als ob dieser Schwenk ohnehin bereits erfolgt ist -; aber was beschlossen und in den Rechtsbestand der EU aufgenommen wurde, hat Legitimität und Gültigkeit auch für Budapest.
Die in der Wortwahl sehr aggressive Kritik am EuGH erinnert an Zeiten, in denen Wien und seine wenigen gemeinsamen Einrichtungen in der k.u.k. Monarchie am Pranger standen. Rückblickend versteht man heute besser, warum es in der Dezemberverfassung nicht einmal gelang, ein gemeinsames Verfassungs- und Höchstgericht zu etablieren.
Ungarn hat auch immer auf akademische Eigenständigkeit gepocht, was zur Folge hatte, dass an ungarischen Universitäten vor allem in Naturwissenschaften und Mathematik Höchstleistungen erbracht wurden, aber im Bereich der Sozialwissenschaften Störfeuer zwischen Politik und akademischer Welt entstand. Und so könnte sich auch die konsequente Unterdrückung eines wissenschaftlichen Informationsflusses oder einer akademischen Einrichtung, die dem Regime missliebig ist, als problematisch erweisen, wo es zwar kein spezielles Menschenrecht auf Wissenschaftsfreiheit gibt, sehr wohl aber internationale Abkommen, den Bolognaprozess und das nicht zu vernachlässigende Gebot der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, dass die höheren Studien allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten offen stehen sollen (Art. 26 Absatz 1 AE).
Die im Visegrád von heute konzertierten Bemühungen Ungarns innerhalb der EU haben vielfältige historischen Wurzeln und es gab immer wieder Amplituden in einem Diskurs mit dem Westen. Dennoch gilt: Kooperation und Dialog unter Beibehaltung demokratischer, liberaler und grundrechtlicher Wertepositionen sind besser als Isolation und Entfremdung eines Nachbarn, der emotional, historisch und mentalitätsmäßig stets Teil des gemeinsamen Europa war - und auch bleiben soll.
Literatur
Marcel Schütz/Finn-Rasmus Bull:
Unverstandene Union -
Eine organisationswissenschaftliche Analyse der EU.
Springer VS, Wiesbaden
2017
Noch in den frühen 1980er Jahren kursierte anlässlich von Fußball-Länderspielen zwischen der damaligen Volksrepublik Ungarn und Österreich ein Witz, der das Fortwirken der Donaumonarchie aufs Korn nahm. In einem fiktiven Dialog sagte ein Mitarbeiter zu Otto Habsburg, der als bayerischer Abgeordneter für die CSU im Europaparlament wirkte, zugleich aber Oberhaupt der Familie und potenzieller Thronfolger beider "Erbländer" war: "Kaiserliche Hoheit, heut’ spielt Österreich-Ungarn". Die Antwort fiel soigniert aus: "Fein, fein, gegen wen spiel’n wir denn?"
Gegenseitige Sympathie
Abgesehen vom Hause Habsburg und seinen paneuropäischen Bemühungen gab es wenig Gemeinsamkeiten, aber die Bevölkerung handelte stets solidarisch, gewährte beim Ungarnaufstand und anlässlich der Grenzöffnung knapp vor der deutschen Wiedervereinigung sofort bereitwillig Einlass und bot den Ungarn-Flüchtlingen vor sechzig Jahren Nahrung und Quartier.
Trotz aller Widrigkeiten seit den Verträgen von Saint-Germain-en-Laye 1919 (betraf die Grenze Österreich/Ungarn und die Nachkriegsordnung der Republik) und Trianon 1920 (betraf Ungarns Grenze zu Rumänien) und der langen Durststrecke unserer Nachbarn im sozialistischen System war das Verhältnis "unten" stets herzlich, von gegenseitiger Sympathie und einem regen Handelsaustausch gekennzeichnet.
Heute lautet das Match indessen eher "EU mit Österreich" gegen Ungarn oder "EU mit Österreich" gegen Visegrád; gemeinsame europapolitische Interessen verfolgen die beiden "verfreundeten" Nachbarn kaum. Als der tschechische Präsident Milo Zeman 2016 vorschlug, dass Österreich zu den Visegrád-Konferenzen eingeladen werden sollte, beeilten sich die Ungarn rund um Ministerpräsident Orbán, den Wiener Nachbarn wieder auszuladen.
Aber die Idee einer Annäherung an die 60 Millionen Unionsbürger vertretende, informelle osteuropäische Interessensgruppe hält sich hartnäckig und fasziniert rechtspopulistische Politiker. Neuerdings, seit den Wahlen vom 15. Oktober 2017, geistert eine Annäherung an diese osteuropäische Vierergruppe durch die Medien. In freiheitlichen Kreisen scheint eine Annäherung an Ungarn, Polen, die tschechische Republik und die slowakische Republik das probate Mittel, der "mächtigen" und "zentralistischen" EU die Stirn zu bieten.
Dagegen sprechen sich vehement langjährige Spitzendiplomaten wie Albert Rohan aus, die befürchten, dass über das Donauknie von Visegrád der Weg in eine selbstgewählte Außenseiterrolle am Rand der EU führen würde. Und nachdem schon deutsche Medien Befürchtungen über "Habsburg light" angestellt haben, fand es auch der amtierende Außenminister und baldige Bundeskanzler Sebastian Kurz angebracht, in Brüssel Entwarnung zu geben. Nein, Österreich werde der Vise-grád-Gruppe auch künftig nicht beitreten, so lautete kurz und bündig die Stellungnahme aus dem Außenamt. Doch kann man einer informellen Gruppe "beitreten"? Freihandel besteht ja schon kraft der EU-Verträge, solcherart entstünde eine Art ex-post-Bekräftigung eines bereits existierenden Vertrags. Die heutige Visegrád-Gruppe geht ja auf ein durch den EU-Beitritt aller Beteiligten überholtes Freihandelsabkommen von 1991 zurück.
Antiösterreichische Note
Historisch spricht aus österreichischer Sicht viel gegen, aber nichts für Visegrád. Die Symbolik dieses Treffpunkts trägt eine antihabsburgische und somit unter den politischen Kautelen eindeutig antiösterreichische Note. Denn im Oktober 1335, als das Dreikönigstreffen in der ungarischen Donaufestung stattfand, war kein Habsburger eingeladen. Vielmehr konferierten König Kasimir der Große von Polen, der Ungarn-König Karl von Anjou sowie der Böhmen-König Johann in Visegrád in trialistischer Manier, ohne Beisein eines Wiener Gasts.
Der in Prag residierende Johann, Vater des späteren römisch-deutschen Kaisers Karl IV., war ein heftiger Gegner der Habsburger, er stammte aus dem Geschlecht der Luxemburger. Johann und Karl befanden sich im Konkurrenzkampf mit den Herzögen in Wien, Rudolf IV. behalf sich sogar der Fälschung des privilegium maius, um sein Ansprüche zu wahren. Konkurrenz wurde auch bei Gründungen, Bauten und Stiftungen in Wien, Prag und Budapest sichtbar. Schon als König von Böhmen setzte Karl Akzente, wie etwa die Gründung der Prager Universität, die nach ihm benannt ist und siebzehn Jahre vor der Wiener Gründung des ehrgeizigen Rudolf IV. stattfand.
Sich Visegrád anzuschließen ist weder historisch-symbolisch angebracht noch zweckmäßig, völkerrechtlich zudem schwierig bis unmöglich. Integrationspolitisch betrachtet ist die Ausrichtung der Gruppe umstritten. Die Bielefelder Soziologen Marcel Schütz und Finn-Rasmus Bull haben die "Unverstandene Union" in den politischen Wissenschaften aufgearbeitet. Sie sehen die Visegrád-Gruppe als eine interne strukturelle Sonderform der EU und ihrer Organisationen.
Konfrontation mit EU
Da im EU-Verband die Mitglieder grundsätzlich gleichberechtigt sind und in wichtigen Fragen einstimmig handeln, kommt es ersatzweise und hinter den Kulissen zu internen Zweckbündnissen wie jenem der vier Staaten. So entstehen dauerhafte Allianzen, die aber letztlich auf Konfrontation mit den EU-Organen ausgerichtet sind. Die Visegrád-Gruppe habe somit den Status einer Art widerspenstiger Binnenorganisation innerhalb der EU, so die Autoren.
Ungarn und Polen stehen meist in einem betonten Gegensatz, ja in politischer Opposition zu den Machtträgern in Brüssel und Straßburg. Die Antworten der EU-Organe fallen in letzter Zeit recht harsch aus. Der EuGH befand im September 2017, dass Ungarn aus den abgesprochenen, aber nicht eingehaltenen Flüchtlingsquoten umgehend rund 1300 Personen aufnehmen müsste - und unterließ es nicht, die mangelnde Solidarität Ungarns zu geißeln. Die Kommission setzte noch eines drauf und verweigerte eine Refundierung der Kosten von rund 400 Millionen Euro, welche Viktor Orbán für den Grenzzaun im Süden eingefordert hatte. Grenzzäune zu errichten, zähle nicht zu den Aufgaben der EU, so die Begründung, zudem hätte Ungarn bestimmte Fördermittel verfallen lassen, die allerdings nur ein Zehntel der gewünschten Summe abgedeckt hätten.
Gegen die wenig freundliche EU-Politik hat sich Widerstand in Wiener Kreisen formiert. Das Nicht-Kooperieren und die Missachtung der Donauachse könnte sich längerfristig als ein Fehler erweisen, so lautet die Befürchtung jener Gruppe, sie sich stärker von Kanzlerin Merkels "Einladungspolitik" distanziert.
Auf Grund der geopolitischen Lage und der historischen Rolle Ungarns als Bollwerk gegen Vorstöße aus dem Balkan, aus Russland und aus Vorderasien, sollte Österreich den Blick stärker nach Osten wenden. Es gehe nicht (nur) um eine Annäherung an Visegrád, sondern auch um kulturelle und akademische Zusammenarbeit im Sinne des als "Rechten" unverdächtigen Erhard Busek und des renommierten Instituts für den Donauraum (IDM), wo seit Jahrzehnten ein Dialog mit Ungarn, Polen, der slowakischen und der tschechischen Republik stattfindet.
Auch die Idee einer außenpolitischen Zusammenarbeit ist nicht neu, denn Verteidigungs- und Innenministerium kooperieren seit dem ersten großen Flüchtlingsansturm intensiv. Österreichische Polizei hilft an der serbischen Außengrenze und fährt im Burgenland gemeinsame Grenzpatrouillen, auch im Rahmen des Bundesheer-Assistenzeinsatzes gab es keine Probleme mit dem ungarischen Militär, an der Grenzinfrastruktur wird gemeinsam gearbeitet.
Ausgleichsverhandlung
Eine lange, gemeinsame Geschichte zeigt, dass es stets schwierig war, auf einen grünen Zweig zu kommen. Die ab 1867 im Zehnjahresturnus zu führenden Ausgleichsverhandlungen waren dem heutigen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden vergleichbar. Sie beschworen regelmäßig Krisen und heftigste Auseinandersetzungen herauf. Das Königreich Ungarn sah sich als gleichberechtigter Partner, die Residenzstadt Budapest beanspruchte Präsenz der Habsburger, hatte ab 1867 eine eigene Regierung und ein autonomes Parlament, nur zwei Ressorts waren "k.u.k.", das heißt gemeinsam verwaltet, sodass letztlich nur die gemeinsame Armee (mit Besonderheiten) und die gemeinsame Außenpolitik die lose Personalunion aneinander schmiedeten.
Die cisleithanische Reichshälfte durfte sich auch verfassungsmäßig gar nicht "Österreich" nennen, was Robert Musil in seinem legendären Kapitel "Kakanien" im Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften" thematisiert hat. Erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg wurde diese uns so vertraute und zudem 1000 Jahre alte Bezeichnung offizieller Staatsname Cisleithaniens, da der Kaiser zuvor die ungarischen Reaktionen fürchtete. Als sich 1908 nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina Wappenfragen stellten, ging der Streit wiederum los.
Maßnahmen zur Zollvereinheitlichung und Durchsetzung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets misslangen. Die Tabakregie konnte in Budapest und dessen transleithanischem Herrschaftsbereich (inklusive Slowakei und Kroatien, Bosnien wurde nach Besetzung und Annexion gemeinsam verwaltet) kein Monopol etablieren. Die ungarischen Adeligen pochten auf Sonderrechte, die ihrer Ansicht nach den Staatsgrundgesetzen und dem Ausgleichsrecht vorangingen. Grenznahe Magnaten beharrten darauf, dass Tabakmühlen den an der Leitha geschmuggelten oder selbst angebauten Tabak verarbeiten durften. In ihrer Verzweiflung setzte die k.k. Tabakregie auf Dumpingpreise in Budapest und die Politik suchte nach Verbündeten an der Universität.
Hans Kelsen las nach seiner Habilitation 1911 "Ausgleichsrecht", die rasch abfolgenden Ministerpräsidenten Cisleithaniens verbrauchten zahlreiche Verfassungsexperten für die Verhandlungen. Im Reichsrat, der die Ausgleichsfragen ebenfalls abzusegnen hatte, kam es regelmäßig zu einem Eklat, wenn sich ein Jahr mit einem "7er" anbahnte und das Thema "Ausgleich" wieder auf der Tagesordnung stand.
Statt das Dreißigjahrjubiläum der Verfassung 1867 gebührend zu feiern, zerbrach das Wiener Parlament 1897 beinahe an der Nationalitätenfrage, nicht zuletzt weil sich die zahlenmäßig stärkeren slawischen Bevölkerungsgruppen die Bevormundung nicht mehr länger gefallen lassen wollten und die deutschsprachigen Österreicher um ihren Primat fürchteten. Bis heute gelingt es Budapest und Wien über Fragen zu streiten, die in die Zeit der Donaumonarchie zurückreichen, wie etwa die Eigentümerschaft am Österreichischen Hospiz, welche Erzbischof Schönborn mit guten Gründen für Wien reklamierte.
Blieben der ungarische Nationalismus und die Tendenz zu illiberalen Strömungen beim Nachbarn. Nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich ein sozialistisches System, denn die Bolschewisten rund um Bela Kún und seinen "Vollstrecker" Samuely hatten bereits 1918/19 Angst und Schrecken verbreitet. Der ehemalige k.u.k. Admiral und Reichsverweser Horthy erschien vielen Enteigneten als Erlöser, kann aber auch nicht gerade als liberaler Machthaber bezeichnet werden.
Der heute vorherrschende Orbánismus ist nicht antidemokratisch, aber, wie der Ministerpräsident selbst freimütig zugibt, von seiner Ausrichtung her antiliberal. Damit steht Ungarn aber im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die es als Europaratsstaat anerkannt und ratifiziert hat. Aus mehreren Artikeln der EMRK wird deutlich, dass es in Europa nicht nur um demokratische Fundierung der Regierungen und der Parlamente geht (wie es das erste Zusatzprotokoll verlangt). Vielmehr liegt der EMRK eine Vorstellung von Demokratie zugrunde, in der Meinungs- und Informationsfreiheit herrschen. Einschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie in einem demokratischen Staat (unbedingt) notwendig sind und zur Verfolgung öffentlicher Interessen oder der Rechte Dritter dienen.
Somit lässt der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte nur in Ausnahmefällen Bestrafungen von Medien und Journalisten zu, etwa wenn es um die Privatsphäre von Personen geht, die keine "public figures" sind, wie es ja auch das österreichische Me-dienstrafrecht vorsieht. Aus der Judikatur des EGMR folgt im Umkehrschluss, dass Politiker wie der Ministerpräsident oder sein Außenminister wegen ihrer Wortwahl und illiberalen Maßnahmen kritisiert werden dürfen. Sie müssen in einem liberal-demokratischen System diese Werturteile erdulden, auch wenn das ihrer Vorstellung von Demokratie mit einem Hauch autoritären Regierens missfällt.
Kritik am EuGH
Dasselbe gilt für die Anerkennung der grundsätzlich endgültigen und durch Rechtsmittel nicht mehr bekämpfbaren Rechtsprechung internationaler Instanzen. Wenn Ungarn ankündigt, das Urteil des EuGH vom 6. 9. 2017 über die Flüchtlingsquoten mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen, dann verkennt es, dass ebenso wie der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte auch der Gerichtshof der Europäischen Union endgültig entscheidet. Zwar mag es legitim sein, politische Maßnahmen zu setzen, um eine Änderung der EU-Flüchtlingspolitik zu erwirken - und es sieht so aus, als ob dieser Schwenk ohnehin bereits erfolgt ist -; aber was beschlossen und in den Rechtsbestand der EU aufgenommen wurde, hat Legitimität und Gültigkeit auch für Budapest.
Die in der Wortwahl sehr aggressive Kritik am EuGH erinnert an Zeiten, in denen Wien und seine wenigen gemeinsamen Einrichtungen in der k.u.k. Monarchie am Pranger standen. Rückblickend versteht man heute besser, warum es in der Dezemberverfassung nicht einmal gelang, ein gemeinsames Verfassungs- und Höchstgericht zu etablieren.
Ungarn hat auch immer auf akademische Eigenständigkeit gepocht, was zur Folge hatte, dass an ungarischen Universitäten vor allem in Naturwissenschaften und Mathematik Höchstleistungen erbracht wurden, aber im Bereich der Sozialwissenschaften Störfeuer zwischen Politik und akademischer Welt entstand. Und so könnte sich auch die konsequente Unterdrückung eines wissenschaftlichen Informationsflusses oder einer akademischen Einrichtung, die dem Regime missliebig ist, als problematisch erweisen, wo es zwar kein spezielles Menschenrecht auf Wissenschaftsfreiheit gibt, sehr wohl aber internationale Abkommen, den Bolognaprozess und das nicht zu vernachlässigende Gebot der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, dass die höheren Studien allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten offen stehen sollen (Art. 26 Absatz 1 AE).
Die im Visegrád von heute konzertierten Bemühungen Ungarns innerhalb der EU haben vielfältige historischen Wurzeln und es gab immer wieder Amplituden in einem Diskurs mit dem Westen. Dennoch gilt: Kooperation und Dialog unter Beibehaltung demokratischer, liberaler und grundrechtlicher Wertepositionen sind besser als Isolation und Entfremdung eines Nachbarn, der emotional, historisch und mentalitätsmäßig stets Teil des gemeinsamen Europa war - und auch bleiben soll.
Literatur
Marcel Schütz/Finn-Rasmus Bull:
Unverstandene Union -
Eine organisationswissenschaftliche Analyse der EU.
Springer VS, Wiesbaden
2017
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Gerhard Strejcek
Ein Amerikaner besucht Wien
Wiener Zeitung, 12.11.2017
Mark Twains Berichte aus dem Reichsrat, dem Parlament der cisleithanischen Hälfte der k.k. Doppelmonarchie, liegen in einer
lesens-und hörenswerten Neuedition vor.
"Es gibt einen Sinn für moralisches und einen Sinn für unmoralisches Verhalten. Ersterer lehrt uns, wie die Moral zu umgehen ist und zweiterer lehrt uns, die Unmoral zu genießen." - Diesen Aphorismus widmete Mark Twain einem österreichischen Bekannten, nachdem er sich in die Reichshaupt- und Residenzstadt der Habsburger, ins Wien des Fin de siècle, begeben hatte. Die Illus-trierte "Wiener Bilder" druckte die Karte am 5. Oktober 1897 mit einer "entschärften" Übersetzung ab und legte eine aktuelle Aufnahme des bereits bekannten, aus Missouri in den USA stammenden Autors vor.
Mark Twain war am 30. November 1835 unter dem Namen Samuel Langhorne Clemens in einem nur hundert Köpfe zählenden Dorf zur Welt gekommen, das zu Unrecht den großspurigen Namen des Bundesstaates "Florida" trug und in einem Bezirk namens Monroe County lag. Alsbald zog die Familie nach Hannibal weiter, von wo aus der junge Samuel zum Mississippi pilgerte.
Der Lotse Twain
Am mächtigen Fluss angekommen, beobachtete er schon als Kind die Lotsen mit ihren Senkbleis, welche die schiffbaren Rinnen ausloteten, später sollte er selbst als Lotse die Strecke St. Louis-New Orleans befahren. Während der Umladungen hatte der Leichtmatrose frei und studierte die illustren Menschen auf ihren Reisen. Als metaphorisch erwies sich diese Tätigkeit für den Autor, der ein Analytiker und Meister der Reportage wurde. Statt Flussrinnen bewertete er nun das menschliche Verhalten und lotete dessen moralische Tiefe aus, weshalb er auch den altenglischen Begriff für die notwendige Distanz zum Grund, welche die Lotsen laut ausriefen ("Zwei Faden!" = "mark twain!") als Pseudonym wählte.
Solches berichtet Andreas Pittler in seinem gelungenen, essayistisch-biografischen Beitrag in dem soeben erschienen Sammelwerk über Twains Reichsrats-Reportagen 1898/99. Der Leser erfährt auch, welche hohe Wertschätzung Ernest Hemingway und der irischstämmige Sozialist George B. Shaw dem publizistischen Vorgänger entgegenbrachten.
Im Reigen der Autoren, welche erfolgreich in Twains Fußstapfen traten, wären Sherwood Anderson ("Winesburg, Ohio"), John Steinbeck ("Of Mice and Men") sowie Truman Capote ("In Cold Blood") eine Erwähnung wert gewesen. Doch im gegebenen Kontext geht es mehr um eine Einstimmung in Twains Berichte über die Ereignisse im Wiener Parlament und über die leidigen Nationalitätenkonflikte in der Donaumonarchie, nicht so sehr um die literaturhistorische Einordnung des Autors. Gewiss hat Pittler recht, wenn er moniert, dass der umfassend begabte Twain hierzulande in die Kinder- und Jugendbuchabteilung "abgeschoben" wurde.
Twains Aufenthalt in Wien von 1897 bis 1899 wäre schon länger einer umfassenden Darstellung würdig gewesen, fielen doch in diese Jahre nicht nur brutale, von Nationalitätenhass gekennzeichnete Debatten im Reichsrat, sondern auch die fürchterlichen Ereignisse vom Genfer See, wo der Anarchist Luccheni ("Ich bereue nichts!") die auf Solopfaden wandelnde Kaisersgattin Elisabeth ermordet hatte. Twain eilte behende von seinem Sommerwohnsitz in Kaltenleutgeben zum pompösen Begräbnis, das einen weiteren familiären Schlag für den 68-jährigen Kaiser bedeutete, der schon Sohn Rudolf und Bruder Maximilian auf gewaltsame Weise verloren hatte.
Warum aber reiste ein amerikanischer Provinzschriftsteller, der es mit authentischen Schilderungen des Midwest und schlüpfrigen Reportagen zu Ruhm, aber nicht zu Geld gebracht hatte, ausgerechnet nach Wien? Hier konnte man bekanntlich nichts über angewandte Demokratie, wohl aber einiges über Intrige, Mehrdeutigkeit und Hinterhältigkeit lernen. Nicht ohne Grund sagt ein altes Bonmot, dass der Wiener "aus Schleim gemeißelt" sei.
Vermutlich hätte sich Twain dieses illustre Szenario erspart, wäre er nicht finanziell unter Druck gestanden, nachdem er mit einer neu erfundenen Setzmaschine seinen Verlag auf Grund hatte laufen lassen. Und so hielt sich Twain nach seinem Privatkonkurs ab 1894 ein gutes Jahrzehnt in Europa auf, wo er zahlreiche Beiträge verfasste und die politischen wie kulturellen Eigenheiten der Alten Welt studierte und analysierte.
Dieser Blick von außen eröffnet ungewöhnliche und wichtige Einblicke in das fragile parlamentarische System Cisleithaniens, also der "österreichischen" Reichshälfte der k.u.k. Monarchie. Zunächst entpuppte sich der Autor als Nicht-Wissender, der mit der den Amerikanern eignenden Unbefangenheit und dem Forschergeist einer vorurteilsfreien Betrachtungsweise an die Arbeit ging.
Nationalitätenkonflikte
Überrascht stellte Twain fest, dass es in der Volksvertretung des Parlaments, dem Abgeordnetenhaus des k.k. Reichsrates, keine Ungarn gab, aber seit den Staatsgrundgesetzen aus 1867 war dieses Faktum hierzulande wohl bekannt. Aber auch die Spannungen unter den zwölf Nationen, welche im Reichsrat vertreten waren, hatten es in sich, wie Twain bald erkannte.
Es begab sich, dass der Gast in der heiklen Phase der alle zehn Jahre fälligen Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn in Wien weilte, denn seit 1867 musste bis zum Ende der Monarchie fünfmal hintereinander (1877, 1887, 1897, 1907, 1917) ein neuer budgetärer und die Zolltarife regelnder Vertrag ausgehandelt und in den beiden Parlamenten der Doppelmonarchie beschlossen werden, ehe der Zerfall des Reichs diese konfliktträchtigen Phasen beendete.
Heute sind die Ausgleichfragen mit Ungarn durch die Hintertür im Rahmen der EU-Beitragszahlungen und der Anwendung eines Sanktionsmechanismus wegen unbotmäßig-autoritärer Politik wieder, zumindest auf Brüsseler Ebene, auf das Tapet gelangt. Auch heute geht es im Parlament nicht immer vornehm zu.
Vor 120 Jahren griff man zu bedeutend drastischeren Mitteln der Obstruktion, es erklangen Ratschen und Tschinellen, die hölzernen Klapp-Pulte dienten als Schlagwerk, der Abgeordnete Wolf schrie lauthals den Börsebericht ins Plenum, während Lueger sprach und der Abgeordenete Pattai drohte Schönerer mit Ohrfeigen, obwohl jener viel athletischer war als er selbst. Mark Twain verfolgte einige Sitzungen des Abgeordnetenhauses, bei denen er das Wort "kurios" für die Sitten der Österreicher als angemessen erachtete, was der Höflichkeit gegenüber seinen Gastgebern geschuldet war, die sich im politischen Konflikt höchst unfein gebärdeten.
Heute fehlt es zwar weder an der Kernkompetenz für "dirty campaigning" noch an der Kurzlebigkeit politischer "Sager", aber in Sachen Obstruktionsvermeidung hat der Nationalrat Fortschritte gemacht. Christoph Konraths Beitrag über dieses Thema in historisch-politischer Betrachtung zeigt den intimen Kenner des Parlaments und seiner Mechanismen.
Störtechnik
Ihm gelingt einer der wertvollsten Beiträge dieses Werks, indem er sich an das Zentrum der Twainschen Beobachtungen heranwagt. Ein derartiges Ausmaß an des-truktiver, lautstarker Störtechnik erschien selbst dem an amerikanischen Provinzparlamenten geschulten Autor als befremdlich, er fürchtete bereits, dass es wie in seiner Heimat zu Messerstechereien oder chussattentaten kommen würde.
Wie gut, dass es den ominösen "§ 14" gab, der die Regierung zu Notverordnungen ermächtigte und Cisleithanien steuerbar machte, wie Twain erkannte. Leider hat im Buch niemand das Problem des Missbrauchs dieser Verfassungsnorm behandelt. Wichtig aber erscheint, dass Twain auch den Antisemitismus im politischen Diskurs erkannte, den nicht nur der rotgesichtige Schönerer und der elegante Lueger verbreiteten.
Mark Twain versuchte in einem Aufsatz, die Wurzeln dieses Phänomens zu erforschen, blieb aber laut Matthias Falter und Politologin Saskia Stachowitsch mit seinem Artikel über die Juden der Donaumonarchie an der Oberfläche. Er vernachlässigte auch den politischen Widerstand, der sich im Reichsrat gegen die Verbalinjurien regte - und der mit der zionistischen Bewegung erstarkte. Aber niemand wird Twain das feine Sensorium absprechen, das ihn befähigte, den Sollbruchstellen in einem Staatsgebilde nachzuspüren, das paradoxer Weise nur mehr durch seine Uneinigkeit zusammengehalten wurde.
Bibliophiles Werk
Äußerlich überzeugt das Werk mit hervorragend reproduzierten, historischen Schwarzweißaufnahmen, Karikaturen und Zeichnungen des Reichrats sowie parlamentarischer Szenen im Haus am damaligen Franzens- und heutigen Renner-Ring. Einmal mehr muss man feststellen, dass dieser Ringabschnitt durch Umbauten und übermäßigen Einsatz von Beton nicht schöner geworden, dass aber dem Hansen-Bau wenigstens eine Verschandelung erspart geblieben ist.
Auch innen war es einst viel gemütlicher als heute, etwa im Restaurantbereich, dessen Tische liebevoll aufgedeckt wurden, während vor dem Exodus dieses Jahrs nur ein hurtiges Kommen und Gehen in der Kantine herrschte. Auch der wunderschöne historische Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses, der bei Führungen gerne gezeigt wird (derzeit finden wegen der Renovierung leider keine Führungen im Parlament statt), kommt fotografisch zur Geltung. Kaum vorstellbar, dass dort einst Toma G. Masaryk, Karl Renner und der stets kritische Josef Redlich einander die Klinke in die Hand gaben.
Der Residenz Verlag hat dem bibliophilen Werk, dessen Vorwort die bis 9. 11. 2017 amtierende Erste Nationalratspräsidentin Doris Bures zeichnete, zwei CDs beigegeben, die der Mime Hermann Beil wohlklingend und eindringlich nach eigenständiger Bearbeitung besprochen hat. Somit erhebt das fundierte Sammelwerk auch den Anspruch, ein Hörbuch zu beinhalten - eine amüsante Ergänzung des Printmediums!
Sinnvoll und weiterführend ist auch der Abdruck der Originaltexte Twains, deren Aufspüren der Parlaments-Bibliothekarin und Anglistin Elisabeth Dietrich-Schulz, und deren gelungene Übersetzung Jacqueline Csuss und Werner Richter zu verdanken ist; zwar sind sie im fahlen Grauton gesetzt und solcherart erschwert lesbar, aber diese Technik vermittelt eindrucksvoll das Paradoxon, dass historische Texte äußerlich verblassen, ohne aber inhaltlich an Farbe und Gehalt zu verlieren.
Information
Mark Twain: Reportagen aus dem Reichsrat 1898/99
Hrsg. Parlamentsdirektion. Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss und Werner Richter; mit 2 CDs, gesprochen von Hermann Beil.
Residenz Verlag, Wien 2017
172 Seiten
25,- Euro
"Es gibt einen Sinn für moralisches und einen Sinn für unmoralisches Verhalten. Ersterer lehrt uns, wie die Moral zu umgehen ist und zweiterer lehrt uns, die Unmoral zu genießen." - Diesen Aphorismus widmete Mark Twain einem österreichischen Bekannten, nachdem er sich in die Reichshaupt- und Residenzstadt der Habsburger, ins Wien des Fin de siècle, begeben hatte. Die Illus-trierte "Wiener Bilder" druckte die Karte am 5. Oktober 1897 mit einer "entschärften" Übersetzung ab und legte eine aktuelle Aufnahme des bereits bekannten, aus Missouri in den USA stammenden Autors vor.
Mark Twain war am 30. November 1835 unter dem Namen Samuel Langhorne Clemens in einem nur hundert Köpfe zählenden Dorf zur Welt gekommen, das zu Unrecht den großspurigen Namen des Bundesstaates "Florida" trug und in einem Bezirk namens Monroe County lag. Alsbald zog die Familie nach Hannibal weiter, von wo aus der junge Samuel zum Mississippi pilgerte.
Der Lotse Twain
Am mächtigen Fluss angekommen, beobachtete er schon als Kind die Lotsen mit ihren Senkbleis, welche die schiffbaren Rinnen ausloteten, später sollte er selbst als Lotse die Strecke St. Louis-New Orleans befahren. Während der Umladungen hatte der Leichtmatrose frei und studierte die illustren Menschen auf ihren Reisen. Als metaphorisch erwies sich diese Tätigkeit für den Autor, der ein Analytiker und Meister der Reportage wurde. Statt Flussrinnen bewertete er nun das menschliche Verhalten und lotete dessen moralische Tiefe aus, weshalb er auch den altenglischen Begriff für die notwendige Distanz zum Grund, welche die Lotsen laut ausriefen ("Zwei Faden!" = "mark twain!") als Pseudonym wählte.
Solches berichtet Andreas Pittler in seinem gelungenen, essayistisch-biografischen Beitrag in dem soeben erschienen Sammelwerk über Twains Reichsrats-Reportagen 1898/99. Der Leser erfährt auch, welche hohe Wertschätzung Ernest Hemingway und der irischstämmige Sozialist George B. Shaw dem publizistischen Vorgänger entgegenbrachten.
Im Reigen der Autoren, welche erfolgreich in Twains Fußstapfen traten, wären Sherwood Anderson ("Winesburg, Ohio"), John Steinbeck ("Of Mice and Men") sowie Truman Capote ("In Cold Blood") eine Erwähnung wert gewesen. Doch im gegebenen Kontext geht es mehr um eine Einstimmung in Twains Berichte über die Ereignisse im Wiener Parlament und über die leidigen Nationalitätenkonflikte in der Donaumonarchie, nicht so sehr um die literaturhistorische Einordnung des Autors. Gewiss hat Pittler recht, wenn er moniert, dass der umfassend begabte Twain hierzulande in die Kinder- und Jugendbuchabteilung "abgeschoben" wurde.
Twains Aufenthalt in Wien von 1897 bis 1899 wäre schon länger einer umfassenden Darstellung würdig gewesen, fielen doch in diese Jahre nicht nur brutale, von Nationalitätenhass gekennzeichnete Debatten im Reichsrat, sondern auch die fürchterlichen Ereignisse vom Genfer See, wo der Anarchist Luccheni ("Ich bereue nichts!") die auf Solopfaden wandelnde Kaisersgattin Elisabeth ermordet hatte. Twain eilte behende von seinem Sommerwohnsitz in Kaltenleutgeben zum pompösen Begräbnis, das einen weiteren familiären Schlag für den 68-jährigen Kaiser bedeutete, der schon Sohn Rudolf und Bruder Maximilian auf gewaltsame Weise verloren hatte.
Warum aber reiste ein amerikanischer Provinzschriftsteller, der es mit authentischen Schilderungen des Midwest und schlüpfrigen Reportagen zu Ruhm, aber nicht zu Geld gebracht hatte, ausgerechnet nach Wien? Hier konnte man bekanntlich nichts über angewandte Demokratie, wohl aber einiges über Intrige, Mehrdeutigkeit und Hinterhältigkeit lernen. Nicht ohne Grund sagt ein altes Bonmot, dass der Wiener "aus Schleim gemeißelt" sei.
Vermutlich hätte sich Twain dieses illustre Szenario erspart, wäre er nicht finanziell unter Druck gestanden, nachdem er mit einer neu erfundenen Setzmaschine seinen Verlag auf Grund hatte laufen lassen. Und so hielt sich Twain nach seinem Privatkonkurs ab 1894 ein gutes Jahrzehnt in Europa auf, wo er zahlreiche Beiträge verfasste und die politischen wie kulturellen Eigenheiten der Alten Welt studierte und analysierte.
Dieser Blick von außen eröffnet ungewöhnliche und wichtige Einblicke in das fragile parlamentarische System Cisleithaniens, also der "österreichischen" Reichshälfte der k.u.k. Monarchie. Zunächst entpuppte sich der Autor als Nicht-Wissender, der mit der den Amerikanern eignenden Unbefangenheit und dem Forschergeist einer vorurteilsfreien Betrachtungsweise an die Arbeit ging.
Nationalitätenkonflikte
Überrascht stellte Twain fest, dass es in der Volksvertretung des Parlaments, dem Abgeordnetenhaus des k.k. Reichsrates, keine Ungarn gab, aber seit den Staatsgrundgesetzen aus 1867 war dieses Faktum hierzulande wohl bekannt. Aber auch die Spannungen unter den zwölf Nationen, welche im Reichsrat vertreten waren, hatten es in sich, wie Twain bald erkannte.
Es begab sich, dass der Gast in der heiklen Phase der alle zehn Jahre fälligen Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn in Wien weilte, denn seit 1867 musste bis zum Ende der Monarchie fünfmal hintereinander (1877, 1887, 1897, 1907, 1917) ein neuer budgetärer und die Zolltarife regelnder Vertrag ausgehandelt und in den beiden Parlamenten der Doppelmonarchie beschlossen werden, ehe der Zerfall des Reichs diese konfliktträchtigen Phasen beendete.
Heute sind die Ausgleichfragen mit Ungarn durch die Hintertür im Rahmen der EU-Beitragszahlungen und der Anwendung eines Sanktionsmechanismus wegen unbotmäßig-autoritärer Politik wieder, zumindest auf Brüsseler Ebene, auf das Tapet gelangt. Auch heute geht es im Parlament nicht immer vornehm zu.
Vor 120 Jahren griff man zu bedeutend drastischeren Mitteln der Obstruktion, es erklangen Ratschen und Tschinellen, die hölzernen Klapp-Pulte dienten als Schlagwerk, der Abgeordnete Wolf schrie lauthals den Börsebericht ins Plenum, während Lueger sprach und der Abgeordenete Pattai drohte Schönerer mit Ohrfeigen, obwohl jener viel athletischer war als er selbst. Mark Twain verfolgte einige Sitzungen des Abgeordnetenhauses, bei denen er das Wort "kurios" für die Sitten der Österreicher als angemessen erachtete, was der Höflichkeit gegenüber seinen Gastgebern geschuldet war, die sich im politischen Konflikt höchst unfein gebärdeten.
Heute fehlt es zwar weder an der Kernkompetenz für "dirty campaigning" noch an der Kurzlebigkeit politischer "Sager", aber in Sachen Obstruktionsvermeidung hat der Nationalrat Fortschritte gemacht. Christoph Konraths Beitrag über dieses Thema in historisch-politischer Betrachtung zeigt den intimen Kenner des Parlaments und seiner Mechanismen.
Störtechnik
Ihm gelingt einer der wertvollsten Beiträge dieses Werks, indem er sich an das Zentrum der Twainschen Beobachtungen heranwagt. Ein derartiges Ausmaß an des-truktiver, lautstarker Störtechnik erschien selbst dem an amerikanischen Provinzparlamenten geschulten Autor als befremdlich, er fürchtete bereits, dass es wie in seiner Heimat zu Messerstechereien oder chussattentaten kommen würde.
Wie gut, dass es den ominösen "§ 14" gab, der die Regierung zu Notverordnungen ermächtigte und Cisleithanien steuerbar machte, wie Twain erkannte. Leider hat im Buch niemand das Problem des Missbrauchs dieser Verfassungsnorm behandelt. Wichtig aber erscheint, dass Twain auch den Antisemitismus im politischen Diskurs erkannte, den nicht nur der rotgesichtige Schönerer und der elegante Lueger verbreiteten.
Mark Twain versuchte in einem Aufsatz, die Wurzeln dieses Phänomens zu erforschen, blieb aber laut Matthias Falter und Politologin Saskia Stachowitsch mit seinem Artikel über die Juden der Donaumonarchie an der Oberfläche. Er vernachlässigte auch den politischen Widerstand, der sich im Reichsrat gegen die Verbalinjurien regte - und der mit der zionistischen Bewegung erstarkte. Aber niemand wird Twain das feine Sensorium absprechen, das ihn befähigte, den Sollbruchstellen in einem Staatsgebilde nachzuspüren, das paradoxer Weise nur mehr durch seine Uneinigkeit zusammengehalten wurde.
Bibliophiles Werk
Äußerlich überzeugt das Werk mit hervorragend reproduzierten, historischen Schwarzweißaufnahmen, Karikaturen und Zeichnungen des Reichrats sowie parlamentarischer Szenen im Haus am damaligen Franzens- und heutigen Renner-Ring. Einmal mehr muss man feststellen, dass dieser Ringabschnitt durch Umbauten und übermäßigen Einsatz von Beton nicht schöner geworden, dass aber dem Hansen-Bau wenigstens eine Verschandelung erspart geblieben ist.
Auch innen war es einst viel gemütlicher als heute, etwa im Restaurantbereich, dessen Tische liebevoll aufgedeckt wurden, während vor dem Exodus dieses Jahrs nur ein hurtiges Kommen und Gehen in der Kantine herrschte. Auch der wunderschöne historische Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses, der bei Führungen gerne gezeigt wird (derzeit finden wegen der Renovierung leider keine Führungen im Parlament statt), kommt fotografisch zur Geltung. Kaum vorstellbar, dass dort einst Toma G. Masaryk, Karl Renner und der stets kritische Josef Redlich einander die Klinke in die Hand gaben.
Der Residenz Verlag hat dem bibliophilen Werk, dessen Vorwort die bis 9. 11. 2017 amtierende Erste Nationalratspräsidentin Doris Bures zeichnete, zwei CDs beigegeben, die der Mime Hermann Beil wohlklingend und eindringlich nach eigenständiger Bearbeitung besprochen hat. Somit erhebt das fundierte Sammelwerk auch den Anspruch, ein Hörbuch zu beinhalten - eine amüsante Ergänzung des Printmediums!
Sinnvoll und weiterführend ist auch der Abdruck der Originaltexte Twains, deren Aufspüren der Parlaments-Bibliothekarin und Anglistin Elisabeth Dietrich-Schulz, und deren gelungene Übersetzung Jacqueline Csuss und Werner Richter zu verdanken ist; zwar sind sie im fahlen Grauton gesetzt und solcherart erschwert lesbar, aber diese Technik vermittelt eindrucksvoll das Paradoxon, dass historische Texte äußerlich verblassen, ohne aber inhaltlich an Farbe und Gehalt zu verlieren.
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Mark Twain: Reportagen aus dem Reichsrat 1898/99
Hrsg. Parlamentsdirektion. Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss und Werner Richter; mit 2 CDs, gesprochen von Hermann Beil.
Residenz Verlag, Wien 2017
172 Seiten
25,- Euro
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Gerhard Strejcek
Interkontinental
Wiener Zeitung, 15.10.2017
Oud-Spieler Anouar Brahem und sein neues Album mit hochkarätiger Besetzung
Der geniale Oud-Spieler Anouar Brahem begegnet uns auf seinem neuen Tonträger mit hochkarätiger Besetzung: Dave Holland am Bass, Jack DeJohnette am Schlagzeug und Django Bates am Piano - da kann eigentlich nichts schief gehen. Holland, der am 1. Oktober 71 Jahre alt wurde und zuletzt auf dem Album "Aziza" unter anderem mit dem Saxofonisten Chris Potter kooperierte, wird mit Brahem und Quartett 2018 auf Tour gehen.
"Blue Maqams" spricht nicht nur World-Music-Fans an, sondern überzeugt auch mit swingenden und sanft dahingleitenden Jazz-Passagen. Dazu tragen die klassisch inspirierten Pianoklänge von Bates und die sanfte Schlagzeugbedienung von DeJohnette das Ihre bei. Die Titelkomposition (ein Maqam ist wörtlich ein "Standort", hier gemeint als musikalischer Modus in arabischen Tonarten) findet sich als dritter Track auf einem abgerundetem Album, das auf zwei Kontinenten entstand, einen dritten musikalisch zitiert und 77 Minuten Hörvergnügen bietet.
Information
Anouar Brahem
Blue Maqams
(ECM/Lotus)
Der geniale Oud-Spieler Anouar Brahem begegnet uns auf seinem neuen Tonträger mit hochkarätiger Besetzung: Dave Holland am Bass, Jack DeJohnette am Schlagzeug und Django Bates am Piano - da kann eigentlich nichts schief gehen. Holland, der am 1. Oktober 71 Jahre alt wurde und zuletzt auf dem Album "Aziza" unter anderem mit dem Saxofonisten Chris Potter kooperierte, wird mit Brahem und Quartett 2018 auf Tour gehen.
"Blue Maqams" spricht nicht nur World-Music-Fans an, sondern überzeugt auch mit swingenden und sanft dahingleitenden Jazz-Passagen. Dazu tragen die klassisch inspirierten Pianoklänge von Bates und die sanfte Schlagzeugbedienung von DeJohnette das Ihre bei. Die Titelkomposition (ein Maqam ist wörtlich ein "Standort", hier gemeint als musikalischer Modus in arabischen Tonarten) findet sich als dritter Track auf einem abgerundetem Album, das auf zwei Kontinenten entstand, einen dritten musikalisch zitiert und 77 Minuten Hörvergnügen bietet.
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Anouar Brahem
Blue Maqams
(ECM/Lotus)
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Gerhard Strejcek
Zwischen Politik, Ehre und Revanche
Die Presse, 14.10.2017
Martin Bolz verbindet die zeitlose Moral von Märchen mit seiner Kindheitsbiografie.
Der Philosoph und evangelische Theologe Martin Bolz schreibt in seinem Buch „Helden – Anno Domini 1950 und später“ über Heldensagen, das Märchenerzählen und Bildungsvorurteile und verpackt all dies in eine Kindheitsbiografie. Der zweifach promovierte Autor war lange Jahre religionspädagogisch tätig, er wirkte an der heutigen Pädagogischen Hochschule in Wien und als Fachinspektor. Noch heute engagiert er sich in der Krankenhilfe und im Spitalsdienst.
Bolz betont zu Recht, dass Märchen Weisheiten und eine zeitabhängige "Moral" enthalten, die obsolet erscheinen kann und dennoch die Zeitläufe überdauert. Die Beobachtung, dass Märchen viel mehr bedeuten und "können", als gemeinhin angenommen, erinnert an ein Lieblingsbild des Volkswirtschaftsprofessors Erich Streissler, der in seinen Vorlesungen das von den Brüdern Grimm tradierte Märchen "Hans im Glück" als Paradigma der Nationalökonomie und Tauschwirtschaft bezeichnete. Für Bolz steht aber weniger die sozioökonomische Metabedeutung im Vordergrund als der Aspekt, dass Märchen die Fantasie der Kinder anregen, mögen sie auch gewaltsame Stereotypen enthalten. Märchenerzählen hat daher heute noch Hochkonjunktur, auch in Schulen.
Der Autor hinterfragt die Inhalte von Schulbüchern und deren Relevanz für die Bildung. Im Weiteren nimmt sich Bolz die Taten der "Helden" vor. Die nordischen Exemplare scheinen heute oft wie skurrile Gestalten, die auf Opernbühnen agieren oder in esoterischen Kreisen weiterleben. Dabei lohnt es sich, das Nibelungenlied und andere Dichtungen zur Hand zu nehmen. Rasch liest man sich in den schönen Sprachduktus ein und erkennt, dass die blutrünstigen Helden oft nur "guote Minne" im Sinn hatten und in banale Zwangssituationen zwischen Politik, Ehre und Revanche gerieten.
Kastanienmännchen bauen
Als Rahmenhandlung des vielschichtigen Werks kommt die Biografie eines Kindes um 1950 zur Sprache, das einen exotischen Namen (Mauritius) verpasst erhielt, sich aber lieber "Fredi" nennt. Hier zeichnet der Autor das Schicksal von Nachkommen bildungsbeflissener Eltern nach. Entgegen der väterlichen Anordnung, Kastanienmännchen zu basteln, spielt das Kind lieber mit diesen, ehe die fragilen Zündholzverbindungen zu Bruch gehen - eine Metaphorik, die auf die Psyche weist.
Fredi wird zum Schweiger, er ist ein Kind auf dem Rückzug. In der Ära der in Wiesbaden erlebten Kindheit des Autors dominieren die Erwachsenen. Der bildungshungrige Vater gibt gerne sein Wissen zum Besten, aber sein Bildungshorizont ist inaktuell. Vor allem Bücher, die man antiquarisch erwirbt, haben ihren Reiz, geben indes oft den Bildungsstand vergangener Generationen wieder. Auf diese Weise eckt auch der Belesene an, wenn er mit moderner Terminologie oder Forschungsergebnissen nicht vertraut ist.
Bolz räumt mit Bildungsvorurteilen auf, erklärt Zugänge zu Wissen und Methodik in einem beschwingten und unprätentiösen Schreibstil, der das Lesen vergnüglich macht. Zahlreiche Naturaufnahmen illustrieren und beleben den gelungenen Text. Das Werk ist solid gebunden, es erfüllt auch bibliophile Ansprüche bei einem moderaten Preis.
Literatur
Martin Bolz: Helden - Anno Domini 1950 und später
Wahrhafte Begebenheiten inmitten des Bilderbuchs der Gefühle.
Edition Noack & Block, Berlin
116 Seiten
19,80 Euro.
Der Philosoph und evangelische Theologe Martin Bolz schreibt in seinem Buch „Helden – Anno Domini 1950 und später“ über Heldensagen, das Märchenerzählen und Bildungsvorurteile und verpackt all dies in eine Kindheitsbiografie. Der zweifach promovierte Autor war lange Jahre religionspädagogisch tätig, er wirkte an der heutigen Pädagogischen Hochschule in Wien und als Fachinspektor. Noch heute engagiert er sich in der Krankenhilfe und im Spitalsdienst.
Bolz betont zu Recht, dass Märchen Weisheiten und eine zeitabhängige "Moral" enthalten, die obsolet erscheinen kann und dennoch die Zeitläufe überdauert. Die Beobachtung, dass Märchen viel mehr bedeuten und "können", als gemeinhin angenommen, erinnert an ein Lieblingsbild des Volkswirtschaftsprofessors Erich Streissler, der in seinen Vorlesungen das von den Brüdern Grimm tradierte Märchen "Hans im Glück" als Paradigma der Nationalökonomie und Tauschwirtschaft bezeichnete. Für Bolz steht aber weniger die sozioökonomische Metabedeutung im Vordergrund als der Aspekt, dass Märchen die Fantasie der Kinder anregen, mögen sie auch gewaltsame Stereotypen enthalten. Märchenerzählen hat daher heute noch Hochkonjunktur, auch in Schulen.
Der Autor hinterfragt die Inhalte von Schulbüchern und deren Relevanz für die Bildung. Im Weiteren nimmt sich Bolz die Taten der "Helden" vor. Die nordischen Exemplare scheinen heute oft wie skurrile Gestalten, die auf Opernbühnen agieren oder in esoterischen Kreisen weiterleben. Dabei lohnt es sich, das Nibelungenlied und andere Dichtungen zur Hand zu nehmen. Rasch liest man sich in den schönen Sprachduktus ein und erkennt, dass die blutrünstigen Helden oft nur "guote Minne" im Sinn hatten und in banale Zwangssituationen zwischen Politik, Ehre und Revanche gerieten.
Kastanienmännchen bauen
Als Rahmenhandlung des vielschichtigen Werks kommt die Biografie eines Kindes um 1950 zur Sprache, das einen exotischen Namen (Mauritius) verpasst erhielt, sich aber lieber "Fredi" nennt. Hier zeichnet der Autor das Schicksal von Nachkommen bildungsbeflissener Eltern nach. Entgegen der väterlichen Anordnung, Kastanienmännchen zu basteln, spielt das Kind lieber mit diesen, ehe die fragilen Zündholzverbindungen zu Bruch gehen - eine Metaphorik, die auf die Psyche weist.
Fredi wird zum Schweiger, er ist ein Kind auf dem Rückzug. In der Ära der in Wiesbaden erlebten Kindheit des Autors dominieren die Erwachsenen. Der bildungshungrige Vater gibt gerne sein Wissen zum Besten, aber sein Bildungshorizont ist inaktuell. Vor allem Bücher, die man antiquarisch erwirbt, haben ihren Reiz, geben indes oft den Bildungsstand vergangener Generationen wieder. Auf diese Weise eckt auch der Belesene an, wenn er mit moderner Terminologie oder Forschungsergebnissen nicht vertraut ist.
Bolz räumt mit Bildungsvorurteilen auf, erklärt Zugänge zu Wissen und Methodik in einem beschwingten und unprätentiösen Schreibstil, der das Lesen vergnüglich macht. Zahlreiche Naturaufnahmen illustrieren und beleben den gelungenen Text. Das Werk ist solid gebunden, es erfüllt auch bibliophile Ansprüche bei einem moderaten Preis.
Literatur
Martin Bolz: Helden - Anno Domini 1950 und später
Wahrhafte Begebenheiten inmitten des Bilderbuchs der Gefühle.
Edition Noack & Block, Berlin
116 Seiten
19,80 Euro.
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Gerhard Strejcek
Totenstille in ländlicher Idylle
Wiener Zeitung, 23.09.2017
Der slowenischsprachige Kärntner Autor Florjan Lipus legt mit "Seelenruhig" eine
poetische Lebensgeschichte vor, in der beredtes Schweigen eine Hauptrolle spielt.
Für den jungen Florjan gab es im slowenischen Dorf auf Unterkärntner Boden einige traumatische Erlebnisse. Als ihn der Vater zur Firmung anmeldete, gab er zum Entsetzen des Sohns dem Pfarrer gegenüber an, dass sein Nachkomme oft ungehorsam sei. Gerne hätte der gereifte Autor den Vater deshalb eines Tages zur Rede gestellt, aber dazu kam es nie. Zur Firmung gab es keine Uhr, wie er erhofft hatte, sondern nur einen Sack mit Süßigkeiten, und schließlich verpasste ihm der Vater beim örtlichen Schneider dreiviertellange Hosen aus Barchent, die unpraktisch und peinlich für einen Teenager waren.
Eines Tages machte sich der Internatsschüler in die Fremde auf, aber diese zeigte ihre Zähne, und der Hunger wurde zum Thema. Während zu Hause das Brot in der Brotlade nur darauf wartete, angeschnitten zu werden, konnte er es in der Stadt lediglich riechen, aber nicht bezahlen. Der vom Hunger geplagte Student wirkte als Volksschullehrer, anstatt die theologische Laufbahn zu ergreifen, wie es seine Lehrer wollten.
Das ödipale Trauma des Autors, der vor allem unter dem familiären Nicht-Kommunizieren litt, hatte tiefe Wurzeln. Der Vater verhielt sich stets schweigsam bei der Arbeit, durch überflüssiges Reden konnte das Ziel der Mahd oder der Holztrift vereitelt werden, so seine Befürchtung; der Vater beschränkte sich auf kurze Kommandos an die Forstarbeiter, er stand meist abseits, etwa im Schutz und Schatten eines massiven Baums, als die abgeholzten Stämme die Rutsche passierten und nahe vom elterlichen Bauernhof ins Tal donnerten. Wenn man ihn ansprach, reagierte der Alte, abgesehen von seltenen und zu kurzfristigem "Smalltalk" anregenden Besuchen am Hof, unwillig und gereizt.
Solange der Vater noch beständig "Nein, nein" murmelte, war er lediglich missgelaunt, mit dem Wort "niemals" wurde es gefährlich, die Floskel "Gott behüte!" barg bereits hohes Aggressionspotenzial, es drohten Schläge. Zu Lebzeiten gelang es Florjan daher nie, in einen Diskurs oder wenigstens in ein oberflächliches Gespräch mit dem Vater zu kommen, um dessen Gefühle zu erkunden. Erst am Grabhügel machte er seinen Frieden mit ihm, alles ging wie von allein, plötzlich konnte er zwanglos mit dem Geist des Vaters kommunizieren.
KZ-Tod der Mutter
Viel hätte es zu Lebzeiten im Dorf nahe von Eisenkappel zu besprechen gegeben, vor dem die Grausamkeiten der NS-Ära nicht Halt machten. Der Vater wurde zwangsweise zur Deutschen Wehrmacht eingezogen und diente 1940 in Norwegen, dann in Russland, während im Heimatdorf die Mutter in eine ekelhafte Falle der Gestapo ging. Im Jahr 1944 bewirtete sie als Partisanen verkleidete "agents provocateurs" der Geheimpolizei und wurde daraufhin verhaftet, vom Brottrog weg deportiert, später im KZ Ravensbrück ermordet.
Schon in früheren Werken wie "Botjans Fall" hatte der Autor sich mit der verstörendsten Episode in seiner Biografie befasst. Dort stand die Szene im Vordergrund, dass die Mutter den Teig noch geknetet, das Brot aber nicht mehr geformt hatte, als sie die Nazi-Schergen abholten und den kleinen Sohn in der Obhut der weinenden Großmutter zurückließen. Lipu macht sich Gedanken darüber, ob die im Viehwaggon eingepferchte Mutter in ihrem Deportations- und Todeszug womöglich dem Soldatenzug des Vaters begegnet sein konnte, als dieser vom Norden quer durch Europa an die russische Front oder von dort zu einem Heimaturlaub fuhr. Ahnten die Soldaten, wer aller in diesen Viehwaggons litt, wie die Menschen darin lebendig begraben lagen und dehydrierten? Niemand konnte wissen, dass es womöglich die eigene Lebenspartnerin war, deren Zug nächtens am Nachbargleis vorbeirollte, um erst im KZ wieder Halt zu machen.
Gerne hätte Lipus etwas über die Emotionen des Vaters erfahren, der nach dem Krieg allein den Hof bewirtschaftete, aber der Vater schwieg, um zu seiner Arbeitsruhe und zu seinem Seelenfrieden zu finden.
Das einsame Kind
Obwohl nominell noch ein Elternteil existierte, wuchs Florjan de facto als Vollwaise auf. Die Mutter kam dem traumatisierten Sohn im Alter von sieben Jahren abhanden, der schweigsame Vater existierte nur als gut geölte, leise laufende Arbeitsmaschine, welche die Familie versorgte und im Ruhestand rasch materiell abbaute. Als der Vater starb, besaß er nicht einmal mehr ein Paar Schuhe außer den Pantoffeln, so Lipu, der darin auch eine Art Optimierung des Sterbens sieht, wenn man die Erde solcherart besitzlos verlässt - ausgenommen und ausgenützt von den anderen, aber nicht als raffgieriger Nehmer.
Wie für andere begabte Landkinder bestand die einzige Aufstiegschance im Hort der katholischen Kirche und ihren zweifelhaften Internats-Segnungen. Der Autor, der eigentlich keiner sein will, weil er nach Abschluss eines Meisterwerks kein weiteres mehr plant, hat über seine Gymnasiallehrer nie ein schlechtes Wort verloren; die Leiden des Internatszöglings aber treten zwischen den Zeilen zutage: er beschreibt die flatterhaften Gefühle der Schüler, wenn auch nicht so explizit, wie es Musil in seinem "Törleß" tat.
Doch Lipu mit seiner großen Einfühlungsgabe versetzt sich auch noch als Erwachsener und als gereifter Autor in die bunte Schar hinein, die nicht freiwillig im Kirchenchor sitzt, und er beschreibt auch die abgehärteten Dörfler, die sich unter der Empore drängen und heimlich die "Feige", eine obszöne Geste, in der Hosentasche markieren. Unweit des Beichtstuhls bekommen die Bauern mit, wenn außerhalb des ohnehin Bekannten, im Dorf Ruchbaren, jemand eine außergewöhnliche Sünde beichten muss und sich noch im letzten Moment der Monstrosität dieses gleich zu beichtenden Fehltritts bewusst wird. Denn der Beichtvater langweilt sich bei den lässlichen Kindersünden, die für ihn keine theologische Herausforderung darstellen, er brennt auf außergewöhnliche, extreme Sünden.
Aus dieser Schilderung, wie auch aus der bemerkenswerten Beobachtung, welchen emotionalen Wandel die Schwelle einer Kirche bei den sie überschreitenden Dorfbewohnern bewirkt, wird die Skepsis des Autors gegenüber dem Brimborium der Kirche offenbar. Mehr als einmal dringt Kritik an der Lustfeindlichkeit des dörflichen Katholizismus an.
Feinsinnige Ironie
Humor spielt eine große Rolle im Leben und im Schreiben des ausschließlich auf Slowenisch publizierenden Autors. Er beherrscht die feinsinnigste Form ironischer Darstellung. Mitunter zieht er eine Alltagsszene ins Groteske, etwa wenn ein Fremder das Wirtshaus betritt und in die Gruß-Falle der versammelten Stammgäste gerät.
Auch die Wahl des Titels dieses Romans beweist Fingerspitzengefühl. Im Original lautete dieser "Mirne due", eine Wortfolge, die Raum für mehrere Deutungen gibt, wie der 2016 verstorbene Literaturwissenschafter Fabjan Hafner im Nachwort erklärt. Zwischen friedlichem Dahindämmern, beschaulichem Wirken, "Seelenruhe" und "ruhige Seele", was ja Totenstille impliziert, liegt hier viel Raum, den der Autor mit seiner poetischen Formulierungsgabe füllt.
Florjan Lipu schildert auch auf sensible Art die Altersliebe und ebenso die ersten Anwandlungen der juvenilen Sexualität im Dorf. Da gab es eine Taglöhnerin, die beim gemeinsamen Mahl gegenüber von ihm saß, die Beine unter dem Kittel überschlagend.
Der leicht entflammbare Jugendliche bewahrte sich dieses Bild, vertiefte sich in das Auslöffeln der Sauermilch und wollte sich die süße Empfindung nicht mehr von der neugierigen Außenwelt stehlen lassen. Denn wie Lipu sehr treffend bemerkt, geben viele Menschen ihren Hass in Unterhaltungen preis, halten ihre schlechten Gefühle feil, doch sie schämen sich ihres persönlichen Unglücks und gönnen niemandem, schon gar nicht einem jungen Bauernbub, die zarten Anwandlungen jugendlicher Zuneigung.
Behütete Liebe
Für diese zerbrechliche junge Liebe, die noch keine Erfüllung fand, steht die Taglöhnerin bei der Heumahd, in der symbolhaften Schilderung des Autors einer biblischen Figur nicht unähnlich.
Noch prägender aber war das Mädchen mit den langen Wangen, das er am Kirchenrain sah. Diese langwangige, kompakte Schönheit ehelichte er - und lebt mit ihr bis heute in einer liebevollen Beziehung, deren Kontinuität trotz körperlicher Gebrechen in der Erzählung anklingt. "Schreib’ ein paar schöne Sätze", sagt seine Frau zu ihm des Morgens, statt ihm einen guten Tag zu wünschen. Welch liebevolle Art, einem Schriftsteller gegenüber motivierende Worte zu finden, der seit geraumer Zeit um ein und dieselbe Materie kreist, die er in immer raffinierterer Form verdichtet. Hier ist auch kein Raum für Eifersucht auf frühere Beziehungen oder Wünsche. In seiner Vorstellung verband sich die Gattin mit der Taglöhnerin, die bald wieder gegangen, aber lange in seinem Gedächtnis verblieben war.
Die Zuneigung zueinander ist ein vor der Außenwelt gut zu behütendes Geheimnis, erkennt Lipus und betont, dass ihm dies bis heute wichtig ist. Der Autor hat mehrere Kinder, die alle interessanten Professionen nachgehen, Sohn Marko ist Fotograf, spezialisiert auf Dichterporträts, eine Tochter ist Lyrikerin, Sohn Gabriel Tonkünstler, ein weiterer Sohn Ökonom in London.
Der Verlag Jung und Jung hat die einfühlsam erzählte Lebensgeschichte in eine adäquate und haptisch angenehme Form gebracht. Sowohl der Übersetzer Johann Strutz als auch Fabjan Hafner, der das Nachwort verfasst hat, geben dem Werk zusätzlich Salz und verleihen der Biografie des Autors Gehalt. Warum man in der alten Rechtschreibung verharrt, wird zwar seine Gründe haben, aber die besseren sprechen für die neue, auch Schülern nutzbringende Version. Denn Lipus schreibt, um Peter Handke zu zitieren, nicht nur poetisch, sondern er verfasst rund um das kleine Dorf und sein bewegtes Leben nichts weniger als Weltliteratur.
Literatur
Florjan Lipus: Seelenruhig
Erzählung.
Übersetzt von Johann Strutz, Nachwort von Fabjan Hafner.
Jung und Jung, Salzburg/Wien 2017
111 Seiten
18,- Euro.
Für den jungen Florjan gab es im slowenischen Dorf auf Unterkärntner Boden einige traumatische Erlebnisse. Als ihn der Vater zur Firmung anmeldete, gab er zum Entsetzen des Sohns dem Pfarrer gegenüber an, dass sein Nachkomme oft ungehorsam sei. Gerne hätte der gereifte Autor den Vater deshalb eines Tages zur Rede gestellt, aber dazu kam es nie. Zur Firmung gab es keine Uhr, wie er erhofft hatte, sondern nur einen Sack mit Süßigkeiten, und schließlich verpasste ihm der Vater beim örtlichen Schneider dreiviertellange Hosen aus Barchent, die unpraktisch und peinlich für einen Teenager waren.
Eines Tages machte sich der Internatsschüler in die Fremde auf, aber diese zeigte ihre Zähne, und der Hunger wurde zum Thema. Während zu Hause das Brot in der Brotlade nur darauf wartete, angeschnitten zu werden, konnte er es in der Stadt lediglich riechen, aber nicht bezahlen. Der vom Hunger geplagte Student wirkte als Volksschullehrer, anstatt die theologische Laufbahn zu ergreifen, wie es seine Lehrer wollten.
Das ödipale Trauma des Autors, der vor allem unter dem familiären Nicht-Kommunizieren litt, hatte tiefe Wurzeln. Der Vater verhielt sich stets schweigsam bei der Arbeit, durch überflüssiges Reden konnte das Ziel der Mahd oder der Holztrift vereitelt werden, so seine Befürchtung; der Vater beschränkte sich auf kurze Kommandos an die Forstarbeiter, er stand meist abseits, etwa im Schutz und Schatten eines massiven Baums, als die abgeholzten Stämme die Rutsche passierten und nahe vom elterlichen Bauernhof ins Tal donnerten. Wenn man ihn ansprach, reagierte der Alte, abgesehen von seltenen und zu kurzfristigem "Smalltalk" anregenden Besuchen am Hof, unwillig und gereizt.
Solange der Vater noch beständig "Nein, nein" murmelte, war er lediglich missgelaunt, mit dem Wort "niemals" wurde es gefährlich, die Floskel "Gott behüte!" barg bereits hohes Aggressionspotenzial, es drohten Schläge. Zu Lebzeiten gelang es Florjan daher nie, in einen Diskurs oder wenigstens in ein oberflächliches Gespräch mit dem Vater zu kommen, um dessen Gefühle zu erkunden. Erst am Grabhügel machte er seinen Frieden mit ihm, alles ging wie von allein, plötzlich konnte er zwanglos mit dem Geist des Vaters kommunizieren.
KZ-Tod der Mutter
Viel hätte es zu Lebzeiten im Dorf nahe von Eisenkappel zu besprechen gegeben, vor dem die Grausamkeiten der NS-Ära nicht Halt machten. Der Vater wurde zwangsweise zur Deutschen Wehrmacht eingezogen und diente 1940 in Norwegen, dann in Russland, während im Heimatdorf die Mutter in eine ekelhafte Falle der Gestapo ging. Im Jahr 1944 bewirtete sie als Partisanen verkleidete "agents provocateurs" der Geheimpolizei und wurde daraufhin verhaftet, vom Brottrog weg deportiert, später im KZ Ravensbrück ermordet.
Schon in früheren Werken wie "Botjans Fall" hatte der Autor sich mit der verstörendsten Episode in seiner Biografie befasst. Dort stand die Szene im Vordergrund, dass die Mutter den Teig noch geknetet, das Brot aber nicht mehr geformt hatte, als sie die Nazi-Schergen abholten und den kleinen Sohn in der Obhut der weinenden Großmutter zurückließen. Lipu macht sich Gedanken darüber, ob die im Viehwaggon eingepferchte Mutter in ihrem Deportations- und Todeszug womöglich dem Soldatenzug des Vaters begegnet sein konnte, als dieser vom Norden quer durch Europa an die russische Front oder von dort zu einem Heimaturlaub fuhr. Ahnten die Soldaten, wer aller in diesen Viehwaggons litt, wie die Menschen darin lebendig begraben lagen und dehydrierten? Niemand konnte wissen, dass es womöglich die eigene Lebenspartnerin war, deren Zug nächtens am Nachbargleis vorbeirollte, um erst im KZ wieder Halt zu machen.
Gerne hätte Lipus etwas über die Emotionen des Vaters erfahren, der nach dem Krieg allein den Hof bewirtschaftete, aber der Vater schwieg, um zu seiner Arbeitsruhe und zu seinem Seelenfrieden zu finden.
Das einsame Kind
Obwohl nominell noch ein Elternteil existierte, wuchs Florjan de facto als Vollwaise auf. Die Mutter kam dem traumatisierten Sohn im Alter von sieben Jahren abhanden, der schweigsame Vater existierte nur als gut geölte, leise laufende Arbeitsmaschine, welche die Familie versorgte und im Ruhestand rasch materiell abbaute. Als der Vater starb, besaß er nicht einmal mehr ein Paar Schuhe außer den Pantoffeln, so Lipu, der darin auch eine Art Optimierung des Sterbens sieht, wenn man die Erde solcherart besitzlos verlässt - ausgenommen und ausgenützt von den anderen, aber nicht als raffgieriger Nehmer.
Wie für andere begabte Landkinder bestand die einzige Aufstiegschance im Hort der katholischen Kirche und ihren zweifelhaften Internats-Segnungen. Der Autor, der eigentlich keiner sein will, weil er nach Abschluss eines Meisterwerks kein weiteres mehr plant, hat über seine Gymnasiallehrer nie ein schlechtes Wort verloren; die Leiden des Internatszöglings aber treten zwischen den Zeilen zutage: er beschreibt die flatterhaften Gefühle der Schüler, wenn auch nicht so explizit, wie es Musil in seinem "Törleß" tat.
Doch Lipu mit seiner großen Einfühlungsgabe versetzt sich auch noch als Erwachsener und als gereifter Autor in die bunte Schar hinein, die nicht freiwillig im Kirchenchor sitzt, und er beschreibt auch die abgehärteten Dörfler, die sich unter der Empore drängen und heimlich die "Feige", eine obszöne Geste, in der Hosentasche markieren. Unweit des Beichtstuhls bekommen die Bauern mit, wenn außerhalb des ohnehin Bekannten, im Dorf Ruchbaren, jemand eine außergewöhnliche Sünde beichten muss und sich noch im letzten Moment der Monstrosität dieses gleich zu beichtenden Fehltritts bewusst wird. Denn der Beichtvater langweilt sich bei den lässlichen Kindersünden, die für ihn keine theologische Herausforderung darstellen, er brennt auf außergewöhnliche, extreme Sünden.
Aus dieser Schilderung, wie auch aus der bemerkenswerten Beobachtung, welchen emotionalen Wandel die Schwelle einer Kirche bei den sie überschreitenden Dorfbewohnern bewirkt, wird die Skepsis des Autors gegenüber dem Brimborium der Kirche offenbar. Mehr als einmal dringt Kritik an der Lustfeindlichkeit des dörflichen Katholizismus an.
Feinsinnige Ironie
Humor spielt eine große Rolle im Leben und im Schreiben des ausschließlich auf Slowenisch publizierenden Autors. Er beherrscht die feinsinnigste Form ironischer Darstellung. Mitunter zieht er eine Alltagsszene ins Groteske, etwa wenn ein Fremder das Wirtshaus betritt und in die Gruß-Falle der versammelten Stammgäste gerät.
Auch die Wahl des Titels dieses Romans beweist Fingerspitzengefühl. Im Original lautete dieser "Mirne due", eine Wortfolge, die Raum für mehrere Deutungen gibt, wie der 2016 verstorbene Literaturwissenschafter Fabjan Hafner im Nachwort erklärt. Zwischen friedlichem Dahindämmern, beschaulichem Wirken, "Seelenruhe" und "ruhige Seele", was ja Totenstille impliziert, liegt hier viel Raum, den der Autor mit seiner poetischen Formulierungsgabe füllt.
Florjan Lipu schildert auch auf sensible Art die Altersliebe und ebenso die ersten Anwandlungen der juvenilen Sexualität im Dorf. Da gab es eine Taglöhnerin, die beim gemeinsamen Mahl gegenüber von ihm saß, die Beine unter dem Kittel überschlagend.
Der leicht entflammbare Jugendliche bewahrte sich dieses Bild, vertiefte sich in das Auslöffeln der Sauermilch und wollte sich die süße Empfindung nicht mehr von der neugierigen Außenwelt stehlen lassen. Denn wie Lipu sehr treffend bemerkt, geben viele Menschen ihren Hass in Unterhaltungen preis, halten ihre schlechten Gefühle feil, doch sie schämen sich ihres persönlichen Unglücks und gönnen niemandem, schon gar nicht einem jungen Bauernbub, die zarten Anwandlungen jugendlicher Zuneigung.
Behütete Liebe
Für diese zerbrechliche junge Liebe, die noch keine Erfüllung fand, steht die Taglöhnerin bei der Heumahd, in der symbolhaften Schilderung des Autors einer biblischen Figur nicht unähnlich.
Noch prägender aber war das Mädchen mit den langen Wangen, das er am Kirchenrain sah. Diese langwangige, kompakte Schönheit ehelichte er - und lebt mit ihr bis heute in einer liebevollen Beziehung, deren Kontinuität trotz körperlicher Gebrechen in der Erzählung anklingt. "Schreib’ ein paar schöne Sätze", sagt seine Frau zu ihm des Morgens, statt ihm einen guten Tag zu wünschen. Welch liebevolle Art, einem Schriftsteller gegenüber motivierende Worte zu finden, der seit geraumer Zeit um ein und dieselbe Materie kreist, die er in immer raffinierterer Form verdichtet. Hier ist auch kein Raum für Eifersucht auf frühere Beziehungen oder Wünsche. In seiner Vorstellung verband sich die Gattin mit der Taglöhnerin, die bald wieder gegangen, aber lange in seinem Gedächtnis verblieben war.
Die Zuneigung zueinander ist ein vor der Außenwelt gut zu behütendes Geheimnis, erkennt Lipus und betont, dass ihm dies bis heute wichtig ist. Der Autor hat mehrere Kinder, die alle interessanten Professionen nachgehen, Sohn Marko ist Fotograf, spezialisiert auf Dichterporträts, eine Tochter ist Lyrikerin, Sohn Gabriel Tonkünstler, ein weiterer Sohn Ökonom in London.
Der Verlag Jung und Jung hat die einfühlsam erzählte Lebensgeschichte in eine adäquate und haptisch angenehme Form gebracht. Sowohl der Übersetzer Johann Strutz als auch Fabjan Hafner, der das Nachwort verfasst hat, geben dem Werk zusätzlich Salz und verleihen der Biografie des Autors Gehalt. Warum man in der alten Rechtschreibung verharrt, wird zwar seine Gründe haben, aber die besseren sprechen für die neue, auch Schülern nutzbringende Version. Denn Lipus schreibt, um Peter Handke zu zitieren, nicht nur poetisch, sondern er verfasst rund um das kleine Dorf und sein bewegtes Leben nichts weniger als Weltliteratur.
Literatur
Florjan Lipus: Seelenruhig
Erzählung.
Übersetzt von Johann Strutz, Nachwort von Fabjan Hafner.
Jung und Jung, Salzburg/Wien 2017
111 Seiten
18,- Euro.
Informationen einklappen
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Gerhard Strejcek
Suggestive Volksbefragungen
Die Presse, 30.08.2017
Die Tiroler Olympia-Befragung steht im Spannungsverhältnis zur VfGH-Judikatur.
Am 15. Oktober wird österreichweit gewählt, doch in Tirol steht auch eine Volksbefragung mit folgender Formulierung an: „Soll das Land Tirol ein selbstbewusstes Angebot für nachhaltige, regional angepasste sowie wirtschaftlich und ökologisch vertretbare Olympische und Paralympische Winterspiele Innsbruck-Tirol 2026 legen?“ Abgesehen davon, dass sämtliche Landesbürger über ein Ereignis abstimmen, das wirtschaftlich nur wenige Regionen betrifft, muss sich jemand, der mit Nein stimmt, als Querulant fühlen.
Die Festlegung der konkreten Frage jeder Volksbefragung ist wie das gesamte Verfahren beim VfGH überprüfbar. Zu einer Grazer Volksbefragung hat der VfGH ausgesprochen, dass das Substrat dessen, was den Wahlberechtigten zur direktdemokratischen Entscheidung vorgelegt wird, klar und eindeutig sein muss (VfSlg 15.816/2000). Aus der Judikatur ist abzuleiten, dass die Frage verständlich sein soll und eine klare Alternative zwischen Nein und Ja enthalten muss. Daher sollte man simpel danach fragen, ob die Stimmberechtigten für die Tiroler Bewerbung zur Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Spiele 2026 sind. Alles Weitere ist entbehrlich.
Komplizierte Formulierung
Über den Anlassfall hinaus sind Unklarheiten Gift für den Erfolg plebiszitärer Elemente. Kaum jemand weiß heute noch, dass im Juni 1994 abgestimmt wurde, ob das EU-Beitritts-Bundesverfassungsgesetz Gesetzeskraft erlangen soll, mit dem die verfassungsrechtlich zuständigen Organe ermächtigt wurden, den EU-Beitrittsvertrag abzuschließen. Eine einfache Frage sieht anders aus.
Das Prozedere der Abstimmung war laut VfGH korrekt (VfSlg 13.839/1994), doch die intensive Regierungswerbung und das Fehlen an Informationen über die zehn wichtigsten Verfassungsänderungen auf einer A4-Seite in der Wahlzelle hinterließen einen schalen Nachgeschmack.
Zu den kritisierten, vom VfGH aber nicht überprüften Formulierungen gehörten auch jene von Wiener Volksbefragungen, bei denen nach der Citymaut (bei rechtlicher Unklarheit über den Citybegriff und deren räumliche Ausdehnung), nach der Einführung des Hundeführscheins (bei Unklarheit über die gefährlichen Rassen) und der Etablierung von Hausbesorgern (trotz Bundeskompetenz ohne Ingerenzmöglichkeit des Landes) gefragt wurde. Bei künftigen Befragungen muss daher auch in Wien deutlicher formuliert werden, etwa wenn es um temporäre Fahrverbote gehen sollte.
Volksbefragung in Graz
Zweifellos war die vom VfGH im Jahr 2000 beanstandete Frage die extremste. Im Zusammenhang mit dem Ausbau einer Straßenbahnlinie war die Frage der Grazer Volksbefragung mit einer doppelten Verneinung versehen und zudem missverständlich. Soll die Verlängerung der Linie X, „die in dieser Form nichts zu einer Verbesserung der Verkehrssituation beiträgt“, beschlossen werden? Natürlich nicht!
Soll sich Tirol selbstbewusst für eine Winterolympiade bewerben, die nachhaltig, ökologisch ausgerichtet wird und die (nur) mit weiteren Vorteilen, aber keinen Nachteilen aufwartet? Aber ja! Die anzunehmende Antwort auf Suggestivfragen ist im normalen Kommunikationsverhalten absehbar. Genau darin liegt das Problem einer Frage, die weder neutral noch klar formuliert ist. Es stünde im Wege der Werbung und anderer Kommunikationswege sowohl Politikern, IOC und interessierten Vereinen sowie Unternehmern offen, die Vorteile einer Bewerbung anzusprechen. Aber die Tiroler Landesregierung treibt ein gefährliches Spiel, wenn sie die Technik der suggestiven Fragestellung ausreizt.
Am 15. Oktober wird österreichweit gewählt, doch in Tirol steht auch eine Volksbefragung mit folgender Formulierung an: „Soll das Land Tirol ein selbstbewusstes Angebot für nachhaltige, regional angepasste sowie wirtschaftlich und ökologisch vertretbare Olympische und Paralympische Winterspiele Innsbruck-Tirol 2026 legen?“ Abgesehen davon, dass sämtliche Landesbürger über ein Ereignis abstimmen, das wirtschaftlich nur wenige Regionen betrifft, muss sich jemand, der mit Nein stimmt, als Querulant fühlen.
Die Festlegung der konkreten Frage jeder Volksbefragung ist wie das gesamte Verfahren beim VfGH überprüfbar. Zu einer Grazer Volksbefragung hat der VfGH ausgesprochen, dass das Substrat dessen, was den Wahlberechtigten zur direktdemokratischen Entscheidung vorgelegt wird, klar und eindeutig sein muss (VfSlg 15.816/2000). Aus der Judikatur ist abzuleiten, dass die Frage verständlich sein soll und eine klare Alternative zwischen Nein und Ja enthalten muss. Daher sollte man simpel danach fragen, ob die Stimmberechtigten für die Tiroler Bewerbung zur Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Spiele 2026 sind. Alles Weitere ist entbehrlich.
Komplizierte Formulierung
Über den Anlassfall hinaus sind Unklarheiten Gift für den Erfolg plebiszitärer Elemente. Kaum jemand weiß heute noch, dass im Juni 1994 abgestimmt wurde, ob das EU-Beitritts-Bundesverfassungsgesetz Gesetzeskraft erlangen soll, mit dem die verfassungsrechtlich zuständigen Organe ermächtigt wurden, den EU-Beitrittsvertrag abzuschließen. Eine einfache Frage sieht anders aus.
Das Prozedere der Abstimmung war laut VfGH korrekt (VfSlg 13.839/1994), doch die intensive Regierungswerbung und das Fehlen an Informationen über die zehn wichtigsten Verfassungsänderungen auf einer A4-Seite in der Wahlzelle hinterließen einen schalen Nachgeschmack.
Zu den kritisierten, vom VfGH aber nicht überprüften Formulierungen gehörten auch jene von Wiener Volksbefragungen, bei denen nach der Citymaut (bei rechtlicher Unklarheit über den Citybegriff und deren räumliche Ausdehnung), nach der Einführung des Hundeführscheins (bei Unklarheit über die gefährlichen Rassen) und der Etablierung von Hausbesorgern (trotz Bundeskompetenz ohne Ingerenzmöglichkeit des Landes) gefragt wurde. Bei künftigen Befragungen muss daher auch in Wien deutlicher formuliert werden, etwa wenn es um temporäre Fahrverbote gehen sollte.
Volksbefragung in Graz
Zweifellos war die vom VfGH im Jahr 2000 beanstandete Frage die extremste. Im Zusammenhang mit dem Ausbau einer Straßenbahnlinie war die Frage der Grazer Volksbefragung mit einer doppelten Verneinung versehen und zudem missverständlich. Soll die Verlängerung der Linie X, „die in dieser Form nichts zu einer Verbesserung der Verkehrssituation beiträgt“, beschlossen werden? Natürlich nicht!
Soll sich Tirol selbstbewusst für eine Winterolympiade bewerben, die nachhaltig, ökologisch ausgerichtet wird und die (nur) mit weiteren Vorteilen, aber keinen Nachteilen aufwartet? Aber ja! Die anzunehmende Antwort auf Suggestivfragen ist im normalen Kommunikationsverhalten absehbar. Genau darin liegt das Problem einer Frage, die weder neutral noch klar formuliert ist. Es stünde im Wege der Werbung und anderer Kommunikationswege sowohl Politikern, IOC und interessierten Vereinen sowie Unternehmern offen, die Vorteile einer Bewerbung anzusprechen. Aber die Tiroler Landesregierung treibt ein gefährliches Spiel, wenn sie die Technik der suggestiven Fragestellung ausreizt.
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Gerhard Strejcek
Psychogramm eines Verbrechers
Wiener Zeitung, 20.08.2017
Vor 150 Jahren erschien Fjodor Dostojewskis berühmtester Roman: Je nach Übersetzung trägt er auf Deutsch den Titel "Schuld und Sühne" oder "Verbrechen und Strafe". Eine Werkanalyse.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski befand sich um 1866 am Höhepunkt seines Schaffens. In mehreren Lieferungen veröffentlichte er "Rodion Raskolnikow. Prestuplenie i nakazanie" in der Zeitschrift "Russki Westnik", ehe das spannende Werk 1867 als Buch herauskaum und bald auch auf Deutsch unter dem Titel "Schuld und Sühne" populär wurde.
Mit expliziten Worten schildert Dostojewsi den brutalen Mord an einer wucherischen Pfandleiherin, deren harmlose Stiefschwester zur Unzeit am Tatort erscheint und ebenfalls mit einem Beil erschlagen wird. Lange scheint es, als ob der Raubdoppelmord ungesühnt bliebe. Doch dann stellt sich der Verbrecher, der abgehalfterte und arbeitslose Jus-Student Rodion Raskolnikow, von wahnhaften Schuldgefühlen geplagt der Polizei. Gemeinsam mit einer ehemaligen Prostituierten büßt er seine Strafe im Lager ab.
Der Leser als Zeuge
Die Besonderheit dieses Werks liegt darin, dass der Leser in alle Abläufe des Verbrechens eingeweiht wird und den Täter sowie dessen Emotionswelt kennen lernt. Er könnte nach der Lektüre als Zeuge aussagen, die Verharmlosung der Tat demaskieren, womöglich sogar ein Gutachten erstellen. Die ethische und die strafrechtliche Beurteilung des Verbrechens geraten allerdings in eine Schere, denn die Reue des Täters setzt spät ein, die Milderungsgründe sind rar. Zweifellos liegt hier kein "Hintertreppenroman" vor, wie manche Kritiker böswillig schrieben, sondern ein früher Psychokrimi, den nur ein Autor schreiben konnte, der mit den Abgründen der menschlichen Seele vertraut war - und der das zaristische Rechtssystem kannte.
Intelligenz in psychopathologischer Ausrichtung kennzeichnet die Romanfigur Raskolnikow. Der Täter verhält sich irrational, lässt sich von Zufällen als "Zeichen" leiten und verfällt mehrfach in Zustände der Bewusstseinstrübung. Dostojewski selbst litt nicht nur an Epilepsie und an einer ausgeprägten Spielsucht, er war auch als junger Mann zu einer drakonischen Lagerhaft verurteilt worden, weil er um 1848 Kontakte zum sozialistischen Petraschewski-Kreis geknüpft hatte.
Anders als sein zweifelhafter "Held" Rodion hat der Autor kein Verbrechen begangen, wurde aber zu vier Jahren Lagerhaft in Ketten und anschließendem Militärdienst verurteilt. Während das Verbrechen im Roman mit milden acht Jahren Lagerhaft gesühnt wird - auf Mord stand die Todesstrafe -, musste Dostojewski fast zehn Jahre in Sibirien ausharren, zunächst als politischer Gefangener, dann als Soldat. Als er den "Rodion Raskolnikow" schrieb, hatte er noch eine lebhafte Erinnerung an die beklemmende Lagerzeit.
Die räumlichen Vorbilder wie das ärmliche Zimmer Raskolnikows fand der Autor in unmittelbarer Umgebung seines eigenen Wohnsitzes in Sankt Petersburg, wo sich riesige Zinskasernen ausdehnten. Oft waren die Vermieter Deutsche, auch unter den Mietern fanden sich deutsche Beamte, die in der russischen Metropole ein- und ausgingen. Die ortskundige Schilderung wurde Vorbild für Doderers Wien-Romane, deren zweiter bekanntlich einen Dostojewski-Titel ("Die Dämonen") trägt. Der Autor bemaß sogar die Schritte zwischen der Wohnung des Täters und jener der Opfer, und er beschrieb die Wohnsitua-tion in der Residenzstadt lebhaft und detailreich.
Die literarischen Einblicke in die Täter-Psyche bei Planung des Mordes und die Verdrängungsstrategie Raskolnikows samt seinen hypochondrischen Anfällen haben Sigmund Freud fasziniert. Thomas Mann spendete dem ironisch-virtuosen Stil Dostojewskis höchstes Lob, auch wenn dieser die Deutschen gerne karikierte.
Man kann die Schilderung der Bluttat des Raskolnikow aber auch als prägend für das Genre eines psychologisch-analytischen Kriminalromans bezeichnen. Obwohl der Leser den Täter von der ersten Seite weg kennt, bleibt die Spannung aufrecht. Dies setzt eine ausgefeilte Technik voraus, die den Leser in die Rolle des Komplizen drängt, der um die Aufdeckung der Tat und des Täters bangt, anstatt die gerechte Strafe zu fordern.
Abgründe der Psyche
Teuflischerweise zeichnet der Autor den Täter Raskolnikow als jungen, attraktiven, intelligenten und stellenweise auch sympathischen Menschen, dem man eine Bluttat gar nicht zutrauen würde; und er schildert das Opfer als eine Frau, die ihre eigene Stiefschwester prügelt und in Abhängigkeit wie eine Zwangsarbeiterin hält. Raskolnikow steht mit seiner Meinung, die Auslöschung dieses Lebens sei eine "gute Tat", nicht allein, der Autor lässt diesen ethisch nicht vertretbaren Trugschluss (die Vernichtung des Bösen sei etwas Gutes und gebiete Milde gegenüber dem Täter) auch von anderen Romanfiguren wiederholen.
Nur in der orthodox geprägten "Seele" des Mörders, in seinen Träumen und Wahnvorstellungen nutzt das Schönreden nichts, das Opfer wird zum Wiedergänger, die Tat zum Fanal. Nach außen hin versucht der vom schlechten Gewissen heimgesuchte Raskolnikow durch besondere Mildtätigkeit und Empathie positiv aufzufallen, er kümmert sich um die Kinder und die Witwe eines Säufers und gefallenen Beamten namens Marmeladow (gewiss liegt auch eine nicht zufällige Ironie in der Wahl des Namens).
Dostojewskij lässt auch andere schlüpfrige und moralisch zweifelhafte Figuren auftauchen, wie den ältlichen Schwager Luschin, der Rakolnikows Schwester aus Berechnung heiratet, oder den unappetitlichen Gutsherr Swidrigailow, der sie verführen wollte.
Aber im Zentrum steht doch der einmal in Lumpen gehüllte und Furcht erregende, dann wieder sozial gewandte und beliebte Doppelmörder. Genau darin liegt auch das gruselige Element der Fiktion eines Täters, der "unter uns" weilt oder sich in Gesellschaft begibt, statt sie zu meiden.
Völlig weltfremd ist diese Figur nicht, erinnert sei etwa an den Prostituiertenmörder Jack Unterweger, der sich sich zwanglos in Österreichs Society bewegt hat. Auch Unterweger spielte wie Raskolnikow mit der Polizei und dem Staatsanwalt Katz und Maus, ja er mimte sogar selbst den Ermittler und Aufdecker, ehe ihm eine amerikanische Forensikerin, eine exzellente Fesselungs- und Knotenexpertin, auf die Schliche kam. Worauf die lebenslange Verurteilung und der Selbstmord Unterwegers in der Zelle folgten.
Für viele moderne Autoren, die den Leser ins Grauen ziehen wollten, war Fjodor Dostojewski eine Art literarischer Lehrmeister. Das gilt auch für die heimischen Schriftsteller, die allesamt "ihren" Dostojewksi verarbeitet haben. An der Lektüre von "Schuld und Sühne" kamen weder Franz Kafka noch Thomas Bernhard unbeeinflusst vorbei - und es bleibt zu hoffen, dass sich künftig Schüler dieses recht umfangreiche Prosawerk auf ihre Tablets laden werden oder sogar in einer der vielen Printausgaben bestellen. Die Lektüre lohnt, denn der Roman hat in 150 Jahren keine Patina angesetzt und gibt neben der Durchleuchtung der eigentümlichen Täterpsyche des Doppelmörders Rodion Raskolnikow auch Einblick in das russische Polizei- und Justizsystem sowie in die Topografie der damaligen Haupt- und Residenzstadt St. Petersburg.
Bibliographisches
Viele Übersetzer wagten sich an den schweren Brocken heran, darunter drei Frauen: zunächst E. K. Rahsin (Pseudonym für Elisabeth Kaerrick), dann Bettina Girgensohn und zuletzt Swetlana Geier. Rahsin und Girgensohn gaben ihren Übersetzungen den Titel "Schuld und Sühne". Das war frei übersetzt, was aber im Lichte der psychologischen Aufladung des Werks durchaus gerechtfertigt schien. "Schuld" ist im strafrechtlichen Kontext die subjektive Tatseite, und "Sühne" kann sowohl moralisch als auch juristisch verstanden werden.
Gleichwohl orientierte sich die seit 1996 bei Fischer publizierte Übersetzung der Slawistin Swetlana Geier enger am Original, dessen Titel seither auf Deutsch "Verbrechen und Strafe" lautet. Geier, die in Kiew geborene Tochter eines Russen, der an den Folgen der Folter von Stalins Schergen starb, lehrte an deutschen Schulen und Unis. Sensibel näherte sich die 2010 verstorbene Übersetzerin dem Text, der auf Russisch einige veraltete Bezeichnungen enthält, wie die "Kollegienregistratorwitwe". Geier blieb wortgetreu, sie hat auch die anderen großen Romane Dostojewskis übersetzt. Eine Sammlung ihrer eigenen Texte, die eine russische Literaturgeschichte umfassen und eine Huldigung an Puschkin enthalten, erschien vor vier Jahren postum in Zürich.
Mehrere Versionen
So sind die rund 800 Seiten Lesefreude in unterschiedlichen Ver-sionen zu genießen. Unsere Vorfahren, deren Buchaffinität groß war, kannten das Werk vor allem aus der erwähnten Übersetzung E. K. Rahsins, die in den Werk-Ausgaben im Piper Verlag und in der Romanbibliothek des Insel Verlags erschienen ist.
Swetlana Geiers Neubearbeitung erschien 1996 im S. Fischer Verlag, sie ist als Taschenbuchausgabe erhältlich und durch den (auch) cyrillisch geschriebenen Originaltitel erkennbar. Dazwischen liegen die zahlreich gedruckten Girgensohn-Ausgaben, welche auch in den Buchgemeinschaften erschienen - und daher antiquarisch wohlfeil zu erwerben sind.
Im Anaconda-Verlag kann das Werk preiswert erworben werden. Und mit der großen Werkausgabe im Aufbau-Verlag verfügt der Leser in Soft- oder Hartbindung gleich über einen aufs Zehnfache angewachsenen Lesestoff, der einen verregneten Herbst samt Winter im Lehnstuhl überbrücken hilft, ohne das Budget zu sprengen.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski befand sich um 1866 am Höhepunkt seines Schaffens. In mehreren Lieferungen veröffentlichte er "Rodion Raskolnikow. Prestuplenie i nakazanie" in der Zeitschrift "Russki Westnik", ehe das spannende Werk 1867 als Buch herauskaum und bald auch auf Deutsch unter dem Titel "Schuld und Sühne" populär wurde.
Mit expliziten Worten schildert Dostojewsi den brutalen Mord an einer wucherischen Pfandleiherin, deren harmlose Stiefschwester zur Unzeit am Tatort erscheint und ebenfalls mit einem Beil erschlagen wird. Lange scheint es, als ob der Raubdoppelmord ungesühnt bliebe. Doch dann stellt sich der Verbrecher, der abgehalfterte und arbeitslose Jus-Student Rodion Raskolnikow, von wahnhaften Schuldgefühlen geplagt der Polizei. Gemeinsam mit einer ehemaligen Prostituierten büßt er seine Strafe im Lager ab.
Der Leser als Zeuge
Die Besonderheit dieses Werks liegt darin, dass der Leser in alle Abläufe des Verbrechens eingeweiht wird und den Täter sowie dessen Emotionswelt kennen lernt. Er könnte nach der Lektüre als Zeuge aussagen, die Verharmlosung der Tat demaskieren, womöglich sogar ein Gutachten erstellen. Die ethische und die strafrechtliche Beurteilung des Verbrechens geraten allerdings in eine Schere, denn die Reue des Täters setzt spät ein, die Milderungsgründe sind rar. Zweifellos liegt hier kein "Hintertreppenroman" vor, wie manche Kritiker böswillig schrieben, sondern ein früher Psychokrimi, den nur ein Autor schreiben konnte, der mit den Abgründen der menschlichen Seele vertraut war - und der das zaristische Rechtssystem kannte.
Intelligenz in psychopathologischer Ausrichtung kennzeichnet die Romanfigur Raskolnikow. Der Täter verhält sich irrational, lässt sich von Zufällen als "Zeichen" leiten und verfällt mehrfach in Zustände der Bewusstseinstrübung. Dostojewski selbst litt nicht nur an Epilepsie und an einer ausgeprägten Spielsucht, er war auch als junger Mann zu einer drakonischen Lagerhaft verurteilt worden, weil er um 1848 Kontakte zum sozialistischen Petraschewski-Kreis geknüpft hatte.
Anders als sein zweifelhafter "Held" Rodion hat der Autor kein Verbrechen begangen, wurde aber zu vier Jahren Lagerhaft in Ketten und anschließendem Militärdienst verurteilt. Während das Verbrechen im Roman mit milden acht Jahren Lagerhaft gesühnt wird - auf Mord stand die Todesstrafe -, musste Dostojewski fast zehn Jahre in Sibirien ausharren, zunächst als politischer Gefangener, dann als Soldat. Als er den "Rodion Raskolnikow" schrieb, hatte er noch eine lebhafte Erinnerung an die beklemmende Lagerzeit.
Die räumlichen Vorbilder wie das ärmliche Zimmer Raskolnikows fand der Autor in unmittelbarer Umgebung seines eigenen Wohnsitzes in Sankt Petersburg, wo sich riesige Zinskasernen ausdehnten. Oft waren die Vermieter Deutsche, auch unter den Mietern fanden sich deutsche Beamte, die in der russischen Metropole ein- und ausgingen. Die ortskundige Schilderung wurde Vorbild für Doderers Wien-Romane, deren zweiter bekanntlich einen Dostojewski-Titel ("Die Dämonen") trägt. Der Autor bemaß sogar die Schritte zwischen der Wohnung des Täters und jener der Opfer, und er beschrieb die Wohnsitua-tion in der Residenzstadt lebhaft und detailreich.
Die literarischen Einblicke in die Täter-Psyche bei Planung des Mordes und die Verdrängungsstrategie Raskolnikows samt seinen hypochondrischen Anfällen haben Sigmund Freud fasziniert. Thomas Mann spendete dem ironisch-virtuosen Stil Dostojewskis höchstes Lob, auch wenn dieser die Deutschen gerne karikierte.
Man kann die Schilderung der Bluttat des Raskolnikow aber auch als prägend für das Genre eines psychologisch-analytischen Kriminalromans bezeichnen. Obwohl der Leser den Täter von der ersten Seite weg kennt, bleibt die Spannung aufrecht. Dies setzt eine ausgefeilte Technik voraus, die den Leser in die Rolle des Komplizen drängt, der um die Aufdeckung der Tat und des Täters bangt, anstatt die gerechte Strafe zu fordern.
Abgründe der Psyche
Teuflischerweise zeichnet der Autor den Täter Raskolnikow als jungen, attraktiven, intelligenten und stellenweise auch sympathischen Menschen, dem man eine Bluttat gar nicht zutrauen würde; und er schildert das Opfer als eine Frau, die ihre eigene Stiefschwester prügelt und in Abhängigkeit wie eine Zwangsarbeiterin hält. Raskolnikow steht mit seiner Meinung, die Auslöschung dieses Lebens sei eine "gute Tat", nicht allein, der Autor lässt diesen ethisch nicht vertretbaren Trugschluss (die Vernichtung des Bösen sei etwas Gutes und gebiete Milde gegenüber dem Täter) auch von anderen Romanfiguren wiederholen.
Nur in der orthodox geprägten "Seele" des Mörders, in seinen Träumen und Wahnvorstellungen nutzt das Schönreden nichts, das Opfer wird zum Wiedergänger, die Tat zum Fanal. Nach außen hin versucht der vom schlechten Gewissen heimgesuchte Raskolnikow durch besondere Mildtätigkeit und Empathie positiv aufzufallen, er kümmert sich um die Kinder und die Witwe eines Säufers und gefallenen Beamten namens Marmeladow (gewiss liegt auch eine nicht zufällige Ironie in der Wahl des Namens).
Dostojewskij lässt auch andere schlüpfrige und moralisch zweifelhafte Figuren auftauchen, wie den ältlichen Schwager Luschin, der Rakolnikows Schwester aus Berechnung heiratet, oder den unappetitlichen Gutsherr Swidrigailow, der sie verführen wollte.
Aber im Zentrum steht doch der einmal in Lumpen gehüllte und Furcht erregende, dann wieder sozial gewandte und beliebte Doppelmörder. Genau darin liegt auch das gruselige Element der Fiktion eines Täters, der "unter uns" weilt oder sich in Gesellschaft begibt, statt sie zu meiden.
Völlig weltfremd ist diese Figur nicht, erinnert sei etwa an den Prostituiertenmörder Jack Unterweger, der sich sich zwanglos in Österreichs Society bewegt hat. Auch Unterweger spielte wie Raskolnikow mit der Polizei und dem Staatsanwalt Katz und Maus, ja er mimte sogar selbst den Ermittler und Aufdecker, ehe ihm eine amerikanische Forensikerin, eine exzellente Fesselungs- und Knotenexpertin, auf die Schliche kam. Worauf die lebenslange Verurteilung und der Selbstmord Unterwegers in der Zelle folgten.
Für viele moderne Autoren, die den Leser ins Grauen ziehen wollten, war Fjodor Dostojewski eine Art literarischer Lehrmeister. Das gilt auch für die heimischen Schriftsteller, die allesamt "ihren" Dostojewksi verarbeitet haben. An der Lektüre von "Schuld und Sühne" kamen weder Franz Kafka noch Thomas Bernhard unbeeinflusst vorbei - und es bleibt zu hoffen, dass sich künftig Schüler dieses recht umfangreiche Prosawerk auf ihre Tablets laden werden oder sogar in einer der vielen Printausgaben bestellen. Die Lektüre lohnt, denn der Roman hat in 150 Jahren keine Patina angesetzt und gibt neben der Durchleuchtung der eigentümlichen Täterpsyche des Doppelmörders Rodion Raskolnikow auch Einblick in das russische Polizei- und Justizsystem sowie in die Topografie der damaligen Haupt- und Residenzstadt St. Petersburg.
Bibliographisches
Viele Übersetzer wagten sich an den schweren Brocken heran, darunter drei Frauen: zunächst E. K. Rahsin (Pseudonym für Elisabeth Kaerrick), dann Bettina Girgensohn und zuletzt Swetlana Geier. Rahsin und Girgensohn gaben ihren Übersetzungen den Titel "Schuld und Sühne". Das war frei übersetzt, was aber im Lichte der psychologischen Aufladung des Werks durchaus gerechtfertigt schien. "Schuld" ist im strafrechtlichen Kontext die subjektive Tatseite, und "Sühne" kann sowohl moralisch als auch juristisch verstanden werden.
Gleichwohl orientierte sich die seit 1996 bei Fischer publizierte Übersetzung der Slawistin Swetlana Geier enger am Original, dessen Titel seither auf Deutsch "Verbrechen und Strafe" lautet. Geier, die in Kiew geborene Tochter eines Russen, der an den Folgen der Folter von Stalins Schergen starb, lehrte an deutschen Schulen und Unis. Sensibel näherte sich die 2010 verstorbene Übersetzerin dem Text, der auf Russisch einige veraltete Bezeichnungen enthält, wie die "Kollegienregistratorwitwe". Geier blieb wortgetreu, sie hat auch die anderen großen Romane Dostojewskis übersetzt. Eine Sammlung ihrer eigenen Texte, die eine russische Literaturgeschichte umfassen und eine Huldigung an Puschkin enthalten, erschien vor vier Jahren postum in Zürich.
Mehrere Versionen
So sind die rund 800 Seiten Lesefreude in unterschiedlichen Ver-sionen zu genießen. Unsere Vorfahren, deren Buchaffinität groß war, kannten das Werk vor allem aus der erwähnten Übersetzung E. K. Rahsins, die in den Werk-Ausgaben im Piper Verlag und in der Romanbibliothek des Insel Verlags erschienen ist.
Swetlana Geiers Neubearbeitung erschien 1996 im S. Fischer Verlag, sie ist als Taschenbuchausgabe erhältlich und durch den (auch) cyrillisch geschriebenen Originaltitel erkennbar. Dazwischen liegen die zahlreich gedruckten Girgensohn-Ausgaben, welche auch in den Buchgemeinschaften erschienen - und daher antiquarisch wohlfeil zu erwerben sind.
Im Anaconda-Verlag kann das Werk preiswert erworben werden. Und mit der großen Werkausgabe im Aufbau-Verlag verfügt der Leser in Soft- oder Hartbindung gleich über einen aufs Zehnfache angewachsenen Lesestoff, der einen verregneten Herbst samt Winter im Lehnstuhl überbrücken hilft, ohne das Budget zu sprengen.
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Gerhard Strejcek
Wahlrecht, Wählerverzeichnis und Grundrechte
Der Standard, 10.08.2017
Einschätzung eines Verwaltungsrechtlers: Warum Massenanträge unzulässig sind
Es stehen Anträge im Raum, die eine Streichung zahlreicher Personen aus den Wählerverzeichnissen wegen "illegaler" Doppelstaatsbürgerschaften bezwecken. Ziel ist, 20.000 vermeintliche Nichtstaatsbürger aus dem Wählerverzeichnis für die Nationalratswahl am 15. Oktober streichen zu lassen. Als Beleg dienen Registrierungslisten für fremde Abstimmungsveranstaltungen. Befinden sich Wahlbehörden in einer Zwickmühle und müssen sie vor einem Massenverfahren Ende August zittern?
Die Nationalratswahlordnung (NRWO) sieht vor, dass drei Wochen nach dem Stichtag (25. 7.) die Wählerverzeichnisse für einen zehntägigen Einsichtszeitraum in den Gemeinden aufzulegen sind. Ab Mitte August wird es demnach möglich sein, Einsicht zu nehmen und Berichtigungsanträge zu stellen. Diese können von jedem Staatsbürger "gegen das Wählerverzeichnis" gestellt werden. Jeder kann sich selbst oder andere "hineinreklamieren" und muss hiefür Belege vorlegen, bei Streichungsanträgen genügt eine kurze Begründung. Massenanträge sind nach dem eindeutigen Wortlaut der NRWO unzulässig.
Dass ein Berichtigungsantrag den Verlust der Staatsbürgerschaft, die am Stichtag (25. 7.) als Wahlrechtsvoraussetzung vorliegen musste, als Grund für die beantragte Streichung angibt, ist unter Angabe der konkreten Person hinreichend. Bei der Nachprüfung zulässiger Einzelanträge müssen sich Behörden an Fakten orientieren, Parteien Gehör einräumen und das Procedere einhalten.
Zudem sollten die Wahlbehörden das Vorgehen mit den Staatsbürgerschaftsbehörden akkordieren und die unterschiedlichen Beschwerdeinstanzen beachten, um nachträgliche Unstimmigkeiten zu vermeiden. Nur wenn ein Feststellungsverfahren bereits abgeschlossen oder der Verlust evident ist, darf die Wahlbehörde streichen, mit dem Aufscheinen einer fremden Abstimmungsliste allein ist die Streichung nicht belegbar.
Strittige Fälle muss die Behörde im Einzelfall prüfen. Der Antrag ist unter Angabe des Namens und der Adresse für jeden Fall gesondert zu stellen und wird von der Gemeinde, bei der das Verzeichnis aufliegt, an die Wahlbehörde weitergeleitet. Wahlordnungen sind laut VfGH strikt auszulegen, daher führt am Begriff "gesondert" kein Weg vorbei.
In der Tradition von Kelsen
Die heutige Regelung hat eine lange Tradition, sie bezweckt die Verhinderung von Massenreklamationen. Hans Kelsen hat in seinem Wahlrechtskommentar zum "Reklamationsverfahren" 1907 festgehalten, dass im Interesse der "Genauigkeit des Verfahrens" die Masseneingabe für mehrere Personen unzulässig sei. Zudem liege die Pflicht, den Grund für eine Streichung glaubhaft zu machen, beim Antragsteller. In der geltenden NRWO ist dies nahezu wortgleich geregelt, auch das System ist unverändert, es bedarf daher auch der Angabe eines Grunds.
Das Berichtigungsverfahren ist zudem ein Parteienverfahren, Streichungen erfolgen, abgesehen von Doppeleintragungen, nicht amtswegig. Auch diese Regelung macht Sinn, denn die Wahlbehörde muss binnen sechs Tagen nach Ende des Einsichtszeitraums entscheiden und dennoch die rechtsstaatlichen Grundsätze wahren, wozu sie eine strenge VfGH-Judikatur verpflichtet.
Da es sich beim Wahlrecht um ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht handelt, kann eine Streichung, die nur auf bloßen Zweifeln oder Vermutungen beruht, zu einer Grundrechtsverletzung führen. Der VfGH hat Streichungen ohne Bescheid als verwaltungsbehördliche Zwangsakte eingestuft, das Höchstgericht verlangt im Berichtigungsverfahren die Wahrung des Parteiengehörs.
Aufgrund von Berichtigungsanträgen ist die Verständigung der Betroffenen zwingend, zudem ist die Möglichkeit einer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vorgesehen. Die Beschwerdefrist beträgt zwei Tage, das BVwG muss binnen vier Tagen über die Beschwerde entscheiden. Diese extrem knappen Fristen ermöglichen nur eingeschränkte Recherchen, weshalb sich die Wahlbehörde und das BVwG an den Ermittlungen der Staatsbürgerschaftsbehörde und an abgeschlossenen (rechtskräftigen) Feststellungsverfahren orientieren sollten, falls keine liquiden Beweise des Verlusts vorliegen. Im Ergebnis wird das nur zu wenigen Streichungen vor der Wahl führen.
Es stehen Anträge im Raum, die eine Streichung zahlreicher Personen aus den Wählerverzeichnissen wegen "illegaler" Doppelstaatsbürgerschaften bezwecken. Ziel ist, 20.000 vermeintliche Nichtstaatsbürger aus dem Wählerverzeichnis für die Nationalratswahl am 15. Oktober streichen zu lassen. Als Beleg dienen Registrierungslisten für fremde Abstimmungsveranstaltungen. Befinden sich Wahlbehörden in einer Zwickmühle und müssen sie vor einem Massenverfahren Ende August zittern?
Die Nationalratswahlordnung (NRWO) sieht vor, dass drei Wochen nach dem Stichtag (25. 7.) die Wählerverzeichnisse für einen zehntägigen Einsichtszeitraum in den Gemeinden aufzulegen sind. Ab Mitte August wird es demnach möglich sein, Einsicht zu nehmen und Berichtigungsanträge zu stellen. Diese können von jedem Staatsbürger "gegen das Wählerverzeichnis" gestellt werden. Jeder kann sich selbst oder andere "hineinreklamieren" und muss hiefür Belege vorlegen, bei Streichungsanträgen genügt eine kurze Begründung. Massenanträge sind nach dem eindeutigen Wortlaut der NRWO unzulässig.
Dass ein Berichtigungsantrag den Verlust der Staatsbürgerschaft, die am Stichtag (25. 7.) als Wahlrechtsvoraussetzung vorliegen musste, als Grund für die beantragte Streichung angibt, ist unter Angabe der konkreten Person hinreichend. Bei der Nachprüfung zulässiger Einzelanträge müssen sich Behörden an Fakten orientieren, Parteien Gehör einräumen und das Procedere einhalten.
Zudem sollten die Wahlbehörden das Vorgehen mit den Staatsbürgerschaftsbehörden akkordieren und die unterschiedlichen Beschwerdeinstanzen beachten, um nachträgliche Unstimmigkeiten zu vermeiden. Nur wenn ein Feststellungsverfahren bereits abgeschlossen oder der Verlust evident ist, darf die Wahlbehörde streichen, mit dem Aufscheinen einer fremden Abstimmungsliste allein ist die Streichung nicht belegbar.
Strittige Fälle muss die Behörde im Einzelfall prüfen. Der Antrag ist unter Angabe des Namens und der Adresse für jeden Fall gesondert zu stellen und wird von der Gemeinde, bei der das Verzeichnis aufliegt, an die Wahlbehörde weitergeleitet. Wahlordnungen sind laut VfGH strikt auszulegen, daher führt am Begriff "gesondert" kein Weg vorbei.
In der Tradition von Kelsen
Die heutige Regelung hat eine lange Tradition, sie bezweckt die Verhinderung von Massenreklamationen. Hans Kelsen hat in seinem Wahlrechtskommentar zum "Reklamationsverfahren" 1907 festgehalten, dass im Interesse der "Genauigkeit des Verfahrens" die Masseneingabe für mehrere Personen unzulässig sei. Zudem liege die Pflicht, den Grund für eine Streichung glaubhaft zu machen, beim Antragsteller. In der geltenden NRWO ist dies nahezu wortgleich geregelt, auch das System ist unverändert, es bedarf daher auch der Angabe eines Grunds.
Das Berichtigungsverfahren ist zudem ein Parteienverfahren, Streichungen erfolgen, abgesehen von Doppeleintragungen, nicht amtswegig. Auch diese Regelung macht Sinn, denn die Wahlbehörde muss binnen sechs Tagen nach Ende des Einsichtszeitraums entscheiden und dennoch die rechtsstaatlichen Grundsätze wahren, wozu sie eine strenge VfGH-Judikatur verpflichtet.
Da es sich beim Wahlrecht um ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht handelt, kann eine Streichung, die nur auf bloßen Zweifeln oder Vermutungen beruht, zu einer Grundrechtsverletzung führen. Der VfGH hat Streichungen ohne Bescheid als verwaltungsbehördliche Zwangsakte eingestuft, das Höchstgericht verlangt im Berichtigungsverfahren die Wahrung des Parteiengehörs.
Aufgrund von Berichtigungsanträgen ist die Verständigung der Betroffenen zwingend, zudem ist die Möglichkeit einer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vorgesehen. Die Beschwerdefrist beträgt zwei Tage, das BVwG muss binnen vier Tagen über die Beschwerde entscheiden. Diese extrem knappen Fristen ermöglichen nur eingeschränkte Recherchen, weshalb sich die Wahlbehörde und das BVwG an den Ermittlungen der Staatsbürgerschaftsbehörde und an abgeschlossenen (rechtskräftigen) Feststellungsverfahren orientieren sollten, falls keine liquiden Beweise des Verlusts vorliegen. Im Ergebnis wird das nur zu wenigen Streichungen vor der Wahl führen.
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Gerhard Strejcek
In Kafkas Dachkammer
Wiener Zeitung, 06.08.2017
Anmerkungen zum Verfassungsgerichtshof - und einige persönliche Erinnerungen an jene Zeit, als dieser seinen Sitz noch am Wiener Judenplatz hatte.
Spätestens seit dem 1. Juli 2016 ist der Verfassungsgerichtshof auch "rechtsfernen Bevölkerungsschichten" [© Rudolf Müller, Mitglied des VfGH] bekannt, denn an diesem Tag hob das Höchstgericht den zweiten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl auf, die der jetzt amtierende, grüne Kandidat Alexander van der Bellen mit lediglich einunddreißigtausend Stimmen Überhang gewonnen hatte (VfGH 1.7.2016, W I 6/2016).
Der VfGH-Präsident, Professor und Sektionschef außer Dienst, Gerhart Holzinger begrüßte die mit Hochspannung wartenden Journalisten und leitete mit den solemnen Worten, dass "Wahlen das Fundament unserer Demokratie" seien, das nachfolgend verkündete Erkenntnis ein, das die Republik rund 15 Millionen Euro kosten sollte - eine geringe Summe für einen funktionierenden Rechtsstaat, aber viel Geld für ein paar lässliche Fehler, die häufig in einem Verfahren passieren und die vermutlich keinen Schaden angerichtet hatten.
Recht und Volk
Mehr als der Spruch blieb die knappe und treffende Formulierung in Erinnerung, die genau genommen aber so nicht in der Verfassung vorgesehen ist, denn Erkenntnisse aller österreichischen Gerichte, so auch des VfGH, werden im Namen der Republik verkündet, was wenig Raum für Einleitungen lässt. Aber diesmal passte die Einstimmung, die fast an eine Präambel einer demokratischen Verfassung erinnerte.
Alle mussten zuvor aufstehen, wie in der Kirche - das galt auch für den Herrn (Innen-)Minister -, und auch diese Bekundung des Respekts untermalte das feierliche und staatstragende Element einer Urteilsverkündung auf der Freyung, die ja einst für Hilfesuchende Freiheit und Asyl bedeutete und auf der ein Marktplatz eingerichtet war - und auch heute, zum Beispiel zu Weihnachtszeiten, noch gerne eingerichtet wird.
Die Freyung ist, historisch betrachtet, weniger ein Ort der Rechtsprechung als des Handels und der Betriebsamkeit, wofür auch der Austria-Brunnen ein Symbol ist, der die schiffbaren Flüsse der Monarchie symbolisiert. In der Gründerzeit und in der Ersten Republik standen die Bankiers dort im Vordergrund, wie die Rothschild-Säle in der Schoeller-Bank gegenüber vom VfGH in der Renngasse zeigen, wo Prunk und Gediegenheit herrschen. Dasselbe galt für die niederösterreichische Eskompte-Anstalt, in der u.a. die Schnitzler-Freundin Hedwig Kempny tätig war, und genauso für die legendäre "Bodencredit", welche die CA Ende der Zwanzigerjahre in den Abgrund zog.
Hinter der Richterbank des VfGH, der seit einem Dutzend Jahren ebenfalls in einem ehemaligen Bankgebäude auf der Freyung untergebracht ist, wo einst über Milliarden von Kronen und Schillinge verhandelt wurde, steht der Satz "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", der dem Artikel 1 der Bundesverfassung aus 1920 entstammt und der vermutlich von Hans Kelsen formuliert wurde. Zweifellos sollte auch das Recht in der Justiz vom Volk ausgehen, aber anders als bei Strafgerichten, wo die Beteiligung durch Schöffen und Geschworene gesichert ist, was als wichtiges demokratisches Element keinesfalls wegrationalisiert werden sollte, gibt es am Verfassungsgerichtshof außer gelegentlichen Zuhörern bei den Verhandlungen kein "Volk".
Anders als in den meisten anderen Justizbereichen amtieren am VfGH auch nur wenige Berufsrichterinnen und -richter, von denen etwa die derzeitige Vizepräsidentin, Brigitte Bierlein, als ehemalige Richterin und Staatsanwältin (an der Generalprokuratur) ein eher seltenes Beispiel ist. Aber sowohl der amtierende Präsident Holzinger, der die logistische Großleistung des Umzugs in seiner Ära, die Ende des heurigen Jahres enden wird, für sich verzeichnen darf, als auch die meisten Referenten entstammen der Verwaltung oder den Universitäten, sind also keine gelernten Richter, was nichts an der Akribie und Förmlichkeit der Verfahrensführung auf der Freyung ändert.
Manche Autoren kritisieren VfGH-Erkenntnisse mit Beiworten wie "verfehlt" oder sie bezeichnen ein Erkenntnis gar als "Fehlurteil". Mir wird Derartiges nie aus der Feder fließen - und das hat zwei Gründe. Zum einen glaube ich, dass das Heruntermachen richterlicher Erkenntnis, die mühsam und stets bedachtsam-ausgleichend zu schöpfen ist, die Legitimität der Justiz schwächt. Wer als Staatsrechtler Verantwortungsbewusstsein hat, geht mit den Höchstgerichten und ihren Urteilen, Beschlüssen oder Erkenntnissen sachte und behutsam um.
Der zweite Grund ist ein persönlicher, denn ich fühle mich, obwohl ich nur zwei Jahre lang wissenschaftlicher Mitarbeiter des VfGH war, mit dieser Institu-tion und ihrem Personal (vom Portier bis zum Personalchef) menschlich verbunden, was auf vielen persönlichen Begegnungen, Besuchen und Erlebnissen beruht und solcherart unauslöschlich ist.
Sicherheitsbeauftragter
Meine Erinnerungen beziehen sich auf den alten Sitz des VfGH am Judenplatz und meine Tätigkeit in der Jordangasse, wo ich 1991/92 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des VfGH saß. Mit 29 Jahren erklomm ich aus meiner subjektiven Sichtweise bereits den Olymp meiner Justizlaufbahn, obwohl die rechtsprechende Gewalt, verglichen mit den anderen Staatsfunktionen, nur eine Nebenrolle in meinem Leben spielen sollte. Doch damals war die Welt noch in Ordnung und es gab weder gewaltsames Gendern noch Quoten, mit denen die deutsche Sprache und die Justiz systematisch ruiniert werden.
Der damalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs bestellte auf Grund einer Verfügung des Bundeskanzleramts meinen Kollegen Hermann Salzburger und mich zu Sicherheitsbeauftragten des Höchstgerichts. Der VfGH war damals, wie schon gesagt, gegenüber vom Lessingdenkmal am Judenplatz situiert, wohingegen in der Ersten Republik das Höchstgericht im Parlament im Trakt unweit des Palais Epstein tagte. Daher hatte es Hans Kelsen von seiner Wohnung in der Wickenburggasse nicht weit zum VfGH, dem er bis 1930 angehörte, ehe dort eine "Umpolitisierung" stattfand und ihm Ludwig Adamovich se- nior, ein Christlichsozialer, folgte.
Dessen namensgleicher Sohn, der in Nachfolge seines Vaters sowie der Professoren Antoniolli und Melichar als dritter Präsident der Zweiten Republik den VfGH leitete, vertraute vor mehr als einem Vierteljahrhundert uns beiden die, wie es uns schien, intimsten Geheimnisse der ehemaligen böhmischen Hof- und Staatskanzlei an. Mit stolzgeschwellter Brust und einem riesigen Schlüsselbund verließen wir das Präsidium und machten uns auf den Weg zu unserem ersten Sicherheitsrundgang. Es spricht für unser Pflichtbewusstsein, dass wir nicht sofort neue Visitenkarten bestellten, auf denen das wichtige, vordem allerdings in der Öffentlichkeit gänzlich unbekannte Amt aufschien, aber wir hatten das dumpfe Gefühl, dass dies vielleicht vom Präsidenten missverstanden werden könnte . . .
Ein Gebäude, in dem noch der Geist des Absolutismus weht, hat viele Eigenheiten. Bald kannten wir verschwiegene Treppenaufgänge und einen Ausgang zur Wipplingerstraße, den außer uns niemand verwendete, da er in einem Durchgang und somit im Nirwana mündete. Hermann Salzburger war, was sein Name nicht vermuten ließ, Innsbrucker und bekleidete gemeinsam mit mir die Funktion eines wissenschaftlichen Mitarbeiters am VfGH. Der für uns zuständige Referent war gebürtiger Oberösterreicher und Beamter aus Tirol, der zum Mitglied des Höchstgerichts ernannt worden war. "Verfassungsrichter" ist übrigens eine moderne Bezeichnung, die damals verpönt war, man nannte sich mit understatement lediglich "Mitglied" oder "Ersatzmitglied".
Während der Präsident im Palais wie ein Fürst residierte, was ihm natürlich zustand, saß der Vizepräsident, ein Berufsrichter, der auch am Obersten Gerichtshof ein hohes Amt ausübte, in einer kleinen Saunakammer im Dachgeschoß der Jordangasse, genau ein Stockwerk über uns. Somit erfüllte sich die Prophezeiung Franz Kafkas, der im "Prozess" einen Strafrichter in einer kleinen Dachkammer agieren ließ.
Wenn es eine Erfahrung gibt, die im Justizbereich jeder und jede macht, dann ist es jene, dass Kafka im "Prozess" nicht übertrieben hat. Die Richter-Porträts von Malern gibt es ebenso wie jene von Rektoren im Ferstel-Palast am Universitätsring. Ein Porträtist, der bei Kafka noch dazu ganz ähnlich hieß wie der erste VfGH-Präsident (Vittorelli), kann aber nichts über den Fortgang eines Verfahrens erfahren oder den Amtsträger aushorchen. Denn es galt und gilt das Amtsgeheimnis, weshalb auch wir Schriftführer schwiegen wie das Kafka-Grab am Prager Friedhof in Straschnitz.
Legendäre Arbeitsmoral
In den beiden Zimmern, die mit einer kleinen Dachterrasse aufwarteten, stapelten sich die Akten, denn niemand brachte in einer Session so viele Fälle voran, wie der Herr Vizepräsident. Er selbst, der die rote Abendsonne am Dach des Gebäudes genoss, begegnete uns häufig, denn seine Arbeitsmoral war legendär. Seine sarkastischen Spitzen wurden von allen gerühmt und noch heute erkenne ich an diesen Formulierungen, welche Erkenntnisse der Siebziger- und Achtzigerjahre der Vizepräsident als Referent vorbereitet hatte.
In der amtlichen Sammlung ist etwa nachlesbar, dass jede Partei, die mehr als zwei Sätze zur Schilderung desselben Sachverhalts oder Beschwerdegrundes brauchte, sich "weitwendig" ausdrückt. Ich bin mir sicher, diesen Begriff in keinem Werk der Weltliteratur gelesen zu haben, nicht einmal in einer Übersetzung von Dostojewskis "Schuld und Sühne", das ja richtigerweise "Schuld und Strafe" heißen müsste. Aber dennoch trifft das Attribut das Gemeinte punktgenau. Darin liegt richterliche Schärfe und Formulierungsgabe, die von Außenstehenden oft unterschätzt wird.
Und daher trifft die Grundaussage der Skulptur von Rachel Whitehead, welche dem Mizrachihaus, der Synagoge und den Leiden der Juden in Wien gewidmet ist, auch auf die Judikatur am Judenplatz zu, die dort heute noch vom Verwaltungsgerichtshof fortgeführt wird, nachdem der VfGH schon lange ausgezogen ist.
Spätestens seit dem 1. Juli 2016 ist der Verfassungsgerichtshof auch "rechtsfernen Bevölkerungsschichten" [© Rudolf Müller, Mitglied des VfGH] bekannt, denn an diesem Tag hob das Höchstgericht den zweiten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl auf, die der jetzt amtierende, grüne Kandidat Alexander van der Bellen mit lediglich einunddreißigtausend Stimmen Überhang gewonnen hatte (VfGH 1.7.2016, W I 6/2016).
Der VfGH-Präsident, Professor und Sektionschef außer Dienst, Gerhart Holzinger begrüßte die mit Hochspannung wartenden Journalisten und leitete mit den solemnen Worten, dass "Wahlen das Fundament unserer Demokratie" seien, das nachfolgend verkündete Erkenntnis ein, das die Republik rund 15 Millionen Euro kosten sollte - eine geringe Summe für einen funktionierenden Rechtsstaat, aber viel Geld für ein paar lässliche Fehler, die häufig in einem Verfahren passieren und die vermutlich keinen Schaden angerichtet hatten.
Recht und Volk
Mehr als der Spruch blieb die knappe und treffende Formulierung in Erinnerung, die genau genommen aber so nicht in der Verfassung vorgesehen ist, denn Erkenntnisse aller österreichischen Gerichte, so auch des VfGH, werden im Namen der Republik verkündet, was wenig Raum für Einleitungen lässt. Aber diesmal passte die Einstimmung, die fast an eine Präambel einer demokratischen Verfassung erinnerte.
Alle mussten zuvor aufstehen, wie in der Kirche - das galt auch für den Herrn (Innen-)Minister -, und auch diese Bekundung des Respekts untermalte das feierliche und staatstragende Element einer Urteilsverkündung auf der Freyung, die ja einst für Hilfesuchende Freiheit und Asyl bedeutete und auf der ein Marktplatz eingerichtet war - und auch heute, zum Beispiel zu Weihnachtszeiten, noch gerne eingerichtet wird.
Die Freyung ist, historisch betrachtet, weniger ein Ort der Rechtsprechung als des Handels und der Betriebsamkeit, wofür auch der Austria-Brunnen ein Symbol ist, der die schiffbaren Flüsse der Monarchie symbolisiert. In der Gründerzeit und in der Ersten Republik standen die Bankiers dort im Vordergrund, wie die Rothschild-Säle in der Schoeller-Bank gegenüber vom VfGH in der Renngasse zeigen, wo Prunk und Gediegenheit herrschen. Dasselbe galt für die niederösterreichische Eskompte-Anstalt, in der u.a. die Schnitzler-Freundin Hedwig Kempny tätig war, und genauso für die legendäre "Bodencredit", welche die CA Ende der Zwanzigerjahre in den Abgrund zog.
Hinter der Richterbank des VfGH, der seit einem Dutzend Jahren ebenfalls in einem ehemaligen Bankgebäude auf der Freyung untergebracht ist, wo einst über Milliarden von Kronen und Schillinge verhandelt wurde, steht der Satz "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", der dem Artikel 1 der Bundesverfassung aus 1920 entstammt und der vermutlich von Hans Kelsen formuliert wurde. Zweifellos sollte auch das Recht in der Justiz vom Volk ausgehen, aber anders als bei Strafgerichten, wo die Beteiligung durch Schöffen und Geschworene gesichert ist, was als wichtiges demokratisches Element keinesfalls wegrationalisiert werden sollte, gibt es am Verfassungsgerichtshof außer gelegentlichen Zuhörern bei den Verhandlungen kein "Volk".
Anders als in den meisten anderen Justizbereichen amtieren am VfGH auch nur wenige Berufsrichterinnen und -richter, von denen etwa die derzeitige Vizepräsidentin, Brigitte Bierlein, als ehemalige Richterin und Staatsanwältin (an der Generalprokuratur) ein eher seltenes Beispiel ist. Aber sowohl der amtierende Präsident Holzinger, der die logistische Großleistung des Umzugs in seiner Ära, die Ende des heurigen Jahres enden wird, für sich verzeichnen darf, als auch die meisten Referenten entstammen der Verwaltung oder den Universitäten, sind also keine gelernten Richter, was nichts an der Akribie und Förmlichkeit der Verfahrensführung auf der Freyung ändert.
Manche Autoren kritisieren VfGH-Erkenntnisse mit Beiworten wie "verfehlt" oder sie bezeichnen ein Erkenntnis gar als "Fehlurteil". Mir wird Derartiges nie aus der Feder fließen - und das hat zwei Gründe. Zum einen glaube ich, dass das Heruntermachen richterlicher Erkenntnis, die mühsam und stets bedachtsam-ausgleichend zu schöpfen ist, die Legitimität der Justiz schwächt. Wer als Staatsrechtler Verantwortungsbewusstsein hat, geht mit den Höchstgerichten und ihren Urteilen, Beschlüssen oder Erkenntnissen sachte und behutsam um.
Der zweite Grund ist ein persönlicher, denn ich fühle mich, obwohl ich nur zwei Jahre lang wissenschaftlicher Mitarbeiter des VfGH war, mit dieser Institu-tion und ihrem Personal (vom Portier bis zum Personalchef) menschlich verbunden, was auf vielen persönlichen Begegnungen, Besuchen und Erlebnissen beruht und solcherart unauslöschlich ist.
Sicherheitsbeauftragter
Meine Erinnerungen beziehen sich auf den alten Sitz des VfGH am Judenplatz und meine Tätigkeit in der Jordangasse, wo ich 1991/92 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des VfGH saß. Mit 29 Jahren erklomm ich aus meiner subjektiven Sichtweise bereits den Olymp meiner Justizlaufbahn, obwohl die rechtsprechende Gewalt, verglichen mit den anderen Staatsfunktionen, nur eine Nebenrolle in meinem Leben spielen sollte. Doch damals war die Welt noch in Ordnung und es gab weder gewaltsames Gendern noch Quoten, mit denen die deutsche Sprache und die Justiz systematisch ruiniert werden.
Der damalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs bestellte auf Grund einer Verfügung des Bundeskanzleramts meinen Kollegen Hermann Salzburger und mich zu Sicherheitsbeauftragten des Höchstgerichts. Der VfGH war damals, wie schon gesagt, gegenüber vom Lessingdenkmal am Judenplatz situiert, wohingegen in der Ersten Republik das Höchstgericht im Parlament im Trakt unweit des Palais Epstein tagte. Daher hatte es Hans Kelsen von seiner Wohnung in der Wickenburggasse nicht weit zum VfGH, dem er bis 1930 angehörte, ehe dort eine "Umpolitisierung" stattfand und ihm Ludwig Adamovich se- nior, ein Christlichsozialer, folgte.
Dessen namensgleicher Sohn, der in Nachfolge seines Vaters sowie der Professoren Antoniolli und Melichar als dritter Präsident der Zweiten Republik den VfGH leitete, vertraute vor mehr als einem Vierteljahrhundert uns beiden die, wie es uns schien, intimsten Geheimnisse der ehemaligen böhmischen Hof- und Staatskanzlei an. Mit stolzgeschwellter Brust und einem riesigen Schlüsselbund verließen wir das Präsidium und machten uns auf den Weg zu unserem ersten Sicherheitsrundgang. Es spricht für unser Pflichtbewusstsein, dass wir nicht sofort neue Visitenkarten bestellten, auf denen das wichtige, vordem allerdings in der Öffentlichkeit gänzlich unbekannte Amt aufschien, aber wir hatten das dumpfe Gefühl, dass dies vielleicht vom Präsidenten missverstanden werden könnte . . .
Ein Gebäude, in dem noch der Geist des Absolutismus weht, hat viele Eigenheiten. Bald kannten wir verschwiegene Treppenaufgänge und einen Ausgang zur Wipplingerstraße, den außer uns niemand verwendete, da er in einem Durchgang und somit im Nirwana mündete. Hermann Salzburger war, was sein Name nicht vermuten ließ, Innsbrucker und bekleidete gemeinsam mit mir die Funktion eines wissenschaftlichen Mitarbeiters am VfGH. Der für uns zuständige Referent war gebürtiger Oberösterreicher und Beamter aus Tirol, der zum Mitglied des Höchstgerichts ernannt worden war. "Verfassungsrichter" ist übrigens eine moderne Bezeichnung, die damals verpönt war, man nannte sich mit understatement lediglich "Mitglied" oder "Ersatzmitglied".
Während der Präsident im Palais wie ein Fürst residierte, was ihm natürlich zustand, saß der Vizepräsident, ein Berufsrichter, der auch am Obersten Gerichtshof ein hohes Amt ausübte, in einer kleinen Saunakammer im Dachgeschoß der Jordangasse, genau ein Stockwerk über uns. Somit erfüllte sich die Prophezeiung Franz Kafkas, der im "Prozess" einen Strafrichter in einer kleinen Dachkammer agieren ließ.
Wenn es eine Erfahrung gibt, die im Justizbereich jeder und jede macht, dann ist es jene, dass Kafka im "Prozess" nicht übertrieben hat. Die Richter-Porträts von Malern gibt es ebenso wie jene von Rektoren im Ferstel-Palast am Universitätsring. Ein Porträtist, der bei Kafka noch dazu ganz ähnlich hieß wie der erste VfGH-Präsident (Vittorelli), kann aber nichts über den Fortgang eines Verfahrens erfahren oder den Amtsträger aushorchen. Denn es galt und gilt das Amtsgeheimnis, weshalb auch wir Schriftführer schwiegen wie das Kafka-Grab am Prager Friedhof in Straschnitz.
Legendäre Arbeitsmoral
In den beiden Zimmern, die mit einer kleinen Dachterrasse aufwarteten, stapelten sich die Akten, denn niemand brachte in einer Session so viele Fälle voran, wie der Herr Vizepräsident. Er selbst, der die rote Abendsonne am Dach des Gebäudes genoss, begegnete uns häufig, denn seine Arbeitsmoral war legendär. Seine sarkastischen Spitzen wurden von allen gerühmt und noch heute erkenne ich an diesen Formulierungen, welche Erkenntnisse der Siebziger- und Achtzigerjahre der Vizepräsident als Referent vorbereitet hatte.
In der amtlichen Sammlung ist etwa nachlesbar, dass jede Partei, die mehr als zwei Sätze zur Schilderung desselben Sachverhalts oder Beschwerdegrundes brauchte, sich "weitwendig" ausdrückt. Ich bin mir sicher, diesen Begriff in keinem Werk der Weltliteratur gelesen zu haben, nicht einmal in einer Übersetzung von Dostojewskis "Schuld und Sühne", das ja richtigerweise "Schuld und Strafe" heißen müsste. Aber dennoch trifft das Attribut das Gemeinte punktgenau. Darin liegt richterliche Schärfe und Formulierungsgabe, die von Außenstehenden oft unterschätzt wird.
Und daher trifft die Grundaussage der Skulptur von Rachel Whitehead, welche dem Mizrachihaus, der Synagoge und den Leiden der Juden in Wien gewidmet ist, auch auf die Judikatur am Judenplatz zu, die dort heute noch vom Verwaltungsgerichtshof fortgeführt wird, nachdem der VfGH schon lange ausgezogen ist.
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Gerhard Strejcek
Flucht in den Reigen
Wiener Zeitung, 07.07.2017
Der österreichische Schriftsteller Friedrich Torberg analysiert im Roman ". . . und sie glauben, es wäre die Liebe" die
Jugendkultur vor Hitlers Machtergreifung.
Adoleszente Selbstfindung und spätpubertäre Beziehungs-Dialoge standen bei Torbergs "Zweitling" aus dem Jahr 1932, ". . . und glauben, es wäre die Liebe", im Vordergrund. Obwohl der in Prag geborene Wiener Autor ein sensibles Thema aufgegriffen hatte, geriet das etwas sperrig betitelte Werk bald in Vergessenheit. Dies geschah zu Unrecht, wie man nach Lektüre der gereiften und eine Weiterentwicklung des Autors indizierenden Texte feststellen kann. Nachdem die von David Axmann beim Münchner Langen Müller Verlag besorgte Torberg-Edition nur noch antiquarisch erhältlich ist, wurde der vorliegende Band neben anderen ("Hier bin ich, mein Vater") beim Josefstädter Milena-Verlag 85 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen neu aufgelegt.
Acht junge Menschen, zwei Frauen und sechs Männer, beschreiben ihre Erlebnisse und Sehnsüchte aus ihrer subjektiven und vorurteilsbehafteten Sicht. Sie betrachten einander misstrauisch durch die Brille noch nicht ausgereifter Erwartungen, die durch sexuelle Erlebnisse befeuert werden.
Experimentelles Genre
Sensibel verfasst und mit originellen Wendungen versehen, stand der Tagebuch- und Briefroman neuen Typs Anfang der 1930er Jahre als hoch modern da. Der Autor zählte damals erst zarte dreiundzwanzig Lenze und war bereits durch seinen Schüler-Roman "Der Schüler Gerber hat absolviert" in den Kreis der von ihm hymnisch verehrten Schriftsteller aufgestiegen. Mit dem Wechsel zu einem experimentellen Genre überwand der Autor den gefährlichen Schaffensknick, der einer erfolgreichen Premiere oft auf den Fuß folgt.
Die Rezensenten vom "Tagblatt" attestierten dem Wassersportler und zeitweiligen Schulversager Talent und eine erstaunliche "Frühreife", worin doch einiger Sarkasmus lag. Heute erscheint Vieles in Torbergs Werk als logische Folge der Psychoanalyse - und das Alter der Figuren im Verhältnis zu ihren Erlebnissen leicht überhöht. Hier agieren junge Erwachsene wie Teenager der Jetztzeit, freilich vor einem anderen Erziehungs- und Bildungshintergrund und mit einer grundlegend anderen Jugendsprache, als sie heute üblich ist.
Die bibliophile Ausgabe, die von der Designer- und Grafikwerkstatt "BoutiqueBrutal" sensibel und geschmackvoll ausgestattet wurde, lässt den Leser nicht allein mit dieser Beobachtung. Zum besseren Verständnis der Zeit- und Publikationsumstände verhilft das tief schürfende Nachwort von Peter Zimmermann. Es gibt Aufschluss über die Hintergründe der episodenhaften Darstellungen und die Motive, warum sich Torberg des Gefühlslebens von jungen Erwachsenen annahm. Ganz neu war diese Zielgruppe für Literaten auch damals nicht. Reisen in das Innere von einstigen Schülern und gereiften Männern anlässlich eines Maturatreffens hatte schon Franz Werfel in seinem "Abituriententag" (1927) thematisiert, drei Jahre nach Torberg kam Ödön von Horváth mit seiner "Jugend ohne Gott" heraus.
Vergleicht man die Werke, so fällt die Unterbelichtung des politischen Elements und der Blick aufs Analytische bei Torberg auf. Schon in zeitgenössischen Rezensionen kam Kritik an der Weglassung der historischen Rahmenbedingungen und der dadurch bewirkten Implikationen für die Beziehungen junger Menschen auf. In Österreich knapp vor dem Ende der Ersten Republik wie in der Weimarer Republik befanden sich viele Jugendliche im Umbruch. Kaum einer unter ihnen konnte sich der Radikalisierung und den autoritären Tendenzen entziehen.
In Torbergs Figuren wird die Polarisierung zart angedeutet, etwa im Gegensatz zwischen aufgeschlosseneren und wertkonservativen Erziehungsmodellen, doch der Autor modellierte keine radikalen oder libertinistischen Charaktere. Gemessen an verbreiteten Trends wie dem Jazz und der großen Fitnesswelle der späten Zwanzigerjahre wirken die Mokkakränzchen Torbergs nahezu altmodisch.
Vermutlich trugen die sechs jungen Männer schon Uniformen einer paramilitärischen Gruppe oder sympathisierten mit den "revolutionären" Strömungen von links und ganz rechts. Aber das focht Torberg nicht an, und so merkt der Leser kaum, dass bereits Mussolini in Italien mit den Rutenbündeln der Faschisten herrschte und Hitler in Berlin trotz sinkender Wahlerfolge der NSDAP an seiner perfiden Machtübernahme feilte, während Dollfuß in Österreich an der Quadratur einer austrofaschistischen Diktatur in einem Ständestaat katholisch-konservativer Prägung arbeitete. Jugendlichen, die hier abseits bleiben wollten, blieb oft nur die Flucht in den damals boomenden Alpinismus.
Privates Schein-Idyll
Doch diese Flucht, die dem Verstecken in einer Beziehungskiste, einem Rückzug ins private Schein-Idyll oder einem frühsommerlichen Reigen an Ausschweifungen gleichkam (folgt man Torberg), währte nicht lange. Schon standen jene Diktatoren, deren Opfer und Kanonenfutter gerade diese Generation werden sollte, knapp vor der Machtergreifung, und jene rumorten in den Startlöchern, die den Umsturz für trübe Experimente des Folter- und Polizeistaates nutzen wollten. Das Erscheinungsjahr des zweiten Torberg-Romans war das letzte "demokratisch verfasste" in beiden deutschsprachigen Ländern.
Die große psychologische und darstellerische Leistung des Autors bestand darin, sich in unterschiedliche, keinesfalls weltfremde Typen von jungen Erwachsenen hineinzuversetzen. Es gelingt dem eloquenten "Fritz", konsequent deren Haltung, Linie, Emotionen zu sezieren und markante Aussagen über die jeweilige Wahrnehmung des anderen Geschlechts zu treffen. Einmal sind Avancen unerwünscht, dann wiederum werden sie förmlich ersehnt, Eltern erscheinen verzopft, wissen - wie auch heute - meist nichts Näheres über das Treiben der Jungen oder sitzen einfach im "falschen Dampfer", was das Gefühlsleben des "flügge" gewordenen Nachwuchses betrifft.
Torbergs Hauptthema war es in diesem dialogischen Versuch, dass es für Zwanzigjährige ein Hauptthema ihres Lebensabschnitts ist, einen passenden Partner nicht nur zu finden, sondern über das rein Sexuelle hinaus Harmonie und Glücksgefühle zu erlangen. Heute erscheint uns das als selbstverständlich, aber in den von restaurativen und nationalistischen Tendenzen geprägten Dreißigerjahren konnte sich das emotionale Problem mit den äußeren Zwängen zu einem undurchdringlichen Gestrüpp verwirren. Torbergs differenzierte Darstellungsweise lenkte den Fokus des Lesers auf diese inneren Kämpfe; über die äußeren berichteten ohnehin die Medien.
Trotz dieser Leistung ist ". . . und glauben, es wäre die Liebe" ein experimenteller Roman. Heutzutage könnte der Autor seine Zielgruppe kaum mehr auf diese Weise ansprechen, weil Tagebucheintragungen, lange ausformulierte Briefe und das "Sie-Wort" vor dem ersten Kuss obsolet geworden sind. Medial betrachtet, ersetzen vielleicht Glattauers "Gut gegen Nordwind", die explizit formulierten, amerikanischen Romane aus den 1980ern von Bret Easton Ellis oder Jay McInernay, bzw. bald auch ein neuer Social-media-Versuch oder SMS-Roman den damals modernen Torbergschen Ansatz.
Dokument
Dennoch bleibt dieser Roman ein überaus gelungenes Dokument der Jugendkultur der Dreißigerjahre. Vergleicht man ihn mit "Jugend ohne Gott", so läutete Ödön von Horváth das "Zeitalter der Fische" endgültig ein und akzentuierte deutlich stärker die Brutalisierung und Politisierung der Jugend. Aber auch Horváth versuchte mit Erfolg, in deren Beziehungsstrukturen und Sehnsüchte einzudringen, wie es Robert Musil in seinem Frühwerk über die "Verwirrungen des Zöglings Törless" schon lange zuvor geschafft hatte.
All diese Romane stehen als Zeitzeugen einer verunsicherten, zugleich ihre eigenen Befindlichkeiten im Verhältnis zu "früher" stärker hervorkehrenden Jugend, die dann zu Uniformität, Bestialität und Gleichschaltung gezwungen wurde, im Falle Musils schon im Ersten Weltkrieg, für die von Torberg und Horváth beschriebene Generation dann noch schlimmer im Zweiten.
Welche Wirkung kann Torbergs Werk heute haben? Zweifellos kann es für Genuss bei Torberg-Kennern sorgen. Aber es ist eher zu bezweifeln, dass sich "Twens" von heute mit seinen Figuren identifizieren könnten. Hingegen werden sich Teens und Twens von heute vermutlich an der Ausdrucksweise Torbergs stoßen, die sie naturgemäß als "retro" oder unverständlich empfinden. Denn auch das Genre "Jugendroman" hat sich weiter entwickelt und weist vor allem in Frankreich sensible und zeitgemäße Werke auf, die das Einzelschicksal moderner Jugendlicher in einer multikulturellen Gesellschaft nachzeichnen.
Der Milena-Verlag hat durch den Abdruck der Originalversion des Torbergtexts samt dem gelungenen Nachwort ein lesenswertes Werk zugänglich gemacht.
Literatur
Friedrich Torberg: . . . und glauben, es wäre die Liebe
Roman.
Milena, Wien 2017
366 Seiten
24,- Euro.
Adoleszente Selbstfindung und spätpubertäre Beziehungs-Dialoge standen bei Torbergs "Zweitling" aus dem Jahr 1932, ". . . und glauben, es wäre die Liebe", im Vordergrund. Obwohl der in Prag geborene Wiener Autor ein sensibles Thema aufgegriffen hatte, geriet das etwas sperrig betitelte Werk bald in Vergessenheit. Dies geschah zu Unrecht, wie man nach Lektüre der gereiften und eine Weiterentwicklung des Autors indizierenden Texte feststellen kann. Nachdem die von David Axmann beim Münchner Langen Müller Verlag besorgte Torberg-Edition nur noch antiquarisch erhältlich ist, wurde der vorliegende Band neben anderen ("Hier bin ich, mein Vater") beim Josefstädter Milena-Verlag 85 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen neu aufgelegt.
Acht junge Menschen, zwei Frauen und sechs Männer, beschreiben ihre Erlebnisse und Sehnsüchte aus ihrer subjektiven und vorurteilsbehafteten Sicht. Sie betrachten einander misstrauisch durch die Brille noch nicht ausgereifter Erwartungen, die durch sexuelle Erlebnisse befeuert werden.
Experimentelles Genre
Sensibel verfasst und mit originellen Wendungen versehen, stand der Tagebuch- und Briefroman neuen Typs Anfang der 1930er Jahre als hoch modern da. Der Autor zählte damals erst zarte dreiundzwanzig Lenze und war bereits durch seinen Schüler-Roman "Der Schüler Gerber hat absolviert" in den Kreis der von ihm hymnisch verehrten Schriftsteller aufgestiegen. Mit dem Wechsel zu einem experimentellen Genre überwand der Autor den gefährlichen Schaffensknick, der einer erfolgreichen Premiere oft auf den Fuß folgt.
Die Rezensenten vom "Tagblatt" attestierten dem Wassersportler und zeitweiligen Schulversager Talent und eine erstaunliche "Frühreife", worin doch einiger Sarkasmus lag. Heute erscheint Vieles in Torbergs Werk als logische Folge der Psychoanalyse - und das Alter der Figuren im Verhältnis zu ihren Erlebnissen leicht überhöht. Hier agieren junge Erwachsene wie Teenager der Jetztzeit, freilich vor einem anderen Erziehungs- und Bildungshintergrund und mit einer grundlegend anderen Jugendsprache, als sie heute üblich ist.
Die bibliophile Ausgabe, die von der Designer- und Grafikwerkstatt "BoutiqueBrutal" sensibel und geschmackvoll ausgestattet wurde, lässt den Leser nicht allein mit dieser Beobachtung. Zum besseren Verständnis der Zeit- und Publikationsumstände verhilft das tief schürfende Nachwort von Peter Zimmermann. Es gibt Aufschluss über die Hintergründe der episodenhaften Darstellungen und die Motive, warum sich Torberg des Gefühlslebens von jungen Erwachsenen annahm. Ganz neu war diese Zielgruppe für Literaten auch damals nicht. Reisen in das Innere von einstigen Schülern und gereiften Männern anlässlich eines Maturatreffens hatte schon Franz Werfel in seinem "Abituriententag" (1927) thematisiert, drei Jahre nach Torberg kam Ödön von Horváth mit seiner "Jugend ohne Gott" heraus.
Vergleicht man die Werke, so fällt die Unterbelichtung des politischen Elements und der Blick aufs Analytische bei Torberg auf. Schon in zeitgenössischen Rezensionen kam Kritik an der Weglassung der historischen Rahmenbedingungen und der dadurch bewirkten Implikationen für die Beziehungen junger Menschen auf. In Österreich knapp vor dem Ende der Ersten Republik wie in der Weimarer Republik befanden sich viele Jugendliche im Umbruch. Kaum einer unter ihnen konnte sich der Radikalisierung und den autoritären Tendenzen entziehen.
In Torbergs Figuren wird die Polarisierung zart angedeutet, etwa im Gegensatz zwischen aufgeschlosseneren und wertkonservativen Erziehungsmodellen, doch der Autor modellierte keine radikalen oder libertinistischen Charaktere. Gemessen an verbreiteten Trends wie dem Jazz und der großen Fitnesswelle der späten Zwanzigerjahre wirken die Mokkakränzchen Torbergs nahezu altmodisch.
Vermutlich trugen die sechs jungen Männer schon Uniformen einer paramilitärischen Gruppe oder sympathisierten mit den "revolutionären" Strömungen von links und ganz rechts. Aber das focht Torberg nicht an, und so merkt der Leser kaum, dass bereits Mussolini in Italien mit den Rutenbündeln der Faschisten herrschte und Hitler in Berlin trotz sinkender Wahlerfolge der NSDAP an seiner perfiden Machtübernahme feilte, während Dollfuß in Österreich an der Quadratur einer austrofaschistischen Diktatur in einem Ständestaat katholisch-konservativer Prägung arbeitete. Jugendlichen, die hier abseits bleiben wollten, blieb oft nur die Flucht in den damals boomenden Alpinismus.
Privates Schein-Idyll
Doch diese Flucht, die dem Verstecken in einer Beziehungskiste, einem Rückzug ins private Schein-Idyll oder einem frühsommerlichen Reigen an Ausschweifungen gleichkam (folgt man Torberg), währte nicht lange. Schon standen jene Diktatoren, deren Opfer und Kanonenfutter gerade diese Generation werden sollte, knapp vor der Machtergreifung, und jene rumorten in den Startlöchern, die den Umsturz für trübe Experimente des Folter- und Polizeistaates nutzen wollten. Das Erscheinungsjahr des zweiten Torberg-Romans war das letzte "demokratisch verfasste" in beiden deutschsprachigen Ländern.
Die große psychologische und darstellerische Leistung des Autors bestand darin, sich in unterschiedliche, keinesfalls weltfremde Typen von jungen Erwachsenen hineinzuversetzen. Es gelingt dem eloquenten "Fritz", konsequent deren Haltung, Linie, Emotionen zu sezieren und markante Aussagen über die jeweilige Wahrnehmung des anderen Geschlechts zu treffen. Einmal sind Avancen unerwünscht, dann wiederum werden sie förmlich ersehnt, Eltern erscheinen verzopft, wissen - wie auch heute - meist nichts Näheres über das Treiben der Jungen oder sitzen einfach im "falschen Dampfer", was das Gefühlsleben des "flügge" gewordenen Nachwuchses betrifft.
Torbergs Hauptthema war es in diesem dialogischen Versuch, dass es für Zwanzigjährige ein Hauptthema ihres Lebensabschnitts ist, einen passenden Partner nicht nur zu finden, sondern über das rein Sexuelle hinaus Harmonie und Glücksgefühle zu erlangen. Heute erscheint uns das als selbstverständlich, aber in den von restaurativen und nationalistischen Tendenzen geprägten Dreißigerjahren konnte sich das emotionale Problem mit den äußeren Zwängen zu einem undurchdringlichen Gestrüpp verwirren. Torbergs differenzierte Darstellungsweise lenkte den Fokus des Lesers auf diese inneren Kämpfe; über die äußeren berichteten ohnehin die Medien.
Trotz dieser Leistung ist ". . . und glauben, es wäre die Liebe" ein experimenteller Roman. Heutzutage könnte der Autor seine Zielgruppe kaum mehr auf diese Weise ansprechen, weil Tagebucheintragungen, lange ausformulierte Briefe und das "Sie-Wort" vor dem ersten Kuss obsolet geworden sind. Medial betrachtet, ersetzen vielleicht Glattauers "Gut gegen Nordwind", die explizit formulierten, amerikanischen Romane aus den 1980ern von Bret Easton Ellis oder Jay McInernay, bzw. bald auch ein neuer Social-media-Versuch oder SMS-Roman den damals modernen Torbergschen Ansatz.
Dokument
Dennoch bleibt dieser Roman ein überaus gelungenes Dokument der Jugendkultur der Dreißigerjahre. Vergleicht man ihn mit "Jugend ohne Gott", so läutete Ödön von Horváth das "Zeitalter der Fische" endgültig ein und akzentuierte deutlich stärker die Brutalisierung und Politisierung der Jugend. Aber auch Horváth versuchte mit Erfolg, in deren Beziehungsstrukturen und Sehnsüchte einzudringen, wie es Robert Musil in seinem Frühwerk über die "Verwirrungen des Zöglings Törless" schon lange zuvor geschafft hatte.
All diese Romane stehen als Zeitzeugen einer verunsicherten, zugleich ihre eigenen Befindlichkeiten im Verhältnis zu "früher" stärker hervorkehrenden Jugend, die dann zu Uniformität, Bestialität und Gleichschaltung gezwungen wurde, im Falle Musils schon im Ersten Weltkrieg, für die von Torberg und Horváth beschriebene Generation dann noch schlimmer im Zweiten.
Welche Wirkung kann Torbergs Werk heute haben? Zweifellos kann es für Genuss bei Torberg-Kennern sorgen. Aber es ist eher zu bezweifeln, dass sich "Twens" von heute mit seinen Figuren identifizieren könnten. Hingegen werden sich Teens und Twens von heute vermutlich an der Ausdrucksweise Torbergs stoßen, die sie naturgemäß als "retro" oder unverständlich empfinden. Denn auch das Genre "Jugendroman" hat sich weiter entwickelt und weist vor allem in Frankreich sensible und zeitgemäße Werke auf, die das Einzelschicksal moderner Jugendlicher in einer multikulturellen Gesellschaft nachzeichnen.
Der Milena-Verlag hat durch den Abdruck der Originalversion des Torbergtexts samt dem gelungenen Nachwort ein lesenswertes Werk zugänglich gemacht.
Literatur
Friedrich Torberg: . . . und glauben, es wäre die Liebe
Roman.
Milena, Wien 2017
366 Seiten
24,- Euro.
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Gerhard Strejcek
Verwirrung um Österreichs Staatsziele
Die Presse, 05.07.2017
Die Flughafen-Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ermahnt die Gerichte,
sich an den engen Wortsinn der Gesetze zu halten. Wie sich zeigt, sind Staatsziele grundsätzlich
ein problematisches Terrain.
Im Bundesverfassungsgesetz über den „umfassenden Umweltschutz“ wird dieser als die „Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen“ definiert. Er besteht insbesondere „in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm“. So weit so verständlich und naheliegend. Staatsziele haben eine ähnliche Funktion wie Grundrechte, aber anders als diese sind sie an die Gesetzgebung und Vollziehung gerichtet (Beispiel Schutz autochthoner Minderheiten in Art 8 Abs 2 B-VG) und enthalten keine subjektiven Rechte.
Offenkundig ist es aber auch so, dass im Rahmen der Vollziehung (Justiz, Verwaltung) Vorsicht mit der Heranziehung übergeordneter Verfassungsziele geboten ist. Im aktuellen Erkenntnis vom 29. Juni E 875, 886/2017, mit dem der Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine den Bau einer dritten Start- und Landepiste in Schwechat im Effekt untersagende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) aufhebt, sieht das Höchstgericht einen schweren Vollziehungsfehler darin, dass das BVwG die „sonstigen öffentlichen Interessen“, die im Luftfahrtgesetz als Entscheidungsmaßstab angeführt werden, eigenständig im Sinne des Umwelt-BVG interpretiert hat; richtig wäre es gewesen, dabei nur jene Interessen zu berücksichtigen, die im Luftfahrtgesetz selbst angeführt sind bzw aus diesem (einfachen) Gesetz ableitbar sind.
Rechtslage gehäuft verkannt
Weiters habe sich das BVwG bei der Berechnung von Emissionen geirrt. Schließlich sei es auch unzutreffend, die Umweltziele der niederösterreichischen Landesverfassung einzubeziehen, weil dieses LVG nur regionale Bedeutung hat; alles in allem habe das BVwG die Rechtslage gehäuft verkannt und objektive Willkür geübt (ein im Verfassungsrecht gebräuchlicher Terminus für einen schweren Vollziehungsfehler).
Auch wenn die tragenden Gründe der Entscheidung in Wahrheit weniger den Inhalt als den Auslegungsmaßstab betreffen und daher „Business as usual“ im juristischen Kontext betreffen, fielen die Kommentare polemisch aus. Ebenso gut hätte das BVwG das Recht auf Glück in der Konstitution Bhutans zitieren können, las man in Benedikt Kommendas Kommentar.
Nun, „pursuit of happiness“ ist ein altes verfassungsrechtliches Thema, das bis 1776 zurück reicht und womöglich beansprucht, in den Kontext mit einer lebenswerten Umwelt gestellt zu werden. Wer beim Radfahren, Schwimmen oder beim ausgiebigen Laufen Glück verspürt, verdankt dies einer intakten Umwelt. Doch der VfGH mahnt ein, dass die Mittelinstanzen nicht selbst frei nach den grundlegenden Verfassungszielen agieren, sondern sich an den engeren Wortsinn der Gesetze, die sie vollziehen, halten sollen. Das ist undramatisch, denn der VfGH hat etwa in der Rechtfertigung von Höchstzahlen für Binnenschifffahrtskonzessionen selbst Umweltziele als öffentliche Interessen anerkannt und mit der Erwerbsfreiheit (richtig) abgewogen.
Noch vor der Verkündung der Entscheidung ist eine verfassungspolitische Diskussion über die Verankerung neuer Staatsziele in der Bundesverfassung angegangen. Ein Bekenntnis zum „Wirtschaftswachstum“ wurde eingemahnt, die Landeshauptleute machten Druck mit dieser nun undifferenziert, ja platt anmutenden Forderung. Staatsziele sind ein heikles Thema, das einer tiefer schürfenden Debatte bedarf. Auch im Frühsommer 1920 vor Beschlussfassung über das B-VG, das nicht einfach über den Leisten gebrochen, sondern erst nach sorgfältiger Beratung und Konsultation Hans Kelsens als Experten durch den zuständigen Unterausschuss den Abgeordneten im Plenum der konstituierenden Nationalversammlung vorgelegt wurde, war dies der Fall. Im Ergebnis kamen dann so gut wie keine Staatsziele heraus, jene, die wir kennen (zum Beispiel die umfassende Landesverteidigung in Art 9a B-VG), sind alle späteren Datums.
Wenig inhaltliche Vorgaben
Staatsziele sind grundsätzlich ein problematisches Terrain, weil das B-VG sich von seiner Grundkonzeption her auf „Spielregeln“ beschränkt und nur wenige inhaltliche Vorgaben enthält. Sinnvoller sind historische „Antworten“ wie das NS-Verbotsgesetz und die Verhinderung von Wiederbetätigung oder die im Staatsvertrag von Wien enthaltenen Gebote hinsichtlich Minderheitenschutz, Demokratie und Aufrechterhaltung des republikanischen Systems. Gleichberechtigung und Behindertenförderung, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Atom-BVG haben im Lauf der letzten Jahre die Bundesverfassung ergänzt.
Ob aber die Verfassung der geeignete Ort ist, ein ethisch erwünschtes Verhalten von Staatsorganen zu postulieren, kann angesichts der Mechanismen einer auf Organzuständigkeiten und Checks and balances sowie umfassende Rechtskontrolle abzielenden Konstitution fragwürdig sein. Vor allem aber bringen Staatsziele, wie auch die Entscheidungsdivergenzen rund um die dritte Piste zeigen, ein Bündel an Auslegungsfragen mit sich, in ihrem Verhältnis zu bestehenden Vorgaben, die ja nicht nur innerstaatlicher Natur sind, sondern auch völker- oder unionsrechtlichen Verpflichtungen folgen.
Auch hier kritisierte der VfGH übrigens, dass das BVwG sich an derartigen Vorgaben orientierte, statt an der innerstaatlichen Konkretisierung durch das Gesetz selbst; aber es muss hier eingewendet werden, dass verfassungs- und völkerrechtskonforme Interpretation überkommene Lösungsmuster (Paradigmata) auch im Verwaltungsrecht sind.
Unauffällig wegdiskutiert
Bestehende Staatsziele im Verfassungsrang werfen allerdings selbst Probleme bis hin zum Zielkonflikt und Normwiderspruch auf, der aber zumeist unauffällig wegdiskutiert oder im Sinn einer Staatsdoktrin pragmatisch übergangen wird. So gebietet das Neutralitäts-BVG 1955 die Nichteinmischung in bewaffnete Konflikte, das Staatsziel der umfassenden Landesverteidigung (Art 9a B-VG) kann allerdings eine andere, weniger konfliktscheue Wehrpolitik (zum Beispiel eine engere Nato-Kooperation) nahelegen, und die sogenannten „Petersberg“-Aufgaben, an denen Österreich laut Bundesverfassung (Art 23f B-VG) mitwirken soll, verlangen ein aktives wehrpolitisches Engagement.
Daher besteht auch die verbreitete Meinung, dass die fünf Jahrzehnte später als das Neutralitäts-BVG beschlossene Neuregelung das „alte“ Verfassungsgesetz partiell aufgehoben hat. Eine verfassungspolitische Debatte wäre auch hier erwünscht. Denn Solidarität und Neutralität sind letztlich gegenläufige Prinzipien, die nur selten miteinander in Einklang gebracht werden können.
Wer Staatsziele fordert, sollte vorher genau über die Folgen für die Auslegung im Einzelfall nachdenken.
Im Bundesverfassungsgesetz über den „umfassenden Umweltschutz“ wird dieser als die „Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen“ definiert. Er besteht insbesondere „in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm“. So weit so verständlich und naheliegend. Staatsziele haben eine ähnliche Funktion wie Grundrechte, aber anders als diese sind sie an die Gesetzgebung und Vollziehung gerichtet (Beispiel Schutz autochthoner Minderheiten in Art 8 Abs 2 B-VG) und enthalten keine subjektiven Rechte.
Offenkundig ist es aber auch so, dass im Rahmen der Vollziehung (Justiz, Verwaltung) Vorsicht mit der Heranziehung übergeordneter Verfassungsziele geboten ist. Im aktuellen Erkenntnis vom 29. Juni E 875, 886/2017, mit dem der Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine den Bau einer dritten Start- und Landepiste in Schwechat im Effekt untersagende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) aufhebt, sieht das Höchstgericht einen schweren Vollziehungsfehler darin, dass das BVwG die „sonstigen öffentlichen Interessen“, die im Luftfahrtgesetz als Entscheidungsmaßstab angeführt werden, eigenständig im Sinne des Umwelt-BVG interpretiert hat; richtig wäre es gewesen, dabei nur jene Interessen zu berücksichtigen, die im Luftfahrtgesetz selbst angeführt sind bzw aus diesem (einfachen) Gesetz ableitbar sind.
Rechtslage gehäuft verkannt
Weiters habe sich das BVwG bei der Berechnung von Emissionen geirrt. Schließlich sei es auch unzutreffend, die Umweltziele der niederösterreichischen Landesverfassung einzubeziehen, weil dieses LVG nur regionale Bedeutung hat; alles in allem habe das BVwG die Rechtslage gehäuft verkannt und objektive Willkür geübt (ein im Verfassungsrecht gebräuchlicher Terminus für einen schweren Vollziehungsfehler).
Auch wenn die tragenden Gründe der Entscheidung in Wahrheit weniger den Inhalt als den Auslegungsmaßstab betreffen und daher „Business as usual“ im juristischen Kontext betreffen, fielen die Kommentare polemisch aus. Ebenso gut hätte das BVwG das Recht auf Glück in der Konstitution Bhutans zitieren können, las man in Benedikt Kommendas Kommentar.
Nun, „pursuit of happiness“ ist ein altes verfassungsrechtliches Thema, das bis 1776 zurück reicht und womöglich beansprucht, in den Kontext mit einer lebenswerten Umwelt gestellt zu werden. Wer beim Radfahren, Schwimmen oder beim ausgiebigen Laufen Glück verspürt, verdankt dies einer intakten Umwelt. Doch der VfGH mahnt ein, dass die Mittelinstanzen nicht selbst frei nach den grundlegenden Verfassungszielen agieren, sondern sich an den engeren Wortsinn der Gesetze, die sie vollziehen, halten sollen. Das ist undramatisch, denn der VfGH hat etwa in der Rechtfertigung von Höchstzahlen für Binnenschifffahrtskonzessionen selbst Umweltziele als öffentliche Interessen anerkannt und mit der Erwerbsfreiheit (richtig) abgewogen.
Noch vor der Verkündung der Entscheidung ist eine verfassungspolitische Diskussion über die Verankerung neuer Staatsziele in der Bundesverfassung angegangen. Ein Bekenntnis zum „Wirtschaftswachstum“ wurde eingemahnt, die Landeshauptleute machten Druck mit dieser nun undifferenziert, ja platt anmutenden Forderung. Staatsziele sind ein heikles Thema, das einer tiefer schürfenden Debatte bedarf. Auch im Frühsommer 1920 vor Beschlussfassung über das B-VG, das nicht einfach über den Leisten gebrochen, sondern erst nach sorgfältiger Beratung und Konsultation Hans Kelsens als Experten durch den zuständigen Unterausschuss den Abgeordneten im Plenum der konstituierenden Nationalversammlung vorgelegt wurde, war dies der Fall. Im Ergebnis kamen dann so gut wie keine Staatsziele heraus, jene, die wir kennen (zum Beispiel die umfassende Landesverteidigung in Art 9a B-VG), sind alle späteren Datums.
Wenig inhaltliche Vorgaben
Staatsziele sind grundsätzlich ein problematisches Terrain, weil das B-VG sich von seiner Grundkonzeption her auf „Spielregeln“ beschränkt und nur wenige inhaltliche Vorgaben enthält. Sinnvoller sind historische „Antworten“ wie das NS-Verbotsgesetz und die Verhinderung von Wiederbetätigung oder die im Staatsvertrag von Wien enthaltenen Gebote hinsichtlich Minderheitenschutz, Demokratie und Aufrechterhaltung des republikanischen Systems. Gleichberechtigung und Behindertenförderung, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Atom-BVG haben im Lauf der letzten Jahre die Bundesverfassung ergänzt.
Ob aber die Verfassung der geeignete Ort ist, ein ethisch erwünschtes Verhalten von Staatsorganen zu postulieren, kann angesichts der Mechanismen einer auf Organzuständigkeiten und Checks and balances sowie umfassende Rechtskontrolle abzielenden Konstitution fragwürdig sein. Vor allem aber bringen Staatsziele, wie auch die Entscheidungsdivergenzen rund um die dritte Piste zeigen, ein Bündel an Auslegungsfragen mit sich, in ihrem Verhältnis zu bestehenden Vorgaben, die ja nicht nur innerstaatlicher Natur sind, sondern auch völker- oder unionsrechtlichen Verpflichtungen folgen.
Auch hier kritisierte der VfGH übrigens, dass das BVwG sich an derartigen Vorgaben orientierte, statt an der innerstaatlichen Konkretisierung durch das Gesetz selbst; aber es muss hier eingewendet werden, dass verfassungs- und völkerrechtskonforme Interpretation überkommene Lösungsmuster (Paradigmata) auch im Verwaltungsrecht sind.
Unauffällig wegdiskutiert
Bestehende Staatsziele im Verfassungsrang werfen allerdings selbst Probleme bis hin zum Zielkonflikt und Normwiderspruch auf, der aber zumeist unauffällig wegdiskutiert oder im Sinn einer Staatsdoktrin pragmatisch übergangen wird. So gebietet das Neutralitäts-BVG 1955 die Nichteinmischung in bewaffnete Konflikte, das Staatsziel der umfassenden Landesverteidigung (Art 9a B-VG) kann allerdings eine andere, weniger konfliktscheue Wehrpolitik (zum Beispiel eine engere Nato-Kooperation) nahelegen, und die sogenannten „Petersberg“-Aufgaben, an denen Österreich laut Bundesverfassung (Art 23f B-VG) mitwirken soll, verlangen ein aktives wehrpolitisches Engagement.
Daher besteht auch die verbreitete Meinung, dass die fünf Jahrzehnte später als das Neutralitäts-BVG beschlossene Neuregelung das „alte“ Verfassungsgesetz partiell aufgehoben hat. Eine verfassungspolitische Debatte wäre auch hier erwünscht. Denn Solidarität und Neutralität sind letztlich gegenläufige Prinzipien, die nur selten miteinander in Einklang gebracht werden können.
Wer Staatsziele fordert, sollte vorher genau über die Folgen für die Auslegung im Einzelfall nachdenken.
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Gerhard Strejcek
Kafkas ungarischer Erbe
Wiener Zeitung, 02.07.2017
Der ungarische Autor Szilárd Borbély begab sich in seinem Romanfragment "Kafkas Sohn" auf die Spuren seines großen Vorbilds - und auf die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Am 3. Juli 1883 wurde Franz Kafka in Prag geboren, und am 3. Juni 1924 ist er in Kierling, heute ein Ortsteil Klosterneuburgs vor den Toren Wiens, verstorben. Kinderlos, wie es in allen Biografien heißt, - aber ganz gesichert ist dieses Faktum nicht, denn zumindest vier Frauen hatten intime Beziehungen mit dem schüchternen Juristen. Sie hießen Felice, Julie, Milena und Dora. Auch mit einer jungen Schweizerin gab es ein Techtelmechtel bei einem Kuraufenthalt in Riva am Gardasee. Mit einiger Fantasie könnte das Schicksal von fünf fiktiven Kafka-Söhnen Folgendes gewesen sein:
Felix Bauer-Kafka, geboren am 19. Februar 1916, hätte die aufstrebende Karriere eines Innenarchitekten gemacht und seiner Mutter, der ebenso innovativen wie arbeitsamen Büromaschinen- und Marketing-Fachfrau Felice Bauer in Manhattan eine Alterswohnung eingerichtet. Urs Maier Kafka (ohne Bindestrich!), der seinen Vater nie kennen lernte, wäre Uhrmacher in Lausanne geworden und später nach St. Gallen gezogen, um sich als Stiftsbibliothekar zu verdingen.
Fiktive & geistige Söhne
Julian Kafka, um 1921 auf die Welt gekommen, wie sein Großvater ein Kantor und Schöngeist, wäre zum Rabbiner aufgestiegen, nach 1949 Abgeordneter in der Knesseth und eifriger Tarock- sowie kundiger Gesprächspartner von Max Brod geworden, zeitweise sein Assistent in biografischer und editorischer Hinsicht. Milan Jesensky, am 1. Mai 1922 geboren, wäre von seinem politisch aktiven Opa, einem slawophilen Arzt, zum tschechischen Nationalisten erzogen worden, da seine Mutter labil und häufig in Nervenheilanstalten aufhältig war - durch die Anfälle des cholerischen Vaters Jan und die Untreue ihrer Partner aufgerieben. Noch wäre der friedfertige Postumus zu erwähnen, Dorian Dyamant, geboren am 17. September 1924. Er hätte von der Mutter das fröhlich-anpackende Wesen, vom Vater das soziale Verantwortungsgefühl geerbt und wäre nach Emigration per Kindertransport in Londons Fürsorgeamt tätig gewesen.
Doch nun zur Realität und zu den existenten Nachfahren im Geiste, womit nicht nur die Epigonen und Kafkologen gemeint sind: Achtzig Jahre nach Kafkas Geburt, im Jahr 1963, kam im ungarischen Dorf Fehérgyarmat sein intellektueller Enkel Szílard Borbély auf die Welt. Der Literat erreichte ein Lebensalter, das ein Jahrzehnt länger währte als jenes des Prager Autors, aber dennoch einem völligen Ausreifen seines viel versprechenden Prosawerkes entgegen stand. Auf Grund der ländlichen Umgebung und der schweren Arbeit reifte Borbély später als der sportliche Sohn eines Galanteriewarenverkäufers am Altstädter Ring. Zudem verlief die ungarische Kindheit trister als jene seines Vorbilds an der Moldau, denn das Dorf bot nichts außer Mücken, Jauche und schmutziger Arbeit. Der junge Szílard hatte somit reichlich Zeit, das Unglücklichsein zu proben, das Voraussetzung für einen Romancier im Windschatten Kafkas ist, wie der "große Franz" selbst postuliert hat.
Im nordöstlichsten Winkel Ungarns mangelte es nicht an verstörenden Erlebnissen wie etwa dem Auftrag, die familiäre Fäkalentsorgung vorzunehmen und Kleintiere zu töten. Da ging es Kafka, eingebettet in ein "Dreimäderlhaus", als Kind besser; aber schon als Prager Student wähnte er sich im achtköpfigen Haushalt in einem "Hauptquartier des Lärms".
Vater Hermann vernichtete durch seine grobe, lautstark die Türen schlagende und die Dienstboten maßregelnde Art jeglichen Ruhepol. So wurde für Kafka die Wohnung der Eltern zu einem unerträglichen Ort, aus dem er sich nur noch nach Verwandlung in einen riesigen Käfer zu retten können vermeinte, den die Familie entsetzt anstarrt, ehe sie den Arzt holt.
Seltsame Despoten
Für Borbély mag es Ruhepausen gegeben haben, als er mit den Misthaufen umstoch oder im Schatten eines Schuppen lag, aber kreativitätsfördernde Beschaulichkeit sieht dann doch anders aus. In Fehérgyarmat gingen die Uhren in den Siebzigerjahren kaum anders als vor hundert Jahren, nur mit dem Unterschied, dass die Menschen noch deprimierter und vom Regime enttäuschter waren als in der 1867 entstandenen Donaumonarchie, die den Ungarn dank eigener Residenzstadt, eigener Regierung und den Ausgleichsverhandlungen Selbstvertrauen einflößte.
Um 1970 amtierten seltsame Despoten, die Uniformen trugen oder einen grünstichigen Zivilanzug samt riesigem Parteiabzeichen, welche in blechernen Worten die ewige Freundschaft zum sowjetischen Retter beschworen, ohne sich um die leidende Bevölkerung und die darbende Infrastruktur zu kümmern. Szílagh Borbélys Mutter neigte unter diesen Umständen zu Depressionen und kündigte einen Selbstmord an, der aber nicht stattfand. Ihr Schicksal vollendete sich auf noch grausamere Weise, denn sie wurde Opfer einer Straftat. Ausgerechnet am Heiligen Abend drangen Raubmörder in das Haus der betagten Frau ein und ermordeten sie, schlugen auch den Vater, weil sie keine Wertsachen vorfanden. Das passierte nicht mehr im Ungarn Imre Nagys oder Janos Kadárs, sondern einige Jahre nach der Ostöffnung, in einer Phase ansteigender Kriminalität und sinkender Hoffnung auf eine Demokratisierung.
Angesichts seiner eigenen Lebensumstände war Borbély, der an der Universität Debrecen Literaturwissenschaften lehrte, geradezu prädestiniert, das lückenhaft-geniale Werk Kafkas weiterzuspinnen. Das innere Grauen begleitete ihn ebenso wie die Gewaltexzesse seiner Heimat. Durch Raufereien und Alkoholsucht hatte der Vater das Vertrauen des Sohns verspielt. "Der Sohn ist das Leben des Vaters", schrieb Szílard Borbély, der am 19. 2. 2014 in Debrecen Selbstmord begangen hat. Hingegen sei der Vater das Unglück, ja das Grab des Sohnes - was sich indirekt in der Vita des Autors bewahrheitete.
Obwohl er an der Universität erfolgreich und beliebt war, die Studierenden seine ruhige Art, seinen Charme und seine Fachkenntnisse schätzten, holte Borbély die triste Stimmung der Heimat ein. Sein erster Gedichtband (2004), in dem er die tragischen Ereignisse rund um den Mord an seiner Mutter verarbeitete, trug den Titel "Leichenprunk".
Durchbruch postum
Ähnlich wie sein Vorbild schaffte der ungarische Autor den Durchbruch mit seinem Roman "Die Mittellosen" (2013 auf Ungarisch, 2014 bei Suhrkamp auf Deutsch) erst postum. In dieser Abrechnung mit seiner unglücklichen Dorfkindheit zeigte Borbély großes Talent, den Leser ins Grauen mit hineinzuziehen. Das nebelgraue Buch schildert eine Anhäufung von morbiden Vorfällen, Mikro-Tragödien und zum Alltag gewordenen Grausamkeiten. Szílard hatte das schlechte Los eines "Sandwich"-Kindes zwischen einer älteren Schwester und einem jung verstorbenen Bruder gezogen.
Nun tritt uns Borbély mit dem Romanfragment "Kafka fia" entgegen: "Kafkas Sohn" erweist sich als ein Meisterwerk, das nicht mehr zur vollen Reife gelangte. Noch zu Lebzeiten berichtete der Autor, dass er nach dem Erfolg seines autobiografischen Schlüsselromans an einem Werk über den Prager Juristen arbeite und auf dessen Spuren wandle.
Borbély las die Biografien und ließ nicht nur den fiktiven Sohn, für den die Biografien keine ernsthaften Anhaltspunkte liefern, sondern auch den robust-unsensiblen Vater Hermann Kafka zu Wort kommen. Schlimmer als es in den Biografien angedeutet wird, vergreift sich der grob geschnitzte Sohn eines Schächters an den Dienstmädchen, denen er Haushaltskleider aus unverkäuflichem Kattunstoff verpasst. Hermann Kafka achtete auf jeden Groschen, um seine Angestellten, die er als "bezahlte Feinde" ansah, zu übervorteilen.
Jüdische Wurzeln
In "Kafkas Sohn" macht sich der elterlicherseits griechisch-orthodox geprägte Autor auch auf die Suche nach den jüdischen Wurzeln der Familie, die er beim von den Nazis ermordeten Großvater findet. Borbély beschreitet den mühsamen Weg in die Vergangenheit der jüdischen Gemeinde, die sich in seinem Dorf auf eine einzige, unbeliebte Person reduziert hatte. Wie Heike Flemming im Nachwort schreibt, stieß der Autor vielfach nur mehr auf Trümmer und Revisionismus.
"Kafkas Sohn" kritisiert die osteuropäischen Diktatoren, deckt soziale Ungleichheiten von heute auf, ist aber auch historisch präzise: Der Portier in der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag begegnet uns in seinem mürrischen Tschechisch und betont servilen Deutsch dem stets freundlichen Dr. Franz Kafka gegenüber. Vielfach brechen die Episoden mitten im Absatz ab und erinnern so an das Werk von Borbélys Vorgänger im Geiste, der in seinen Tagebüchern wie auch im "Process" fragmentarische Notizen hinterließ.
Mystische Einsprengsel verzaubern beim Lesen, etwa der Abschnitt über Nebukadnezar oder den Schwellfüßigen, der zum Vatermörder wird. Dank der sensiblen Übersetzung gewinnt das Fragment noch an Leben. Zweifellos bestehen Parallelen zwischen Kafka und Borbély, doch die traurigste darunter ist, dass beiden Autoren trotz höchster Begabung nur ein halbes Leben und postumer Erfolg beschieden war. Umso wichtiger erscheint, dass wenigstens die Gedanken der beiden Lichtgestalten der Literatur für uns Leser zugänglich sind.
Literatur
Szilárd Borbély: Kafkas Sohn
Prosa aus dem Nachlass. Übersetzung und Nachwort von Heike Flemming und Lacy Kornitzer.
Suhrkamp, Berlin 2017
206 Seiten
24,70 Euro.
Am 3. Juli 1883 wurde Franz Kafka in Prag geboren, und am 3. Juni 1924 ist er in Kierling, heute ein Ortsteil Klosterneuburgs vor den Toren Wiens, verstorben. Kinderlos, wie es in allen Biografien heißt, - aber ganz gesichert ist dieses Faktum nicht, denn zumindest vier Frauen hatten intime Beziehungen mit dem schüchternen Juristen. Sie hießen Felice, Julie, Milena und Dora. Auch mit einer jungen Schweizerin gab es ein Techtelmechtel bei einem Kuraufenthalt in Riva am Gardasee. Mit einiger Fantasie könnte das Schicksal von fünf fiktiven Kafka-Söhnen Folgendes gewesen sein:
Felix Bauer-Kafka, geboren am 19. Februar 1916, hätte die aufstrebende Karriere eines Innenarchitekten gemacht und seiner Mutter, der ebenso innovativen wie arbeitsamen Büromaschinen- und Marketing-Fachfrau Felice Bauer in Manhattan eine Alterswohnung eingerichtet. Urs Maier Kafka (ohne Bindestrich!), der seinen Vater nie kennen lernte, wäre Uhrmacher in Lausanne geworden und später nach St. Gallen gezogen, um sich als Stiftsbibliothekar zu verdingen.
Fiktive & geistige Söhne
Julian Kafka, um 1921 auf die Welt gekommen, wie sein Großvater ein Kantor und Schöngeist, wäre zum Rabbiner aufgestiegen, nach 1949 Abgeordneter in der Knesseth und eifriger Tarock- sowie kundiger Gesprächspartner von Max Brod geworden, zeitweise sein Assistent in biografischer und editorischer Hinsicht. Milan Jesensky, am 1. Mai 1922 geboren, wäre von seinem politisch aktiven Opa, einem slawophilen Arzt, zum tschechischen Nationalisten erzogen worden, da seine Mutter labil und häufig in Nervenheilanstalten aufhältig war - durch die Anfälle des cholerischen Vaters Jan und die Untreue ihrer Partner aufgerieben. Noch wäre der friedfertige Postumus zu erwähnen, Dorian Dyamant, geboren am 17. September 1924. Er hätte von der Mutter das fröhlich-anpackende Wesen, vom Vater das soziale Verantwortungsgefühl geerbt und wäre nach Emigration per Kindertransport in Londons Fürsorgeamt tätig gewesen.
Doch nun zur Realität und zu den existenten Nachfahren im Geiste, womit nicht nur die Epigonen und Kafkologen gemeint sind: Achtzig Jahre nach Kafkas Geburt, im Jahr 1963, kam im ungarischen Dorf Fehérgyarmat sein intellektueller Enkel Szílard Borbély auf die Welt. Der Literat erreichte ein Lebensalter, das ein Jahrzehnt länger währte als jenes des Prager Autors, aber dennoch einem völligen Ausreifen seines viel versprechenden Prosawerkes entgegen stand. Auf Grund der ländlichen Umgebung und der schweren Arbeit reifte Borbély später als der sportliche Sohn eines Galanteriewarenverkäufers am Altstädter Ring. Zudem verlief die ungarische Kindheit trister als jene seines Vorbilds an der Moldau, denn das Dorf bot nichts außer Mücken, Jauche und schmutziger Arbeit. Der junge Szílard hatte somit reichlich Zeit, das Unglücklichsein zu proben, das Voraussetzung für einen Romancier im Windschatten Kafkas ist, wie der "große Franz" selbst postuliert hat.
Im nordöstlichsten Winkel Ungarns mangelte es nicht an verstörenden Erlebnissen wie etwa dem Auftrag, die familiäre Fäkalentsorgung vorzunehmen und Kleintiere zu töten. Da ging es Kafka, eingebettet in ein "Dreimäderlhaus", als Kind besser; aber schon als Prager Student wähnte er sich im achtköpfigen Haushalt in einem "Hauptquartier des Lärms".
Vater Hermann vernichtete durch seine grobe, lautstark die Türen schlagende und die Dienstboten maßregelnde Art jeglichen Ruhepol. So wurde für Kafka die Wohnung der Eltern zu einem unerträglichen Ort, aus dem er sich nur noch nach Verwandlung in einen riesigen Käfer zu retten können vermeinte, den die Familie entsetzt anstarrt, ehe sie den Arzt holt.
Seltsame Despoten
Für Borbély mag es Ruhepausen gegeben haben, als er mit den Misthaufen umstoch oder im Schatten eines Schuppen lag, aber kreativitätsfördernde Beschaulichkeit sieht dann doch anders aus. In Fehérgyarmat gingen die Uhren in den Siebzigerjahren kaum anders als vor hundert Jahren, nur mit dem Unterschied, dass die Menschen noch deprimierter und vom Regime enttäuschter waren als in der 1867 entstandenen Donaumonarchie, die den Ungarn dank eigener Residenzstadt, eigener Regierung und den Ausgleichsverhandlungen Selbstvertrauen einflößte.
Um 1970 amtierten seltsame Despoten, die Uniformen trugen oder einen grünstichigen Zivilanzug samt riesigem Parteiabzeichen, welche in blechernen Worten die ewige Freundschaft zum sowjetischen Retter beschworen, ohne sich um die leidende Bevölkerung und die darbende Infrastruktur zu kümmern. Szílagh Borbélys Mutter neigte unter diesen Umständen zu Depressionen und kündigte einen Selbstmord an, der aber nicht stattfand. Ihr Schicksal vollendete sich auf noch grausamere Weise, denn sie wurde Opfer einer Straftat. Ausgerechnet am Heiligen Abend drangen Raubmörder in das Haus der betagten Frau ein und ermordeten sie, schlugen auch den Vater, weil sie keine Wertsachen vorfanden. Das passierte nicht mehr im Ungarn Imre Nagys oder Janos Kadárs, sondern einige Jahre nach der Ostöffnung, in einer Phase ansteigender Kriminalität und sinkender Hoffnung auf eine Demokratisierung.
Angesichts seiner eigenen Lebensumstände war Borbély, der an der Universität Debrecen Literaturwissenschaften lehrte, geradezu prädestiniert, das lückenhaft-geniale Werk Kafkas weiterzuspinnen. Das innere Grauen begleitete ihn ebenso wie die Gewaltexzesse seiner Heimat. Durch Raufereien und Alkoholsucht hatte der Vater das Vertrauen des Sohns verspielt. "Der Sohn ist das Leben des Vaters", schrieb Szílard Borbély, der am 19. 2. 2014 in Debrecen Selbstmord begangen hat. Hingegen sei der Vater das Unglück, ja das Grab des Sohnes - was sich indirekt in der Vita des Autors bewahrheitete.
Obwohl er an der Universität erfolgreich und beliebt war, die Studierenden seine ruhige Art, seinen Charme und seine Fachkenntnisse schätzten, holte Borbély die triste Stimmung der Heimat ein. Sein erster Gedichtband (2004), in dem er die tragischen Ereignisse rund um den Mord an seiner Mutter verarbeitete, trug den Titel "Leichenprunk".
Durchbruch postum
Ähnlich wie sein Vorbild schaffte der ungarische Autor den Durchbruch mit seinem Roman "Die Mittellosen" (2013 auf Ungarisch, 2014 bei Suhrkamp auf Deutsch) erst postum. In dieser Abrechnung mit seiner unglücklichen Dorfkindheit zeigte Borbély großes Talent, den Leser ins Grauen mit hineinzuziehen. Das nebelgraue Buch schildert eine Anhäufung von morbiden Vorfällen, Mikro-Tragödien und zum Alltag gewordenen Grausamkeiten. Szílard hatte das schlechte Los eines "Sandwich"-Kindes zwischen einer älteren Schwester und einem jung verstorbenen Bruder gezogen.
Nun tritt uns Borbély mit dem Romanfragment "Kafka fia" entgegen: "Kafkas Sohn" erweist sich als ein Meisterwerk, das nicht mehr zur vollen Reife gelangte. Noch zu Lebzeiten berichtete der Autor, dass er nach dem Erfolg seines autobiografischen Schlüsselromans an einem Werk über den Prager Juristen arbeite und auf dessen Spuren wandle.
Borbély las die Biografien und ließ nicht nur den fiktiven Sohn, für den die Biografien keine ernsthaften Anhaltspunkte liefern, sondern auch den robust-unsensiblen Vater Hermann Kafka zu Wort kommen. Schlimmer als es in den Biografien angedeutet wird, vergreift sich der grob geschnitzte Sohn eines Schächters an den Dienstmädchen, denen er Haushaltskleider aus unverkäuflichem Kattunstoff verpasst. Hermann Kafka achtete auf jeden Groschen, um seine Angestellten, die er als "bezahlte Feinde" ansah, zu übervorteilen.
Jüdische Wurzeln
In "Kafkas Sohn" macht sich der elterlicherseits griechisch-orthodox geprägte Autor auch auf die Suche nach den jüdischen Wurzeln der Familie, die er beim von den Nazis ermordeten Großvater findet. Borbély beschreitet den mühsamen Weg in die Vergangenheit der jüdischen Gemeinde, die sich in seinem Dorf auf eine einzige, unbeliebte Person reduziert hatte. Wie Heike Flemming im Nachwort schreibt, stieß der Autor vielfach nur mehr auf Trümmer und Revisionismus.
"Kafkas Sohn" kritisiert die osteuropäischen Diktatoren, deckt soziale Ungleichheiten von heute auf, ist aber auch historisch präzise: Der Portier in der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag begegnet uns in seinem mürrischen Tschechisch und betont servilen Deutsch dem stets freundlichen Dr. Franz Kafka gegenüber. Vielfach brechen die Episoden mitten im Absatz ab und erinnern so an das Werk von Borbélys Vorgänger im Geiste, der in seinen Tagebüchern wie auch im "Process" fragmentarische Notizen hinterließ.
Mystische Einsprengsel verzaubern beim Lesen, etwa der Abschnitt über Nebukadnezar oder den Schwellfüßigen, der zum Vatermörder wird. Dank der sensiblen Übersetzung gewinnt das Fragment noch an Leben. Zweifellos bestehen Parallelen zwischen Kafka und Borbély, doch die traurigste darunter ist, dass beiden Autoren trotz höchster Begabung nur ein halbes Leben und postumer Erfolg beschieden war. Umso wichtiger erscheint, dass wenigstens die Gedanken der beiden Lichtgestalten der Literatur für uns Leser zugänglich sind.
Literatur
Szilárd Borbély: Kafkas Sohn
Prosa aus dem Nachlass. Übersetzung und Nachwort von Heike Flemming und Lacy Kornitzer.
Suhrkamp, Berlin 2017
206 Seiten
24,70 Euro.
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Gerhard Strejcek
Österreich, Land des strengen Feuerschutzes
Der Standard, 27.06.2017
Harte Auflagen und Kontrollen sollen Brandkatastrophen in Österreich verhindern
Wien – Der durch einen defekten Kühlschrank ausgelöste verheerende Brand im Londoner Grenfell Tower wirft die Frage auf, ob eine derartige Katastrophe auch in Österreich möglich wäre. Da man Brände in Hochhäusern nie ausschließen kann, gibt es mehrere rechtliche Vorkehrungen, um das Ausmaß einer Feuersbrunst einzudämmen und den Feuerwehren das Vordringen zu erleichtern.
Aufgrund technischer Normung sind in Österreich nur feuerfeste Dämmungsmaterialien erlaubt, weshalb ein derart verhängnisvoller Fassadenbrand wie in London auszuschließen ist. Dasselbe gilt für Fußböden, Dachmaterialien und Blitzschutz, der je nach Verwendungsart vorgeschrieben wird, aber für Private nicht zwingend ist. Größere und höhere Gebäude müssen Brandabschnitte enthalten, die durch brandfeste und automatisch schließende Türen gesichert sind. Dies ermöglicht im Brandfall rauchgasfreie Zonen und sichert die Fluchtwege ab.
Löschteiche auf der Dachterrasse
Als in den 1970er-Jahren Hochhäuser in Wien zum Thema wurden, griff man zu originellen Lösungen: So befinden sich in Alt-Erlaa im Wohnpark, den Architekt Harry Glück geplant hat, eigene Löschteiche auf der Dachterrasse, die als Swimmingpool genutzt werden können.
Rechtsgrundlage des Brandschutzes sind die Bauordnungen und Verordnungen der Länder wie etwa die Niederösterreichische Bautechnikverordnung (BTV). Diese regelt verbindliche Fluchtwege (§ 46), Brandaußenwände, Innenwände, Dächer und Fußbodenbeläge.
Abgesehen von den strengen Regelungen, die durch Technikklauseln und die Verbindlicherklärung von Industrienormen auf dem Stand der Zeit gehalten werden, sind es auch die regelmäßigen Kontrollen, die ein Unheil wie in North Kensington verhindern sollten.
Zweiter Fluchtweg
Bereits bei der Planung müssen die Brandabschnitte, automatisch schließende Öffnungen (nicht nur Türen) und ein zwingender zweiter Fluchtweg vom Bauwerber dokumentiert werden. Sogenannte Brandwände müssen brandbeständig sein und dürfen ihre Standsicherheit im Brandfall nicht verlieren. Das gilt nach § 50 der Nö. BTV auch ausdrücklich für den Dachstuhl und Außenwandverkleidungen.
Falls sich aus den Plänen eine Missachtung der einschlägigen Vorschriften ergibt, können diese in der Bauverhandlung vorgebracht werden. Feuerpolizeiliche Einwendungen können als subjektiv-öffentliche Rechte zulässigerweise von Nachbarn erhoben werden und müssen im Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden (VwGH 12. 12. 2013, 2013/06/0195; VwGH 16. 2. 2017, 2013/05/0074).
Behördliche Hilfsfunktion
Nicht nur die Feuerschutzbestimmungen sind in Österreich strenger als in anderen EU-Staaten, auch die Kontrollen sind dichter. Die Feuerpolizeigesetze der Länder ermächtigen die Rauchfangkehrer, Kamine und Hausfeuerungsanlagen zu überprüfen. Landesgesetzlich sind auch die Überprüfungszyklen der Heiz- und Feuerungsanlagen geregelt.
Obwohl Rauchfangkehrer private Gewerbetreibende nach der Gewerbeordnung mit einem mittlerweile stark eingeschränkten Gebiets- und Konkurrenzschutz sind, haben sie als "beliehene" Feuerpolizeiorgane eine behördliche Hilfsfunktion. So sind Mieter und Eigentümer von Wohnungen und Einfamilienhäusern zur Ermöglichung der Nachschau und zur Befolgung feuerpolizeilicher Anordnungen (z. B. Räumung von Dachböden und Stiegenhäusern von Gerümpel) verpflichtet.
Rauchfangkehrer können
Gutachten erstellen, die Sperre von Kaminen vornehmen, einen Auftrag zur Herstellung eines entsprechenden Ofenanschlusses erteilen und die Verwendung von bestimmten Heizmaterialien verlangen. Diese Anordnungen können die Rauchfangkehrer anlässlich der jährlichen Kehrung erteilen oder stets dann, wenn Gefahr im Verzug besteht.
Vielfach entstehen Unfälle durch ungeeignete flüssige Brennstoffe, Verpuffung oder Explosion von Benzin und flüchtigen Gasen. Somit kann ein Brand in manchen Fällen zwar nicht verhindert, aber das Ausbreiten des Feuers zu einer Katastrophe eingedämmt werden.
Wien – Der durch einen defekten Kühlschrank ausgelöste verheerende Brand im Londoner Grenfell Tower wirft die Frage auf, ob eine derartige Katastrophe auch in Österreich möglich wäre. Da man Brände in Hochhäusern nie ausschließen kann, gibt es mehrere rechtliche Vorkehrungen, um das Ausmaß einer Feuersbrunst einzudämmen und den Feuerwehren das Vordringen zu erleichtern.
Aufgrund technischer Normung sind in Österreich nur feuerfeste Dämmungsmaterialien erlaubt, weshalb ein derart verhängnisvoller Fassadenbrand wie in London auszuschließen ist. Dasselbe gilt für Fußböden, Dachmaterialien und Blitzschutz, der je nach Verwendungsart vorgeschrieben wird, aber für Private nicht zwingend ist. Größere und höhere Gebäude müssen Brandabschnitte enthalten, die durch brandfeste und automatisch schließende Türen gesichert sind. Dies ermöglicht im Brandfall rauchgasfreie Zonen und sichert die Fluchtwege ab.
Löschteiche auf der Dachterrasse
Als in den 1970er-Jahren Hochhäuser in Wien zum Thema wurden, griff man zu originellen Lösungen: So befinden sich in Alt-Erlaa im Wohnpark, den Architekt Harry Glück geplant hat, eigene Löschteiche auf der Dachterrasse, die als Swimmingpool genutzt werden können.
Rechtsgrundlage des Brandschutzes sind die Bauordnungen und Verordnungen der Länder wie etwa die Niederösterreichische Bautechnikverordnung (BTV). Diese regelt verbindliche Fluchtwege (§ 46), Brandaußenwände, Innenwände, Dächer und Fußbodenbeläge.
Abgesehen von den strengen Regelungen, die durch Technikklauseln und die Verbindlicherklärung von Industrienormen auf dem Stand der Zeit gehalten werden, sind es auch die regelmäßigen Kontrollen, die ein Unheil wie in North Kensington verhindern sollten.
Zweiter Fluchtweg
Bereits bei der Planung müssen die Brandabschnitte, automatisch schließende Öffnungen (nicht nur Türen) und ein zwingender zweiter Fluchtweg vom Bauwerber dokumentiert werden. Sogenannte Brandwände müssen brandbeständig sein und dürfen ihre Standsicherheit im Brandfall nicht verlieren. Das gilt nach § 50 der Nö. BTV auch ausdrücklich für den Dachstuhl und Außenwandverkleidungen.
Falls sich aus den Plänen eine Missachtung der einschlägigen Vorschriften ergibt, können diese in der Bauverhandlung vorgebracht werden. Feuerpolizeiliche Einwendungen können als subjektiv-öffentliche Rechte zulässigerweise von Nachbarn erhoben werden und müssen im Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden (VwGH 12. 12. 2013, 2013/06/0195; VwGH 16. 2. 2017, 2013/05/0074).
Behördliche Hilfsfunktion
Nicht nur die Feuerschutzbestimmungen sind in Österreich strenger als in anderen EU-Staaten, auch die Kontrollen sind dichter. Die Feuerpolizeigesetze der Länder ermächtigen die Rauchfangkehrer, Kamine und Hausfeuerungsanlagen zu überprüfen. Landesgesetzlich sind auch die Überprüfungszyklen der Heiz- und Feuerungsanlagen geregelt.
Obwohl Rauchfangkehrer private Gewerbetreibende nach der Gewerbeordnung mit einem mittlerweile stark eingeschränkten Gebiets- und Konkurrenzschutz sind, haben sie als "beliehene" Feuerpolizeiorgane eine behördliche Hilfsfunktion. So sind Mieter und Eigentümer von Wohnungen und Einfamilienhäusern zur Ermöglichung der Nachschau und zur Befolgung feuerpolizeilicher Anordnungen (z. B. Räumung von Dachböden und Stiegenhäusern von Gerümpel) verpflichtet.
Rauchfangkehrer können
Gutachten erstellen, die Sperre von Kaminen vornehmen, einen Auftrag zur Herstellung eines entsprechenden Ofenanschlusses erteilen und die Verwendung von bestimmten Heizmaterialien verlangen. Diese Anordnungen können die Rauchfangkehrer anlässlich der jährlichen Kehrung erteilen oder stets dann, wenn Gefahr im Verzug besteht.
Vielfach entstehen Unfälle durch ungeeignete flüssige Brennstoffe, Verpuffung oder Explosion von Benzin und flüchtigen Gasen. Somit kann ein Brand in manchen Fällen zwar nicht verhindert, aber das Ausbreiten des Feuers zu einer Katastrophe eingedämmt werden.
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Gerhard Strejcek
Eugen Philippovich – ein Leben für Wissenschaft und Arbeiterschutz
Uniview: Magazin, 06.06.2017
Rektor der Universität Wien, Ökonom und Sozialpolitiker: Eugen Philippovich setzte sich zu Lebzeiten für den Arbeiterschutz ein – und verzweifelte manches Mal an Österreich. Zum 100. Todestag blickt Gerhard Strejcek vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht auf das Leben Philippovichs zurück.
In Döbling verbindet die Philippovichgasse das ehemalige Welthandels-Hochschulgebäude neben dem Währinger Park mit der Billrothstraße. Doch wer war der Namensgeber der 1926 so vom Wiener Gemeinderat benannten Gasse?
Es handelt sich um Eugen Philippovich Freiherr von Philippsberg, der mit dem damals modernen Spitzbart an Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Sigmund Freud erinnert. Philippovich wurde im März 1858 in eine Postmeister- und Offiziersfamilie geboren, seine familiären Wurzeln reichten bis nach Kroatien (Gospic) und Bosnien. Der Ökonom und Sozialpolitiker Eugen von Philippovich war zweimal Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und 1908 Rektor der Universität Wien. Ab 1909 saß er wegen seiner Verdienste als Abgeordneter im Herrenhaus des Reichsrates.
Der Weg in die Wissenschaft
Philippovich, der 1881 zum Dr. jur. promovierte und sich 1885 in Wien mit einer Arbeit über die Bank von England habilitiert hatte, lehrte acht Jahre in Freiburg im Breisgau. Zunächst war er vier Jahre lang Extraordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften, dann ordentlicher Professor in diesen Fächern. Er nahm eine vermittelnde Stellung zwischen der Wiener Schule und der Historischen Schule ein und erlangte so über die österreichisch-ungarischen Grenzen hinaus Bekanntheit. Darüber hinaus engagierte er sich für Sozialpolitik (Fabier-Gesellschaft) und etablierte 1896 die neue "Socialpolitische Partei", für die er auch in den niederösterreichischen Landtag einzog.
Für den Arbeiterschutz
Nachdem er schon als Student in London und Berlin auf Studienreisen gewesen war, nahm er 1900 an einem Kongress für Arbeiterschutz in Paris teil. Philippovich war schließlich Mitbegründer der Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, auch diesbezüglich war er im Geiste mit Kafka verwandt. Durch eine empirische Erhebung der damals katastrophalen Wohnverhältnisse der Arbeiter in Wien, die u.a. in Verschlägen auf der Simmeringer Heide oder in Massenquartieren ohne Bad hausten, setzte Philippovich weitere sozialpolitische Akzente. Obwohl er sein Mandat wieder verlor, konnte er als Rektor 1905/06 weitere zwei Jahre (über eine Virilstimme, die den Rektoren der Wiener Universität im Landtag zustand) dem gesetzgebenden Organ angehören, ehe drei Jahre später die Berufung in das Herrenaus erfolgte.
Der damaligen Zeit entsprechend erhoffte sich Philippovich vom Kolonialismus Impulse für die gesellschaftliche Integration und den wirtschaftlichen Aufschwung, was ihm sogar offizielle Verhandlungsmandate des Deutschen Reichs einbrachte, das sich kurzfristig als Kolonialmacht in Südwest- und Ostafrika etabliert hatte, aber nach dem Vertrag von Versailles 1919 diese Pläne endgültig begraben musste.
Der Ruf der Universität Wien
Das fast ein Jahrzehnt dauernde akademische Wirken Philippovichs in Deutschland hinterließ Spuren, wie auch die Verbreitung seiner volkswirtschaftlichen Studien zeigt. Als Philippovich 1893 einen Ruf als Professor für politische Ökonomie an die Wiener Universität annahm, war Max Weber sein Nachfolger in Freiburg auf dem sozialwissenschaftlichen Lehrstuhl. In Wien bildete Philippovich neben anderen Josef von Schumpeter akademisch aus, mit Josef Redlich und Eugen Böhm-Bawerk verkehrte er freundschaftlich. Die wissenschaftlichen Verdienste für die vom Kaiser verliehene, lebenslange Ehrenstellung hatte sich Eugen Philippovich Freiherr von Philippsberg als praxisgeneigter Ratgeber und kompetenter Ökonom verdient.
Feilschen und volkswirtschaftliche Expertise
Philippovich diente wiederholt als volkswirtschaftlicher Experte für Ausgleichsfragen, die seit 1867 regelmäßig (d.h. alle zehn Jahre und zwar jene, die mit einem Siebener endeten) zu Verhandlungen und einer Vereinbarung führten, die über die finanzielle Lastenverteilung in der Doppelmonarchie nötig waren. Somit war das Feilschen um Beiträge und Abgaben mit dem Ringen um den Finanzausgleich im Bundesstaat vergleichbar.
Auch das Thema "Zolltrennung und Zolleinheit", das eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich zum Gegenstand hatte, beschäftigte Philippovich. Seiner Meinung nach sollten die deutschen Stärken der effizienten Massenfertigung und hochwertigen technischen Industrie mit den österreichischen Assets im Bereich der Manufaktur und kreativen Künste genutzt werden, womit er sich als origineller Denker erwies.
Familienvater, Volkswirt, Kunstsammler und Autor
Neben anderen Werken verfasste der Vater einer Tochter (Lilly) einen dreibändigen Grundriss der politischen Ökonomie (1897) und galt als einer der führenden Volkswirte neben Menger, Böhm-Bawerk, Mises, Hayek und Schumpeter. Gemeinsam mit seinem Kollegen Edmund Bernatzik, Staatsrechtsprofessor an der Wiener Universität und einem der Lehrer Kelsens, gab Philippovich die "Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Studien" heraus, in denen der junge Hans Kelsen im Jahr 1905 seine erste Arbeit über Dantes Staatslehre veröffentlichen durfte – der Beginn einer einzigartigen, publizistischen Laufbahn. Wie Bernatzik, der sich für die Secession engagierte, war auch Philippovich Kunstexperte und -sammler.
"An Österreich verzweifeln"
Gegen Ende seines nur sechs Jahrzehnte währenden Lebens litt Philippovich zunehmend an der Korruption und der unaufrichtigen Politik. Im Februar tat er gegenüber Josef Redlich kund, dass er "an Österreich verzweifle" und bedauere mit seinen bald 56 Jahren nicht mehr einen Ruf nach Berlin annehmen zu können.
Philippovich starb am 4. Juni 1917, sein bescheidenes Grab befindet sich am Döblinger Friedhof in der Hartäckerstraße 57 unweit von seinen Nachfolgern Kamitz, Redlich und Walter. Das Begräbnis fand am Mittwoch, den 6. Juni 1917, um 17 Uhr statt, die Anteilnahme politischer und persönlicher FreundInnen war groß. Die Volkswirtschaftsprofessoren Karl Milford und Erwin Weissel widmeten ihm biographische Studien. Philippovich ist als beliebter und weit über die intellektuellen Grenzen seiner Zeit hinaus denkender Sozial- und Rechtswissenschafter in die Geschichte eingegangen.
In Döbling verbindet die Philippovichgasse das ehemalige Welthandels-Hochschulgebäude neben dem Währinger Park mit der Billrothstraße. Doch wer war der Namensgeber der 1926 so vom Wiener Gemeinderat benannten Gasse?
Es handelt sich um Eugen Philippovich Freiherr von Philippsberg, der mit dem damals modernen Spitzbart an Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Sigmund Freud erinnert. Philippovich wurde im März 1858 in eine Postmeister- und Offiziersfamilie geboren, seine familiären Wurzeln reichten bis nach Kroatien (Gospic) und Bosnien. Der Ökonom und Sozialpolitiker Eugen von Philippovich war zweimal Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und 1908 Rektor der Universität Wien. Ab 1909 saß er wegen seiner Verdienste als Abgeordneter im Herrenhaus des Reichsrates.
Der Weg in die Wissenschaft
Philippovich, der 1881 zum Dr. jur. promovierte und sich 1885 in Wien mit einer Arbeit über die Bank von England habilitiert hatte, lehrte acht Jahre in Freiburg im Breisgau. Zunächst war er vier Jahre lang Extraordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften, dann ordentlicher Professor in diesen Fächern. Er nahm eine vermittelnde Stellung zwischen der Wiener Schule und der Historischen Schule ein und erlangte so über die österreichisch-ungarischen Grenzen hinaus Bekanntheit. Darüber hinaus engagierte er sich für Sozialpolitik (Fabier-Gesellschaft) und etablierte 1896 die neue "Socialpolitische Partei", für die er auch in den niederösterreichischen Landtag einzog.
Für den Arbeiterschutz
Nachdem er schon als Student in London und Berlin auf Studienreisen gewesen war, nahm er 1900 an einem Kongress für Arbeiterschutz in Paris teil. Philippovich war schließlich Mitbegründer der Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, auch diesbezüglich war er im Geiste mit Kafka verwandt. Durch eine empirische Erhebung der damals katastrophalen Wohnverhältnisse der Arbeiter in Wien, die u.a. in Verschlägen auf der Simmeringer Heide oder in Massenquartieren ohne Bad hausten, setzte Philippovich weitere sozialpolitische Akzente. Obwohl er sein Mandat wieder verlor, konnte er als Rektor 1905/06 weitere zwei Jahre (über eine Virilstimme, die den Rektoren der Wiener Universität im Landtag zustand) dem gesetzgebenden Organ angehören, ehe drei Jahre später die Berufung in das Herrenaus erfolgte.
Der damaligen Zeit entsprechend erhoffte sich Philippovich vom Kolonialismus Impulse für die gesellschaftliche Integration und den wirtschaftlichen Aufschwung, was ihm sogar offizielle Verhandlungsmandate des Deutschen Reichs einbrachte, das sich kurzfristig als Kolonialmacht in Südwest- und Ostafrika etabliert hatte, aber nach dem Vertrag von Versailles 1919 diese Pläne endgültig begraben musste.
Der Ruf der Universität Wien
Das fast ein Jahrzehnt dauernde akademische Wirken Philippovichs in Deutschland hinterließ Spuren, wie auch die Verbreitung seiner volkswirtschaftlichen Studien zeigt. Als Philippovich 1893 einen Ruf als Professor für politische Ökonomie an die Wiener Universität annahm, war Max Weber sein Nachfolger in Freiburg auf dem sozialwissenschaftlichen Lehrstuhl. In Wien bildete Philippovich neben anderen Josef von Schumpeter akademisch aus, mit Josef Redlich und Eugen Böhm-Bawerk verkehrte er freundschaftlich. Die wissenschaftlichen Verdienste für die vom Kaiser verliehene, lebenslange Ehrenstellung hatte sich Eugen Philippovich Freiherr von Philippsberg als praxisgeneigter Ratgeber und kompetenter Ökonom verdient.
Feilschen und volkswirtschaftliche Expertise
Philippovich diente wiederholt als volkswirtschaftlicher Experte für Ausgleichsfragen, die seit 1867 regelmäßig (d.h. alle zehn Jahre und zwar jene, die mit einem Siebener endeten) zu Verhandlungen und einer Vereinbarung führten, die über die finanzielle Lastenverteilung in der Doppelmonarchie nötig waren. Somit war das Feilschen um Beiträge und Abgaben mit dem Ringen um den Finanzausgleich im Bundesstaat vergleichbar.
Auch das Thema "Zolltrennung und Zolleinheit", das eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich zum Gegenstand hatte, beschäftigte Philippovich. Seiner Meinung nach sollten die deutschen Stärken der effizienten Massenfertigung und hochwertigen technischen Industrie mit den österreichischen Assets im Bereich der Manufaktur und kreativen Künste genutzt werden, womit er sich als origineller Denker erwies.
Familienvater, Volkswirt, Kunstsammler und Autor
Neben anderen Werken verfasste der Vater einer Tochter (Lilly) einen dreibändigen Grundriss der politischen Ökonomie (1897) und galt als einer der führenden Volkswirte neben Menger, Böhm-Bawerk, Mises, Hayek und Schumpeter. Gemeinsam mit seinem Kollegen Edmund Bernatzik, Staatsrechtsprofessor an der Wiener Universität und einem der Lehrer Kelsens, gab Philippovich die "Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Studien" heraus, in denen der junge Hans Kelsen im Jahr 1905 seine erste Arbeit über Dantes Staatslehre veröffentlichen durfte – der Beginn einer einzigartigen, publizistischen Laufbahn. Wie Bernatzik, der sich für die Secession engagierte, war auch Philippovich Kunstexperte und -sammler.
"An Österreich verzweifeln"
Gegen Ende seines nur sechs Jahrzehnte währenden Lebens litt Philippovich zunehmend an der Korruption und der unaufrichtigen Politik. Im Februar tat er gegenüber Josef Redlich kund, dass er "an Österreich verzweifle" und bedauere mit seinen bald 56 Jahren nicht mehr einen Ruf nach Berlin annehmen zu können.
Philippovich starb am 4. Juni 1917, sein bescheidenes Grab befindet sich am Döblinger Friedhof in der Hartäckerstraße 57 unweit von seinen Nachfolgern Kamitz, Redlich und Walter. Das Begräbnis fand am Mittwoch, den 6. Juni 1917, um 17 Uhr statt, die Anteilnahme politischer und persönlicher FreundInnen war groß. Die Volkswirtschaftsprofessoren Karl Milford und Erwin Weissel widmeten ihm biographische Studien. Philippovich ist als beliebter und weit über die intellektuellen Grenzen seiner Zeit hinaus denkender Sozial- und Rechtswissenschafter in die Geschichte eingegangen.
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Gerhard Strejcek
Wiener Trauerreigen
Wiener Zeitung, 14.05.2017
Am 15. Mai 1917, seinem 55. Geburtstag, weilte Arthur Schnitzler in Salzburg, als eine seiner liebsten Weggefährtinnen in Wien Suizid beging. Ein gesellschaftliches Sittenbild.
Im Reigen der illustren Frauen um Arthur Schnitzler nahm eine junge Hilfskrankenschwester eine Sonderrolle ein, stand sie doch dem Autor und seiner Ehefrau Olga gleichermaßen nahe, ohne die Eifersucht der fast gleich alten Gattin herauszufordern. Die im Mai 1887 geborene Stefanie Bachrach, Tochter eines Bankiers, der nach Börsenspekulationen in die Pleite schlitterte, war kraft ihrer sozialen Begabung und Bildung zu Höherem berufen. Nach dem Suizid ihres Vaters arbeitete sie zunächst als Ordinationshelferin beim Urologen Zuckerkandl und wechselte dann als Krankenschwester in das neu erbaute Cottage-Sanatorium in der Sternwartestraße 74.
Das 1908 vom Baumeister Johann Kazda und dem ärztlichen Leiter, Dr. Rudolf Urbantschitsch, gegründete Währinger Nobel-Spital lag keine zweihundert Meter von der Schnitzler-Villa entfernt, reizvoll eingebettet zwischen Sternwarte- und Türkenschanzpark. Noch heute dient es Diplomaten als Wohnhaus und Erholungsanlage, in Staatsvertragszeiten tanzten dort Hotelgäste, ehe die UdSSR den Komplex erwarb. In den bis 1945 andauernden Sanatoriumszeiten umgaben ein Tennis-, ein Eislaufplatz und großzügige Gärten die drei ansehnlichen Spitalsgebäude.
Geliebte mit Doppelrolle
Sowohl der ärztliche Leiter Urbantschitsch - ein Schüler Freuds, Kollege Ludwig Reiks und Fritz Wittels’ und Sohn des renommierten, aus Slowenien stammenden HNO-Arztes Viktor Urbantschitsch - als auch Stephi Bachrach, seine zeitweilige Geliebte, gingen bei den Schnitzlers ein und aus. Die Sympathien der Familie lagen auf der Seite Stephis, wiewohl Rudolf Urban-tschitsch (intern "U-29" genannt) den Kontakt zum Autor suchte und ihn öfters mit dem Fiaker aus der Stadt Richtung Währing mitnahm. Der umtriebige und eifrig publizierende Karrierearzt (Titel seiner Autobiographie 1953: "Myself not Least") ist heute wieder in den Fokus medialer Aufmerksamkeit geraten, weil es sich bei ihm um den Großvater von Christoph Waltz, Österreichs erfolgreichem Hollywoodschauspieler und Oscar-Gewinner handelt.
Urbantschitsch emigrierte Ende der Dreißigerjahre nach Kalifornien, wo er wiederum heiratete, sexualtherapeutische Werke publizierte sowie als Eheberater ordinierte und 1964 in Carmel-by-the-Sea im US-Bundesstaat Kalifornien starb. Wenn Christoph Waltz in Los Angeles weilt, hat er es nicht allzu weit zum Grab seines leiblichen Großvaters, der sich auch mit einem Pseudonym "Georg Gorgone" nannte. Genau unter diesem, an der schlangenhaarigen Medusa orientierten Namen publizierte Urbantschitsch 1926 die Liebesgeschichte mit der Krankenschwester Stephi, deren Namen er ebenfalls abänderte ("Julia oder die Geschichte einer Leidenschaft") im Wiener Rikola-Verlag. Wie es der Zufall wollte, befand sich der Verlagssitz dieses Unternehmens genau an derselben Adresse (Frankgasse 1), die einst der junge Laryngologe Dr. Schnitzler unweit des Garnisonsspitals bezogen hatte, und an der auch die eine oder andere "Mizzi" zu nächtlichem Besuch weilte.
Anders als seine eigenen Affären beäugte der gereifte "Reigen"-Autor das Treiben des Sanatoriumsleiters mit gemischten Gefühlen. Schnitzler missfiel die Doppelrolle, welche der Arzt seiner Geliebten beimaß, die ihm auch als Studienobjekt diente, und von deren gefährlichen Morphium-Experimenten beide Mediziner wussten. In vollem Bewusstsein der Gefahr, die aus einer heftigen On-Off-Beziehung hervorging, ging der Psychiater, dessen Studien über die "Probeehe" und "Sexuelle Erfüllung in der Ehe" zu publizistischen Erfolgen wurden, auf Distanz.
Auch Schnitzlers Gattin Olga mahnte Stephi, dass die Liebe zum verheirateten Klinikchef womöglich auch dem Ruf der Schnitzlers schaden könnte, da seit dem "Professor Bernhardi" 1912 die Angriffe auf den Autor von christlich-sozialer Seite zunahmen; Olga ahnte vermutlichnicht, dass sie selbst wegen einer Affäre mit dem Pianisten Karl Gross 1919 noch in die Schusslinie der Klatschgesellschaft geraten sollte, wovon sich die (Anfang der Zwanzigerjahre geschiedene) Ehe der Schnitzlers nicht mehr erholen sollte.
Noch aber war man in der Rolle der Beobachter und wohlmeinender Ratgeber, wobei eine Fülle von Briefen von Arthur an Stephi und von Stephi an Olga sowie vice versa versendet wurde. Der laut Schnitzler mitunter "mattoide" Sanatoriumsleiter hingegen nutzte in den drei ersten Kriegsjahren jeden Anlass, um im höheren Auftrag zu verreisen, sei es nach Lemberg, Bozen oder Istanbul, wo die k.u.k. Monarchie den osmanischen Verbündeten ein Muster-Lazarett errichten sollte.
Fatale Abhängigkeit
Als gefragter Therapeut von Front-Neurosen konnte Rudolf Urban tschitsch mit der wohlwollenden Duldung des Generalstabschefs Conrad von Hoetzendorf und dessen Nachfolgern rechnen. Auch im Sanatorium verkehrten hochrangige Offiziere, und selbst der Gründer der (einst) modernen Türkei, Kemal Atatürk, zählte nach dem Krieg zu den prominenten Patienten, die den Ruf des Hauses, seiner Ärzte und der neun handverlesenen Schwestern beförderten. Umso peinlicher gestaltete sich die Affäre rund um den Suizid der Krankenschwester Stephi, die nicht von ungefähr genau am Geburtstag ihres Mentors und Beraters Schnitzler eine Überdosis Veronal einnahm und sich anschließend Morphium injizierte, das sie aus der Klinik mitgehen hatte lassen.
Die genaueren Motive blieben im Dunkeln, können aber auch mit der Rückkehr eines früheren Geliebten, des deutschen Offiziers Rudolf Olden, zusammenhängen. Zudem war für die neunundzwanzigjährige Stephi das unstete Leben ihres prominenten Geliebten Urbantschitsch Anlass für mancherlei Frustration. Zwar stand es ihr als alleinstehender Frau frei, die Beziehung zu beenden, aber es schien sich eine Art Abhängigkeit entwickelt zu haben, aus der es, wie auch Schnitzler ahnte, kein Entrinnen mehr gab.
Minutiös fügte er die Mosaiksteinchen nach dem schrecklichen Ereignis zusammen, traf sich mehrfach mit Olden und ließ sich auch vom jungen Viktor Zuckerkandl informieren, der wenige Wochen später Stephis Schwester Mimi heiratete. Im Hotel "Regina", wohin Mutter und Schwester der Verstorbenen gezogen waren, fanden veritable Krisenstäbe statt, bei denen sich viele Prominente die Klinke in die Hand gaben und auch die beiden ehemaligen Konkurrenten Olden und Urbantschitsch beinahe aneinander gerieten.
Schnitzler pilgerte gleichfalls in das Hotel und übernahm die schwierige Aufgabe, Stephis Mutter zu erklären, dass ihre Tochter nicht an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung verstorben war, wie es zunächst geheißen hatte.
Den Autor belastete der Gedanke, dass die Weggefährtin und Freundin der Familie seinen Geburtstag zum Tag ihres Freitodes gewählt hatte. Zudem war er, der so oft als Therapeut und Ratgeber für Stephi gewirkt hatte, just an diesem Abend nicht in Wien. Trotz anhaltender Reiseschwierigkeiten hatte das mitunter zu Streit neigende Paar den Ehrentag in Salzburg verbracht, das Schnitzler besonders liebte.
Schnitzlers Traumarbeit
Der Besuch nahm eine unerwartete und höchst unerfreuliche Wendung, als sich tags darauf die Kunde von Stephis Tod mittels Telegramm verbreitete. Die Kurzreise in die geliebte Mozartstadt hatte den gewünschten Entspannungs- und Erholungseffekt nicht erbracht. Obwohl sich die Schnitzlers gegenseitig versicherten, dass der Selbstmord Stephis in schicksalhafter Weise so kommen hatte müssen und man nie und nimmer eingreifen hätte können - die üblichen Beschwichtigungen im Umfeld eines Suizids im Bekanntenkreis, vor denen auch der feinsinnige Analytiker nicht gefeit war -, war die Stimmung dennoch belastet, um nicht zu sagen, vergiftet. So saß man im Zug, der kriegsbedingt einen halben Tag von Salzburg nach Wien-West brauchte, und haderte mit den Ereignissen des Vorabends. Noch lange sollte sich der Autor, dem Stephi fortan in Träumen erschien, in Gesprächen mit seinen Freunden Josef Popper-Lynkäus und Arthur Kaufmann mit diesem Fall auseinandersetzen.
Im Reigen der Gäste in der Sternwartestraße fehlte die mitunter trübsinnige, meist aber humorvoll-witzige Krankenschwester sehr. Schnitzler hatte Stephi, deren Schwester Mimi und Mutter Ama zu allen möglichen privaten wie künstlerischen Anlässen eingeladen, man traf einander zu Silvester oder bei einem Konzertauftritt von Olga - und so war die scheinbar unbeschwerte Stephi auch dem Freundeskreis in der Cottage wohl bekannt geworden. So kam es auch, dass Jakob Wassermann mit ihr Briefe wechselte und anlässlich ihres Todes sogar ein Nachruf in der "Neuen Freien Presse" erschien, der die humanen Methoden der Pflegebediensteten und ihr liebenswertes Wesen würdigte.
Erinnerungskult
Das Begräbnis von Stefanie Bachrach am Döblinger Friedhof fand am 18. Mai statt. Am offenen Grab sprach ein Hautarzt des Sanatoriums, der das Engagement der Verstorbenen löblich hervorhob. Schnitzler notierte, dass Urban-tschitsch hinter Bäumen und Sträuchern des nicht allzu großen Friedhofs in der Hartäcker Straße sichtbar wurde, wo er rastlos auf- und abging. Später besuchten die Schnitzlers häufig die schlichte Grabstätte, wo eine junge Frau aus Sandstein an Stephi erinnert.
Dass der Klinikleiter sich um das Begräbnis seiner Freundin kümmerte, war ein sozialer Zug, doch er übertrieb den Erinnerungskult. Nicht nur, dass der Sarg mit hunderten Rosen überhäuft war, sorgte Urbantschitsch auch dafür, dass das letzte Bett, in dem er in einer Linzer Pension eine Nacht mit der Geliebten verbracht hatte, in sein Eigentum überging; und anstatt die Stätte des Grauens nie mehr zu betreten, mietete er Stephis Zimmer in der Nedergasse für ein Jahr an, um dort in Ruhe Trauerarbeit zu leisten. Obwohl dieser Stoff für Drama und Roman gleichermaßen geeignet war, vermied Schnitzler aus Pietätsgründen, den Fall Bachrach in seinem dichterischen Werk zu verewigen.
Literatur
Arthur Schnitzler: Tagebuch 19171919.
Verlag der ÖAW, Wien 1985
2. Aufl. 1998
Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler.
Reclam, Ditzingen 2005
Ulrich Weinzierl: Arthur Schnitzler: Lieben Träumen Sterben.
Fischer TB, Frankfurt/M. 2015
Im Reigen der illustren Frauen um Arthur Schnitzler nahm eine junge Hilfskrankenschwester eine Sonderrolle ein, stand sie doch dem Autor und seiner Ehefrau Olga gleichermaßen nahe, ohne die Eifersucht der fast gleich alten Gattin herauszufordern. Die im Mai 1887 geborene Stefanie Bachrach, Tochter eines Bankiers, der nach Börsenspekulationen in die Pleite schlitterte, war kraft ihrer sozialen Begabung und Bildung zu Höherem berufen. Nach dem Suizid ihres Vaters arbeitete sie zunächst als Ordinationshelferin beim Urologen Zuckerkandl und wechselte dann als Krankenschwester in das neu erbaute Cottage-Sanatorium in der Sternwartestraße 74.
Das 1908 vom Baumeister Johann Kazda und dem ärztlichen Leiter, Dr. Rudolf Urbantschitsch, gegründete Währinger Nobel-Spital lag keine zweihundert Meter von der Schnitzler-Villa entfernt, reizvoll eingebettet zwischen Sternwarte- und Türkenschanzpark. Noch heute dient es Diplomaten als Wohnhaus und Erholungsanlage, in Staatsvertragszeiten tanzten dort Hotelgäste, ehe die UdSSR den Komplex erwarb. In den bis 1945 andauernden Sanatoriumszeiten umgaben ein Tennis-, ein Eislaufplatz und großzügige Gärten die drei ansehnlichen Spitalsgebäude.
Geliebte mit Doppelrolle
Sowohl der ärztliche Leiter Urbantschitsch - ein Schüler Freuds, Kollege Ludwig Reiks und Fritz Wittels’ und Sohn des renommierten, aus Slowenien stammenden HNO-Arztes Viktor Urbantschitsch - als auch Stephi Bachrach, seine zeitweilige Geliebte, gingen bei den Schnitzlers ein und aus. Die Sympathien der Familie lagen auf der Seite Stephis, wiewohl Rudolf Urban-tschitsch (intern "U-29" genannt) den Kontakt zum Autor suchte und ihn öfters mit dem Fiaker aus der Stadt Richtung Währing mitnahm. Der umtriebige und eifrig publizierende Karrierearzt (Titel seiner Autobiographie 1953: "Myself not Least") ist heute wieder in den Fokus medialer Aufmerksamkeit geraten, weil es sich bei ihm um den Großvater von Christoph Waltz, Österreichs erfolgreichem Hollywoodschauspieler und Oscar-Gewinner handelt.
Urbantschitsch emigrierte Ende der Dreißigerjahre nach Kalifornien, wo er wiederum heiratete, sexualtherapeutische Werke publizierte sowie als Eheberater ordinierte und 1964 in Carmel-by-the-Sea im US-Bundesstaat Kalifornien starb. Wenn Christoph Waltz in Los Angeles weilt, hat er es nicht allzu weit zum Grab seines leiblichen Großvaters, der sich auch mit einem Pseudonym "Georg Gorgone" nannte. Genau unter diesem, an der schlangenhaarigen Medusa orientierten Namen publizierte Urbantschitsch 1926 die Liebesgeschichte mit der Krankenschwester Stephi, deren Namen er ebenfalls abänderte ("Julia oder die Geschichte einer Leidenschaft") im Wiener Rikola-Verlag. Wie es der Zufall wollte, befand sich der Verlagssitz dieses Unternehmens genau an derselben Adresse (Frankgasse 1), die einst der junge Laryngologe Dr. Schnitzler unweit des Garnisonsspitals bezogen hatte, und an der auch die eine oder andere "Mizzi" zu nächtlichem Besuch weilte.
Anders als seine eigenen Affären beäugte der gereifte "Reigen"-Autor das Treiben des Sanatoriumsleiters mit gemischten Gefühlen. Schnitzler missfiel die Doppelrolle, welche der Arzt seiner Geliebten beimaß, die ihm auch als Studienobjekt diente, und von deren gefährlichen Morphium-Experimenten beide Mediziner wussten. In vollem Bewusstsein der Gefahr, die aus einer heftigen On-Off-Beziehung hervorging, ging der Psychiater, dessen Studien über die "Probeehe" und "Sexuelle Erfüllung in der Ehe" zu publizistischen Erfolgen wurden, auf Distanz.
Auch Schnitzlers Gattin Olga mahnte Stephi, dass die Liebe zum verheirateten Klinikchef womöglich auch dem Ruf der Schnitzlers schaden könnte, da seit dem "Professor Bernhardi" 1912 die Angriffe auf den Autor von christlich-sozialer Seite zunahmen; Olga ahnte vermutlichnicht, dass sie selbst wegen einer Affäre mit dem Pianisten Karl Gross 1919 noch in die Schusslinie der Klatschgesellschaft geraten sollte, wovon sich die (Anfang der Zwanzigerjahre geschiedene) Ehe der Schnitzlers nicht mehr erholen sollte.
Noch aber war man in der Rolle der Beobachter und wohlmeinender Ratgeber, wobei eine Fülle von Briefen von Arthur an Stephi und von Stephi an Olga sowie vice versa versendet wurde. Der laut Schnitzler mitunter "mattoide" Sanatoriumsleiter hingegen nutzte in den drei ersten Kriegsjahren jeden Anlass, um im höheren Auftrag zu verreisen, sei es nach Lemberg, Bozen oder Istanbul, wo die k.u.k. Monarchie den osmanischen Verbündeten ein Muster-Lazarett errichten sollte.
Fatale Abhängigkeit
Als gefragter Therapeut von Front-Neurosen konnte Rudolf Urban tschitsch mit der wohlwollenden Duldung des Generalstabschefs Conrad von Hoetzendorf und dessen Nachfolgern rechnen. Auch im Sanatorium verkehrten hochrangige Offiziere, und selbst der Gründer der (einst) modernen Türkei, Kemal Atatürk, zählte nach dem Krieg zu den prominenten Patienten, die den Ruf des Hauses, seiner Ärzte und der neun handverlesenen Schwestern beförderten. Umso peinlicher gestaltete sich die Affäre rund um den Suizid der Krankenschwester Stephi, die nicht von ungefähr genau am Geburtstag ihres Mentors und Beraters Schnitzler eine Überdosis Veronal einnahm und sich anschließend Morphium injizierte, das sie aus der Klinik mitgehen hatte lassen.
Die genaueren Motive blieben im Dunkeln, können aber auch mit der Rückkehr eines früheren Geliebten, des deutschen Offiziers Rudolf Olden, zusammenhängen. Zudem war für die neunundzwanzigjährige Stephi das unstete Leben ihres prominenten Geliebten Urbantschitsch Anlass für mancherlei Frustration. Zwar stand es ihr als alleinstehender Frau frei, die Beziehung zu beenden, aber es schien sich eine Art Abhängigkeit entwickelt zu haben, aus der es, wie auch Schnitzler ahnte, kein Entrinnen mehr gab.
Minutiös fügte er die Mosaiksteinchen nach dem schrecklichen Ereignis zusammen, traf sich mehrfach mit Olden und ließ sich auch vom jungen Viktor Zuckerkandl informieren, der wenige Wochen später Stephis Schwester Mimi heiratete. Im Hotel "Regina", wohin Mutter und Schwester der Verstorbenen gezogen waren, fanden veritable Krisenstäbe statt, bei denen sich viele Prominente die Klinke in die Hand gaben und auch die beiden ehemaligen Konkurrenten Olden und Urbantschitsch beinahe aneinander gerieten.
Schnitzler pilgerte gleichfalls in das Hotel und übernahm die schwierige Aufgabe, Stephis Mutter zu erklären, dass ihre Tochter nicht an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung verstorben war, wie es zunächst geheißen hatte.
Den Autor belastete der Gedanke, dass die Weggefährtin und Freundin der Familie seinen Geburtstag zum Tag ihres Freitodes gewählt hatte. Zudem war er, der so oft als Therapeut und Ratgeber für Stephi gewirkt hatte, just an diesem Abend nicht in Wien. Trotz anhaltender Reiseschwierigkeiten hatte das mitunter zu Streit neigende Paar den Ehrentag in Salzburg verbracht, das Schnitzler besonders liebte.
Schnitzlers Traumarbeit
Der Besuch nahm eine unerwartete und höchst unerfreuliche Wendung, als sich tags darauf die Kunde von Stephis Tod mittels Telegramm verbreitete. Die Kurzreise in die geliebte Mozartstadt hatte den gewünschten Entspannungs- und Erholungseffekt nicht erbracht. Obwohl sich die Schnitzlers gegenseitig versicherten, dass der Selbstmord Stephis in schicksalhafter Weise so kommen hatte müssen und man nie und nimmer eingreifen hätte können - die üblichen Beschwichtigungen im Umfeld eines Suizids im Bekanntenkreis, vor denen auch der feinsinnige Analytiker nicht gefeit war -, war die Stimmung dennoch belastet, um nicht zu sagen, vergiftet. So saß man im Zug, der kriegsbedingt einen halben Tag von Salzburg nach Wien-West brauchte, und haderte mit den Ereignissen des Vorabends. Noch lange sollte sich der Autor, dem Stephi fortan in Träumen erschien, in Gesprächen mit seinen Freunden Josef Popper-Lynkäus und Arthur Kaufmann mit diesem Fall auseinandersetzen.
Im Reigen der Gäste in der Sternwartestraße fehlte die mitunter trübsinnige, meist aber humorvoll-witzige Krankenschwester sehr. Schnitzler hatte Stephi, deren Schwester Mimi und Mutter Ama zu allen möglichen privaten wie künstlerischen Anlässen eingeladen, man traf einander zu Silvester oder bei einem Konzertauftritt von Olga - und so war die scheinbar unbeschwerte Stephi auch dem Freundeskreis in der Cottage wohl bekannt geworden. So kam es auch, dass Jakob Wassermann mit ihr Briefe wechselte und anlässlich ihres Todes sogar ein Nachruf in der "Neuen Freien Presse" erschien, der die humanen Methoden der Pflegebediensteten und ihr liebenswertes Wesen würdigte.
Erinnerungskult
Das Begräbnis von Stefanie Bachrach am Döblinger Friedhof fand am 18. Mai statt. Am offenen Grab sprach ein Hautarzt des Sanatoriums, der das Engagement der Verstorbenen löblich hervorhob. Schnitzler notierte, dass Urban-tschitsch hinter Bäumen und Sträuchern des nicht allzu großen Friedhofs in der Hartäcker Straße sichtbar wurde, wo er rastlos auf- und abging. Später besuchten die Schnitzlers häufig die schlichte Grabstätte, wo eine junge Frau aus Sandstein an Stephi erinnert.
Dass der Klinikleiter sich um das Begräbnis seiner Freundin kümmerte, war ein sozialer Zug, doch er übertrieb den Erinnerungskult. Nicht nur, dass der Sarg mit hunderten Rosen überhäuft war, sorgte Urbantschitsch auch dafür, dass das letzte Bett, in dem er in einer Linzer Pension eine Nacht mit der Geliebten verbracht hatte, in sein Eigentum überging; und anstatt die Stätte des Grauens nie mehr zu betreten, mietete er Stephis Zimmer in der Nedergasse für ein Jahr an, um dort in Ruhe Trauerarbeit zu leisten. Obwohl dieser Stoff für Drama und Roman gleichermaßen geeignet war, vermied Schnitzler aus Pietätsgründen, den Fall Bachrach in seinem dichterischen Werk zu verewigen.
Literatur
Arthur Schnitzler: Tagebuch 19171919.
Verlag der ÖAW, Wien 1985
2. Aufl. 1998
Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler.
Reclam, Ditzingen 2005
Ulrich Weinzierl: Arthur Schnitzler: Lieben Träumen Sterben.
Fischer TB, Frankfurt/M. 2015
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Gerhard Strejcek
Vom Wunsch, Winnetou zu sein
Wiener Zeitung, 22.04.2017
Indianer
Die Apachen-Indianer waren keine Friedensengel, wie uns der romantische Karl-May-Held glauben machen wollte. Historische Zeugnisse zeigen Bilder eines kriegerischen, mitunter auch grausamen Stammes.
Franz Kafka veröffentlichte vor mehr als hundert Jahren einige kleinere Texte, die er sorgfältig auswählte, darunter den aus nur einem Satz bestehenden "Wunsch, Indianer zu werden".
Dieser Titel inspirierte viel später (1994) Peter Henisch zu einem ganzen Buch. Kafkas Text ist insgesamt sehr kurz, ein wenig rätselhaft, wirkt durch den verwendeten Konjunktiv sehnsuchtsvoll und verbreitet einen Hauch von Existenzialismus: "Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte auf dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf."
Woher stammte Kafkas Indianer-Bild? Von Ausstellungen, wie sie in der k.u.k. Monarchie regelmäßig auch über die indigenen Völker stattfanden, darunter die lebend zur Schau gestellten jungen "Esquimaux", aus authentischen, historischen Darstellungen oder doch (nur) aus dem Roman, wie ihn Karl May in virtuoser Form verfasst und massenhaft unter das Volk gebracht hatte?
Karl Mays "Quellen"
Im Bestseller "Winnetou I", der zunächst 1892 erschien, gibt es mehrere Stellen, die zu einem ähnlichen Bild eines Indianers inspirieren können. Der Winnetou-Text, den Kafka mit Sicherheit gelesen hat, gehört zu den literarisch anspruchsvolleren des Kolportage-autors, Trivialschriftstellers und "Reiseromanciers". May, der nur einmal und lange Jahre nach Erscheinen seiner Tetralogie (Winnetou I-III, Winnetous Erben) die USA bereiste, hatte seine Informationen über Ausrüstung, Sitten und Gebräuche der Mescalero-Apachen selbst aus zeitgenössischen Büchern übernommen.
Bei mehreren Gefängnisaufenthalten wegen Vermögensdelikten, Amtsanmaßung und Nötigung in den 1860er Jahren hatte er die Bücherei der Haftanstalt betreut, wo er kaum mit wissenschaftlich fundiertem Schrifttum in Kontakt gekommen sein dürfte. Aber auch die damals verfügbaren authentischen Schilderungen von Begegnungen mit den Apachen, wie sie etwa von John Ross Browne stammen, kannte May offenkundig nicht. Er hätte nicht Englisch lernen müssen, um diese zu lesen, denn eine deutsche Übersetzung des Werks "Abenteuer im Apachenland" erschien schon 1871 in Jena beim Verlag Costenoble.
Folgeauflagen des Werks kamen ab 1874 in Gera heraus, nicht allzuweit von Mays Heimat Hohenstein-Ernstthal und seinem späteren Wohnort Radebeul bei Dresden entfernt. Noch älter war die 1851 auf Deutsch übersetzte und publizierte Darstellung George Catlins, "Die Indianer-Noramerikas - die während eines achtjährigen Aufenthalts unter den wildesten ihrer Stämme erlebten Abenteuer-Schicksale". Catlins Buch gab es selten, aber Brownes eher nüchterne und vom Geist des Minen- und Explorationsexperten motivierten Schilderungen des Apachenlandes waren mit Sicherheit in Sachsen im Buchhandel und in Büchereien verfügbar.
Es ist reizvoll, Brownes und Mays Schilderungen, die fast zur selben Zeit denselben Schauplatz betreffen, miteinander zu vergleichen. Der irischstämmige Autor, dessen Walfangbuch 1844 Herman Melville insprierte, der im selben Ort wie Jahrzehnte später der 1876 geborene Jack London in Kalifornien lebte (Oakland) und der auch Mark Twain beeinflusste, unternahm mehrere Reisen nach Arizona, Sonora und Texas.
"Mowry-Massaker"
Sein mit Originalzeichnungen versehenes Werk, das die von Jack London hymnisch verehrte Bibliothekarin von Oakland gewiss ihrem Schützling empfohlen hatte, enthält auch einen Bericht vom Mowry-Massaker. Unweit der mexikanischen Grenze waren zwei Minenangestellte von Apachen ermordet worden und wenig später konnte ein allein reisender Arzt mit Mühe demselben Schicksal entkommen. Brownes Reisegruppe, der auch ein Indianerbeauftragter angehörte, fand wenige Wochen nach der Ermordung der beiden jungen weißen Minenarbeiter blutige Pfeile und Kampfspuren am Schauplatz des Überfalls vor.
Gewiss hätte dieser gruselige Ort Karl May angeregt: Es handelte sich um eine Schlucht unweit der Mowry-Silbermine, die ursprünglich "Patagos"-Mine hieß. Die Apachen hatten in einem Bachbett gewartet und ihren späteren Opfern aufgelauert, die sie gnadenlos angriffen. In dieser Gegend lag auch die viel später berühmt gewordene Geisterstadt Ruby, in der mehrfach die Betreiber des einzigen Geschäfts samt Post und Telefonanschluss ermordet wurden - allerdings von weißen und mexikanischen Banditen.
Die Unruhen dort zogen sich demnach mehr als 50 Jahre dahin, in denen sich in Arizona der Ruf eines ungezähmten und immer noch wilden Westens aufrecht erhielt. Die Minenstadt Ruby, deren Name auf die Frau des einzigen Greißlers zurück ging, wurde 1941 verlassen und kann heute noch als ghost town besichtigt werden.
Viele Verteidiger Mays, die in den Karl-May-Jahrbüchern und Artikeln publizierten, verwiesen darauf, dass der Autor auf Basis seines Wissens die Indianer gerecht und einigermaßen authentisch geschildert hätte. Aber die Tücke lag im Detail. Browne hatte sowohl die Kriegstaktik der Apachen in Arizona als auch ihre Ausrüstung, darunter eine Art Lederhelm, beschrieben. In Mays Roman tragen sie keine Kopfbedeckung und werden kurzerhand als Bewohner eines Pueblos hingestellt, in dem Winnetou wie in einem Penthouse lebt. Mays Helden wie der "gemeinsame Häuptling aller Apachen" Intschu-tschuna, Winnetous Vater, kämpfen mit dem Tomahawk, die in Mowry aktive Bande aber schoss mit Flinten, durchbohrte die verwundeten oder toten Opfer mit Pfeilen und Lanzen.
Von vierzehn Gräbern, die Browne in Mowry bei Santa Cruz zählte, stammte ein Dutzend von Überfällen. Mays Apachen sind ebenso kriegerisch, verteidigen sich aber nur gegen unberechtigte Übergriffe der Kiowas oder der Weißen und wenden Marter und Hinrichtung nur nach reiflicher Überlegung und Beschlussfassung an. So weit die Legende, die sich durch Karl Mays Erzähltalent millionenfach verbreitete.
Die Realität sah anders aus, auch was die Konflikte zwischen den Indianerstämmen betraf. Die Hauptfeinde der Apachen in der von May beschriebenen südwestlichen Region waren (teilweise) sesshafte Pimo- und Papagos-Indianer. Diese hatten sich mit den Weißen arrangiert, betrieben - unterstützt durch deutsche Expertise - Ackerbau und litten unter den Viehdiebstählen, der Verwüstung des Ackerlands und den Mordbrennereien der Apachenhorden, die sie regelmäßig heimsuchten. Um die Feinde abzuschrecken, griffen die am Gila-Fluss beheimateten Maricopas zu einer drastischen Maßnahme: Sie töteten einen Apachen-Häuptling und stellten ihn unweit ihres Dorfes gekreuzigt zur Schau, wo der Leichnam in den Jahren 1866/67 als lederne Mumie zu sehen war.
Kreuzigungen
Die Sitte des Kreuzigens übernahmen die Maricopas von den christlichen Einwanderern, da die aus Mexiko kommenden Missionare den Heiland in dieser Darstellung den Indianern gezeigt hatten. Einen dieser Missionare namens Francisco beschreibt Abraham a Sancta Clara, ein anderer, Pater Kino, erlangte lokale Berühmtheit rund um Santa Cruz.
Browne besichtigte die Gedenkstätten und aufgelassenen Siedlungen der Missionare. Am Gila-Fluss sah er auch einen an einem Baum hängenden toten Apachen, den Weiße dort als Mahnmal drapiert hatten. So sah die Zivilisa- tion des noch nicht als Bundesstaat integrierten Territoriums aus, das nach dem Gadsden-Kauf um 1850 zu den USA gehörte.
Weiter nördlich führten die Apachen einen ethisch begründeten, aber grausamen Abwehrkampf gegen die Armee. Auffällig ist einerseits die enorme Dauer des Kriegs, andererseits die angewendete Guerilla-Taktik der bedrohten Indianer. Die Soldaten konnten der in kleinen Gruppen operierenden Krieger lange Zeit nicht habhaft werden, ihre Artillerie war ineffektiv. Zudem verfügten die Indianer über eine perfekte Ortskenntnis, um sich nach Nadelstichangriffen gegen Forts und Transporte rasch wieder zurückzuziehen.
Trotzdem verloren die Apachen ihren Kampf, weil die bürgerkriegsgestählte Kavallerie zu einer List griff und Apachenscouts engagierte. Erst vor kurzem erschien ein Werk, das die Rolle dieser Scouts, die je nach Blickwinkel, als Verräter oder Verbündete galten, entsprechend würdigt. In der Militärgeschichte waren es nur die weißen Truppen, welche die Indianer nach Westen gedrängt und größtenteils vernichtet oder in Reservate für friedfertige indigene Bewohner (wie die Pimos in Arizona, die ihren Grund behalten durften) verbracht hatten.
Gesetzlose Region
Auch Karl May erlag dem Irrtum, dass es vornehmlich weiße Scouts wie seine fiktiven Figuren Sam Hawkens, Will Parker und Dick Stone waren, welche den Indianern an Ortskenntnis ebenbürtig waren und damit zur strategischen Überlegeheit der eingewanderten Amerikaner beitrugen. Vielmehr waren es Halfbreeds, verstoßene Stammesangehörige oder schlicht Abenteurer, die der US-Kavallerie den Weg zeigten und bahnten. In der Zeit des Sezessionskriegs (186165) gerieten die Weißen im Territorium westlich von Texas in die Defensive, da sich die im unionstreuen Kalifor-nien stationierte Armee an den Kampfhandlungen im Osten beteiligen musste.
Die für den Süden optierenden Texaner, die erst ein Dutzend Jahre Teil der USA waren, wollten ihrerseits die Apachengegend in Arizona sowie New Mexico unter ihre Kontrolle bringen. Ihnen traten die kalifornischen Freiwilligen entgegen, welche texanische Abenteurer rund um Hauptmann Hunter zwar aus dem Hauptort Tucson vertreiben konnten, aber nicht ausreichten, um den Schutz der Bewohner zu gewährleisten.
Somit entstanden plötzlich mehrere Interessen, die den Ruf der Region als gesetzlos und lebensgefährlich auf Jahrzehnte festigten. Vom Westen her unternahmen die Freiwilligen vom US-Fort in Yuma Vorstöße, vom Süden her drangen Freischärler ein, die noch im mexikanischen Krieg gegen die USA gedient hatten. Aus Texas zogen sich jene zurück, die auch den Konföderierten nicht zu Gesicht standen oder sich der Justiz entziehen wollten. Und mittendrin standen die Apachenstämme, die Aufwind durch den Abzug der Armee verspürten und alte Rechnungen beglichen. Für Winnetous pazifistische Aktivitäten war hier nur wenig Spielraum.
Literaturhinweise:
John Ross Browne: Abenteuer im Apachenland, Aufbruch ins Ungewisse
Weltbild Verlag
Augsburg 2004
Nur auf Englisch verfügbar:
Paul Andre Hutton: The Apache Wars
2016
Sam K. Dolan, Cowboys and Gangsters. Stories of an Untamed Southwest
2016
The Apache Scouts: The History and Legacy of the Native Scouts Used During the Indian Wars
CreateSpace Independent Publishing Platform
The Apache Wars: The History and Legacy of the U.S. Army’s Campaigns against the Apaches
Charles River Ed. 2015
Die Apachen-Indianer waren keine Friedensengel, wie uns der romantische Karl-May-Held glauben machen wollte. Historische Zeugnisse zeigen Bilder eines kriegerischen, mitunter auch grausamen Stammes.
Franz Kafka veröffentlichte vor mehr als hundert Jahren einige kleinere Texte, die er sorgfältig auswählte, darunter den aus nur einem Satz bestehenden "Wunsch, Indianer zu werden".
Dieser Titel inspirierte viel später (1994) Peter Henisch zu einem ganzen Buch. Kafkas Text ist insgesamt sehr kurz, ein wenig rätselhaft, wirkt durch den verwendeten Konjunktiv sehnsuchtsvoll und verbreitet einen Hauch von Existenzialismus: "Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte auf dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf."
Woher stammte Kafkas Indianer-Bild? Von Ausstellungen, wie sie in der k.u.k. Monarchie regelmäßig auch über die indigenen Völker stattfanden, darunter die lebend zur Schau gestellten jungen "Esquimaux", aus authentischen, historischen Darstellungen oder doch (nur) aus dem Roman, wie ihn Karl May in virtuoser Form verfasst und massenhaft unter das Volk gebracht hatte?
Karl Mays "Quellen"
Im Bestseller "Winnetou I", der zunächst 1892 erschien, gibt es mehrere Stellen, die zu einem ähnlichen Bild eines Indianers inspirieren können. Der Winnetou-Text, den Kafka mit Sicherheit gelesen hat, gehört zu den literarisch anspruchsvolleren des Kolportage-autors, Trivialschriftstellers und "Reiseromanciers". May, der nur einmal und lange Jahre nach Erscheinen seiner Tetralogie (Winnetou I-III, Winnetous Erben) die USA bereiste, hatte seine Informationen über Ausrüstung, Sitten und Gebräuche der Mescalero-Apachen selbst aus zeitgenössischen Büchern übernommen.
Bei mehreren Gefängnisaufenthalten wegen Vermögensdelikten, Amtsanmaßung und Nötigung in den 1860er Jahren hatte er die Bücherei der Haftanstalt betreut, wo er kaum mit wissenschaftlich fundiertem Schrifttum in Kontakt gekommen sein dürfte. Aber auch die damals verfügbaren authentischen Schilderungen von Begegnungen mit den Apachen, wie sie etwa von John Ross Browne stammen, kannte May offenkundig nicht. Er hätte nicht Englisch lernen müssen, um diese zu lesen, denn eine deutsche Übersetzung des Werks "Abenteuer im Apachenland" erschien schon 1871 in Jena beim Verlag Costenoble.
Folgeauflagen des Werks kamen ab 1874 in Gera heraus, nicht allzuweit von Mays Heimat Hohenstein-Ernstthal und seinem späteren Wohnort Radebeul bei Dresden entfernt. Noch älter war die 1851 auf Deutsch übersetzte und publizierte Darstellung George Catlins, "Die Indianer-Noramerikas - die während eines achtjährigen Aufenthalts unter den wildesten ihrer Stämme erlebten Abenteuer-Schicksale". Catlins Buch gab es selten, aber Brownes eher nüchterne und vom Geist des Minen- und Explorationsexperten motivierten Schilderungen des Apachenlandes waren mit Sicherheit in Sachsen im Buchhandel und in Büchereien verfügbar.
Es ist reizvoll, Brownes und Mays Schilderungen, die fast zur selben Zeit denselben Schauplatz betreffen, miteinander zu vergleichen. Der irischstämmige Autor, dessen Walfangbuch 1844 Herman Melville insprierte, der im selben Ort wie Jahrzehnte später der 1876 geborene Jack London in Kalifornien lebte (Oakland) und der auch Mark Twain beeinflusste, unternahm mehrere Reisen nach Arizona, Sonora und Texas.
"Mowry-Massaker"
Sein mit Originalzeichnungen versehenes Werk, das die von Jack London hymnisch verehrte Bibliothekarin von Oakland gewiss ihrem Schützling empfohlen hatte, enthält auch einen Bericht vom Mowry-Massaker. Unweit der mexikanischen Grenze waren zwei Minenangestellte von Apachen ermordet worden und wenig später konnte ein allein reisender Arzt mit Mühe demselben Schicksal entkommen. Brownes Reisegruppe, der auch ein Indianerbeauftragter angehörte, fand wenige Wochen nach der Ermordung der beiden jungen weißen Minenarbeiter blutige Pfeile und Kampfspuren am Schauplatz des Überfalls vor.
Gewiss hätte dieser gruselige Ort Karl May angeregt: Es handelte sich um eine Schlucht unweit der Mowry-Silbermine, die ursprünglich "Patagos"-Mine hieß. Die Apachen hatten in einem Bachbett gewartet und ihren späteren Opfern aufgelauert, die sie gnadenlos angriffen. In dieser Gegend lag auch die viel später berühmt gewordene Geisterstadt Ruby, in der mehrfach die Betreiber des einzigen Geschäfts samt Post und Telefonanschluss ermordet wurden - allerdings von weißen und mexikanischen Banditen.
Die Unruhen dort zogen sich demnach mehr als 50 Jahre dahin, in denen sich in Arizona der Ruf eines ungezähmten und immer noch wilden Westens aufrecht erhielt. Die Minenstadt Ruby, deren Name auf die Frau des einzigen Greißlers zurück ging, wurde 1941 verlassen und kann heute noch als ghost town besichtigt werden.
Viele Verteidiger Mays, die in den Karl-May-Jahrbüchern und Artikeln publizierten, verwiesen darauf, dass der Autor auf Basis seines Wissens die Indianer gerecht und einigermaßen authentisch geschildert hätte. Aber die Tücke lag im Detail. Browne hatte sowohl die Kriegstaktik der Apachen in Arizona als auch ihre Ausrüstung, darunter eine Art Lederhelm, beschrieben. In Mays Roman tragen sie keine Kopfbedeckung und werden kurzerhand als Bewohner eines Pueblos hingestellt, in dem Winnetou wie in einem Penthouse lebt. Mays Helden wie der "gemeinsame Häuptling aller Apachen" Intschu-tschuna, Winnetous Vater, kämpfen mit dem Tomahawk, die in Mowry aktive Bande aber schoss mit Flinten, durchbohrte die verwundeten oder toten Opfer mit Pfeilen und Lanzen.
Von vierzehn Gräbern, die Browne in Mowry bei Santa Cruz zählte, stammte ein Dutzend von Überfällen. Mays Apachen sind ebenso kriegerisch, verteidigen sich aber nur gegen unberechtigte Übergriffe der Kiowas oder der Weißen und wenden Marter und Hinrichtung nur nach reiflicher Überlegung und Beschlussfassung an. So weit die Legende, die sich durch Karl Mays Erzähltalent millionenfach verbreitete.
Die Realität sah anders aus, auch was die Konflikte zwischen den Indianerstämmen betraf. Die Hauptfeinde der Apachen in der von May beschriebenen südwestlichen Region waren (teilweise) sesshafte Pimo- und Papagos-Indianer. Diese hatten sich mit den Weißen arrangiert, betrieben - unterstützt durch deutsche Expertise - Ackerbau und litten unter den Viehdiebstählen, der Verwüstung des Ackerlands und den Mordbrennereien der Apachenhorden, die sie regelmäßig heimsuchten. Um die Feinde abzuschrecken, griffen die am Gila-Fluss beheimateten Maricopas zu einer drastischen Maßnahme: Sie töteten einen Apachen-Häuptling und stellten ihn unweit ihres Dorfes gekreuzigt zur Schau, wo der Leichnam in den Jahren 1866/67 als lederne Mumie zu sehen war.
Kreuzigungen
Die Sitte des Kreuzigens übernahmen die Maricopas von den christlichen Einwanderern, da die aus Mexiko kommenden Missionare den Heiland in dieser Darstellung den Indianern gezeigt hatten. Einen dieser Missionare namens Francisco beschreibt Abraham a Sancta Clara, ein anderer, Pater Kino, erlangte lokale Berühmtheit rund um Santa Cruz.
Browne besichtigte die Gedenkstätten und aufgelassenen Siedlungen der Missionare. Am Gila-Fluss sah er auch einen an einem Baum hängenden toten Apachen, den Weiße dort als Mahnmal drapiert hatten. So sah die Zivilisa- tion des noch nicht als Bundesstaat integrierten Territoriums aus, das nach dem Gadsden-Kauf um 1850 zu den USA gehörte.
Weiter nördlich führten die Apachen einen ethisch begründeten, aber grausamen Abwehrkampf gegen die Armee. Auffällig ist einerseits die enorme Dauer des Kriegs, andererseits die angewendete Guerilla-Taktik der bedrohten Indianer. Die Soldaten konnten der in kleinen Gruppen operierenden Krieger lange Zeit nicht habhaft werden, ihre Artillerie war ineffektiv. Zudem verfügten die Indianer über eine perfekte Ortskenntnis, um sich nach Nadelstichangriffen gegen Forts und Transporte rasch wieder zurückzuziehen.
Trotzdem verloren die Apachen ihren Kampf, weil die bürgerkriegsgestählte Kavallerie zu einer List griff und Apachenscouts engagierte. Erst vor kurzem erschien ein Werk, das die Rolle dieser Scouts, die je nach Blickwinkel, als Verräter oder Verbündete galten, entsprechend würdigt. In der Militärgeschichte waren es nur die weißen Truppen, welche die Indianer nach Westen gedrängt und größtenteils vernichtet oder in Reservate für friedfertige indigene Bewohner (wie die Pimos in Arizona, die ihren Grund behalten durften) verbracht hatten.
Gesetzlose Region
Auch Karl May erlag dem Irrtum, dass es vornehmlich weiße Scouts wie seine fiktiven Figuren Sam Hawkens, Will Parker und Dick Stone waren, welche den Indianern an Ortskenntnis ebenbürtig waren und damit zur strategischen Überlegeheit der eingewanderten Amerikaner beitrugen. Vielmehr waren es Halfbreeds, verstoßene Stammesangehörige oder schlicht Abenteurer, die der US-Kavallerie den Weg zeigten und bahnten. In der Zeit des Sezessionskriegs (186165) gerieten die Weißen im Territorium westlich von Texas in die Defensive, da sich die im unionstreuen Kalifor-nien stationierte Armee an den Kampfhandlungen im Osten beteiligen musste.
Die für den Süden optierenden Texaner, die erst ein Dutzend Jahre Teil der USA waren, wollten ihrerseits die Apachengegend in Arizona sowie New Mexico unter ihre Kontrolle bringen. Ihnen traten die kalifornischen Freiwilligen entgegen, welche texanische Abenteurer rund um Hauptmann Hunter zwar aus dem Hauptort Tucson vertreiben konnten, aber nicht ausreichten, um den Schutz der Bewohner zu gewährleisten.
Somit entstanden plötzlich mehrere Interessen, die den Ruf der Region als gesetzlos und lebensgefährlich auf Jahrzehnte festigten. Vom Westen her unternahmen die Freiwilligen vom US-Fort in Yuma Vorstöße, vom Süden her drangen Freischärler ein, die noch im mexikanischen Krieg gegen die USA gedient hatten. Aus Texas zogen sich jene zurück, die auch den Konföderierten nicht zu Gesicht standen oder sich der Justiz entziehen wollten. Und mittendrin standen die Apachenstämme, die Aufwind durch den Abzug der Armee verspürten und alte Rechnungen beglichen. Für Winnetous pazifistische Aktivitäten war hier nur wenig Spielraum.
Literaturhinweise:
John Ross Browne: Abenteuer im Apachenland, Aufbruch ins Ungewisse
Weltbild Verlag
Augsburg 2004
Nur auf Englisch verfügbar:
Paul Andre Hutton: The Apache Wars
2016
Sam K. Dolan, Cowboys and Gangsters. Stories of an Untamed Southwest
2016
The Apache Scouts: The History and Legacy of the Native Scouts Used During the Indian Wars
CreateSpace Independent Publishing Platform
The Apache Wars: The History and Legacy of the U.S. Army’s Campaigns against the Apaches
Charles River Ed. 2015
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Gerhard Strejcek
Der gescheiterte Intellektuelle
Wiener Zeitung, 01.04.2017
Zeitgeschichte
US-Präsident Woodrow Wilson, der am 6. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, verfügte über keine außenpolitische Erfahrung - und war auch innenpolitisch wenig erfolgreich.
Am 6. April 1917 erklärten die USA dem Deutschen Reich den Krieg und beendeten damit offi-ziell eine Phase der Neutralität, die sie fast drei Jahre lang durchgehalten hatten. Gegenüber der k.u.k. Monarchie trat die schon damals militärisch bedeutendste Weltmacht erst im Dezember 1917 in den Krieg ein, da es abgesehen von Bündnisverpflichtungen keinen hinreichenden Grund oder Interessenkonflikt gab.
Zunächst hatten die Amerikaner nur 150.000 Soldaten unter Waffen, aber im Juni 1918 standen bereits eine Million der neu eingezogenen Armeeangehörigen in Europa und entschieden den Kampf an der Westfront. Für viele Deutsche, selbst für Demokraten in der Weimarer Republik, geriet Wilson zur Unperson. Als im Februar 1924 Staatstrauer nach dem Tod des Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers herrschte, wollte Gustav Stresemann den deutschen Botschafter in Washington anweisen, die Fahne nicht auf Halbmast zu setzen, was prompt zu einer Verstimmung führte.
Unperson in Deutschland
In den USA wegen seiner pazifistischen Züge, der Initiierung des (letztlich gescheiterten) Völkerbundgedankens und der Einführung des Frauenwahlrechts bis heute angesehen, blieb Wilson, der 1919 den vom Kongress nie ratifizierten Vertrag von Versailles unterfertigte, in deutschen Landen eine Unperson. Aus heutiger Sicht müssen er und seine Politik aber differenziert betrachtet werden. In wirtschaftlicher Hinsicht hatten sich die USA nie neutral im engeren Sinn verhalten.
Briten und Franzosen hatten seit dem Kriegsbeginn im August 1914 ihren Überseehandel intensiviert, Waffen, Rohstoffe und Nahrung importiert, Anleihen begeben und Exporterlöse aufgerechnet, wogegen die Mittelmächte keinen maßgeblichen Austausch mehr mit Wilsons Amerika pflegten. Valorisiert man die zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA im Weltkrieg umgesetzten Warenumsätze, so handelte es sich um ein Handelsvolumen von (heutigen) 156 Mrd. Euro.
Auch die militärische Neutralität stand auf schwachen Füßen, hätte diese doch ein Waffenembargo an alle kriegführenden Mächte begründen müssen. Doch Wilson pochte auf den Grundgedanken, dass auch in Kriegszeiten Handel mit Europa zulässig sein müsse, sofern die kriegführenden Partner theoretisch (aber nicht praktisch) gleich behandelt würden, was eine juristische Spitzfindigkeit war.
Besondere Empörung rief die Gegensätzlichkeit hervor, mit der Wilson bis 1917 sanfte Signale sandte und trotz Anerkennung des Prinzips nationaler Selbstbestimmung die Integrität der Mittelmächte anerkannte. Mehrfach tat er kund (lebte er heute, würde er wohl "twittern"), dass die Zerschlagung der k.u.k. Monarchie nicht im Interesse der USA stünde. Als Kriegsziel im Reich galt die Beendigung der militaristischen Herrschaft, aber weder das Ende der Hohenzollern noch die Demütigung der deutschen Bevölkerung. Doch es sollte anders kommen.
Der Wilson’sche Abgrund zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Politik zeigte sich auch in der amerikanischen Innenpolitik. Im Wahlkampf 1912 hatte der einstige Gouverneur mit vagen Aussagen die afroamerikanischen Wähler auf seine Seite gebracht, die sich von Wilson als "Gentleman" eine Phase der Gleichberechtigung erwarteten. Tatsächlich aber setzte der Präsident konsequent auf Rassentrennung in den Bundesbehörden.
Über Wilsons moralische Inte-grität kamen Zweifel auf, als er sich ein Jahr nach dem Verlust seiner Gattin Ellen Axson im August 1914 mitten im Krieg wieder verheiratete. Afroamerikanische Aktivisten empörten sich darüber, dass er sie nicht mehr empfangen wollte. In dieser Phase konnte eine Ablenkung auf außenpolitische Konflikte nutzbringend sein.
Der lange Schatten des Rassismus-Vorwurfs holte Wilson postum erst 2015 ein. Der 1856 in Virginia geborene Staatstheoretiker ("Constitutional Government") und historisch interessierte Gelehrte, der als junger Dozent in Bryn Mawr gelehrt hatte und ab Juni 1902 acht Jahre als Präsident (einem Rektor vergleichbar) an der Spitze der Eliteuniversität Princeton (New Jersey) gestanden war, verlor den Status des allseits verehrten Alumnus.
Die Woodrow Wilson School of Public and Administrative Sciences und das Wilson College blieben zwar nach ihm benannt, doch vor zwei Jahren hängte die Universitätsleitung schließlich nach Protesten von Hochschülerschafts-Organisationen ein Großporträt des umstrittenen Präsidenten aus der Mensa ab und begann die Rolle ihres Mentors zu hinterfragen. Nach Befassung des Boards scheiterte ein Versuch, die postgraduale Schule und das College umzubenennen. Wilson blieb der bestimmende und umstrittene Namensgeber vor Ort. Aus Manfred Bergs soeben erschienener Biographie wird erkennbar, dass Wilson keine außenpolitische Erfahrung und nur marginale Kenntnisse vom Ausland hatte.
Den Intellektuellen aus den Reihen der Demokraten begleitete der Nimbus des gebildeten, abwägenden Staatsmannes, doch erwies er sich gegenüber Beratern wie Edward House als eigensinnig. Als Wilson nach seinem Wahlsieg das prestigeträchtige Amt 1912 antrat, wollte er sich auf die Innenpolitik konzentrieren. Tatsächlich aber musste sich kaum ein US-Präsident stärker in der Außenpolitik bewähren als der dafür schlecht vorbereitete Büchermensch Wilson.
Kein Europa-Kenner
Als sich der Konflikt der Entente mit dem militärisch hochgerüsteten Reich zuspitzte, hatten sich die Isolationismus-Befürworter zunächst auf den Atlantik verlassen, der sie vom Krieg trennte. Aber gerade die ertrinkenden Passagiere und explodierende Schiffe zogen die USA kausal in den europäischen Konflikt hinein.
Wilson kannte die schwelenden Konflikte, das Weltmachtstreben der Deutschen, die Nationalitätenprobleme der Habsburger Monarchie und die indolente Haltung des implodierenden British Empire recht wohl. Die Reibungen waren vor dem Ersten Weltkrieg virulent geworden, wie Marokko-Krise, Balkankriege und Scharmützel in Afrika zeigten. Zentrifugale Bestrebungen im Süden der Donaumonarchie sowie der permanenten Sprachenstreit in Böhmen, Mähren und Galizien und die ungelöste polnische Frage nagten am Habsburger Reich. Der Zerfall war demnach eine Frage der Zeit, der Krieg beschleunigte nur das Ende des sensiblen Machtgleichgewichts auf dem Kontinent.
Aber indem sich Wilson zum Nachkriegsarchitekten aufschwang, zeigten sich seine mangelhaften Kenntnisse über Europa. Dass er sich mit dem deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts sowie mit Theoretikern wie Georg Jellinek und Paul Laband befasst hatte, änderte nichts an diesem Defizit. Anglophil, wie Wilson war, hatte er vor seinem Amtsantritt auf europäischem Boden zweimal England bereist, einmal führte ihn ein Abstecher nach Frankreich und in die Schweiz. Die riesige k.u.k. Monarchie, deren Erhaltungswürdigkeit seine Administration noch im Krieg beteuerte, kannte Wilson nicht aus eigener Anschauung. Daher versagte seine Selbstbestimmungsdoktrin in grenznahen Regionen ebenso wie in Südtirol.
Auch im Verhältnis zu Mexiko zeigten sich Inkonsequenz und Ambivalenz von Wilsons Handeln und Aussagen. Hatte er nach dem Huerta-Putsch in Mexiko ein Waffenembargo mit der Begründung der Neutralität gutgeheißen, so erklärte er dessen Aufhebung damit, dass es eine unübliche Einschränkung sei, keinen Handel zu treiben. Zunächst suchte er nach einem nichtigen Anlass, um die amerikanische Marine nach Veracruz zu senden; als dann aber andernorts im südlichen Nachbarland über hundert mexikanische Soldaten und zwölf US-Marineinfanteristen im Kugelhagel starben und ein anti-amerikanischer Proteststurm in Mexiko losbrach, zog er das Militär ab und verweigerte der Admiralität Verstärkungen.
Wilsons Politik gegenüber dem illegitimen Herrscher Victoriano Huerta war von einer religiös motivierten Ablehnung der Diktatur gekennzeichnet, die ethisch vertretbar, politisch aber unklug war. Auch nach dem raschen Ende der mexikanischen Militärherrschaft besserten sich die Zustände nicht. Wilson hätte aus dem Abenteuer auf dem eigenen Kontinent lernen müssen, als sich im Herbst 1914 das Neutralitätsproblem im Ersten Weltkrieg auftat.
Angesichts der Bevorzugung der Ententemächte zeichnete sich der Kriegseintritt schon lange vor dem uneingeschränkten U-Bootkrieg ab, den die Deutschen ab dem Februar 1917 trotz amerikanischer Warnungen durchführten. Im Umgang mit Angriffen auf zivile Schiffe reagierte Wilson harsch, doch zweifelhaft erschien seine unnachgiebige Haltung gegenüber deutschen Beschwerden über die ständigen Übergriffe der britischen Marine.
Wilson redigierte und milderte persönlich die Noten an den britischen Botschafter, welche den völkerrechtswidrigen Usus im Zuge der Seeblockade betrafen, Schiffe mit neutralen Zielhäfen (wie etwa Rotterdam) aufzubringen. Statt diese auf hoher See zu durchsuchen, leitete die britische Kriegsmarine sie in eigene Häfen um, wo verderbliche Ware verfaulte, statt der Bevölkerung Innereuropas zugute zu kommen.
Hungernde Zivilisten
Großbritannien betrachtete Lebensmittel als "Kontrebande", das heißt als kriegstaugliche Güter, die beschlagnahmt werden durften. Diese Rechtsansicht war umstritten, doch der juristisch gebildete Wilson wollte sich auf keinen Streit mit der britischen Regierung einlassen und diese Fragen erst nach dem Krieg diskutieren.
In den USA wuchs die Empörung über zivile Opfer auf Passagierdampfern wie der "Lusitania", die allerdings Waffen transportierten. Auf Grund ihrer wirtschaftlichen Macht hätten die USA verhindern können, dass die Entente die Mittelmächte aushungerte, was vor allem auf Kosten der Zivilbevölkerung ging, denn an der Front wurden die Soldaten bis Kriegsende hinreichend ernährt.
Wilson setzte nach dem Krieg mit seinen Bestrebungen um eine Friedensordnung und den Völkerbund Zeichen; krankheitsbedingt konnte er aber weder dieses Projekt in den USA populär noch die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Erfolg machen. Somit scheiterte der Intellektuelle aus Virginia sowohl außen- als auch innenpolitisch, wo er den Weg für die Republikaner um Hoover räumen musste.
Literatur
Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie.
C.H. Beck, München 2017
227 Seiten mit 17 Abb.
17,50 Euro.
US-Präsident Woodrow Wilson, der am 6. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, verfügte über keine außenpolitische Erfahrung - und war auch innenpolitisch wenig erfolgreich.
Am 6. April 1917 erklärten die USA dem Deutschen Reich den Krieg und beendeten damit offi-ziell eine Phase der Neutralität, die sie fast drei Jahre lang durchgehalten hatten. Gegenüber der k.u.k. Monarchie trat die schon damals militärisch bedeutendste Weltmacht erst im Dezember 1917 in den Krieg ein, da es abgesehen von Bündnisverpflichtungen keinen hinreichenden Grund oder Interessenkonflikt gab.
Zunächst hatten die Amerikaner nur 150.000 Soldaten unter Waffen, aber im Juni 1918 standen bereits eine Million der neu eingezogenen Armeeangehörigen in Europa und entschieden den Kampf an der Westfront. Für viele Deutsche, selbst für Demokraten in der Weimarer Republik, geriet Wilson zur Unperson. Als im Februar 1924 Staatstrauer nach dem Tod des Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers herrschte, wollte Gustav Stresemann den deutschen Botschafter in Washington anweisen, die Fahne nicht auf Halbmast zu setzen, was prompt zu einer Verstimmung führte.
Unperson in Deutschland
In den USA wegen seiner pazifistischen Züge, der Initiierung des (letztlich gescheiterten) Völkerbundgedankens und der Einführung des Frauenwahlrechts bis heute angesehen, blieb Wilson, der 1919 den vom Kongress nie ratifizierten Vertrag von Versailles unterfertigte, in deutschen Landen eine Unperson. Aus heutiger Sicht müssen er und seine Politik aber differenziert betrachtet werden. In wirtschaftlicher Hinsicht hatten sich die USA nie neutral im engeren Sinn verhalten.
Briten und Franzosen hatten seit dem Kriegsbeginn im August 1914 ihren Überseehandel intensiviert, Waffen, Rohstoffe und Nahrung importiert, Anleihen begeben und Exporterlöse aufgerechnet, wogegen die Mittelmächte keinen maßgeblichen Austausch mehr mit Wilsons Amerika pflegten. Valorisiert man die zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA im Weltkrieg umgesetzten Warenumsätze, so handelte es sich um ein Handelsvolumen von (heutigen) 156 Mrd. Euro.
Auch die militärische Neutralität stand auf schwachen Füßen, hätte diese doch ein Waffenembargo an alle kriegführenden Mächte begründen müssen. Doch Wilson pochte auf den Grundgedanken, dass auch in Kriegszeiten Handel mit Europa zulässig sein müsse, sofern die kriegführenden Partner theoretisch (aber nicht praktisch) gleich behandelt würden, was eine juristische Spitzfindigkeit war.
Besondere Empörung rief die Gegensätzlichkeit hervor, mit der Wilson bis 1917 sanfte Signale sandte und trotz Anerkennung des Prinzips nationaler Selbstbestimmung die Integrität der Mittelmächte anerkannte. Mehrfach tat er kund (lebte er heute, würde er wohl "twittern"), dass die Zerschlagung der k.u.k. Monarchie nicht im Interesse der USA stünde. Als Kriegsziel im Reich galt die Beendigung der militaristischen Herrschaft, aber weder das Ende der Hohenzollern noch die Demütigung der deutschen Bevölkerung. Doch es sollte anders kommen.
Der Wilson’sche Abgrund zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Politik zeigte sich auch in der amerikanischen Innenpolitik. Im Wahlkampf 1912 hatte der einstige Gouverneur mit vagen Aussagen die afroamerikanischen Wähler auf seine Seite gebracht, die sich von Wilson als "Gentleman" eine Phase der Gleichberechtigung erwarteten. Tatsächlich aber setzte der Präsident konsequent auf Rassentrennung in den Bundesbehörden.
Über Wilsons moralische Inte-grität kamen Zweifel auf, als er sich ein Jahr nach dem Verlust seiner Gattin Ellen Axson im August 1914 mitten im Krieg wieder verheiratete. Afroamerikanische Aktivisten empörten sich darüber, dass er sie nicht mehr empfangen wollte. In dieser Phase konnte eine Ablenkung auf außenpolitische Konflikte nutzbringend sein.
Der lange Schatten des Rassismus-Vorwurfs holte Wilson postum erst 2015 ein. Der 1856 in Virginia geborene Staatstheoretiker ("Constitutional Government") und historisch interessierte Gelehrte, der als junger Dozent in Bryn Mawr gelehrt hatte und ab Juni 1902 acht Jahre als Präsident (einem Rektor vergleichbar) an der Spitze der Eliteuniversität Princeton (New Jersey) gestanden war, verlor den Status des allseits verehrten Alumnus.
Die Woodrow Wilson School of Public and Administrative Sciences und das Wilson College blieben zwar nach ihm benannt, doch vor zwei Jahren hängte die Universitätsleitung schließlich nach Protesten von Hochschülerschafts-Organisationen ein Großporträt des umstrittenen Präsidenten aus der Mensa ab und begann die Rolle ihres Mentors zu hinterfragen. Nach Befassung des Boards scheiterte ein Versuch, die postgraduale Schule und das College umzubenennen. Wilson blieb der bestimmende und umstrittene Namensgeber vor Ort. Aus Manfred Bergs soeben erschienener Biographie wird erkennbar, dass Wilson keine außenpolitische Erfahrung und nur marginale Kenntnisse vom Ausland hatte.
Den Intellektuellen aus den Reihen der Demokraten begleitete der Nimbus des gebildeten, abwägenden Staatsmannes, doch erwies er sich gegenüber Beratern wie Edward House als eigensinnig. Als Wilson nach seinem Wahlsieg das prestigeträchtige Amt 1912 antrat, wollte er sich auf die Innenpolitik konzentrieren. Tatsächlich aber musste sich kaum ein US-Präsident stärker in der Außenpolitik bewähren als der dafür schlecht vorbereitete Büchermensch Wilson.
Kein Europa-Kenner
Als sich der Konflikt der Entente mit dem militärisch hochgerüsteten Reich zuspitzte, hatten sich die Isolationismus-Befürworter zunächst auf den Atlantik verlassen, der sie vom Krieg trennte. Aber gerade die ertrinkenden Passagiere und explodierende Schiffe zogen die USA kausal in den europäischen Konflikt hinein.
Wilson kannte die schwelenden Konflikte, das Weltmachtstreben der Deutschen, die Nationalitätenprobleme der Habsburger Monarchie und die indolente Haltung des implodierenden British Empire recht wohl. Die Reibungen waren vor dem Ersten Weltkrieg virulent geworden, wie Marokko-Krise, Balkankriege und Scharmützel in Afrika zeigten. Zentrifugale Bestrebungen im Süden der Donaumonarchie sowie der permanenten Sprachenstreit in Böhmen, Mähren und Galizien und die ungelöste polnische Frage nagten am Habsburger Reich. Der Zerfall war demnach eine Frage der Zeit, der Krieg beschleunigte nur das Ende des sensiblen Machtgleichgewichts auf dem Kontinent.
Aber indem sich Wilson zum Nachkriegsarchitekten aufschwang, zeigten sich seine mangelhaften Kenntnisse über Europa. Dass er sich mit dem deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts sowie mit Theoretikern wie Georg Jellinek und Paul Laband befasst hatte, änderte nichts an diesem Defizit. Anglophil, wie Wilson war, hatte er vor seinem Amtsantritt auf europäischem Boden zweimal England bereist, einmal führte ihn ein Abstecher nach Frankreich und in die Schweiz. Die riesige k.u.k. Monarchie, deren Erhaltungswürdigkeit seine Administration noch im Krieg beteuerte, kannte Wilson nicht aus eigener Anschauung. Daher versagte seine Selbstbestimmungsdoktrin in grenznahen Regionen ebenso wie in Südtirol.
Auch im Verhältnis zu Mexiko zeigten sich Inkonsequenz und Ambivalenz von Wilsons Handeln und Aussagen. Hatte er nach dem Huerta-Putsch in Mexiko ein Waffenembargo mit der Begründung der Neutralität gutgeheißen, so erklärte er dessen Aufhebung damit, dass es eine unübliche Einschränkung sei, keinen Handel zu treiben. Zunächst suchte er nach einem nichtigen Anlass, um die amerikanische Marine nach Veracruz zu senden; als dann aber andernorts im südlichen Nachbarland über hundert mexikanische Soldaten und zwölf US-Marineinfanteristen im Kugelhagel starben und ein anti-amerikanischer Proteststurm in Mexiko losbrach, zog er das Militär ab und verweigerte der Admiralität Verstärkungen.
Wilsons Politik gegenüber dem illegitimen Herrscher Victoriano Huerta war von einer religiös motivierten Ablehnung der Diktatur gekennzeichnet, die ethisch vertretbar, politisch aber unklug war. Auch nach dem raschen Ende der mexikanischen Militärherrschaft besserten sich die Zustände nicht. Wilson hätte aus dem Abenteuer auf dem eigenen Kontinent lernen müssen, als sich im Herbst 1914 das Neutralitätsproblem im Ersten Weltkrieg auftat.
Angesichts der Bevorzugung der Ententemächte zeichnete sich der Kriegseintritt schon lange vor dem uneingeschränkten U-Bootkrieg ab, den die Deutschen ab dem Februar 1917 trotz amerikanischer Warnungen durchführten. Im Umgang mit Angriffen auf zivile Schiffe reagierte Wilson harsch, doch zweifelhaft erschien seine unnachgiebige Haltung gegenüber deutschen Beschwerden über die ständigen Übergriffe der britischen Marine.
Wilson redigierte und milderte persönlich die Noten an den britischen Botschafter, welche den völkerrechtswidrigen Usus im Zuge der Seeblockade betrafen, Schiffe mit neutralen Zielhäfen (wie etwa Rotterdam) aufzubringen. Statt diese auf hoher See zu durchsuchen, leitete die britische Kriegsmarine sie in eigene Häfen um, wo verderbliche Ware verfaulte, statt der Bevölkerung Innereuropas zugute zu kommen.
Hungernde Zivilisten
Großbritannien betrachtete Lebensmittel als "Kontrebande", das heißt als kriegstaugliche Güter, die beschlagnahmt werden durften. Diese Rechtsansicht war umstritten, doch der juristisch gebildete Wilson wollte sich auf keinen Streit mit der britischen Regierung einlassen und diese Fragen erst nach dem Krieg diskutieren.
In den USA wuchs die Empörung über zivile Opfer auf Passagierdampfern wie der "Lusitania", die allerdings Waffen transportierten. Auf Grund ihrer wirtschaftlichen Macht hätten die USA verhindern können, dass die Entente die Mittelmächte aushungerte, was vor allem auf Kosten der Zivilbevölkerung ging, denn an der Front wurden die Soldaten bis Kriegsende hinreichend ernährt.
Wilson setzte nach dem Krieg mit seinen Bestrebungen um eine Friedensordnung und den Völkerbund Zeichen; krankheitsbedingt konnte er aber weder dieses Projekt in den USA populär noch die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Erfolg machen. Somit scheiterte der Intellektuelle aus Virginia sowohl außen- als auch innenpolitisch, wo er den Weg für die Republikaner um Hoover räumen musste.
Literatur
Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie.
C.H. Beck, München 2017
227 Seiten mit 17 Abb.
17,50 Euro.
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Gerhard Strejcek
Ein Palast fürs Wirtschaftsstudium
Die Presse, 18.03.2017
Welthandel
Vor hundert Jahren bezog die k. k. Exportakademie ihr neues Gebäude. Mitten im Ersten Weltkrieg entstand eine raffinierte und hochmoderne Hochschule.
Am 20. März 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde ein imposantes Gebäude unweit des Währinger Parks (damals Gaswerkgasse, heute Franz-Klein-Gasse) eröffnet. Die „Neue Freie Presse“ berichtete nur kurz, aber doch über das Ereignis: Handelsminister Anton Urban und Unterrichtsminister Max Hussarek waren erschienen. Es sprachen der Vizepräsident des Vereins der Exportakademie, Ferdinand Neureiter, und der Direktor, Anton Schmid. Er sollte ab 1919 der erste Rektor der Institution werden, die inzwischen zur Hochschule für Welthandel erhoben worden war.
Heute wird das prächtige Gebäude von der Universität Wien für die Institute für Alte Geschichte, Ägyptologie und Archäologie sowie in einem Anbau seit 1975 als Dolmetschzentrum (Translationswissenschaft) genutzt. Aber von den meisten Zeitzeugen der Ersten und Zweiten Republik wurde und wird es als Sitz der Hochschule für Welthandel wahrgenommen.
Tatsächlich hieß die Hochschule so zwischen den Jahren 1919 und 1975, ehe sie in die Wirtschaftsuniversität (WU) umgewandelt wurde, die dann Anfang der 1980er-Jahre in die Augasse beim Franz-Josephs-Bahnhof und 2015 in die Krieau im Prater umzog.
Damals im März 1917 diente der repräsentative Bau im Heimatstil mit Jugendstilelementen der k. k. Exportakademie, der Urmutter der heutigen WU, als neue Ausbildungsstätte. Denn die 1898 bezogenen Räumlichkeiten im Palais Festetics (Berggasse) waren angesichts der (bis 1914) steigenden Hörerzahlen zu eng geworden. Die rechtliche Konstruktion der Akademie mutet hochmodern an: eine Partnerschaft des Staates mit privaten Förderern und einem eigenen Trägerverein.
Zur Änderung des unzweckmäßig gewordenen und altmodisch klingenden Namens gab es bereits in der Monarchie Projekte und ein Gutachten des Verfassungsexperten Hans Kelsen, um die Akademie in eine Handelshochschule umzuwandeln, was aber erst in der Republik mit einem Ermächtigungsgesetz der konstituierenden Nationalversammlung gelang.
Sogar ein Labor wurde gebaut
Doch die nagelneue Infrastruktur stand schon im Herbst 1916 bereit: Das neue Gebäude entsprach dem Stand der damaligen Bildungseinrichtungen und konnte trotz Kriegswirren pünktlich mit hochwertigem Dolomitenputz und einigen sparsamen Verzierungen fertiggestellt werden. Dem Gesamtkonzept folgend, beziehen sich alle Darstellungen (Masken, Balkonverzierungen, Bilder) auf das Thema Welthandel und stellen symbolisch ferne Länder und die Handelshäfen in Konstantinopel, Hamburg, Amsterdam und Triest dar. Der Architekt, Prof. Alfred Keller (1875–1945) hatte Vorsorge für die Bedürfnisse der künftigen Exportkaufleute getroffen: Neben Hörsälen gab es Archive, eine Bücherei, aber auch Räume mit Projektoren, ein Fotostudio und sogar ein Labor mit Mikroskopen. Das Gebäude verfügte über einen kleinen Aufzug bis ins Dachgeschoss, mehrere Hörsäle, die auch für Abendveranstaltungen geeignet waren, aber es fehlte ein Auditorium Maximum, das erst in den 1970er-Jahren in einem Anbau errichtet wurde. Die Räume waren raffiniert belüftet und so gut belichtet, wie man es sich heute in manchen modernen Hörsälen nur wünschte.
Dank der einfühlsamen Restaurierung durch den Architekten und Ziviltechniker Helmut Neumayr im Jahr 2001 glänzt das Gebäude heute im Originalzustand und stellt neben der Universität für Bodenkultur das wichtigste Uni-Gebäude im Nordwesten Wiens dar.
Literatur
Gerhard Strejcek: „Wirtschaft, Welthandel und Recht. Der Neubau der k. k. Exportakademie und dessen Eröffnung am 20. März 1917“
New Academic Press
112 Seiten
14,90 Euro.
Vor hundert Jahren bezog die k. k. Exportakademie ihr neues Gebäude. Mitten im Ersten Weltkrieg entstand eine raffinierte und hochmoderne Hochschule.
Am 20. März 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde ein imposantes Gebäude unweit des Währinger Parks (damals Gaswerkgasse, heute Franz-Klein-Gasse) eröffnet. Die „Neue Freie Presse“ berichtete nur kurz, aber doch über das Ereignis: Handelsminister Anton Urban und Unterrichtsminister Max Hussarek waren erschienen. Es sprachen der Vizepräsident des Vereins der Exportakademie, Ferdinand Neureiter, und der Direktor, Anton Schmid. Er sollte ab 1919 der erste Rektor der Institution werden, die inzwischen zur Hochschule für Welthandel erhoben worden war.
Heute wird das prächtige Gebäude von der Universität Wien für die Institute für Alte Geschichte, Ägyptologie und Archäologie sowie in einem Anbau seit 1975 als Dolmetschzentrum (Translationswissenschaft) genutzt. Aber von den meisten Zeitzeugen der Ersten und Zweiten Republik wurde und wird es als Sitz der Hochschule für Welthandel wahrgenommen.
Tatsächlich hieß die Hochschule so zwischen den Jahren 1919 und 1975, ehe sie in die Wirtschaftsuniversität (WU) umgewandelt wurde, die dann Anfang der 1980er-Jahre in die Augasse beim Franz-Josephs-Bahnhof und 2015 in die Krieau im Prater umzog.
Damals im März 1917 diente der repräsentative Bau im Heimatstil mit Jugendstilelementen der k. k. Exportakademie, der Urmutter der heutigen WU, als neue Ausbildungsstätte. Denn die 1898 bezogenen Räumlichkeiten im Palais Festetics (Berggasse) waren angesichts der (bis 1914) steigenden Hörerzahlen zu eng geworden. Die rechtliche Konstruktion der Akademie mutet hochmodern an: eine Partnerschaft des Staates mit privaten Förderern und einem eigenen Trägerverein.
Zur Änderung des unzweckmäßig gewordenen und altmodisch klingenden Namens gab es bereits in der Monarchie Projekte und ein Gutachten des Verfassungsexperten Hans Kelsen, um die Akademie in eine Handelshochschule umzuwandeln, was aber erst in der Republik mit einem Ermächtigungsgesetz der konstituierenden Nationalversammlung gelang.
Sogar ein Labor wurde gebaut
Doch die nagelneue Infrastruktur stand schon im Herbst 1916 bereit: Das neue Gebäude entsprach dem Stand der damaligen Bildungseinrichtungen und konnte trotz Kriegswirren pünktlich mit hochwertigem Dolomitenputz und einigen sparsamen Verzierungen fertiggestellt werden. Dem Gesamtkonzept folgend, beziehen sich alle Darstellungen (Masken, Balkonverzierungen, Bilder) auf das Thema Welthandel und stellen symbolisch ferne Länder und die Handelshäfen in Konstantinopel, Hamburg, Amsterdam und Triest dar. Der Architekt, Prof. Alfred Keller (1875–1945) hatte Vorsorge für die Bedürfnisse der künftigen Exportkaufleute getroffen: Neben Hörsälen gab es Archive, eine Bücherei, aber auch Räume mit Projektoren, ein Fotostudio und sogar ein Labor mit Mikroskopen. Das Gebäude verfügte über einen kleinen Aufzug bis ins Dachgeschoss, mehrere Hörsäle, die auch für Abendveranstaltungen geeignet waren, aber es fehlte ein Auditorium Maximum, das erst in den 1970er-Jahren in einem Anbau errichtet wurde. Die Räume waren raffiniert belüftet und so gut belichtet, wie man es sich heute in manchen modernen Hörsälen nur wünschte.
Dank der einfühlsamen Restaurierung durch den Architekten und Ziviltechniker Helmut Neumayr im Jahr 2001 glänzt das Gebäude heute im Originalzustand und stellt neben der Universität für Bodenkultur das wichtigste Uni-Gebäude im Nordwesten Wiens dar.
Literatur
Gerhard Strejcek: „Wirtschaft, Welthandel und Recht. Der Neubau der k. k. Exportakademie und dessen Eröffnung am 20. März 1917“
New Academic Press
112 Seiten
14,90 Euro.
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Gerhard Strejcek
Meinungsfreiheit: Missbrauchsverbot erlaubt
Die Presse, 12.03.2017
Bei NS-Wiederbetätigung hat der Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass der Missbrauch der Meinungsfreiheit
mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar ist: vielleicht verallgemeinerbar; doch Vorsicht ist geboten.
Wien. Versammlungsrecht und freie Meinungsäußerung zählen zu den Grundfesten westlicher Demokratien. Eingriffe ins Grund- und Menschenrecht auf friedliche Versammlung sind nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Rechte Dritter notwendig sind. Die Höchstgerichte prüfen die Frage, ob eine Untersagung oder Auflösung einer Versammlung gerechtfertigt war, streng und lassen auch zeitweise Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit nicht als Rechtfertigung zu. Deshalb kann die Blockade einer Autobahn erlaubt sein. Die Auflösung einer Versammlung, selbst einer spontan, unangemeldet abgehaltenen, muss das letzte Mittel bleiben; fremdes Eigentum ist allerdings rechtlich geschützt, etwa, wenn ohne Genehmigung eines Verfügungsberechtigten Privatgrund betreten wird und Schäden verursacht werden.
Wehrhafte Demokratie
Wirtschaftliche Rechtspositionen wie Erwerbs- und Eigentumsfreiheit scheinen aber gegenüber den „politischen“ Rechten in der Rechtsprechung schwächer eingestuft zu werden. Derzeit scheint jedoch ein anderes Problem der Abwägung im Vordergrund zu stehen: Wie soll der Staat grundrechtskonform mit Versammlungen und Meinungsäußerungen umgehen, welche womöglich den in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Verfassung verankerten Grundwerten selbst diametral widersprechen? Welche Möglichkeiten der wehrhaften Demokratie können rechtsstaatlich umgesetzt werden, wann schießt der Staat übers Ziel hinaus und betritt seinerseits ein rechtsstaatsfernes oder gar autokratisches Minenfeld?
Die Antwort muss differenziert ausfallen. Denn einerseits schmälert Art 16 EMRK das Recht der Staaten nicht, die politische Betätigung von Ausländern einzuschränken; andererseits ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) streng, wenn sich staatliche Maßnahmen gegen die freie Meinungsäußerung (auch fremder Manifestanten) richten.
Eindeutig sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs und des EGMR in all jenen Fällen, in welchen NS-Verbrechen geleugnet oder verharmlost werden oder die Wiedererrichtung des NS-Staates gefordert wird. Wiederbetätigung rechtfertigt nicht nur, Versammlungen zu untersagen. Sofern sich unverbesserliche NS-Autoren auf die Meinungsfreiheit stützen, verweigert ihnen der EGMR auch in der Regel den Rechtsschutz mit folgendem, womöglich verallgemeinerungsfähigen Argument: „Der Missbrauch der Meinungsfreiheit ist mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar und verletzt die Rechte anderer.“ Deshalb kommt eine Verletzung der Täter in ihren Grundrechten nicht in Betracht; also stuft der EGMR Beschwerden von NS-affinen Autoren oder Wehrsportveranstaltern, die wegen Wiederbetätigung und vergleichbarer Delikte verurteilt wurden, als unzulässig ein.
Gesetzesvorschlag mit Tücken
Im Streit um Werbetouren zum türkischen Referendum vom 16. April hat Innenminister Sobotka einen Entwurf zur Novelle des Versammlungsgesetzes vorgelegt: Mit Zustimmung der Bundesregierung soll der Innenminister im Einvernehmen mit dem Außenminister einem ausländischen Politiker die Teilnahme an einer Veranstaltung untersagen können, die nicht der Wahl zu einem inländischen Vertretungskörper dient, „wenn dies dem Schutz der in der EMRK liegenden Menschen- und Grundrechte dient“. Die Formulierung hat ihre Tücken, weil sie auch – etwas überschießend – auf nichtstaatliche Vertretungskörper anwendbar wäre. Auch die Ausnahme zugunsten heimischer NR-, LT- und GR-Wahlen könnte als Bumerang wirken und Versammlungen gegen diese unangreifbar machen.
Die Kerbe, in welche die Neuregelung schlägt, könnte im Lichte der Art 10, 11 EMRK Probleme mit sich bringen, und zwar auch mit dem EGMR, was besonders peinlich wäre. Jedenfalls würde Straßburg den Passus, dass eine untersagende Maßnahme, welche zweifellos in Menschenrechte eingreift, gerade den Schutz derselben bezwecken muss, genau nachprüfen. Damit, ausländischen Politikern das Wort abzuschneiden, welche problematische Maßnahmen propagieren, ist es noch nicht getan, denn anders als in den Wiederbetätigungsfällen genießen auch verstörende oder mit unserem Wertesystem unvereinbare Aussagen (z. B. die Forderung nach Todesstrafe oder Autokratie) grundsätzlich den Schutz der EMRK. Womöglich muss daher Österreich die unliebsamen Äußerungen dulden und kann rechtskonform nur auf Umwegen (Einreiseverbote, bau- und feuerpolizeiliche Maßnahmen) Massenkundgebungen verhindern. So wurde es in Deutschland praktiziert, das eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit ablehnt.
Es könnte hilfreich sein, aktuelle EGMR-Judikatur zur Türkei im Auge zu behalten. In den letzten Monaten haben die Straßburger Richter in drei Fällen entschieden, dass jenseits des Bosporus Menschenrechte verletzt worden waren. Im Fall Belge ging es um die Bestrafung eines Oppositionellen, der für die (in der Türkei als „terroristisch“ eingestufte) PKK geworben hatte. Obwohl in dessen Rede keinerlei Aufruf zur Gewalt enthalten war, kam es zur Festnahme und Verurteilung des Redners, was der EGMR als Verletzung der Meinungsfreiheit einstufte. Desgleichen im Fall Savda: Hier hatte ein Wehrdienstverweigerer eine Gefängnisstrafe ausgefasst, die Behörde verhinderte zudem, dass der Betroffene die Gründe für sein Fernbleiben von der Armee öffentlich darlegen konnte. Schließlich die dritte Verurteilung im Fall Kaos GL: Eine publizistische Förderung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften hatte für die Autoren im Gefängnis geendet. Alle drei Fälle ereigneten sich lang vor dem Putschversuch und zeigen, dass es mit der Informationsfreiheit im Europaratsstaat nicht zum Besten steht.
Nicht übers Ziel schießen
Heimischen Politikern steht es frei, menschenrechtswidrige Vorgänge und weitere Verschlechterungen der Situation Andersdenkender im Ausland anzuprangern. Ob aber Österreich gut beraten ist, seinerseits die Schraube stark anzuziehen und Manifestationen fremder Politiker zu unterbinden, mag zweifelhaft sein. Eine solche Maßnahme sollte nicht ad hoc getroffen werden, sondern angesichts erkannter Bedrohungen in genereller und nachvollziehbarer Weise gesetzlich umgesetzt werden. Bisher ist der Gesetzgeber im VersG gut mit den zwei Novellen 2002 und 2013 gefahren, in denen ein Vermummungs- und Waffenverbot verankert und mit gerichtlichen Sanktionen versehen wurde. Die Sicherheitsbehörde muss Vermummte nicht festnehmen, kann dies aber nach ihrem Ermessen tun, wenn die Situation eskaliert. Sie muss derartige Versammlungen auch nicht auflösen, hat aber die gesetzliche Handhabe dazu nach Abwägung im Sinne der Verhältnismäßigkeit, was polizeirechtlich vernünftig und auch praktisch handhabbar erscheint.
Obwohl gute Gründe dafür sprächen, etwa ein Verbot fremder Hoheitszeichen und Fahnen bei Versammlungen im Gesetz zu verankern, sollte auch hier der Polizei die Freiheit bleiben, deeskalierend zu wirken und nicht einzugreifen, wenn die Versammlung nicht gewalttätig wird. Und auch wenn das Auftreten mancher „Gäste“ womöglich den meisten von uns nicht zur Freude gereicht, muss ein Rechtsstaat stets die Schranken der internationalen Menschenrechtskataloge im Auge behalten.
Wien. Versammlungsrecht und freie Meinungsäußerung zählen zu den Grundfesten westlicher Demokratien. Eingriffe ins Grund- und Menschenrecht auf friedliche Versammlung sind nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Rechte Dritter notwendig sind. Die Höchstgerichte prüfen die Frage, ob eine Untersagung oder Auflösung einer Versammlung gerechtfertigt war, streng und lassen auch zeitweise Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit nicht als Rechtfertigung zu. Deshalb kann die Blockade einer Autobahn erlaubt sein. Die Auflösung einer Versammlung, selbst einer spontan, unangemeldet abgehaltenen, muss das letzte Mittel bleiben; fremdes Eigentum ist allerdings rechtlich geschützt, etwa, wenn ohne Genehmigung eines Verfügungsberechtigten Privatgrund betreten wird und Schäden verursacht werden.
Wehrhafte Demokratie
Wirtschaftliche Rechtspositionen wie Erwerbs- und Eigentumsfreiheit scheinen aber gegenüber den „politischen“ Rechten in der Rechtsprechung schwächer eingestuft zu werden. Derzeit scheint jedoch ein anderes Problem der Abwägung im Vordergrund zu stehen: Wie soll der Staat grundrechtskonform mit Versammlungen und Meinungsäußerungen umgehen, welche womöglich den in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Verfassung verankerten Grundwerten selbst diametral widersprechen? Welche Möglichkeiten der wehrhaften Demokratie können rechtsstaatlich umgesetzt werden, wann schießt der Staat übers Ziel hinaus und betritt seinerseits ein rechtsstaatsfernes oder gar autokratisches Minenfeld?
Die Antwort muss differenziert ausfallen. Denn einerseits schmälert Art 16 EMRK das Recht der Staaten nicht, die politische Betätigung von Ausländern einzuschränken; andererseits ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) streng, wenn sich staatliche Maßnahmen gegen die freie Meinungsäußerung (auch fremder Manifestanten) richten.
Eindeutig sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs und des EGMR in all jenen Fällen, in welchen NS-Verbrechen geleugnet oder verharmlost werden oder die Wiedererrichtung des NS-Staates gefordert wird. Wiederbetätigung rechtfertigt nicht nur, Versammlungen zu untersagen. Sofern sich unverbesserliche NS-Autoren auf die Meinungsfreiheit stützen, verweigert ihnen der EGMR auch in der Regel den Rechtsschutz mit folgendem, womöglich verallgemeinerungsfähigen Argument: „Der Missbrauch der Meinungsfreiheit ist mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar und verletzt die Rechte anderer.“ Deshalb kommt eine Verletzung der Täter in ihren Grundrechten nicht in Betracht; also stuft der EGMR Beschwerden von NS-affinen Autoren oder Wehrsportveranstaltern, die wegen Wiederbetätigung und vergleichbarer Delikte verurteilt wurden, als unzulässig ein.
Gesetzesvorschlag mit Tücken
Im Streit um Werbetouren zum türkischen Referendum vom 16. April hat Innenminister Sobotka einen Entwurf zur Novelle des Versammlungsgesetzes vorgelegt: Mit Zustimmung der Bundesregierung soll der Innenminister im Einvernehmen mit dem Außenminister einem ausländischen Politiker die Teilnahme an einer Veranstaltung untersagen können, die nicht der Wahl zu einem inländischen Vertretungskörper dient, „wenn dies dem Schutz der in der EMRK liegenden Menschen- und Grundrechte dient“. Die Formulierung hat ihre Tücken, weil sie auch – etwas überschießend – auf nichtstaatliche Vertretungskörper anwendbar wäre. Auch die Ausnahme zugunsten heimischer NR-, LT- und GR-Wahlen könnte als Bumerang wirken und Versammlungen gegen diese unangreifbar machen.
Die Kerbe, in welche die Neuregelung schlägt, könnte im Lichte der Art 10, 11 EMRK Probleme mit sich bringen, und zwar auch mit dem EGMR, was besonders peinlich wäre. Jedenfalls würde Straßburg den Passus, dass eine untersagende Maßnahme, welche zweifellos in Menschenrechte eingreift, gerade den Schutz derselben bezwecken muss, genau nachprüfen. Damit, ausländischen Politikern das Wort abzuschneiden, welche problematische Maßnahmen propagieren, ist es noch nicht getan, denn anders als in den Wiederbetätigungsfällen genießen auch verstörende oder mit unserem Wertesystem unvereinbare Aussagen (z. B. die Forderung nach Todesstrafe oder Autokratie) grundsätzlich den Schutz der EMRK. Womöglich muss daher Österreich die unliebsamen Äußerungen dulden und kann rechtskonform nur auf Umwegen (Einreiseverbote, bau- und feuerpolizeiliche Maßnahmen) Massenkundgebungen verhindern. So wurde es in Deutschland praktiziert, das eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit ablehnt.
Es könnte hilfreich sein, aktuelle EGMR-Judikatur zur Türkei im Auge zu behalten. In den letzten Monaten haben die Straßburger Richter in drei Fällen entschieden, dass jenseits des Bosporus Menschenrechte verletzt worden waren. Im Fall Belge ging es um die Bestrafung eines Oppositionellen, der für die (in der Türkei als „terroristisch“ eingestufte) PKK geworben hatte. Obwohl in dessen Rede keinerlei Aufruf zur Gewalt enthalten war, kam es zur Festnahme und Verurteilung des Redners, was der EGMR als Verletzung der Meinungsfreiheit einstufte. Desgleichen im Fall Savda: Hier hatte ein Wehrdienstverweigerer eine Gefängnisstrafe ausgefasst, die Behörde verhinderte zudem, dass der Betroffene die Gründe für sein Fernbleiben von der Armee öffentlich darlegen konnte. Schließlich die dritte Verurteilung im Fall Kaos GL: Eine publizistische Förderung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften hatte für die Autoren im Gefängnis geendet. Alle drei Fälle ereigneten sich lang vor dem Putschversuch und zeigen, dass es mit der Informationsfreiheit im Europaratsstaat nicht zum Besten steht.
Nicht übers Ziel schießen
Heimischen Politikern steht es frei, menschenrechtswidrige Vorgänge und weitere Verschlechterungen der Situation Andersdenkender im Ausland anzuprangern. Ob aber Österreich gut beraten ist, seinerseits die Schraube stark anzuziehen und Manifestationen fremder Politiker zu unterbinden, mag zweifelhaft sein. Eine solche Maßnahme sollte nicht ad hoc getroffen werden, sondern angesichts erkannter Bedrohungen in genereller und nachvollziehbarer Weise gesetzlich umgesetzt werden. Bisher ist der Gesetzgeber im VersG gut mit den zwei Novellen 2002 und 2013 gefahren, in denen ein Vermummungs- und Waffenverbot verankert und mit gerichtlichen Sanktionen versehen wurde. Die Sicherheitsbehörde muss Vermummte nicht festnehmen, kann dies aber nach ihrem Ermessen tun, wenn die Situation eskaliert. Sie muss derartige Versammlungen auch nicht auflösen, hat aber die gesetzliche Handhabe dazu nach Abwägung im Sinne der Verhältnismäßigkeit, was polizeirechtlich vernünftig und auch praktisch handhabbar erscheint.
Obwohl gute Gründe dafür sprächen, etwa ein Verbot fremder Hoheitszeichen und Fahnen bei Versammlungen im Gesetz zu verankern, sollte auch hier der Polizei die Freiheit bleiben, deeskalierend zu wirken und nicht einzugreifen, wenn die Versammlung nicht gewalttätig wird. Und auch wenn das Auftreten mancher „Gäste“ womöglich den meisten von uns nicht zur Freude gereicht, muss ein Rechtsstaat stets die Schranken der internationalen Menschenrechtskataloge im Auge behalten.
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Gerhard Strejcek
Stichwahlaufhebung am richtigen Maßstab geprüft
Die Presse, 03.03.2017
Interpretiert man die Verfassung nach ihrer Zielsetzung und in ihrem historischen Kontext, hat der Verfassungsgerichtshof
richtig entschieden. Eine Änderung der Verfassungs wäre allerdings denkbar.
Das Erkenntnis des VfGH zur Aufhebung der (ersten) Bundespräsidenten-Stichwahl vom Mai des Vorjahres (VfGH 1.7.2016, W I-6/2016) hat zu einem kontrovers geführten Diskurs geführt. Das bedeutete schon per se einen Wert für den Rechtsstaat und die Rechtswissenschaft, wäre nicht eine unnotwendige, gehässige Polemik in manche Statements verpackt worden. Wenn ich mich nun auch in diese Diskussion einbringe, dann nur deshalb, weil seltsamer Weise bisher wichtige dogmatische Aspekte im Nebel blieben, leider auch in der Pro-VfGH-Stellungnahme von Rudolf Müller und Eva Schulev-Steindl in diepresse.com vom 8. Februar.
Außerdem möchte ich betonen, dass ein Aspekt des Erkenntnisses kritikwürdig erscheint, der den Einfluss der vorzeitigen Bekanntgabe von Ergebnissen durch Wahlbehörden betrifft, eine übersensible Judikatur, die eine gesetzgeberische Änderung der Wahlordnungen – wie ich meine – erzwingt, um den legitimen Informationsbedarf der Medien und Menschen zu gewährleisten. Diese können ohnehin nicht „rein“ und unbeeinflusst von Analysen, Werbung und Exit polls in Wahlzelle oder per Wahlkarte entscheiden.
Statistische Erwägungen derzeit verfehlt
Hinsichtlich des Aufhebungsmaßstabes (obwohl kein „Beweis“ eines Einflusses oder gar einer im B-VG ürbigens gar nicht erwähnten Manipulation vorlag) hat der VfGH aber richtig entschieden. Zunächst muss festgehalten werden, dass sich die Kritiker, allen voran Heinz Mayer, offenkundig auf eine andere methodologische Ebene bzw. Warte begeben haben, wenn sie die Einbeziehung statistischer Erwägungen über die Zertität des Einflusses einer erwiesenen Rechtswidrigkeit auf ein Wahlergebnis verlangen. Ich halte diesen Ansatz aber für interessant und durchaus einer weiteren Überlegung wert, nur taugt er nicht dazu, ein „klares Fehlurteil“ des VfGH herauszustellen.
Der VfGH hat, das haben auch andere Autoren wie auch die oben genannten richtig erkannt, konsequent auf dem Boden der bisherigen Judikatur entschieden. Somit kann kein Fehlurteil vorliegen, es sei denn, auch die bisherige Judikatur wäre unhaltbar. Um aber die dogmatische Richtigkeit dieser, auf die bloße (und nicht weiter überprüfte) Möglichkeit des Einflusses zu begründen, muss man weiter ausholen, als es Müller/Schulev-Steindl und andere Verteidiger der Rechtsprechung bisher taten. Ein wichtiges Argument hat, leider unbemerkt von vielen, René Laurer begründet: Der ursprünglich einfachgesetzliche Passus (... von Einfluss war ...) hat erst seit 1958 den Rang von Bundesverfassungsrecht. Zuvor war dies nur im VfGG wortgleich geregelt; daraus schließt Laurer, und ich gebe ihm dabei Recht, dass der Verfassungsgesetzgeber die Judikatur kennen musste und dieser nicht entgegengetreten ist (auch als „Antwortcharakter“ der Verfassung bekanntes Argument).
Unliebsam, aber hinzunehmen
Aber mehr als das: es gab 1920 einen anderen Maßstab für die Aufhebung von Wahlen, denn damals lautete das Gesetz über den Wahlgerichtshof 1919 so, dass es eines wesentlichen Einflusses auf das Ergebnis für die Aufhebung bedurfte. Mit der Reduktion der Formulierung im VfGG 1921 hat der Gesetzgeber und ihm folgend 1958 der Verfassungsgesetzgeber den Maßstab verschärft – mit der unliebsamen, aber hinzunehmenden Konsequenz, dass auch formale Fehler eines Wahlverfahrens zu einer Gesamtaufhebung führen können.
Dass dies legislativ de lege ferenda änderbar ist, bedarf keiner Begründung und hätte auch insofern etwas für sich, als in Deutschland seit Längerem der „Grundsatz der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung einer Wahl“ Bestandteil der Lehre zu Art 41 Grundgesetz ist, was sinnvoll und auch legistisch umsetzbar wäre. (Derartiges ist aber im Entwurf der B-VG-Novelle 2017 nicht enthalten.) Solange aber die Formulierung wie derzeit im B-VG so steht, wie sie ist, wird und soll der VfGH weiterhin auch bei bloß potenziellem Einfluss Teilakte oder eine gesamte Wahl aufheben müssen, ohne die Zertität des Einflusses überprüfen zu können oder gar zu müssen.
Begrenzte Möglichkeiten der Überprüfung
Denn ein weiteres, von Müller/Schulev-Steindl angedeutetes, aber nicht ausgeführtes Argument pro VfGH-Linie besteht darin, dass das Höchstgericht nur äußerst begrenzte Möglichkeiten der tatsächlichen Überprüfung hat und zudem das Wahlgeheimnis auch vor Gericht nicht gebrochen werden sollte; daher ist es auch aus systematisch-teleolologischen Gründen geboten, bei der These vom bloß potenziellen Einfluss („von Einfluss war“ ist in Art 141 B-VG also recte als „sein konnte“ zu lesen) zu bleiben oder eben Art 141 B-VG künftig zu ändern.
Das Erkenntnis des VfGH zur Aufhebung der (ersten) Bundespräsidenten-Stichwahl vom Mai des Vorjahres (VfGH 1.7.2016, W I-6/2016) hat zu einem kontrovers geführten Diskurs geführt. Das bedeutete schon per se einen Wert für den Rechtsstaat und die Rechtswissenschaft, wäre nicht eine unnotwendige, gehässige Polemik in manche Statements verpackt worden. Wenn ich mich nun auch in diese Diskussion einbringe, dann nur deshalb, weil seltsamer Weise bisher wichtige dogmatische Aspekte im Nebel blieben, leider auch in der Pro-VfGH-Stellungnahme von Rudolf Müller und Eva Schulev-Steindl in diepresse.com vom 8. Februar.
Außerdem möchte ich betonen, dass ein Aspekt des Erkenntnisses kritikwürdig erscheint, der den Einfluss der vorzeitigen Bekanntgabe von Ergebnissen durch Wahlbehörden betrifft, eine übersensible Judikatur, die eine gesetzgeberische Änderung der Wahlordnungen – wie ich meine – erzwingt, um den legitimen Informationsbedarf der Medien und Menschen zu gewährleisten. Diese können ohnehin nicht „rein“ und unbeeinflusst von Analysen, Werbung und Exit polls in Wahlzelle oder per Wahlkarte entscheiden.
Statistische Erwägungen derzeit verfehlt
Hinsichtlich des Aufhebungsmaßstabes (obwohl kein „Beweis“ eines Einflusses oder gar einer im B-VG ürbigens gar nicht erwähnten Manipulation vorlag) hat der VfGH aber richtig entschieden. Zunächst muss festgehalten werden, dass sich die Kritiker, allen voran Heinz Mayer, offenkundig auf eine andere methodologische Ebene bzw. Warte begeben haben, wenn sie die Einbeziehung statistischer Erwägungen über die Zertität des Einflusses einer erwiesenen Rechtswidrigkeit auf ein Wahlergebnis verlangen. Ich halte diesen Ansatz aber für interessant und durchaus einer weiteren Überlegung wert, nur taugt er nicht dazu, ein „klares Fehlurteil“ des VfGH herauszustellen.
Der VfGH hat, das haben auch andere Autoren wie auch die oben genannten richtig erkannt, konsequent auf dem Boden der bisherigen Judikatur entschieden. Somit kann kein Fehlurteil vorliegen, es sei denn, auch die bisherige Judikatur wäre unhaltbar. Um aber die dogmatische Richtigkeit dieser, auf die bloße (und nicht weiter überprüfte) Möglichkeit des Einflusses zu begründen, muss man weiter ausholen, als es Müller/Schulev-Steindl und andere Verteidiger der Rechtsprechung bisher taten. Ein wichtiges Argument hat, leider unbemerkt von vielen, René Laurer begründet: Der ursprünglich einfachgesetzliche Passus (... von Einfluss war ...) hat erst seit 1958 den Rang von Bundesverfassungsrecht. Zuvor war dies nur im VfGG wortgleich geregelt; daraus schließt Laurer, und ich gebe ihm dabei Recht, dass der Verfassungsgesetzgeber die Judikatur kennen musste und dieser nicht entgegengetreten ist (auch als „Antwortcharakter“ der Verfassung bekanntes Argument).
Unliebsam, aber hinzunehmen
Aber mehr als das: es gab 1920 einen anderen Maßstab für die Aufhebung von Wahlen, denn damals lautete das Gesetz über den Wahlgerichtshof 1919 so, dass es eines wesentlichen Einflusses auf das Ergebnis für die Aufhebung bedurfte. Mit der Reduktion der Formulierung im VfGG 1921 hat der Gesetzgeber und ihm folgend 1958 der Verfassungsgesetzgeber den Maßstab verschärft – mit der unliebsamen, aber hinzunehmenden Konsequenz, dass auch formale Fehler eines Wahlverfahrens zu einer Gesamtaufhebung führen können.
Dass dies legislativ de lege ferenda änderbar ist, bedarf keiner Begründung und hätte auch insofern etwas für sich, als in Deutschland seit Längerem der „Grundsatz der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung einer Wahl“ Bestandteil der Lehre zu Art 41 Grundgesetz ist, was sinnvoll und auch legistisch umsetzbar wäre. (Derartiges ist aber im Entwurf der B-VG-Novelle 2017 nicht enthalten.) Solange aber die Formulierung wie derzeit im B-VG so steht, wie sie ist, wird und soll der VfGH weiterhin auch bei bloß potenziellem Einfluss Teilakte oder eine gesamte Wahl aufheben müssen, ohne die Zertität des Einflusses überprüfen zu können oder gar zu müssen.
Begrenzte Möglichkeiten der Überprüfung
Denn ein weiteres, von Müller/Schulev-Steindl angedeutetes, aber nicht ausgeführtes Argument pro VfGH-Linie besteht darin, dass das Höchstgericht nur äußerst begrenzte Möglichkeiten der tatsächlichen Überprüfung hat und zudem das Wahlgeheimnis auch vor Gericht nicht gebrochen werden sollte; daher ist es auch aus systematisch-teleolologischen Gründen geboten, bei der These vom bloß potenziellen Einfluss („von Einfluss war“ ist in Art 141 B-VG also recte als „sein konnte“ zu lesen) zu bleiben oder eben Art 141 B-VG künftig zu ändern.
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Gerhard Strejcek
"Dr. Faustus gibt es doch schon längst!"
Wiener Zeitung, 18.02.2017
Was wäre gewesen, wenn einige der größten Schriftsteller von Verlagen und Lektoren keinen Lorbeer, sondern Absagebriefe bekommen hätten? - Ein
Denkspiel in fünf Briefen.
Hochgelahrter Herr Professor Luther!
Wir danken für die Zusendung Ihres löblichen Manuskripts "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Unser geschätzter Herr Konsistorialrat Scheidlein möchte allerdings seine schweren Bedenken gegen einige Formulierungen nicht verhehlen. Was meinen Sie mit der Wortfolge ". . . ist niemandem unterthan?" Das grenzt ja fürwahr an Anarchismus, der Ihnen ja nicht ganz fremd sein dürfte, wie Ihr sachbeschädigender Thesenanschlag bewiesen hat.
Was ist Ihnen denn da eingefallen? Kirchentore sind heilig! Zwar behauptet ein gewisser Dr. Melanchton, dass sie diese 95 Thesen zunächst ganz normal publizieren wollten, die Leserbriefredaktion der "Neuen Kronen-Zeitung" aber nur zwei davon und auch diese nur in Reimform abdrucken wollte. Bei der "Presse" haben sich angeblich der katholische Pressverein und die ferdinandeische Styria-Geschäftsführung quergelegt. Und selbst die "Furche" soll ihre verqueren Ausführungen abgelehnt haben, na ja kein Wunder, das birgt ja Zündstoff und hätte vielleicht noch Platz bei "kreuz und quer" im ORF gefunden.
Na sei’s drum, das vorliegende Manuskript ist auch nicht viel besser, wir fürchten, dass Sie damit keinen Bauern hinter dem Ofen hervorlocken werden, geschweige denn unsere belesene, ritterliche Leserschaft. Und zu Ihrem anderen Projekt: Von einer neuen Bibelübersetzung wollen wir nachhaltig abraten. Wer soll das kaufen? Warten wir lieber auf eine Einheitsübersetzung. Gelobt sei der Herr!
Marcus Grazianus, Festland Verlag, Berlin und Leipzig
******
Lieber Herr Dr. Kafka,
Sie sandten uns eine Erzählung mit dem durchaus spannenden Titel "Der Process". Leider hat sich die Spannung bereits bei der Lektüre der ersten Zeilen verflüchtigt. Wollten Sie damit etwa einen Utopiaroman beginnen? Eine derartige Verhaftung in einem Rechtsstaat, in dem zu leben Sie Josef K. wörtlich unterstellen? Sie schreiben ja selbst, dass alle Gesetze der cisleithanischen Reichshälfte der k.u.k. Monarchie galten - (Sie meinen vermutlich: in Kraft standen), so eben auch das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit aus 1862. Das müsste Ihnen als Jurist bekannt gewesen sein. Sie haben ja bei Professor Ulbrich das Staatsrecht an der löblichen Karlsuniversität in Prag gehört, wie uns zu Ohren gekommen ist. Stimmt es, dass Sie die dritte Staatsprüfung und das staatswissenschaftliche Rigorosum nur mit einem "Mehrheitlich Genügend" bestanden haben?
Auch im zweiten, "judiciellen" Abschnitt sollen Sie nicht viel besser gewesen sein. Daher rührt vermutlich Ihre Ablehnung gegen die heimische Justiz, die wir in dieser Form nicht dulden können. Zudem insinuieren Sie hier eine überlange Verfahrensdauer in einem Strafprozess, die es in unserer Rechtsordnung gottlob gar nicht geben kann.
Dass unsere italienischen Freunde von der Unicredito Bank die Darstellung des italienischen Gastes ebenso wenig goutieren werden wie den seltsamen Maler Tittorelli (soll das etwa gar eine Anspielung sein?), werden Sie verstehen, angeblich haben Sie selbst ein wenig Italienisch im Jahr 1905 bei der "Generali" lernen dürfen. Und das ist jetzt der Dank dafür? Schließlich wird die Geschichte ja gegen Ende nahezu brutal, uns scheint, dass Herr Josef K. im Steinbruch regelrecht hingerichtet wird? Pfui!
Bitte lesen Sie, bevor Sie wieder zur Feder greifen, Don Winslows Buch "Das Kartell", dann wird Ihnen klar werden, wie man auf 780 Seiten rund 1200 Morde und Justizverbrechen einfühlsam und unblutig beschreibt, Folter und Vergewaltigungen inklusive. Dagegen sind Sie ein Waisenknabe! Aber selbst zartbesaitete Leserinnen werden sich beruhigen können, denn so etwas gibt es natürlich nur in Mexiko, wo man ja auch unseren seligen Kaiserbruder Max kaltblütigst hingerichtet hat, obwohl er einen nie dagewesenen Aufschwung in diese Halbzivilisation gebracht hat.
Aber eines Tages, lieber Herr Doktor Kafka, werden diese korrupten Rechtswächter hinter einer Mauer verschwinden, die sie auch noch selbst bezahlen müssen. Bis dahin, bitte einen Prosakurs belegen und vielleicht eine Reiserzählung nach Muster des Dr. Karl May verfassen, dann wird es sicher etwas mit dem ersten Buch. Trotzdem oder gerade deshalb herzlich,
Ihr
Theodor Trump, Zwischenverlag, Frankfurt
***********
Sehr geehrter Herr Lizenziat Goethe!
Wir bestätigen den Erhalt Ihres Manuskripts mit dem Titel "Faust. Der Tragödie erster Teil"! Leider können wir das recht gefällig gereimte Elaborat nicht abdrucken, da es schwerwiegende Mängel aufweist. Kein Mensch kennt sich aus und niemand in unserer Redaktion versteht, warum Sie dem Kurzdrama eine Zueignung, ein Vorspiel auf dem Theater und noch einige unnötige Verslein mehr voranstellen.
Als Drama geht das Werk kaum durch. Es ist nicht einmal abendfüllend, vielleicht denken Sie an einen zweiten Teil, aber nicht so kurz, bitte. Zudem belasten Sie das Verhältnis zwischen der reichsfreien Stadt Frankfurt und der Kirche, weil Sie hier das Bild eines gelangweilten Atheisten und Intellektuellen malen, der sich kirchen- und universitätsfeindlich äußert. Wollen Sie etwa zum Ausdruck bringen, dass ein angesehener Landarzt, der seinen Eid auf den Hippokrates geschworen hat, dermaßen zum Schaden der ihm anvertrauten Patienten agieren würde wie Dr. Faustus? Das würde ja auch dem Weimarer Herzog missfallen, zu dem Sie sich zugezogen fühlen!
Auch die Gestalt eines geradezu sympathisch wirkenden Satans (siehe Vorspiel auf dem Theater) hat in unserem Lektorat für Kopfschütteln gesorgt. Dieser Mephisto und respektlose Antichristo (was halten Sie von diesem schönen Wortspiel?) missfiel besonders meinen geschätzten Kollegen von der Erzbischöflichen Kanzlei zu Köln. Außerdem befürchten wir, dass sich Herr Marlowe gegen dieses Plagiat rechtlich zur Wehr setzen könnte, denn Hand aufs Herz, Dr. Faustus gibt es doch schon längst in mehreren Varianten, die allesamt geschmeidiger sind als Ihre eigene, die ja eine verdeckte Satire darstellt.
Ergebenst, Ihr
Geraldus Miksch, Spötter Verlag, Stuttgart
**********
Hochgeehrter Herr Dr. Schiller!
Nun plagen wir uns schon geraume Zeit mit Ihrem Drama zu Ehren des Schweizerbürgers Wilhelm Tell. Ich will ganz offen sein: Das ist ja glatte Themenverfehlung und noch dazu politisch hoch sensibel. Statt, wie vereinbart, eine gefällige Darstellung der Innerschweizer Kantone mit maximal 40.000 Zeichen und drei Abbildungen zu liefern, die sich die Feriengegend rund um den Vierwaldstättersee - und noch viel mehr unsere Leserinnen - wirklich verdient hätten, ziehen Sie eine politische Schaudergeschichte mit Mord und Totschlag auf, bei der es einem angst und bange wird. Sie zeichnen die Figur des Landvogts Gessler dermaßen negativ, dass man glauben könnte, österreichische Beamte unterdrückten und drangsalierten die Bevölkerung unserer Repu-blik. So etwas ließen sich Schweizerbürger nie gefallen, aber natürlich nur unter Anwendung legitimer, rechtsstaatlicher Mittel! Erst nach Vernehmlassung eines Bundesgesetzes mit nachfolgendem Volksentscheid wäre Derartiges denkbar, das wissen Sie doch!
Ihre brutale Inszenierung schadet hingegen nicht nur dem heimischen Fremdenverkehr, sondern auch dem Ruf der Eidgenossen, die sich schon gegen diese Darstellung verwahrt haben. Namentlich die Kantone Schwyz und Uri haben durch ihre Land- ammänner mitteilen lassen, dass Sie gegen die ungehobelte Figur des Tell Einspruch erheben. Auch die drei Bünde sind aufgebracht, obwohl Sie die Habsburger dort ja nicht gerade mochten. Aber fahren Sie heute einmal ins Bündnerland, Sie werden sehen, wie der Engadin floriert, und an der Grenze zum Tiroler Inntal steht gerade ein einsamer Grenzwächter.
So viel Lärm um nichts! Ein Vater, der auf seinen Sohn zielt, das ist doch, mit Verlaub, unverfroren. Als Racheengel macht der ehrenwerte Tell auch keine gute Figur, da haben Sie vermutlich an den Kohlhaas gedacht. Ich bitte Sie, glauben Sie etwa, ein demokratisch und rechtsstaatlich gesinnter Schweizer hätte eine gefährliche Waffe wie eine Armbrust bei sich zu Hause im Schrank? Nein, nein und nochmals nein! Widmen Sie sich doch bitte einer eingängigen Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs, dort können Sie auf Ihre Deutschen losgehen. Aber uns Schweizer und die kerngesunden Österreicher lassen Sie doch bitte zufrieden. Gruezi und auf ein Besseres,
Ueli Breitfluegler, Archimedes und Mensa, Zürich
*********
Sehr geehrter Herr Dr. Musil!
Nun senden Sie uns auf Umwegen aus Genf ein weiteres Konvolut mit dem Hinweis auf Ihr fortgesetztes Fragment "Der Mann ohne Eigenschaften" mit weiteren tausend Seiten, aber ohne Aussicht auf ein gutes Ende. Das ist schön und betrüblich zugleich. Danke für die guten Wünsche und ein Gruß auch an Ihre geschätzte Gattin Martha und natürlich auch Dank für Ihre Bemühungen und die schöne Einladung vor drei Jahren in die Rasumofskygasse. Wie wir hören, geht es Ihnen nicht wirklich gut in der schönen, aber recht calvinistischen und wohl auch puritanischen Stadt. Kommen Sie wenigstens ab und zu zum Schwimmen? In Wien ist es ja immer sehr sportlich zugegangen im Dianabad.
Nun, was sollen wir antworten, bei uns in Hamburg herrscht Kriegswirtschaft und das Papier ist auch schon knapp, aber natürlich nur, weil wir so viele Auflagen unserer exzellenten Nordlandfahrer-Berichte ausliefern durften. Was Ihre Sache aber etwas prekär macht, ist, dass die Gauleitung und das Reichspropagandaministerium Sie auf den Index gesetzt haben, obwohl wir nachweisen konnten, dass Ihr Roman habsburgerfeindlich konzipiert ist. Aber die Figur des Generals Stumm von Bordwehr und vor allem dieser Verschnitt des unseligen Rathenau sel., na Sie wissen schon, das kommt in heutigen Zeiten nicht so richtig in der Wilhelmsstraße an.
Auch ist Ihre Trauung in der evangelischen Kirche am Tabor in der Wiener Leopoldstadt aktenkundig geworden, sodass auch Nachforschungen über die Familie Ihrer sehr geschätzten Ehefrau angestellt wurden. Und dann die überstürzte Abreise aus Wien! Dreimal hat sich die Reichsschriftumkammer bei uns gemeldet mit den üblichen Fragen. Also bis auf Weiteres kann ich leider kein grünes Licht für die Fortsetzung geben, derzeit sind nur Papierfreigaben für Heldendarstellungen möglich, denken Sie doch vielleicht an Ihre Kampfzeit in Tirol um 1915! Aber bitte, keine Invektiven gegen die italienischen Bundesgenossen!
Ihr sehr verbundener
Rudolf Postl, derzeit Hamburg, Odo Zackenschwert-Kommissionsverlag, vormals Rotwolff
Hochgelahrter Herr Professor Luther!
Wir danken für die Zusendung Ihres löblichen Manuskripts "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Unser geschätzter Herr Konsistorialrat Scheidlein möchte allerdings seine schweren Bedenken gegen einige Formulierungen nicht verhehlen. Was meinen Sie mit der Wortfolge ". . . ist niemandem unterthan?" Das grenzt ja fürwahr an Anarchismus, der Ihnen ja nicht ganz fremd sein dürfte, wie Ihr sachbeschädigender Thesenanschlag bewiesen hat.
Was ist Ihnen denn da eingefallen? Kirchentore sind heilig! Zwar behauptet ein gewisser Dr. Melanchton, dass sie diese 95 Thesen zunächst ganz normal publizieren wollten, die Leserbriefredaktion der "Neuen Kronen-Zeitung" aber nur zwei davon und auch diese nur in Reimform abdrucken wollte. Bei der "Presse" haben sich angeblich der katholische Pressverein und die ferdinandeische Styria-Geschäftsführung quergelegt. Und selbst die "Furche" soll ihre verqueren Ausführungen abgelehnt haben, na ja kein Wunder, das birgt ja Zündstoff und hätte vielleicht noch Platz bei "kreuz und quer" im ORF gefunden.
Na sei’s drum, das vorliegende Manuskript ist auch nicht viel besser, wir fürchten, dass Sie damit keinen Bauern hinter dem Ofen hervorlocken werden, geschweige denn unsere belesene, ritterliche Leserschaft. Und zu Ihrem anderen Projekt: Von einer neuen Bibelübersetzung wollen wir nachhaltig abraten. Wer soll das kaufen? Warten wir lieber auf eine Einheitsübersetzung. Gelobt sei der Herr!
Marcus Grazianus, Festland Verlag, Berlin und Leipzig
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Lieber Herr Dr. Kafka,
Sie sandten uns eine Erzählung mit dem durchaus spannenden Titel "Der Process". Leider hat sich die Spannung bereits bei der Lektüre der ersten Zeilen verflüchtigt. Wollten Sie damit etwa einen Utopiaroman beginnen? Eine derartige Verhaftung in einem Rechtsstaat, in dem zu leben Sie Josef K. wörtlich unterstellen? Sie schreiben ja selbst, dass alle Gesetze der cisleithanischen Reichshälfte der k.u.k. Monarchie galten - (Sie meinen vermutlich: in Kraft standen), so eben auch das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit aus 1862. Das müsste Ihnen als Jurist bekannt gewesen sein. Sie haben ja bei Professor Ulbrich das Staatsrecht an der löblichen Karlsuniversität in Prag gehört, wie uns zu Ohren gekommen ist. Stimmt es, dass Sie die dritte Staatsprüfung und das staatswissenschaftliche Rigorosum nur mit einem "Mehrheitlich Genügend" bestanden haben?
Auch im zweiten, "judiciellen" Abschnitt sollen Sie nicht viel besser gewesen sein. Daher rührt vermutlich Ihre Ablehnung gegen die heimische Justiz, die wir in dieser Form nicht dulden können. Zudem insinuieren Sie hier eine überlange Verfahrensdauer in einem Strafprozess, die es in unserer Rechtsordnung gottlob gar nicht geben kann.
Dass unsere italienischen Freunde von der Unicredito Bank die Darstellung des italienischen Gastes ebenso wenig goutieren werden wie den seltsamen Maler Tittorelli (soll das etwa gar eine Anspielung sein?), werden Sie verstehen, angeblich haben Sie selbst ein wenig Italienisch im Jahr 1905 bei der "Generali" lernen dürfen. Und das ist jetzt der Dank dafür? Schließlich wird die Geschichte ja gegen Ende nahezu brutal, uns scheint, dass Herr Josef K. im Steinbruch regelrecht hingerichtet wird? Pfui!
Bitte lesen Sie, bevor Sie wieder zur Feder greifen, Don Winslows Buch "Das Kartell", dann wird Ihnen klar werden, wie man auf 780 Seiten rund 1200 Morde und Justizverbrechen einfühlsam und unblutig beschreibt, Folter und Vergewaltigungen inklusive. Dagegen sind Sie ein Waisenknabe! Aber selbst zartbesaitete Leserinnen werden sich beruhigen können, denn so etwas gibt es natürlich nur in Mexiko, wo man ja auch unseren seligen Kaiserbruder Max kaltblütigst hingerichtet hat, obwohl er einen nie dagewesenen Aufschwung in diese Halbzivilisation gebracht hat.
Aber eines Tages, lieber Herr Doktor Kafka, werden diese korrupten Rechtswächter hinter einer Mauer verschwinden, die sie auch noch selbst bezahlen müssen. Bis dahin, bitte einen Prosakurs belegen und vielleicht eine Reiserzählung nach Muster des Dr. Karl May verfassen, dann wird es sicher etwas mit dem ersten Buch. Trotzdem oder gerade deshalb herzlich,
Ihr
Theodor Trump, Zwischenverlag, Frankfurt
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Sehr geehrter Herr Lizenziat Goethe!
Wir bestätigen den Erhalt Ihres Manuskripts mit dem Titel "Faust. Der Tragödie erster Teil"! Leider können wir das recht gefällig gereimte Elaborat nicht abdrucken, da es schwerwiegende Mängel aufweist. Kein Mensch kennt sich aus und niemand in unserer Redaktion versteht, warum Sie dem Kurzdrama eine Zueignung, ein Vorspiel auf dem Theater und noch einige unnötige Verslein mehr voranstellen.
Als Drama geht das Werk kaum durch. Es ist nicht einmal abendfüllend, vielleicht denken Sie an einen zweiten Teil, aber nicht so kurz, bitte. Zudem belasten Sie das Verhältnis zwischen der reichsfreien Stadt Frankfurt und der Kirche, weil Sie hier das Bild eines gelangweilten Atheisten und Intellektuellen malen, der sich kirchen- und universitätsfeindlich äußert. Wollen Sie etwa zum Ausdruck bringen, dass ein angesehener Landarzt, der seinen Eid auf den Hippokrates geschworen hat, dermaßen zum Schaden der ihm anvertrauten Patienten agieren würde wie Dr. Faustus? Das würde ja auch dem Weimarer Herzog missfallen, zu dem Sie sich zugezogen fühlen!
Auch die Gestalt eines geradezu sympathisch wirkenden Satans (siehe Vorspiel auf dem Theater) hat in unserem Lektorat für Kopfschütteln gesorgt. Dieser Mephisto und respektlose Antichristo (was halten Sie von diesem schönen Wortspiel?) missfiel besonders meinen geschätzten Kollegen von der Erzbischöflichen Kanzlei zu Köln. Außerdem befürchten wir, dass sich Herr Marlowe gegen dieses Plagiat rechtlich zur Wehr setzen könnte, denn Hand aufs Herz, Dr. Faustus gibt es doch schon längst in mehreren Varianten, die allesamt geschmeidiger sind als Ihre eigene, die ja eine verdeckte Satire darstellt.
Ergebenst, Ihr
Geraldus Miksch, Spötter Verlag, Stuttgart
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Hochgeehrter Herr Dr. Schiller!
Nun plagen wir uns schon geraume Zeit mit Ihrem Drama zu Ehren des Schweizerbürgers Wilhelm Tell. Ich will ganz offen sein: Das ist ja glatte Themenverfehlung und noch dazu politisch hoch sensibel. Statt, wie vereinbart, eine gefällige Darstellung der Innerschweizer Kantone mit maximal 40.000 Zeichen und drei Abbildungen zu liefern, die sich die Feriengegend rund um den Vierwaldstättersee - und noch viel mehr unsere Leserinnen - wirklich verdient hätten, ziehen Sie eine politische Schaudergeschichte mit Mord und Totschlag auf, bei der es einem angst und bange wird. Sie zeichnen die Figur des Landvogts Gessler dermaßen negativ, dass man glauben könnte, österreichische Beamte unterdrückten und drangsalierten die Bevölkerung unserer Repu-blik. So etwas ließen sich Schweizerbürger nie gefallen, aber natürlich nur unter Anwendung legitimer, rechtsstaatlicher Mittel! Erst nach Vernehmlassung eines Bundesgesetzes mit nachfolgendem Volksentscheid wäre Derartiges denkbar, das wissen Sie doch!
Ihre brutale Inszenierung schadet hingegen nicht nur dem heimischen Fremdenverkehr, sondern auch dem Ruf der Eidgenossen, die sich schon gegen diese Darstellung verwahrt haben. Namentlich die Kantone Schwyz und Uri haben durch ihre Land- ammänner mitteilen lassen, dass Sie gegen die ungehobelte Figur des Tell Einspruch erheben. Auch die drei Bünde sind aufgebracht, obwohl Sie die Habsburger dort ja nicht gerade mochten. Aber fahren Sie heute einmal ins Bündnerland, Sie werden sehen, wie der Engadin floriert, und an der Grenze zum Tiroler Inntal steht gerade ein einsamer Grenzwächter.
So viel Lärm um nichts! Ein Vater, der auf seinen Sohn zielt, das ist doch, mit Verlaub, unverfroren. Als Racheengel macht der ehrenwerte Tell auch keine gute Figur, da haben Sie vermutlich an den Kohlhaas gedacht. Ich bitte Sie, glauben Sie etwa, ein demokratisch und rechtsstaatlich gesinnter Schweizer hätte eine gefährliche Waffe wie eine Armbrust bei sich zu Hause im Schrank? Nein, nein und nochmals nein! Widmen Sie sich doch bitte einer eingängigen Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs, dort können Sie auf Ihre Deutschen losgehen. Aber uns Schweizer und die kerngesunden Österreicher lassen Sie doch bitte zufrieden. Gruezi und auf ein Besseres,
Ueli Breitfluegler, Archimedes und Mensa, Zürich
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Sehr geehrter Herr Dr. Musil!
Nun senden Sie uns auf Umwegen aus Genf ein weiteres Konvolut mit dem Hinweis auf Ihr fortgesetztes Fragment "Der Mann ohne Eigenschaften" mit weiteren tausend Seiten, aber ohne Aussicht auf ein gutes Ende. Das ist schön und betrüblich zugleich. Danke für die guten Wünsche und ein Gruß auch an Ihre geschätzte Gattin Martha und natürlich auch Dank für Ihre Bemühungen und die schöne Einladung vor drei Jahren in die Rasumofskygasse. Wie wir hören, geht es Ihnen nicht wirklich gut in der schönen, aber recht calvinistischen und wohl auch puritanischen Stadt. Kommen Sie wenigstens ab und zu zum Schwimmen? In Wien ist es ja immer sehr sportlich zugegangen im Dianabad.
Nun, was sollen wir antworten, bei uns in Hamburg herrscht Kriegswirtschaft und das Papier ist auch schon knapp, aber natürlich nur, weil wir so viele Auflagen unserer exzellenten Nordlandfahrer-Berichte ausliefern durften. Was Ihre Sache aber etwas prekär macht, ist, dass die Gauleitung und das Reichspropagandaministerium Sie auf den Index gesetzt haben, obwohl wir nachweisen konnten, dass Ihr Roman habsburgerfeindlich konzipiert ist. Aber die Figur des Generals Stumm von Bordwehr und vor allem dieser Verschnitt des unseligen Rathenau sel., na Sie wissen schon, das kommt in heutigen Zeiten nicht so richtig in der Wilhelmsstraße an.
Auch ist Ihre Trauung in der evangelischen Kirche am Tabor in der Wiener Leopoldstadt aktenkundig geworden, sodass auch Nachforschungen über die Familie Ihrer sehr geschätzten Ehefrau angestellt wurden. Und dann die überstürzte Abreise aus Wien! Dreimal hat sich die Reichsschriftumkammer bei uns gemeldet mit den üblichen Fragen. Also bis auf Weiteres kann ich leider kein grünes Licht für die Fortsetzung geben, derzeit sind nur Papierfreigaben für Heldendarstellungen möglich, denken Sie doch vielleicht an Ihre Kampfzeit in Tirol um 1915! Aber bitte, keine Invektiven gegen die italienischen Bundesgenossen!
Ihr sehr verbundener
Rudolf Postl, derzeit Hamburg, Odo Zackenschwert-Kommissionsverlag, vormals Rotwolff
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Gerhard Strejcek
Deutsche Cannabis-Liberalisierung mit Folgen
Der Standard, 15.02.2017
In Österreich darf nur ein Staatsbetrieb natürliches THC erzeugen – nur für den Export
Wien – Die Verabschiedung des Cannabiskontrollgesetzes im Deutschen Bundestag, das die kontrollierte Abgabe von natürlichen THC-Produkten (Cannabisblüten und -harz) nach ärztlicher Verordnung sowie die Erteilung von Anbau- und Erzeugungsgenehmigungen ermöglicht, hat auch Auswirkungen auf Österreich.
Zwar darf nach dem Suchtmittelgesetz hierzulande nur synthetisches THC als Schmerzmittel abgegeben werden, aber für den Export wird natürliches Cannabis hergestellt. Allerdings ist das nur einem einzigen Staatsbetrieb unter den Fittichen der Agentur für Ernährungssicherheit (Ages) erlaubt. Für diesen Monopolisten ergeben sich neue Absatzchancen.
Der Versuch, diese Beschränkung beim Verfassungsgerichtshof wegen Verstoßes gegen das Erwerbsfreiheitsgrundrecht (Art 6 StGG) zu Fall zu bringen, ist unlängst gescheitert: Das Höchstgericht lehnte es ab, auf eine Gesetzesprüfung inhaltlich einzugehen, weil es keine Erfolgsaussichten auf Verfassungswidrigkeit sah (VfGH 22. 11. 2016, G 61/2016).
Im Erkenntnis wurde lapidar festgestellt, dass die Einschränkung des erlaubten Anbaus der Cannabispflanze zum Zwecke der Suchtgiftgewinnung für die Herstellung von Arzneimitteln auf eine im Eigentum der Republik Österreich stehende Gesellschaft "in verfassungsrechtlich vertretbarer Weise die zur Hintanhaltung des Missbrauches und damit die zum Schutz der Gesundheit erforderliche Kontrolle" gewährleistet. Der Gesetzgeber überschreitet daher laut VfGH nicht seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum, wenn er derzeit zur Erreichung dieses Zieles den Cannabisanbau allein dieser Gesellschaft vorbehält.
Veraltete Regelung
Aber die jetzige – im Vergleich zu Deutschland und anderen EU-Staaten veraltete – Regelung ist nicht in Stein gemeißelt. Falls der Gesetzgeber von sich aus nicht tätig wird, können Patienten selbst den Rechtsweg beschreiten, um künftig natürliche THC-Produkte unter ärztlicher Kontrolle zu erhalten und von den Kassen erstattet zu bekommen. Das geschah in Deutschland, wo ein schwer kranker Patient auf Anbau und Therapie von natürlichem Cannabis klagte und vor dem Bundesverwaltungsgerichtshof Recht bekam (BVerwG, 6. 4. 2016, 3 C 10.12).
In den Materialien zum deutschen CannKG wird zwar klargestellt, dass es in absehbarer Zeit weder zu einer Freigabe von THC noch zu einer generellen Anbauerlaubnis in Deutschland kommen wird, aber durch die rechtliche Möglichkeit der kontrollierten Abgabe in Apotheken wird sich die Situation für chronische Schmerzpatienten deutlich verbessern und die bisher rund tausend Ausnahmegenehmigungen vom Betäubungsmittelgesetz entbehrlich machen. Deshalb gab es auch einen breiten Konsens für das neue Gesetz.
Und wenn der Markt für einwandfreie Cannabispflanzen mit hohem THC-Gehalt wächst, besteht auch für österreichische Unternehmer die Hoffnung, dass der Gesetzgeber die Schraube lockert und einen streng kontrollieren Anbau zulässt – und vielleicht auch die Nutzung.
Medizinische und rechtliche Aspekte behandelt der Wiener Allgemeinmediziner Kurt Blaas in seinem Buch "Cannabismedizin" (New Academic Press 2017).
Wien – Die Verabschiedung des Cannabiskontrollgesetzes im Deutschen Bundestag, das die kontrollierte Abgabe von natürlichen THC-Produkten (Cannabisblüten und -harz) nach ärztlicher Verordnung sowie die Erteilung von Anbau- und Erzeugungsgenehmigungen ermöglicht, hat auch Auswirkungen auf Österreich.
Zwar darf nach dem Suchtmittelgesetz hierzulande nur synthetisches THC als Schmerzmittel abgegeben werden, aber für den Export wird natürliches Cannabis hergestellt. Allerdings ist das nur einem einzigen Staatsbetrieb unter den Fittichen der Agentur für Ernährungssicherheit (Ages) erlaubt. Für diesen Monopolisten ergeben sich neue Absatzchancen.
Der Versuch, diese Beschränkung beim Verfassungsgerichtshof wegen Verstoßes gegen das Erwerbsfreiheitsgrundrecht (Art 6 StGG) zu Fall zu bringen, ist unlängst gescheitert: Das Höchstgericht lehnte es ab, auf eine Gesetzesprüfung inhaltlich einzugehen, weil es keine Erfolgsaussichten auf Verfassungswidrigkeit sah (VfGH 22. 11. 2016, G 61/2016).
Im Erkenntnis wurde lapidar festgestellt, dass die Einschränkung des erlaubten Anbaus der Cannabispflanze zum Zwecke der Suchtgiftgewinnung für die Herstellung von Arzneimitteln auf eine im Eigentum der Republik Österreich stehende Gesellschaft "in verfassungsrechtlich vertretbarer Weise die zur Hintanhaltung des Missbrauches und damit die zum Schutz der Gesundheit erforderliche Kontrolle" gewährleistet. Der Gesetzgeber überschreitet daher laut VfGH nicht seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum, wenn er derzeit zur Erreichung dieses Zieles den Cannabisanbau allein dieser Gesellschaft vorbehält.
Veraltete Regelung
Aber die jetzige – im Vergleich zu Deutschland und anderen EU-Staaten veraltete – Regelung ist nicht in Stein gemeißelt. Falls der Gesetzgeber von sich aus nicht tätig wird, können Patienten selbst den Rechtsweg beschreiten, um künftig natürliche THC-Produkte unter ärztlicher Kontrolle zu erhalten und von den Kassen erstattet zu bekommen. Das geschah in Deutschland, wo ein schwer kranker Patient auf Anbau und Therapie von natürlichem Cannabis klagte und vor dem Bundesverwaltungsgerichtshof Recht bekam (BVerwG, 6. 4. 2016, 3 C 10.12).
In den Materialien zum deutschen CannKG wird zwar klargestellt, dass es in absehbarer Zeit weder zu einer Freigabe von THC noch zu einer generellen Anbauerlaubnis in Deutschland kommen wird, aber durch die rechtliche Möglichkeit der kontrollierten Abgabe in Apotheken wird sich die Situation für chronische Schmerzpatienten deutlich verbessern und die bisher rund tausend Ausnahmegenehmigungen vom Betäubungsmittelgesetz entbehrlich machen. Deshalb gab es auch einen breiten Konsens für das neue Gesetz.
Und wenn der Markt für einwandfreie Cannabispflanzen mit hohem THC-Gehalt wächst, besteht auch für österreichische Unternehmer die Hoffnung, dass der Gesetzgeber die Schraube lockert und einen streng kontrollieren Anbau zulässt – und vielleicht auch die Nutzung.
Medizinische und rechtliche Aspekte behandelt der Wiener Allgemeinmediziner Kurt Blaas in seinem Buch "Cannabismedizin" (New Academic Press 2017).
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Gerhard Strejcek
Machtvoller Nordwind
Wiener Zeitung, 12.02.2017
Vielfalt ohne Grenzen: Der norwegische Gitarrist Eivind Aarset kommt nach Wien.
Wer sich auf eine Begegnung mit der Musik von Eivind Aarset einlässt, kann dramatische und erhebende Momente im Stil der legendären Pink-Floyd-Auftritte erleben - oder jazzige Vielfalt, wenn er im Duo mit dem Saxofonisten Andy Sheppard spielt.
Wer sich auf eine Begegnung mit der Musik von Eivind Aarset einlässt, kann dramatische und erhebende Momente im Stil der legendären Pink-Floyd-Auftritte erleben - oder jazzige Vielfalt, wenn er im Duo mit dem Saxofonisten Andy Sheppard spielt.
Der 55-jährige Norweger, dessen Wurzeln im Hardrock und Metal liegen, ist stets für eine Überraschung gut und wechselt nach beschaulichen Passagen oft in die härtere Gangart. Heute als Jazz-Performer anerkannt, sieht sich Aarset in einer von Jimi Hendrix begründeten Tradition, dessen großartige Riffs ihn faszinierten und inspirierten. Experimentierlust und der Rückzug vom Bühnenlärm führten ihn auf elektronische Pfade, die er mit den Formationen Électronique Noire und Dream Logic facettenreich beschritt.
Gereift ist Aarset dank Koproduktionen mit Kollegen wie Arild Andersen, Arve Henriksen, Ketil Bjørnstad und Bugge Wesseltoft, die ihm Ausflüge in die experimentelle ECM-Welt ermöglichten.
Daneben produzierte Jan Bang, ein Genius an den Reglerknöpfen, die Elektronik-Alben mit Dream Logic. Dank präzisester Saitenbehandlung entwickelte sich der ehemalige Revolutionär, der nordische Labels wie Jazzland oder Rune Grammofon unterstützt hat, zum begehrten Studioexperten. Für Rebekka Bakken und Norma Winstone etwa agierte er als Sideman, seine Spontaneität und Improvisationsgabe entwickelte er mit Paolo Fresu (Trompete) und Dhafer Youssef (Oud) weiter. Mit Jon Hassell stieg er in Brian Enos Fußstapfen und beschritt virtuelle Musikwelten, auf dem Album "Electra" von 2005 wirkte er für die Arild Andersen Group an achtzehn "Szenen" mit sphärischem Gesang von Savina Yannatou und Chrysanthi Douzi mit.
Aarset steht somit für Vielfalt ohne Grenzen. Wer ihn live erleben will, hat demnächst wieder Gelegenheit dazu.
Am 16. Februar gibt Eivind Arset gemeinsam mit seiner aktuellen Live-Band um Audun Erlien, Wetle Holte, Erland Dahlen und David Solheim ein Konzert im Wiener Musikklub Porgy & Bess.
Aktuelles Album:
Atmosphères
(ECM/Lotus)
Wer sich auf eine Begegnung mit der Musik von Eivind Aarset einlässt, kann dramatische und erhebende Momente im Stil der legendären Pink-Floyd-Auftritte erleben - oder jazzige Vielfalt, wenn er im Duo mit dem Saxofonisten Andy Sheppard spielt.
Wer sich auf eine Begegnung mit der Musik von Eivind Aarset einlässt, kann dramatische und erhebende Momente im Stil der legendären Pink-Floyd-Auftritte erleben - oder jazzige Vielfalt, wenn er im Duo mit dem Saxofonisten Andy Sheppard spielt.
Der 55-jährige Norweger, dessen Wurzeln im Hardrock und Metal liegen, ist stets für eine Überraschung gut und wechselt nach beschaulichen Passagen oft in die härtere Gangart. Heute als Jazz-Performer anerkannt, sieht sich Aarset in einer von Jimi Hendrix begründeten Tradition, dessen großartige Riffs ihn faszinierten und inspirierten. Experimentierlust und der Rückzug vom Bühnenlärm führten ihn auf elektronische Pfade, die er mit den Formationen Électronique Noire und Dream Logic facettenreich beschritt.
Gereift ist Aarset dank Koproduktionen mit Kollegen wie Arild Andersen, Arve Henriksen, Ketil Bjørnstad und Bugge Wesseltoft, die ihm Ausflüge in die experimentelle ECM-Welt ermöglichten.
Daneben produzierte Jan Bang, ein Genius an den Reglerknöpfen, die Elektronik-Alben mit Dream Logic. Dank präzisester Saitenbehandlung entwickelte sich der ehemalige Revolutionär, der nordische Labels wie Jazzland oder Rune Grammofon unterstützt hat, zum begehrten Studioexperten. Für Rebekka Bakken und Norma Winstone etwa agierte er als Sideman, seine Spontaneität und Improvisationsgabe entwickelte er mit Paolo Fresu (Trompete) und Dhafer Youssef (Oud) weiter. Mit Jon Hassell stieg er in Brian Enos Fußstapfen und beschritt virtuelle Musikwelten, auf dem Album "Electra" von 2005 wirkte er für die Arild Andersen Group an achtzehn "Szenen" mit sphärischem Gesang von Savina Yannatou und Chrysanthi Douzi mit.
Aarset steht somit für Vielfalt ohne Grenzen. Wer ihn live erleben will, hat demnächst wieder Gelegenheit dazu.
Am 16. Februar gibt Eivind Arset gemeinsam mit seiner aktuellen Live-Band um Audun Erlien, Wetle Holte, Erland Dahlen und David Solheim ein Konzert im Wiener Musikklub Porgy & Bess.
Aktuelles Album:
Atmosphères
(ECM/Lotus)
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Gerhard Strejcek
Tragische Bezirke des Daseins
Wiener Zeitung, 12.02.2017
Annett Krendlesbergers einprägsamer Erzählband "Doch".
Lesen soll Vergnügen bereiten, doch zeitweise betritt der Lesende zwangsläufig auch die tragischeren Bezirke des Daseins, erfährt Details über das Verletzt-Werden einer jungen Frau, über das eintönige Leben nach einer erbbedingt freiwilligen Kündigung oder das Sterben naher Angehöriger.
Man müsste aus Stein verfasst sein, wenn da nicht Empathie entstünde. Wenn Annett Krendlesberger über die Leiden des Vaters, die Krankenhausatmosphäre (etwa in der Rudolfstiftung), den fehlenden Schulabschluss der attraktiven Mutter oder über Gehässigkeiten in einer Anwaltskanzlei schreibt, ist der Leser nahe dabei, sitzt mehr oder minder im Neben- oder Vorzimmer, einem wartenden Patienten gleich, der verstört einen Schrei im Behandlungszimmer wahrnimmt oder eine Auseinandersetzung im Anmelderaum der Praxis mithört. Was der Autorin widerfahren ist oder was sie in fiktiver Form wiedergibt und anderen Personen zusinnt, grimmig verbrämt mit Ironie und schwarzem Humor, lässt den Leser nicht kalt und zwingt ihm ein mitunter verkrampftes Lächeln auf.
Im Band "Doch" wird die Gabe der Autorin deutlich, einprägsam zu erzählen, Schmerzen spürbar und Gerüche störend wahrnehmbar zu machen, morbide Stimmungen anklingen und die Depression fühlbar werden zu lassen. In der Erzählung "Gummibaum" flattern illustre Gedankengänge über einen Karrieristen durch den Raum, wie sie beim Blumengießen ihren Lauf nehmen. Es kann verstörend wirken, wenn eine Person zwar selbst Schlüssel für andere Wohnungen innehat, aber - wenngleich dies nicht ratsam ist - auf die Anfertigung oder auf die ortsfremde Aufbewahrung eines Zweitschlüssels für das eigene Heim verzichtet.
Wie früher Bernhard
Das Gegenteil der von Doderer geforderten "jederzeitigen" Besuchsfähigkeit kommt hier deutlich zum Ausdruck, zugleich ein spürbarer Verwandtenhass. Welche Dosen hier verträglich sind und was einer längeren geistigen Verdauungsphase bedarf, hängt vom individuellen Befinden, aber auch vom jeweiligen "Geschmack" ab. In das Grauen oder in die Untiefen der Existenz anderer Personen als unbeteiligter Lese-Zeuge förmlich hineingezogen zu werden - das erinnert durchaus an Christine Lavant, Kafka oder den frühen Thomas Bernhard ("Frost", 1964).
Was in mehreren Musikgenres, in der darstellenden Kunst und eben auch im Bereich der Literatur auffällt, ist die Tatsache, dass es in Österreich viele begabte Menschen unterschiedlicher Herkunft gibt, die auf hohem Niveau Werke schaffen, ohne dass dies eine breitere Öffentlichkeit je erfährt. Das gilt auch für Annett Krendlesberger, die ein Philosophiestudium abgeschlossen und bei mehreren Wettbewerben reüssiert hat, und deren weitere Werke die Titel "Beweislast" (Prosa in Episoden) oder "Flaschendrehn" tragen. Dennoch könnte man sie als vorwiegend Insidern bekannte Autorin bezeichnen, deren Bücher nicht weit verbreitet, aber lesenswert sind. Das sollte sich ändern.
Die neunzehn Erzählungen dieses Bandes führen durch die Jahreszeiten, man muss das Werk auch nicht in einem Zug lesen. Das Buch ist puristisch mit einem braunen, schmucklosen Pappeinband ausgestattet, hat aber seine eigene Ästhetik, einen angenehmen Satz - und es ist perfekt lektoriert. Im Mittelpunkt steht der Text, sonst nichts. Kein einziger Tippfehler findet sich hier, nicht einmal ein verstelltes oder fehlendes Satzzeichen fiel dem Rezensenten auf, das ist in dieser Perfektion selten.
Wer täglich ein Stück Vorhölle genießen will, kann sich somit ein ganzes Monat von "Doch" ernähren: verstörende Kurzgeschichten, alltagsnahe Novellen, Erzählungen von feiner Ironie, wie auch immer man sie einordnen will.
Literatur
Annett Krendlesberger: Doch
Erzählungen
Kitab, Klagenfurt/ Wien 2016
394 Seiten
17,- Euro.
Lesen soll Vergnügen bereiten, doch zeitweise betritt der Lesende zwangsläufig auch die tragischeren Bezirke des Daseins, erfährt Details über das Verletzt-Werden einer jungen Frau, über das eintönige Leben nach einer erbbedingt freiwilligen Kündigung oder das Sterben naher Angehöriger.
Man müsste aus Stein verfasst sein, wenn da nicht Empathie entstünde. Wenn Annett Krendlesberger über die Leiden des Vaters, die Krankenhausatmosphäre (etwa in der Rudolfstiftung), den fehlenden Schulabschluss der attraktiven Mutter oder über Gehässigkeiten in einer Anwaltskanzlei schreibt, ist der Leser nahe dabei, sitzt mehr oder minder im Neben- oder Vorzimmer, einem wartenden Patienten gleich, der verstört einen Schrei im Behandlungszimmer wahrnimmt oder eine Auseinandersetzung im Anmelderaum der Praxis mithört. Was der Autorin widerfahren ist oder was sie in fiktiver Form wiedergibt und anderen Personen zusinnt, grimmig verbrämt mit Ironie und schwarzem Humor, lässt den Leser nicht kalt und zwingt ihm ein mitunter verkrampftes Lächeln auf.
Im Band "Doch" wird die Gabe der Autorin deutlich, einprägsam zu erzählen, Schmerzen spürbar und Gerüche störend wahrnehmbar zu machen, morbide Stimmungen anklingen und die Depression fühlbar werden zu lassen. In der Erzählung "Gummibaum" flattern illustre Gedankengänge über einen Karrieristen durch den Raum, wie sie beim Blumengießen ihren Lauf nehmen. Es kann verstörend wirken, wenn eine Person zwar selbst Schlüssel für andere Wohnungen innehat, aber - wenngleich dies nicht ratsam ist - auf die Anfertigung oder auf die ortsfremde Aufbewahrung eines Zweitschlüssels für das eigene Heim verzichtet.
Wie früher Bernhard
Das Gegenteil der von Doderer geforderten "jederzeitigen" Besuchsfähigkeit kommt hier deutlich zum Ausdruck, zugleich ein spürbarer Verwandtenhass. Welche Dosen hier verträglich sind und was einer längeren geistigen Verdauungsphase bedarf, hängt vom individuellen Befinden, aber auch vom jeweiligen "Geschmack" ab. In das Grauen oder in die Untiefen der Existenz anderer Personen als unbeteiligter Lese-Zeuge förmlich hineingezogen zu werden - das erinnert durchaus an Christine Lavant, Kafka oder den frühen Thomas Bernhard ("Frost", 1964).
Was in mehreren Musikgenres, in der darstellenden Kunst und eben auch im Bereich der Literatur auffällt, ist die Tatsache, dass es in Österreich viele begabte Menschen unterschiedlicher Herkunft gibt, die auf hohem Niveau Werke schaffen, ohne dass dies eine breitere Öffentlichkeit je erfährt. Das gilt auch für Annett Krendlesberger, die ein Philosophiestudium abgeschlossen und bei mehreren Wettbewerben reüssiert hat, und deren weitere Werke die Titel "Beweislast" (Prosa in Episoden) oder "Flaschendrehn" tragen. Dennoch könnte man sie als vorwiegend Insidern bekannte Autorin bezeichnen, deren Bücher nicht weit verbreitet, aber lesenswert sind. Das sollte sich ändern.
Die neunzehn Erzählungen dieses Bandes führen durch die Jahreszeiten, man muss das Werk auch nicht in einem Zug lesen. Das Buch ist puristisch mit einem braunen, schmucklosen Pappeinband ausgestattet, hat aber seine eigene Ästhetik, einen angenehmen Satz - und es ist perfekt lektoriert. Im Mittelpunkt steht der Text, sonst nichts. Kein einziger Tippfehler findet sich hier, nicht einmal ein verstelltes oder fehlendes Satzzeichen fiel dem Rezensenten auf, das ist in dieser Perfektion selten.
Wer täglich ein Stück Vorhölle genießen will, kann sich somit ein ganzes Monat von "Doch" ernähren: verstörende Kurzgeschichten, alltagsnahe Novellen, Erzählungen von feiner Ironie, wie auch immer man sie einordnen will.
Literatur
Annett Krendlesberger: Doch
Erzählungen
Kitab, Klagenfurt/ Wien 2016
394 Seiten
17,- Euro.
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Gerhard Strejcek
Arbeiterschutz als Grundrechtseingriff
Der Standard, 31.01.2017
Überschießende Anordnungen sind auch verfassungsrechtlich fragwürdig
Wien – Wer auf eine nachhaltige Enthaarung Wert legt, unterzieht sich freiwillig der Tortur des Waxing, will aber womöglich nicht in einer Schaufensterscheibe posieren. Die Inhaberin eines Wiener Kosmetiksalons sah sich allerdings zu dieser Variante gezwungen. Ihr Geschäft lief in Kojen und hinter Vorhängen gut, die Angestellten schienen zufrieden.
Aber das Arbeitsinspektorat forderte die Unternehmerin auf, Arbeitsräume bereitzustellen, die hinreichend Tageslicht bieten und einen Blick ins Freie ermöglichen. In teuren Innenstadtlagen sind ebenerdige Salons mit normalen Fenstern allerdings rar; so wandte sich die Betroffene in einer Mischung aus Verzweiflung und zivilem Ungehorsam an die Öffentlichkeit.
Rechtlich gesehen war die Anordnung nicht zwingend, denn das ArbeitnehmerInnenschutzG 1994, (BGBl 405 idF I 72/2016) differenziert zwischen Arbeits- und sonstigen Betriebsräumen. Erstere weisen mindestens einen ständigen Arbeitsplatz auf; sie sollten Tageslicht bieten und den Blick ins Freie ermöglichen. Andere Betriebsräume müssen bloß künstlich beleuchtet sein.
Aber von der Tageslicht-Erfordernis kann auch sonst abgesehen werden – wenn etwa die Zweckbestimmung der Räume und die Art der Arbeitsvorgänge dies zulassen, was gerade bei Intimbehandlungen einleuchten würde (§ 23 Abs 6 ASG). Somit hat die Behörde Spielraum, aber auch die Betroffene könnte den unteren Teil der Schaufenster abkleben oder Milchglas einsetzen.
Faules Obst
Ein weiterer Fall erregt die Gemüter: Das Arbeitsinspektorat soll das Aufstellen von Obstschalen für das Personal verboten haben, weil ein Sicherheitsbeauftragter (§ 73 ASG) fehlte, um verdorbenes Obst zu beseitigen. Derartige Beauftragte haben bei feuerpolizeilichen und anderen Sicherheitsaspekten ihren Sinn, aber für das Entfernen von faulem Obst reicht vermutlich auch guter Wille der Beschenkten aus. Schließlich brauchen auch Kaffeemaschinen keine Sicherheitsbeauftragten, obwohl die Geräte keineswegs ungefährlich sind.
Wenn Behörden über das Ziel des Arbeitnehmerschutzes hinausschießen, stellt sich die Frage eines Grundrechtseingriffs. Denn solche Anordnungen schränken die Erwerbsausübung ein, sodass sie zur Zielerreichung erforderlich, verhältnismäßig und sachlich gerechtfertigt sein müssen.
Auf Gesetzesebene hat der VfGH Vorschriften Einhalt geboten, die den Gesundheitsschutz nur vorschoben, etwa ein überschießendes Werbeverbot für Kontaktlinsenoptiker (VfSlg 10.718/1985). Und auch andere Entscheidungen zeigen: Nicht jede Beschränkung der Erwerbsausübung ist aus Gründen des Arbeitnehmer- oder Konsumentenschutzes gerechtfertigt.
Wien – Wer auf eine nachhaltige Enthaarung Wert legt, unterzieht sich freiwillig der Tortur des Waxing, will aber womöglich nicht in einer Schaufensterscheibe posieren. Die Inhaberin eines Wiener Kosmetiksalons sah sich allerdings zu dieser Variante gezwungen. Ihr Geschäft lief in Kojen und hinter Vorhängen gut, die Angestellten schienen zufrieden.
Aber das Arbeitsinspektorat forderte die Unternehmerin auf, Arbeitsräume bereitzustellen, die hinreichend Tageslicht bieten und einen Blick ins Freie ermöglichen. In teuren Innenstadtlagen sind ebenerdige Salons mit normalen Fenstern allerdings rar; so wandte sich die Betroffene in einer Mischung aus Verzweiflung und zivilem Ungehorsam an die Öffentlichkeit.
Rechtlich gesehen war die Anordnung nicht zwingend, denn das ArbeitnehmerInnenschutzG 1994, (BGBl 405 idF I 72/2016) differenziert zwischen Arbeits- und sonstigen Betriebsräumen. Erstere weisen mindestens einen ständigen Arbeitsplatz auf; sie sollten Tageslicht bieten und den Blick ins Freie ermöglichen. Andere Betriebsräume müssen bloß künstlich beleuchtet sein.
Aber von der Tageslicht-Erfordernis kann auch sonst abgesehen werden – wenn etwa die Zweckbestimmung der Räume und die Art der Arbeitsvorgänge dies zulassen, was gerade bei Intimbehandlungen einleuchten würde (§ 23 Abs 6 ASG). Somit hat die Behörde Spielraum, aber auch die Betroffene könnte den unteren Teil der Schaufenster abkleben oder Milchglas einsetzen.
Faules Obst
Ein weiterer Fall erregt die Gemüter: Das Arbeitsinspektorat soll das Aufstellen von Obstschalen für das Personal verboten haben, weil ein Sicherheitsbeauftragter (§ 73 ASG) fehlte, um verdorbenes Obst zu beseitigen. Derartige Beauftragte haben bei feuerpolizeilichen und anderen Sicherheitsaspekten ihren Sinn, aber für das Entfernen von faulem Obst reicht vermutlich auch guter Wille der Beschenkten aus. Schließlich brauchen auch Kaffeemaschinen keine Sicherheitsbeauftragten, obwohl die Geräte keineswegs ungefährlich sind.
Wenn Behörden über das Ziel des Arbeitnehmerschutzes hinausschießen, stellt sich die Frage eines Grundrechtseingriffs. Denn solche Anordnungen schränken die Erwerbsausübung ein, sodass sie zur Zielerreichung erforderlich, verhältnismäßig und sachlich gerechtfertigt sein müssen.
Auf Gesetzesebene hat der VfGH Vorschriften Einhalt geboten, die den Gesundheitsschutz nur vorschoben, etwa ein überschießendes Werbeverbot für Kontaktlinsenoptiker (VfSlg 10.718/1985). Und auch andere Entscheidungen zeigen: Nicht jede Beschränkung der Erwerbsausübung ist aus Gründen des Arbeitnehmer- oder Konsumentenschutzes gerechtfertigt.
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Gerhard Strejcek
Nordisch-sphärisch
Wiener Zeitung, 04.12.2016
Pop-CD
Das Debütalbum der norwegischen Formation Línt.
Aus dem kalten Norden kommt ein spätherbstliches Gitarren-und-Elektronik-Hoch in Form des Debütalbums der norwegischen Formation Línt. Auf acht von Brian Batz produzierten Tracks breiten die sechs Musiker einen melodischen Soundteppich aus, über dem sich schwerelos wirkender Gesang erhebt.
Keine Scheu zeigen die Skandinavier vor altbekannten, wohlklingenden Riffs, Bässen und "catchy tunes", die einst schon The Smiths oder The Cure ausprobiert haben. In ihrer Klangvielfalt bieten Línt ansprechenden und niveauvollen Post-Rock, der auch Zitate von Joy Division und Wire enthält. Sphärisch-wuchtiger Sound und ein paar dosierte Metal-Elemente bieten hier ein abwechslungsreiches Hörerlebnis.
Informationen:
Línt
Then They Came For Us
(Popup-Records/Believe)
Das Debütalbum der norwegischen Formation Línt.
Aus dem kalten Norden kommt ein spätherbstliches Gitarren-und-Elektronik-Hoch in Form des Debütalbums der norwegischen Formation Línt. Auf acht von Brian Batz produzierten Tracks breiten die sechs Musiker einen melodischen Soundteppich aus, über dem sich schwerelos wirkender Gesang erhebt.
Keine Scheu zeigen die Skandinavier vor altbekannten, wohlklingenden Riffs, Bässen und "catchy tunes", die einst schon The Smiths oder The Cure ausprobiert haben. In ihrer Klangvielfalt bieten Línt ansprechenden und niveauvollen Post-Rock, der auch Zitate von Joy Division und Wire enthält. Sphärisch-wuchtiger Sound und ein paar dosierte Metal-Elemente bieten hier ein abwechslungsreiches Hörerlebnis.
Informationen:
Línt
Then They Came For Us
(Popup-Records/Believe)
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Gerhard Strejcek
Der Erforscher des Welthandels
Wiener Zeitung, 03.12.2016
Wirtschaftsgeschichte
Vor sechzig Jahren starb der österreichische Ökonom Josef Hellauer, dessen wissenschaftliche Arbeiten zu den Pionierleistungen der Betriebswirtschaftslehre gezählt werden.
Im November 1916 entstand in Berlin eine neue wirtschaftliche Ausbildungsschiene in Form von berufsbegleitenden Kursen, zu deren Eröffnung man den österreichischen Wirtschaftsexperten Josef Hellauer einlud. Der seit 1912 in Berlin tätige Ökonom hielt einen Vortrag zum Thema "Weltwirtschaftliche Forschung vom privatwirtschaftlichen Standpunkt", auch ein Institut für Privatwirtschaft sollte neu etabliert werden.
Die "Privatwirtschaft" steht in einem System, das auf freies Eigentum und Erwerbsfreiheit aufbaut, im Gegensatz zur verstaatlichten Wirtschaft. Und genau dieser Aspekt war für Hellauers lebenslanges Schaffen von zentraler Bedeutung. Ihn interessierte das gesamte Spektrum, welches ein exportorientierter Kaufmann beherrschen sollte: Unternehmensgründung, Rechts- und Vertragswesen, Transport und Versicherung der Handelsware, Kostenrechnung, Buchhaltung und Bilanzierung, um nur einige der Aspekte zu nennen, die in Hellauers berühmtem "System der Welthandelslehre" in zahlreichen Auflagen von 1910 bis 1956 enthalten waren.
Internationaler Blick
Ausgangspunkt für Hellauers Studien waren englische Kontrakte und Versicherungen im Seehandel um 1900. Zehn Jahre später hatte er alle relevanten Aspekte des internationalen Warenhandels inkludiert. Sein "System" konnte sich fünf Jahrzehnte lang bis in das Nachkriegsdeutschland und in die Zweite Republik als Standardlehrbuch halten. Diese Leistung wurde von wissenschaftshistorischer Seite erkannt, wie Darstellungen des ehemaligen WU-Rektors, Alois Brusatti, zeigen. Auch Josef Mugler, langjähriger Vorstand des Instituts für das Management der Klein- und Mittelbetriebe (KMU), würdigt Hellauers Verdienste, dessen Schüler, wie z.B. Willy Bouffier, in Wien wirkten.
Somit hat Hellauer in Deutschland wie in Österreich Zeichen und Wegmarken gesetzt. Dennoch ist der vor sechzig Jahren, am 5. Dezember 1956 verstorbene Mitbegründer der Betriebswirtschaftslehre als eigenständiger Disziplin in seiner Heimat nur in Fachkreisen bekannt. Keine Straße und kein Platz trägt den Namen des langjährigen Ordinarius an der Exportakademie. Diese Ehre erwies die Stadt Wien nur Erich Loitlsberger, dem Jahrzehnte später in Frankfurt und an der Wiener Universität tätigen Betriebswirtschaftslehrer.
Hellauer weist dagegen einen eigenen Eintrag in Gablers Wirtschaftslexikon auf, die Relevanz seiner Arbeiten für die Wirtschaftswissenschaften ist unbestritten. Schon mit seinem eingangs zitierten Vortrag vor rund hundert Jahren legte er den Finger in eine schwelende Wunde. Bis heute beklagen Handel und Gewerbe mit Recht, dass ihnen der Staat Hürden aufbaut, statt kleinere und mittlere Betriebe zu fördern. Eine inadäquate Finanz- und Handelspolitik treibt eine Vielzahl von Unternehmen in den Ruin. Grund dafür war und ist nicht zuletzt die Bürokratie, die darin gipfelt, dass sogar Taxifahrer (!) eine Registrierkasse mitführen müssen, womit der Staat die unternehmerische Freiheit grundlos und nachhaltig einschränkt.
Hellauer erkannte bereits mitten im Ersten Weltkrieg, dass die Zentralmächte drauf und dran waren, ihr eigenes ökonomisches Hauptstandbein zu amputieren. Die Verfügbarkeit von Handelswaren bestand nur auf dem Papier, im Rohstoff- und Lebensmittelsektor waren diese rationiert und ein breites Spektrum von Waren wie Fett, Textilien, Buntmetalle und sogar Kaffee staatlich bewirtschaftet. Der einst blühende Verkehrssektor drohte abzusterben, der private Konsum war kriegsbedingt zum Erliegen gekommen.
Beim überhasteten Rückzug aus Galizien hatten die österreichischen Eisenbahnen fast ein Drittel ihrer noch brauchbaren Personenwaggons eingebüßt. Die fehlenden Lokomotiven wurden nicht nachgeliefert, der Ersatz des in allen Dampfmaschinen betriebswichtigen Kupfers durch Eisen minderte die Leistung beträchtlich. Eine private Bahnfahrt von Feldkirch nach Wien dauerte 18 Stunden. Landwirtschaftliche Produkte und Ernten konnten nicht mehr in Bahnwaggons transportiert werden.
Ab 1916 stieg in den von der Landwirtschaft abgeschnittenen Regionen, darunter auch Wien, die Gefahr einer Hungersnot, in Ungarn wurde das lebensnotwendige Getreide an Schweine verfüttert, während die Lieferungen nach Wien abbrachen. In Zahlen bedeutete die Reduktion der transleithanischen Getreidelieferungen nicht etwa eine Halbierung, sondern einen Rückgang auf ein Zwanzigstel des Volumens in Friedenszeiten (von 2,2 Millionen Tonnen auf knapp über 100.000). Eine Förderung privatwirtschaftlicher Initiative tat daher Not.
k.u.k. Handelspolitik
Der Protagonist dieser Initiative, Josef Hellauer, wurde 1871 in Wien geboren und besuchte die Handelsakademie in Wien-Wieden, wo er auch die Lehramtsprüfung absolvierte. Später wechselte er nach Linz, ehe er an die Exportakademie im k.k. Handelsmuseum berufen wurde. Schon in der HAK wurde sein lebenslang währendes Interesse an Handels-, Vertrags- und Verkehrswesen geweckt. Die k.u.k. Monarchie wies eine schwache Außenhandelsbilanz auf und konnte mit Seemächten wie dem Vereinigten Königreich oder den Niederlanden nicht mithalten.
"Welthandel" war daher ein programmatischer Begriff, die Habsburger Monarchie beäugte neiderfüllt den Aufstieg, den das Deutsche Reich mit Hilfe von Handelsniederlassungen und dem Aufbau einer Flotte genommen hatte. Dieses erkannte Defizit begünstigte die Gründung neuer Ausbildungsstätten und Initiativen, an denen sich die Handels- und Gewerbekammer beteiligte.
Hier wirkten Angehörige bekannter Familien maßgeblich mit. Im k.k. Handelsmuseum war der Vater des berühmten Marketingexperten Peter Drucker tätig; der Autor des "Engels mit der Posaune" und spätere Regisseur, Ernst Lothar, widmete sich im k.k. Handelsministerium dem Ausbau einer wirtschaftsnahen Ausbildung.
Neben anderen ehemaligen Lehrern wie dem Exportakademiedirektor Anton Schmid nahm Josef Hellauer auch hier eine Pionierrolle ein. Nach Absolvierung der Handelsakademie bestand Hellauer nach einer vierjährigen Lehre als Bankkaufmann die Lehramtsprüfung für höhere Schulen 1894 und begann sogleich an der Handelsakademie Linz zu unterrichten. Damals waren die Türen für engagierte Lehrer offen, in den tertiären Bildungssektor vorzustoßen, wie auch die Karriere von Robert Musils Vater zeigte, der nach einigen Jahren in Steyr in Brünn an der Technischen Hochschule lehrte.
Hellauers Forschungstätigkeit begann 1897, als er gleichfalls in der mährischen Hauptstadt Brünn an der Handelsakademie lehrte. Die erste monographische Studie aus diesem Jahr behandelte "Die Preisparitäten des Warenhandels und die internationale Spekulation". Der Autor promovierte an der Universität Greifswald, seine Dissertation trug den auch für Juristen und Kriminologen interessanten Titel "Der Wucher - ein aktives Kreditverbrechen". Im Druck erschien diese Studie im Jahr 1898 in Linz im Verlag Mareis.
Diese Arbeiten und Zeitschriftenartikel, welche Hellauer verfasste, förderten seine Berufung an die 1898 gegründete Export-Akademie im k.k. Handelsmu-seum, die Vorläuferin der heutigen WU. Hellauers Aufstieg dokumentierte auch die gleichzeitige Ernennung zum Dozenten an der Konsularakademie Wien. 1912 folgte er dem Ruf an die Handelshochschule Berlin und 1921 einem weiteren Ruf an die Universität Frankfurt am Main. 1931 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Handelshochschule Berlin und 1936 der Hochschule für Welthandel, die damals noch nicht allzu lange das Promotionsrecht erworben hatte und einen ihrer Pioniere ehren wollte.
Mit 65 Jahren, also 1936, trat Hellauer in den Ruhestand, doch mit seiner Emeritierung beendete er noch lange nicht seine publizistische Laufbahn. Am 1. Juni 1956 verlieh ihm die Goethe-Universität in Frankfurt die Ehrendoktorwürde. Im selben Jahr erhielt er auch die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main, wo er dann 1956 auch verstarb. Hellauers Werke dienten der besseren regionalen Erfassung der Handelsplätze. Im Jahr 1921 erschienen zwei "weltwirtschaftliche" Sammelbände über China und über Argentinien. Beide Werke folgten einem ähnlichen Konzept und zeichneten Vorträge auf, welche Praktiker und Wissenschafter an den Handelshochschulen vorgetragen hatten. Der in Stuttgart tätige Max Wertheimer rezensierte den China-Band gemeinsam mit einem zweiten Werk eines Juristen namens F. W. Mohr über die Region, den er als "Insider" anerkannte.
Denn der Autor der "Gedanken zur neudeutschen Chinapolitik" hatte in japanischer Gefangenschaft gedarbt und in dieser Lage das Buch über die - auch auf Grundlage der Mentalität und psychologischer Faktoren - gebotene Handelspolitik in China verfasst. Die durch Kauf oder Pacht erworbenen chinesischen Handelsdrehscheiben gingen im Ersten Weltkrieg verloren und führten auch zum Kriegseintritt der Japaner auf Seiten der Entente. "Wer sich gut unterrichten will, findet in diesem Mohrschen Buch alles was er braucht, viel disziplinierter und organischer entwickelt als in dem Hellauerschen", lautete das gestrenge Werturteil des Rezensenten im (Kieler) Archiv für Weltwirtschaft (Bd. 19/1923, 119).
Theorie und Forschung
Zu dieser Zeit hatte die BWL vielfach deskriptiven Charakter; zudem wurden die Fähigkeiten, welche eine Handelshochschule zu vermitteln hatte, mehr als praxisrelevante Ausbildung denn als akademische Fundierung angesehen. Über die Vertiefung in der Theorie und die Frage forschungsgeleiteter Lehre gingen die Meinungen auseinander. Die Wiener Exportakademie sollte die "praktische Seite des kommerziellen Könnens pflegen und nicht vielleicht theoretisch gebildete Leute heranerziehen, die man erst dann in die praktische Schule nehmen müsste", so lautete die engstirnige Meinung eines Zeitgenossen.
Hellauer ist es mit zu verdanken, dass diese Sichtweise zu Gunsten einer forschungsgeleiteten Lehre aller Wirtschaftsdisziplinen überwunden wurde.
Vor sechzig Jahren starb der österreichische Ökonom Josef Hellauer, dessen wissenschaftliche Arbeiten zu den Pionierleistungen der Betriebswirtschaftslehre gezählt werden.
Im November 1916 entstand in Berlin eine neue wirtschaftliche Ausbildungsschiene in Form von berufsbegleitenden Kursen, zu deren Eröffnung man den österreichischen Wirtschaftsexperten Josef Hellauer einlud. Der seit 1912 in Berlin tätige Ökonom hielt einen Vortrag zum Thema "Weltwirtschaftliche Forschung vom privatwirtschaftlichen Standpunkt", auch ein Institut für Privatwirtschaft sollte neu etabliert werden.
Die "Privatwirtschaft" steht in einem System, das auf freies Eigentum und Erwerbsfreiheit aufbaut, im Gegensatz zur verstaatlichten Wirtschaft. Und genau dieser Aspekt war für Hellauers lebenslanges Schaffen von zentraler Bedeutung. Ihn interessierte das gesamte Spektrum, welches ein exportorientierter Kaufmann beherrschen sollte: Unternehmensgründung, Rechts- und Vertragswesen, Transport und Versicherung der Handelsware, Kostenrechnung, Buchhaltung und Bilanzierung, um nur einige der Aspekte zu nennen, die in Hellauers berühmtem "System der Welthandelslehre" in zahlreichen Auflagen von 1910 bis 1956 enthalten waren.
Internationaler Blick
Ausgangspunkt für Hellauers Studien waren englische Kontrakte und Versicherungen im Seehandel um 1900. Zehn Jahre später hatte er alle relevanten Aspekte des internationalen Warenhandels inkludiert. Sein "System" konnte sich fünf Jahrzehnte lang bis in das Nachkriegsdeutschland und in die Zweite Republik als Standardlehrbuch halten. Diese Leistung wurde von wissenschaftshistorischer Seite erkannt, wie Darstellungen des ehemaligen WU-Rektors, Alois Brusatti, zeigen. Auch Josef Mugler, langjähriger Vorstand des Instituts für das Management der Klein- und Mittelbetriebe (KMU), würdigt Hellauers Verdienste, dessen Schüler, wie z.B. Willy Bouffier, in Wien wirkten.
Somit hat Hellauer in Deutschland wie in Österreich Zeichen und Wegmarken gesetzt. Dennoch ist der vor sechzig Jahren, am 5. Dezember 1956 verstorbene Mitbegründer der Betriebswirtschaftslehre als eigenständiger Disziplin in seiner Heimat nur in Fachkreisen bekannt. Keine Straße und kein Platz trägt den Namen des langjährigen Ordinarius an der Exportakademie. Diese Ehre erwies die Stadt Wien nur Erich Loitlsberger, dem Jahrzehnte später in Frankfurt und an der Wiener Universität tätigen Betriebswirtschaftslehrer.
Hellauer weist dagegen einen eigenen Eintrag in Gablers Wirtschaftslexikon auf, die Relevanz seiner Arbeiten für die Wirtschaftswissenschaften ist unbestritten. Schon mit seinem eingangs zitierten Vortrag vor rund hundert Jahren legte er den Finger in eine schwelende Wunde. Bis heute beklagen Handel und Gewerbe mit Recht, dass ihnen der Staat Hürden aufbaut, statt kleinere und mittlere Betriebe zu fördern. Eine inadäquate Finanz- und Handelspolitik treibt eine Vielzahl von Unternehmen in den Ruin. Grund dafür war und ist nicht zuletzt die Bürokratie, die darin gipfelt, dass sogar Taxifahrer (!) eine Registrierkasse mitführen müssen, womit der Staat die unternehmerische Freiheit grundlos und nachhaltig einschränkt.
Hellauer erkannte bereits mitten im Ersten Weltkrieg, dass die Zentralmächte drauf und dran waren, ihr eigenes ökonomisches Hauptstandbein zu amputieren. Die Verfügbarkeit von Handelswaren bestand nur auf dem Papier, im Rohstoff- und Lebensmittelsektor waren diese rationiert und ein breites Spektrum von Waren wie Fett, Textilien, Buntmetalle und sogar Kaffee staatlich bewirtschaftet. Der einst blühende Verkehrssektor drohte abzusterben, der private Konsum war kriegsbedingt zum Erliegen gekommen.
Beim überhasteten Rückzug aus Galizien hatten die österreichischen Eisenbahnen fast ein Drittel ihrer noch brauchbaren Personenwaggons eingebüßt. Die fehlenden Lokomotiven wurden nicht nachgeliefert, der Ersatz des in allen Dampfmaschinen betriebswichtigen Kupfers durch Eisen minderte die Leistung beträchtlich. Eine private Bahnfahrt von Feldkirch nach Wien dauerte 18 Stunden. Landwirtschaftliche Produkte und Ernten konnten nicht mehr in Bahnwaggons transportiert werden.
Ab 1916 stieg in den von der Landwirtschaft abgeschnittenen Regionen, darunter auch Wien, die Gefahr einer Hungersnot, in Ungarn wurde das lebensnotwendige Getreide an Schweine verfüttert, während die Lieferungen nach Wien abbrachen. In Zahlen bedeutete die Reduktion der transleithanischen Getreidelieferungen nicht etwa eine Halbierung, sondern einen Rückgang auf ein Zwanzigstel des Volumens in Friedenszeiten (von 2,2 Millionen Tonnen auf knapp über 100.000). Eine Förderung privatwirtschaftlicher Initiative tat daher Not.
k.u.k. Handelspolitik
Der Protagonist dieser Initiative, Josef Hellauer, wurde 1871 in Wien geboren und besuchte die Handelsakademie in Wien-Wieden, wo er auch die Lehramtsprüfung absolvierte. Später wechselte er nach Linz, ehe er an die Exportakademie im k.k. Handelsmuseum berufen wurde. Schon in der HAK wurde sein lebenslang währendes Interesse an Handels-, Vertrags- und Verkehrswesen geweckt. Die k.u.k. Monarchie wies eine schwache Außenhandelsbilanz auf und konnte mit Seemächten wie dem Vereinigten Königreich oder den Niederlanden nicht mithalten.
"Welthandel" war daher ein programmatischer Begriff, die Habsburger Monarchie beäugte neiderfüllt den Aufstieg, den das Deutsche Reich mit Hilfe von Handelsniederlassungen und dem Aufbau einer Flotte genommen hatte. Dieses erkannte Defizit begünstigte die Gründung neuer Ausbildungsstätten und Initiativen, an denen sich die Handels- und Gewerbekammer beteiligte.
Hier wirkten Angehörige bekannter Familien maßgeblich mit. Im k.k. Handelsmuseum war der Vater des berühmten Marketingexperten Peter Drucker tätig; der Autor des "Engels mit der Posaune" und spätere Regisseur, Ernst Lothar, widmete sich im k.k. Handelsministerium dem Ausbau einer wirtschaftsnahen Ausbildung.
Neben anderen ehemaligen Lehrern wie dem Exportakademiedirektor Anton Schmid nahm Josef Hellauer auch hier eine Pionierrolle ein. Nach Absolvierung der Handelsakademie bestand Hellauer nach einer vierjährigen Lehre als Bankkaufmann die Lehramtsprüfung für höhere Schulen 1894 und begann sogleich an der Handelsakademie Linz zu unterrichten. Damals waren die Türen für engagierte Lehrer offen, in den tertiären Bildungssektor vorzustoßen, wie auch die Karriere von Robert Musils Vater zeigte, der nach einigen Jahren in Steyr in Brünn an der Technischen Hochschule lehrte.
Hellauers Forschungstätigkeit begann 1897, als er gleichfalls in der mährischen Hauptstadt Brünn an der Handelsakademie lehrte. Die erste monographische Studie aus diesem Jahr behandelte "Die Preisparitäten des Warenhandels und die internationale Spekulation". Der Autor promovierte an der Universität Greifswald, seine Dissertation trug den auch für Juristen und Kriminologen interessanten Titel "Der Wucher - ein aktives Kreditverbrechen". Im Druck erschien diese Studie im Jahr 1898 in Linz im Verlag Mareis.
Diese Arbeiten und Zeitschriftenartikel, welche Hellauer verfasste, förderten seine Berufung an die 1898 gegründete Export-Akademie im k.k. Handelsmu-seum, die Vorläuferin der heutigen WU. Hellauers Aufstieg dokumentierte auch die gleichzeitige Ernennung zum Dozenten an der Konsularakademie Wien. 1912 folgte er dem Ruf an die Handelshochschule Berlin und 1921 einem weiteren Ruf an die Universität Frankfurt am Main. 1931 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Handelshochschule Berlin und 1936 der Hochschule für Welthandel, die damals noch nicht allzu lange das Promotionsrecht erworben hatte und einen ihrer Pioniere ehren wollte.
Mit 65 Jahren, also 1936, trat Hellauer in den Ruhestand, doch mit seiner Emeritierung beendete er noch lange nicht seine publizistische Laufbahn. Am 1. Juni 1956 verlieh ihm die Goethe-Universität in Frankfurt die Ehrendoktorwürde. Im selben Jahr erhielt er auch die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main, wo er dann 1956 auch verstarb. Hellauers Werke dienten der besseren regionalen Erfassung der Handelsplätze. Im Jahr 1921 erschienen zwei "weltwirtschaftliche" Sammelbände über China und über Argentinien. Beide Werke folgten einem ähnlichen Konzept und zeichneten Vorträge auf, welche Praktiker und Wissenschafter an den Handelshochschulen vorgetragen hatten. Der in Stuttgart tätige Max Wertheimer rezensierte den China-Band gemeinsam mit einem zweiten Werk eines Juristen namens F. W. Mohr über die Region, den er als "Insider" anerkannte.
Denn der Autor der "Gedanken zur neudeutschen Chinapolitik" hatte in japanischer Gefangenschaft gedarbt und in dieser Lage das Buch über die - auch auf Grundlage der Mentalität und psychologischer Faktoren - gebotene Handelspolitik in China verfasst. Die durch Kauf oder Pacht erworbenen chinesischen Handelsdrehscheiben gingen im Ersten Weltkrieg verloren und führten auch zum Kriegseintritt der Japaner auf Seiten der Entente. "Wer sich gut unterrichten will, findet in diesem Mohrschen Buch alles was er braucht, viel disziplinierter und organischer entwickelt als in dem Hellauerschen", lautete das gestrenge Werturteil des Rezensenten im (Kieler) Archiv für Weltwirtschaft (Bd. 19/1923, 119).
Theorie und Forschung
Zu dieser Zeit hatte die BWL vielfach deskriptiven Charakter; zudem wurden die Fähigkeiten, welche eine Handelshochschule zu vermitteln hatte, mehr als praxisrelevante Ausbildung denn als akademische Fundierung angesehen. Über die Vertiefung in der Theorie und die Frage forschungsgeleiteter Lehre gingen die Meinungen auseinander. Die Wiener Exportakademie sollte die "praktische Seite des kommerziellen Könnens pflegen und nicht vielleicht theoretisch gebildete Leute heranerziehen, die man erst dann in die praktische Schule nehmen müsste", so lautete die engstirnige Meinung eines Zeitgenossen.
Hellauer ist es mit zu verdanken, dass diese Sichtweise zu Gunsten einer forschungsgeleiteten Lehre aller Wirtschaftsdisziplinen überwunden wurde.
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Gerhard Strejcek
Vergessene Literatur
Wiener Zeitung, 20.11.2016
Der kaiserliche Musikmatrose
Bohuslav Kokoschka war der jüngere Bruder des berühmten Malers Oskar Kokoschka. Eine Neuauflage seines Romans "Ketten ins Meer" erinnert an diesen vielseitig begabten Grafiker, Musiker und Autor.
Oskar Kokoschkas Bruder Bohuslav musste im Herbst 1914 zur Kriegsmarine einrücken. Die Mutter war in Sorge, denn beide Brüder dienten nun ihrem obersten Kriegsherrn, dem greisen Kaiser Franz Joseph I. und seinen Generälen sowie Admirälen. Eine zeitgenössische Fotografie zeigt Oskar Kokoschka in der schmucken Uniform des Einjährig-Freiwilligen mit dem Tschako der k.u.k. Armee, dem Säbel und einem Orden an der hoch aufgeschlossenen Offiziersjacke; daneben lehnt der ebenso schlanke Bruder Bohuslav in seiner bescheidenen Matrosenmontur mit einem malignen Lächeln.
Dank der Protektion von Mentor Adolf Loos konnte Oskar, der Ältere, seinem Ego und Ansehen gemäß in ein vornehmes Kavallerieregiment eintreten; Bohuslav wurde hingegen, obwohl er keine musikalische Ausbildung hatte, als Musikmatrose eingezogen.
Vermutlich hoffte die Familie, dass die Kriegsflotte erst gar nicht aus dem Hafen in Pula auslaufen würde. Oskar Kokoschka hingegen kam an der galizischen Front zum Handkuss. Wie wir auch aus Heimito von Doderers Biografie wissen, war der Kriegseinsatz der österreichischen Kavallerie verlustreich und voller Enttäuschungen. Die Stockerauer und Breitenseeer 3er-Dragoner erwarteten sich Orden und Heldentaten, doch zumeist wurden ihre edlen Pferde gar nicht par force geritten, sondern als Zugtiere beschlagnahmt oder als Kanonenfutter bei sinnlosen Angriffen auf Schützengräben eingesetzt.
Der Roman als Logbuch
Erstmals erschien der Roman 1972 unter dem Titel "Das Logbuch des Bohuslav Kokoschka", den der Verleger gegen den Willen des Autors durchgesetzt hatte. Zweifellos sollte hier der Werbe-Effekt des berühmteren älteren Bruders genutzt werden, denn der Familienname ist selten, sodass sofort die zutreffende Assoziation beim Kunden entsteht. So weit die naheliegende Reklameversion.
Fairerweise muss aber gesagt werden, dass die Bezeichnung "Logbuch" das Genre dieses opus magnum durchaus treffend umschrieb. Hingegen weckt der Originaltitel Erinnerungen an expressionistische Werke wie "Tiere in Ketten" (Ernst Weiß), wo es um Prostitution und Menschenhandel geht.
In der Tat verbindet man Ketten eher mit Alcatraz oder dem Bundeswappen, russischen Strafprozessen oder Bärenfesseln als mit der Befestigung eines Ankers. Bohuslav, der Sturschädel, wollte indes nicht nur das Rasseln der Ankerwinde phonetisch in Erinnerung rufen, sondern metaphorisch die Befreiung von den Ketten anklingen lassen: "Ketten in das Meer! Wort Freiheit braus‘ in das Gehör, Lied steig’ auf zur Sonne", so zitiert der Kulturpublizist und Herausgeber Adolf Opel am Ende seines Nachworts die Meuterer von Cattaro, deren Elan Kokoschka angesteckt hat.
Bohuslav Kokoschka litt nicht nur unter dem Dunkelarrest der Marinezeit, sondern auch unter jenen der Demütigungen, die ihm 1939 die Gestapo für sein beharrliches Schweigen über den Aufenthaltsort des als "entartet" diffamierten Bruders zufügte. Dem Latrinenputzen in Wiener Kasernen konnte er sich während der NS-Herrschaft durch eine Einberufung zum ländlichen Arbeitsdienst entziehen, aber den fein gewobenen, familiären Banden nicht. Dazu trat die Last, welche ein begonnener, aber nicht vollendeter Roman bedeutet. Nachdem das bereits um 1916 begonnene Prosawerk vor rund fünfzig Jahren vollendet war, fristete es ein Schattendasein als Ladenhüter.
Bruder als Vormund
Die Bemühungen Oskar Kokoschkas um die Publikation des Romans waren symptomatisch für das diffizile Verhältnis der Geschwister zueinander. Frühzeitig übernahm der Erstgeborene statt Vater Gustav die Rolle des pater familias, kümmerte sich um die minderjährige Schwester Berta und um die Mutter, als deren Betreuer er den jüngeren Bruder bestimmte. Als die Mutter 1934 verstarb, äußerte sich Oskar höchst besorgt, was nun aus Bohuslav werden sollte.
Eines jedenfalls wollte er nicht: Dass der nunmehr von Verpflichtungen enthobene Bruder womöglich in seine Fußstapfen trat. Oskar hätte es gar nicht ins Karriere-Konzept gepasst, wenn auch ein Kokoschka II als Maler und Schriftsteller Furore gemacht hätte.
In ambivalenter Weise zeigt sich das brüderliche Verhältnis in den Briefen, die Adolf Opel im Nachwort zum Roman zitiert. Einerseits sind die Episteln als eine Abfolge von "väterlichen" Ratschlägen zu deuten. Andererseits tritt zwischen den Zeilen auch die exzentrisch-egomanische Art des älteren Bruders zutage. Aus dem Lazarett schrieb Oskar, selbst dem Tod nahe, rührende Briefe, dass sich das "Kind" (gemeint: Bohuslav) schonen sollte. Statt Kaffee und Zigaretten verpasste der fürsorgliche Oskar dem 25-jährigen warmen Kakao. Nach dem Kriegsende aber gab er Befehle, äußerte Unverständnis über die Ambitionen von Bohuslav, der seine eigenen Werke nach Vorbild OKs in der Galerie Miethke um 1920 ausstellte. Unbewusst presste er den Jüngeren in den familiären Glassturz, wo er möglichst l‘art pour l‘art betreiben und unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle bleiben sollte.
Geld floss indes reichlich nach Wien. In der Ersten Republik konnte "OK" dank künstlerischer Erfolge, die sich nach dem Krieg einstellten, finanziell aus dem Vollen schöpfen und für Mutter und Geschwister eine idyllische Bleibe im Ottakringer Liebharts- tal erwerben, während er selbst in Dresden und Prag wirkte.
Missglücktes Debüt
Als Gegenleistung für seine Großzügigkeit beanspruchte er eine solitäre Stellung als Künstler in der Familie, was nicht stets förderlich für den jüngeren, nicht minder begabten Autor und Grafiker Bohuslav war. Das Schreibtalent, die Originalität und die Gabe präziser, sparsam getexteter Schilderung kommen in der neu editierten, illustrierten Ausgabe des Kriegsromans aber deutlich zur Geltung.
Es handelte sich nicht um das erste Werk des Autors, denn schon um 1911 hatte sich Bohuslav als Neunzehnjähriger dem Ausklang seiner Jugend in einer extrem expressionistisch anmutenden Weise gewidmet. Das Erstlingswerk mit lyrischen Einsprengseln erschien mit einer Illustration des älteren Bruders (!) bei Kurt Wolff in München unter dem Titel "Adelina oder Der Abschied vom neunzehnten Lebensjahr" und firmierte neutral als Sammlung von "Aufzeichnungen". Die Textprobe Opels zeigt, dass es sich um eine Jugendsünde handelte, die Wolff vermutlich hinsichtlich der handwerklichen Qualität und Tiefe überschätzt hatte.
Ganz anders hingegen sind die "Ketten" einzustufen, welche originell in eine Rahmenhandlung über südslawische Mädchen, die das Manuskript finden, eigebettet sind. Voller Selbstironie und Schreibeslust schildert Bohuslav seine Nicht-Karriere bei der Marine. Normalerweise war mit der Zugehörigkeit zum Militär bei allen Nachteilen ein sozialer Aufstieg verbunden, sofern der Rang passte. Das galt für Oskar, nicht aber für Bohuslav Kokoschka, der sich weder als Geiger noch als Marinesoldat entfalten konnte. Dafür unterhielt er seine Kameraden und Vorgesetzten mit Parodien und labial (= mit den Lippen) nachgeahmten Tuba-Einsätzen prächtig, womit er sich auch die eine oder andere Strafe und Zurechtweisung einhandelte.
Anpassungsfähigkeit war nicht seine Stärke, ihm saß stets der Schalk im Nacken. Sehr amüsant sind die Geschichten rund um das Mützenband, das man schnell aus der Matrosenbedeckung ziehen und durch ein anderes ersetzen konnte; auf diese Art entstand ein schneller Identitätswechsel, mitunter auch die unzulässige Selbst-Beförderung zu einem Mitglied einer Linienschiff- oder Kreuzer-Besatzung.
Einmal trieb es Bohuslav zu weit: Er nahm zwecks Ausgang aus der Kaserne das Band eines U-Bootmatrosen und scheiterte an der Torwache. Denn S.M. U. (Seiner Majestät Untersee-Boot) war wie viele Leidgenossen zur See längst gesunken, das Band nur mehr eine Art Kranzschleife, die der Kantinebetreiber aufgehoben hatte. "Da ist einer von den Toten auferstanden", meinte der Wachsoldat trocken, nahm Bohuslav das Band weg und expedierte ihn in den Arrest. Das ist nur eine von vielen Episoden, welche nicht nur Marine-Enthusiasten gefallen werden.
Untergangsritual
Bohuslav Kokoschka hat selbst neben Gedichten und Prosa auch Lieder geschrieben, in Opels Nachwort finden sich Beispiele für Kompositionen. Für ihn hatte die Militärmusik - ähnlich wie für Joseph Roth - eine symbolische Bedeutung als eine Art Untergangsritual für Kakanien. Das Ende der Habsburger Monarchie, diese "fröhliche Apokalypse", die in einer "Versuchsstation des Weltuntergangs" stattfand, sollte wenigstens standesgemäß musikalisch begleitet werden. Tradi- tion statt Evolution, so das morbide Motto.
Bohuslav Kokoschka verstarb im Jänner 1976 zwei Monate nach seinem 83. Geburtstag. Obwohl er ein durchaus respektables Alter erreicht hatte, war Oskar schockiert, dass der jüngere Bruder vor ihm gegangen war; trotz seiner Kriegsverletzung und eines mitunter exzessiven Lebens überlebte der bekannte Kokoschka den unbekannten jüngeren um vier Jahre. Bohuslav hätte im Kielwasser OKs leichter vorankommen können, aber er wählte den schwierigeren Weg der Profilierung trotz des unterbewussten, brüderlichen Störfeuers.
Er hätte sich gefreut, wenn er diese liebevolle Edition samt seiner Originalgrafik am Einband gesehen hätte. Gut, dass ihn die Edition Atelier und Adolf Opel wieder ans Licht der Öffentlichkeit gebracht haben.
Literatur
Bohuslav Kokoschka: Ketten ins Meer.
Roman. Nachwort von Adolf Opel.
Edition Atelier, Wien 2016
341 Seiten
25.- Euro
Das Buch wird am 6. Dezember um 19.00 Uhr in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Herrengasse 5,1010 Wien, präsentiert.
Bohuslav Kokoschka war der jüngere Bruder des berühmten Malers Oskar Kokoschka. Eine Neuauflage seines Romans "Ketten ins Meer" erinnert an diesen vielseitig begabten Grafiker, Musiker und Autor.
Oskar Kokoschkas Bruder Bohuslav musste im Herbst 1914 zur Kriegsmarine einrücken. Die Mutter war in Sorge, denn beide Brüder dienten nun ihrem obersten Kriegsherrn, dem greisen Kaiser Franz Joseph I. und seinen Generälen sowie Admirälen. Eine zeitgenössische Fotografie zeigt Oskar Kokoschka in der schmucken Uniform des Einjährig-Freiwilligen mit dem Tschako der k.u.k. Armee, dem Säbel und einem Orden an der hoch aufgeschlossenen Offiziersjacke; daneben lehnt der ebenso schlanke Bruder Bohuslav in seiner bescheidenen Matrosenmontur mit einem malignen Lächeln.
Dank der Protektion von Mentor Adolf Loos konnte Oskar, der Ältere, seinem Ego und Ansehen gemäß in ein vornehmes Kavallerieregiment eintreten; Bohuslav wurde hingegen, obwohl er keine musikalische Ausbildung hatte, als Musikmatrose eingezogen.
Vermutlich hoffte die Familie, dass die Kriegsflotte erst gar nicht aus dem Hafen in Pula auslaufen würde. Oskar Kokoschka hingegen kam an der galizischen Front zum Handkuss. Wie wir auch aus Heimito von Doderers Biografie wissen, war der Kriegseinsatz der österreichischen Kavallerie verlustreich und voller Enttäuschungen. Die Stockerauer und Breitenseeer 3er-Dragoner erwarteten sich Orden und Heldentaten, doch zumeist wurden ihre edlen Pferde gar nicht par force geritten, sondern als Zugtiere beschlagnahmt oder als Kanonenfutter bei sinnlosen Angriffen auf Schützengräben eingesetzt.
Der Roman als Logbuch
Erstmals erschien der Roman 1972 unter dem Titel "Das Logbuch des Bohuslav Kokoschka", den der Verleger gegen den Willen des Autors durchgesetzt hatte. Zweifellos sollte hier der Werbe-Effekt des berühmteren älteren Bruders genutzt werden, denn der Familienname ist selten, sodass sofort die zutreffende Assoziation beim Kunden entsteht. So weit die naheliegende Reklameversion.
Fairerweise muss aber gesagt werden, dass die Bezeichnung "Logbuch" das Genre dieses opus magnum durchaus treffend umschrieb. Hingegen weckt der Originaltitel Erinnerungen an expressionistische Werke wie "Tiere in Ketten" (Ernst Weiß), wo es um Prostitution und Menschenhandel geht.
In der Tat verbindet man Ketten eher mit Alcatraz oder dem Bundeswappen, russischen Strafprozessen oder Bärenfesseln als mit der Befestigung eines Ankers. Bohuslav, der Sturschädel, wollte indes nicht nur das Rasseln der Ankerwinde phonetisch in Erinnerung rufen, sondern metaphorisch die Befreiung von den Ketten anklingen lassen: "Ketten in das Meer! Wort Freiheit braus‘ in das Gehör, Lied steig’ auf zur Sonne", so zitiert der Kulturpublizist und Herausgeber Adolf Opel am Ende seines Nachworts die Meuterer von Cattaro, deren Elan Kokoschka angesteckt hat.
Bohuslav Kokoschka litt nicht nur unter dem Dunkelarrest der Marinezeit, sondern auch unter jenen der Demütigungen, die ihm 1939 die Gestapo für sein beharrliches Schweigen über den Aufenthaltsort des als "entartet" diffamierten Bruders zufügte. Dem Latrinenputzen in Wiener Kasernen konnte er sich während der NS-Herrschaft durch eine Einberufung zum ländlichen Arbeitsdienst entziehen, aber den fein gewobenen, familiären Banden nicht. Dazu trat die Last, welche ein begonnener, aber nicht vollendeter Roman bedeutet. Nachdem das bereits um 1916 begonnene Prosawerk vor rund fünfzig Jahren vollendet war, fristete es ein Schattendasein als Ladenhüter.
Bruder als Vormund
Die Bemühungen Oskar Kokoschkas um die Publikation des Romans waren symptomatisch für das diffizile Verhältnis der Geschwister zueinander. Frühzeitig übernahm der Erstgeborene statt Vater Gustav die Rolle des pater familias, kümmerte sich um die minderjährige Schwester Berta und um die Mutter, als deren Betreuer er den jüngeren Bruder bestimmte. Als die Mutter 1934 verstarb, äußerte sich Oskar höchst besorgt, was nun aus Bohuslav werden sollte.
Eines jedenfalls wollte er nicht: Dass der nunmehr von Verpflichtungen enthobene Bruder womöglich in seine Fußstapfen trat. Oskar hätte es gar nicht ins Karriere-Konzept gepasst, wenn auch ein Kokoschka II als Maler und Schriftsteller Furore gemacht hätte.
In ambivalenter Weise zeigt sich das brüderliche Verhältnis in den Briefen, die Adolf Opel im Nachwort zum Roman zitiert. Einerseits sind die Episteln als eine Abfolge von "väterlichen" Ratschlägen zu deuten. Andererseits tritt zwischen den Zeilen auch die exzentrisch-egomanische Art des älteren Bruders zutage. Aus dem Lazarett schrieb Oskar, selbst dem Tod nahe, rührende Briefe, dass sich das "Kind" (gemeint: Bohuslav) schonen sollte. Statt Kaffee und Zigaretten verpasste der fürsorgliche Oskar dem 25-jährigen warmen Kakao. Nach dem Kriegsende aber gab er Befehle, äußerte Unverständnis über die Ambitionen von Bohuslav, der seine eigenen Werke nach Vorbild OKs in der Galerie Miethke um 1920 ausstellte. Unbewusst presste er den Jüngeren in den familiären Glassturz, wo er möglichst l‘art pour l‘art betreiben und unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle bleiben sollte.
Geld floss indes reichlich nach Wien. In der Ersten Republik konnte "OK" dank künstlerischer Erfolge, die sich nach dem Krieg einstellten, finanziell aus dem Vollen schöpfen und für Mutter und Geschwister eine idyllische Bleibe im Ottakringer Liebharts- tal erwerben, während er selbst in Dresden und Prag wirkte.
Missglücktes Debüt
Als Gegenleistung für seine Großzügigkeit beanspruchte er eine solitäre Stellung als Künstler in der Familie, was nicht stets förderlich für den jüngeren, nicht minder begabten Autor und Grafiker Bohuslav war. Das Schreibtalent, die Originalität und die Gabe präziser, sparsam getexteter Schilderung kommen in der neu editierten, illustrierten Ausgabe des Kriegsromans aber deutlich zur Geltung.
Es handelte sich nicht um das erste Werk des Autors, denn schon um 1911 hatte sich Bohuslav als Neunzehnjähriger dem Ausklang seiner Jugend in einer extrem expressionistisch anmutenden Weise gewidmet. Das Erstlingswerk mit lyrischen Einsprengseln erschien mit einer Illustration des älteren Bruders (!) bei Kurt Wolff in München unter dem Titel "Adelina oder Der Abschied vom neunzehnten Lebensjahr" und firmierte neutral als Sammlung von "Aufzeichnungen". Die Textprobe Opels zeigt, dass es sich um eine Jugendsünde handelte, die Wolff vermutlich hinsichtlich der handwerklichen Qualität und Tiefe überschätzt hatte.
Ganz anders hingegen sind die "Ketten" einzustufen, welche originell in eine Rahmenhandlung über südslawische Mädchen, die das Manuskript finden, eigebettet sind. Voller Selbstironie und Schreibeslust schildert Bohuslav seine Nicht-Karriere bei der Marine. Normalerweise war mit der Zugehörigkeit zum Militär bei allen Nachteilen ein sozialer Aufstieg verbunden, sofern der Rang passte. Das galt für Oskar, nicht aber für Bohuslav Kokoschka, der sich weder als Geiger noch als Marinesoldat entfalten konnte. Dafür unterhielt er seine Kameraden und Vorgesetzten mit Parodien und labial (= mit den Lippen) nachgeahmten Tuba-Einsätzen prächtig, womit er sich auch die eine oder andere Strafe und Zurechtweisung einhandelte.
Anpassungsfähigkeit war nicht seine Stärke, ihm saß stets der Schalk im Nacken. Sehr amüsant sind die Geschichten rund um das Mützenband, das man schnell aus der Matrosenbedeckung ziehen und durch ein anderes ersetzen konnte; auf diese Art entstand ein schneller Identitätswechsel, mitunter auch die unzulässige Selbst-Beförderung zu einem Mitglied einer Linienschiff- oder Kreuzer-Besatzung.
Einmal trieb es Bohuslav zu weit: Er nahm zwecks Ausgang aus der Kaserne das Band eines U-Bootmatrosen und scheiterte an der Torwache. Denn S.M. U. (Seiner Majestät Untersee-Boot) war wie viele Leidgenossen zur See längst gesunken, das Band nur mehr eine Art Kranzschleife, die der Kantinebetreiber aufgehoben hatte. "Da ist einer von den Toten auferstanden", meinte der Wachsoldat trocken, nahm Bohuslav das Band weg und expedierte ihn in den Arrest. Das ist nur eine von vielen Episoden, welche nicht nur Marine-Enthusiasten gefallen werden.
Untergangsritual
Bohuslav Kokoschka hat selbst neben Gedichten und Prosa auch Lieder geschrieben, in Opels Nachwort finden sich Beispiele für Kompositionen. Für ihn hatte die Militärmusik - ähnlich wie für Joseph Roth - eine symbolische Bedeutung als eine Art Untergangsritual für Kakanien. Das Ende der Habsburger Monarchie, diese "fröhliche Apokalypse", die in einer "Versuchsstation des Weltuntergangs" stattfand, sollte wenigstens standesgemäß musikalisch begleitet werden. Tradi- tion statt Evolution, so das morbide Motto.
Bohuslav Kokoschka verstarb im Jänner 1976 zwei Monate nach seinem 83. Geburtstag. Obwohl er ein durchaus respektables Alter erreicht hatte, war Oskar schockiert, dass der jüngere Bruder vor ihm gegangen war; trotz seiner Kriegsverletzung und eines mitunter exzessiven Lebens überlebte der bekannte Kokoschka den unbekannten jüngeren um vier Jahre. Bohuslav hätte im Kielwasser OKs leichter vorankommen können, aber er wählte den schwierigeren Weg der Profilierung trotz des unterbewussten, brüderlichen Störfeuers.
Er hätte sich gefreut, wenn er diese liebevolle Edition samt seiner Originalgrafik am Einband gesehen hätte. Gut, dass ihn die Edition Atelier und Adolf Opel wieder ans Licht der Öffentlichkeit gebracht haben.
Literatur
Bohuslav Kokoschka: Ketten ins Meer.
Roman. Nachwort von Adolf Opel.
Edition Atelier, Wien 2016
341 Seiten
25.- Euro
Das Buch wird am 6. Dezember um 19.00 Uhr in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Herrengasse 5,1010 Wien, präsentiert.
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weitere Informationen...
Gerhard Strejcek
Ein Pazifist als Mörder
Wiener Zeitung, 21.10.2016
Am 21. Oktober 1916 wurde der österreichische Ministerpräsident Karl von Stürkgh erschossen. Sein Mörder, der Sozialist Friedrich Adler, wurde nach kurzer Haft begnadigt.
Reichsgraf Karl von Stürgkh, seit dem Jahr 1911 Ministerpräsident der "österreichischen" (cisleithanischen) Reichshälfte, hatte soeben ein spätes Mittagsmahl vollendet und trank noch einen Likör mit zwei Herren. An den spärlich besetzten Nebentischen im Restaurant des Hotels Meißl & Schadn am Neuen Markt saßen Offiziere, am Tisch des Politikers befand sich ein Bruder des 1912 verstorbenen Außenministers Baron Aloys Lexa von Aehrenthal.
Alles schien im Lot, doch da erhob sich hinter einem Beistelltisch plötzlich ein juvenil wirkender Mann mit dichtem Haar und einem üppigen Schnurrbart. Es war Dr. Friedrich Adler, der seit zwei Stunden auf diesen Moment gewartet hatte. Nach einer schier endlosen Wartezeit zückte er eine automatische Browning und drückte ab.
Der 37-jährige Physiker und Parteisekretär der SDAP hat vier Schüsse auf den Ministerpräsidenten abgefeuert. Stürgkh starb noch am Tatort, am Teppich entstand eine riesige Blutlache. Kellner und entsetzte Gäste umringten den Mörder, der jedoch nach einem weiteren Schuss unbehelligt das Hotel verlassen konnte.
Politische Motive
Die Tat eines Fanatikers - so lautete die simple Beurteilung des Attentates im Strafurteil vom 19. Mai 1917, mit dem ein Ausnahmegericht von sechs Berufsrichtern die Todesstrafe über den Täter verhängte. Die Umstände der politisch motivierten Bluttat waren indes komplizierter, als es auf den ersten Blick schien. Der Attentäter, dessen Vater Victor als Arzt sowie Gründer und Chef der Sozialdemokraten bekannt und beliebt war, galt als nervös, aber fleißig und begabt. Als Physiker hatte er in Zürich gewirkt, war aber nach Wien zurückgekehrt. Er verrichtete als Sekretär im "roten" Parteigebäude in Margareten seinen Dienst oberhalb der "Vorwärts"-Druckerei und unweit der Redaktion der "Arbeiter Zeitung" (AZ). Er sah dem Vater ähnlich, weshalb seine Identifikation keine Probleme bereitete.
Im Zuge der ersten Einvernahmen durch Polizeipräsident Baron Gorup gab Adler zu Protokoll, dass er das Attentat mehr als ein Jahr geplant hatte. Er blieb auch bei der Hauptverhandlung im Prozess am 18. Mai 1917 vor dem Wiener Straflandesgericht bei dieser Aussage. Die Waffe hatte er mit Bedacht in Zürich gekauft und dort bereits kurz ausprobiert.
Aber was war das eigentliche Motiv dieses Attentats, das er selbst als "Akt des Terrors" einstufte? Adlers Rechtfertigung erschien widersprüchlich, denn seine Haltung war streng pazifistisch. Die autoritäre und demokratiefeindliche Haltung Stürgkhs, der eine Wiedereinberufung des Parlaments mit allen Mitteln verhinderte, hatte den in-trovertierten Adler empört, mehr aber noch die willfährige Haltung der Parteifunktionäre der Sozialdemokratie. Soweit Adlers Version, der als unmittelbaren Auslöser der Tat das Verbot einer Versammlung angab, mit dem Stürgkh das Zusammentreten des Reichsrates verhindern wollte.
Ganz anders sahen dies die Ärzte, allen voran der eigene Vater: Dr. med. univ. Victor Adler hatte lang genug selbst ordiniert, um den Auslöser der Gewalttat in der Psyche seines Sohns zu vermuten. In der erhaltenen und in dem neuen Buch von Maier und Spitaler (vgl. Literaturhinweis) abgedruckten Korrespondenz aus der U-Haft zeigt sich Friedrich unnahbar gegenüber den Bemühungen, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Adler senior hatte sogar Dr. Freud bemüht, der die Ordination in der Berggasse von ihm übernommen hatte. Die Gerichtsgutachter attestierten Friedrich Adler ein pathologisches, erbbedingtes Nervenleiden und wollten einen ungewöhnlichen Erregungszustand bei ihm wahrgenommen haben. Noch in der U-Haft hatte er, der mit Albert Einstein bekannt war, bahnbrechende Entdeckungen angekündigt und das spärliche Papier für wissenschaftliche Aufzeichnungen verwendet, statt sich auf den Prozess vorzubereiten.
Dennoch brillierte Adler vor den Richtern, dem Staatsanwalt, seinem Verteidiger Gustav Harp- ner und Zuhörern, denn Geschworene gab es vor dem Ausnahmegericht keine. Adler machte sich vom Angeklagten zum Ankläger der Partei, der keinen verschonte. Vor dem Gericht brandmarkte er Engelbert Pernerstorfers deutschnationale Haltung. Karl Renner schien ihm den Blick auf die internationale Ausrichtung der Arbeiterbewegung verloren zu haben. Häufig hatte es Streit bei Sitzungen gegeben, auch Friedrich Austerlitz war mit Adler auf sachlicher Ebene oft in Auseinandersetzungen verwickelt, mochte den engagierten Wissenschafter aber persönlich sehr.
Austerlitz vermutete in seiner Zeugenaussage, dass die Stimmung bei Adler nach einer internen Debatte zwei Tage vor dem Mord gekippt sei. Adler gestand auch selbst, in der Woche vor der Tat besonders deprimiert gewesen zu sein. Den Ausschlag für die Tatausführung aber gab das Versammlungsverbot, wie auch Zeitzeugen, darunter der Abgeordnete und Staatsrechts-Professor Josef Redlich, am Tag nach der Tat richtig vermutet hatten.
Das unbeliebte Opfer
Erstaunlich wenig Empathie wurde dem Opfer entgegen gebracht. Stürgkh war unbeliebt, da er autoritär mittels Notverordnungen regierte, Nahrungsmittel rationierte, die Grundrechte aussetzte und die Wiedereinberufung des Abgeordnetenhauses blockierte. Das Verbot brachte das Fass zum Überlaufen.
Aber nicht Stürghks Tod, sondern das Ableben des Kaisers am 22. November löste die Rückkehr zum Parlamentarismus aus, der allerdings im Sommer 1917 in alter Uneinigkeit und Obstruktion wieder auflebte. Dennoch hatte Adlers Tat zumindest als Katalysator gewirkt, der die gemäßigten Kräfte rund um Kaiser Karl I. überzeugte, dass es ohne Parlament keine Rückkehr zur Normalität geben konnte. Nach einem kurzen Intermezzo der Regierung Koerber (30. 11. 1916 bis 23. 12. 1916) ernannte der junge Kaiser Heinrich Clam-Martinic zum neuen Regierungschef - und im Mai des Folgejahres war es dann soweit: Karl I. erneuerte die Man-date der verbliebenen Abgeordneten, wenn auch ohne Wahlen, was eineinhalb Jahre später für die Legitimität der Republikgründer Deutschösterreichs eine Rolle spielen sollte. Immerhin konnten sich die Mitglieder der Provisorischen Nationalversammlung auf die Reichstagswahlen 1911 stützen, aber dieses Ereignis lag im November 1918 schon lange zurück. Doch die ersten republikanischen Wahlen (der konstituierenden Nationalversammlung) am 16. 2. 1919 lösten dieses Problem.
Was aber geschah mit dem Mörder, dem das Ausnahmegericht unter dem Vorsitzenden Vizepräsidenten und Landesgerichtsrat von Heidt einen fairen Prozess machte? Friedrich Adler wurde trotz Todesstrafe, die unweigerlich bei einem Mord drohte, nicht hingerichtet. Sein Abgang war fulminant. Am Tag der Urteilsverkündung (19. 5. 1917) mussten die Justizbeamten den Saal räumen lassen, vor dem Landesgericht kam es zu Tumulten und einer Verhaftungswelle. Die Zuhörer hatten Adler beim Prozess Beifall gezollt und die "Internationale" angestimmt. Nach einer erfolglosen Nichtigkeitsbeschwerde des Anwalts Harpner und einem Begnadigungsakt des Kaisers Karl I. wurde die Todesstrafe vom Obersten Gerichtshof in eine 18-jährige Kerkerstrafe umgewandelt, Adler als "Politischer" in die Strafanstalt Stein bei Krems verlegt.
Am Ende seiner kurzen Herrschaftsepoche erwies Karl I. dem Sohn des von ihm geschätzten Victor Adler sogar die für einen Attentäter höchst seltene, aber durch die Niederlage im Krieg und die notwendige Kooperation mit der SDAP begründete Gunst der Begnadigung und Freilassung aus dem Gefängnis. Die Amnestie kam auch anderen politisch motivierten Straftätern zugute, darunter auch Kommunisten. Was danach folgte, ist bekannt und wird anlässlich des Republikjubiläums im November 2018 vielfach aufgearbeitet werden.
Epilog
Dass die bis zum Adels-Verbot 1919 aristokratische Familie Stürgkh auch in der Zweiten Republik Akzente setzte, wissen wir dank des langjährigen Opernball-Engagements von Desirée Treichl-Stürgkh, die laut autobiographischen Anmerkungen aus einem einstmals verarmten Familienzweig des Reichsgrafen Karl stammt. Aber auch schon 1954 wurde der Nationalratsabgeordnete Berthold Stürgkh Präsident der damals neu gegründeten "Interparlamentarischen Union".
Zwei Jahre davor hatte sich Friedrich Adler per Flugzeug aus der Schweiz nach Wien-Schwechat begeben, um den 100. Geburtstag seines Vaters zu feiern. Ein Zollbeamter und ein erstaunt wirkender Polizeibeamter in Zivil nahmen ihn in Empfang. Der Augenblick, in dem der einst zum Tode verurteilte Attentäter der Obrigkeit der Zweiten Republik begegnete, wurde in einer Schwarzweiß-Aufnahme verewigt.
Sowohl dieses einzigartige Foto als auch die gesamten Prozessakten, die Aufschluss über die politischen Zustände der Jahre 1916/17 geben, sind in der bereits erwähnten, verdienstvollen Studie von Michaela Maier und Georg Spitaler abgedruckt. Ein einleitender Essay beleuchtet die Umstände des Mordes und des Schauprozesses im Lichte ideologischer, familiärer und ödipaler Aspekte.
Literaturhinweise:
Friedrich Adler: Vor dem Ausnahmegericht. Das Attentat gegen den Ersten Weltkrieg.
Hrsgg. von Michaela Maier und Georg Spitaler, Promedia Verlag
Wien 2016.
Ilse Reiter-Zatloukal: Gustav Harpner (18641924), in Gerhard Strejcek (Hrsg.): Gelebtes Recht. 29 Juristenporträts
Österreichische Verlagsgesellschaft/Stämpfli
Wien/Zürich 2012
S. 103125.
Reinhard Pohanka: Attentate in Österreich.
Styria Verlag
Graz/Wien 2001
S. 7788.
Reichsgraf Karl von Stürgkh, seit dem Jahr 1911 Ministerpräsident der "österreichischen" (cisleithanischen) Reichshälfte, hatte soeben ein spätes Mittagsmahl vollendet und trank noch einen Likör mit zwei Herren. An den spärlich besetzten Nebentischen im Restaurant des Hotels Meißl & Schadn am Neuen Markt saßen Offiziere, am Tisch des Politikers befand sich ein Bruder des 1912 verstorbenen Außenministers Baron Aloys Lexa von Aehrenthal.
Alles schien im Lot, doch da erhob sich hinter einem Beistelltisch plötzlich ein juvenil wirkender Mann mit dichtem Haar und einem üppigen Schnurrbart. Es war Dr. Friedrich Adler, der seit zwei Stunden auf diesen Moment gewartet hatte. Nach einer schier endlosen Wartezeit zückte er eine automatische Browning und drückte ab.
Der 37-jährige Physiker und Parteisekretär der SDAP hat vier Schüsse auf den Ministerpräsidenten abgefeuert. Stürgkh starb noch am Tatort, am Teppich entstand eine riesige Blutlache. Kellner und entsetzte Gäste umringten den Mörder, der jedoch nach einem weiteren Schuss unbehelligt das Hotel verlassen konnte.
Politische Motive
Die Tat eines Fanatikers - so lautete die simple Beurteilung des Attentates im Strafurteil vom 19. Mai 1917, mit dem ein Ausnahmegericht von sechs Berufsrichtern die Todesstrafe über den Täter verhängte. Die Umstände der politisch motivierten Bluttat waren indes komplizierter, als es auf den ersten Blick schien. Der Attentäter, dessen Vater Victor als Arzt sowie Gründer und Chef der Sozialdemokraten bekannt und beliebt war, galt als nervös, aber fleißig und begabt. Als Physiker hatte er in Zürich gewirkt, war aber nach Wien zurückgekehrt. Er verrichtete als Sekretär im "roten" Parteigebäude in Margareten seinen Dienst oberhalb der "Vorwärts"-Druckerei und unweit der Redaktion der "Arbeiter Zeitung" (AZ). Er sah dem Vater ähnlich, weshalb seine Identifikation keine Probleme bereitete.
Im Zuge der ersten Einvernahmen durch Polizeipräsident Baron Gorup gab Adler zu Protokoll, dass er das Attentat mehr als ein Jahr geplant hatte. Er blieb auch bei der Hauptverhandlung im Prozess am 18. Mai 1917 vor dem Wiener Straflandesgericht bei dieser Aussage. Die Waffe hatte er mit Bedacht in Zürich gekauft und dort bereits kurz ausprobiert.
Aber was war das eigentliche Motiv dieses Attentats, das er selbst als "Akt des Terrors" einstufte? Adlers Rechtfertigung erschien widersprüchlich, denn seine Haltung war streng pazifistisch. Die autoritäre und demokratiefeindliche Haltung Stürgkhs, der eine Wiedereinberufung des Parlaments mit allen Mitteln verhinderte, hatte den in-trovertierten Adler empört, mehr aber noch die willfährige Haltung der Parteifunktionäre der Sozialdemokratie. Soweit Adlers Version, der als unmittelbaren Auslöser der Tat das Verbot einer Versammlung angab, mit dem Stürgkh das Zusammentreten des Reichsrates verhindern wollte.
Ganz anders sahen dies die Ärzte, allen voran der eigene Vater: Dr. med. univ. Victor Adler hatte lang genug selbst ordiniert, um den Auslöser der Gewalttat in der Psyche seines Sohns zu vermuten. In der erhaltenen und in dem neuen Buch von Maier und Spitaler (vgl. Literaturhinweis) abgedruckten Korrespondenz aus der U-Haft zeigt sich Friedrich unnahbar gegenüber den Bemühungen, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Adler senior hatte sogar Dr. Freud bemüht, der die Ordination in der Berggasse von ihm übernommen hatte. Die Gerichtsgutachter attestierten Friedrich Adler ein pathologisches, erbbedingtes Nervenleiden und wollten einen ungewöhnlichen Erregungszustand bei ihm wahrgenommen haben. Noch in der U-Haft hatte er, der mit Albert Einstein bekannt war, bahnbrechende Entdeckungen angekündigt und das spärliche Papier für wissenschaftliche Aufzeichnungen verwendet, statt sich auf den Prozess vorzubereiten.
Dennoch brillierte Adler vor den Richtern, dem Staatsanwalt, seinem Verteidiger Gustav Harp- ner und Zuhörern, denn Geschworene gab es vor dem Ausnahmegericht keine. Adler machte sich vom Angeklagten zum Ankläger der Partei, der keinen verschonte. Vor dem Gericht brandmarkte er Engelbert Pernerstorfers deutschnationale Haltung. Karl Renner schien ihm den Blick auf die internationale Ausrichtung der Arbeiterbewegung verloren zu haben. Häufig hatte es Streit bei Sitzungen gegeben, auch Friedrich Austerlitz war mit Adler auf sachlicher Ebene oft in Auseinandersetzungen verwickelt, mochte den engagierten Wissenschafter aber persönlich sehr.
Austerlitz vermutete in seiner Zeugenaussage, dass die Stimmung bei Adler nach einer internen Debatte zwei Tage vor dem Mord gekippt sei. Adler gestand auch selbst, in der Woche vor der Tat besonders deprimiert gewesen zu sein. Den Ausschlag für die Tatausführung aber gab das Versammlungsverbot, wie auch Zeitzeugen, darunter der Abgeordnete und Staatsrechts-Professor Josef Redlich, am Tag nach der Tat richtig vermutet hatten.
Das unbeliebte Opfer
Erstaunlich wenig Empathie wurde dem Opfer entgegen gebracht. Stürgkh war unbeliebt, da er autoritär mittels Notverordnungen regierte, Nahrungsmittel rationierte, die Grundrechte aussetzte und die Wiedereinberufung des Abgeordnetenhauses blockierte. Das Verbot brachte das Fass zum Überlaufen.
Aber nicht Stürghks Tod, sondern das Ableben des Kaisers am 22. November löste die Rückkehr zum Parlamentarismus aus, der allerdings im Sommer 1917 in alter Uneinigkeit und Obstruktion wieder auflebte. Dennoch hatte Adlers Tat zumindest als Katalysator gewirkt, der die gemäßigten Kräfte rund um Kaiser Karl I. überzeugte, dass es ohne Parlament keine Rückkehr zur Normalität geben konnte. Nach einem kurzen Intermezzo der Regierung Koerber (30. 11. 1916 bis 23. 12. 1916) ernannte der junge Kaiser Heinrich Clam-Martinic zum neuen Regierungschef - und im Mai des Folgejahres war es dann soweit: Karl I. erneuerte die Man-date der verbliebenen Abgeordneten, wenn auch ohne Wahlen, was eineinhalb Jahre später für die Legitimität der Republikgründer Deutschösterreichs eine Rolle spielen sollte. Immerhin konnten sich die Mitglieder der Provisorischen Nationalversammlung auf die Reichstagswahlen 1911 stützen, aber dieses Ereignis lag im November 1918 schon lange zurück. Doch die ersten republikanischen Wahlen (der konstituierenden Nationalversammlung) am 16. 2. 1919 lösten dieses Problem.
Was aber geschah mit dem Mörder, dem das Ausnahmegericht unter dem Vorsitzenden Vizepräsidenten und Landesgerichtsrat von Heidt einen fairen Prozess machte? Friedrich Adler wurde trotz Todesstrafe, die unweigerlich bei einem Mord drohte, nicht hingerichtet. Sein Abgang war fulminant. Am Tag der Urteilsverkündung (19. 5. 1917) mussten die Justizbeamten den Saal räumen lassen, vor dem Landesgericht kam es zu Tumulten und einer Verhaftungswelle. Die Zuhörer hatten Adler beim Prozess Beifall gezollt und die "Internationale" angestimmt. Nach einer erfolglosen Nichtigkeitsbeschwerde des Anwalts Harpner und einem Begnadigungsakt des Kaisers Karl I. wurde die Todesstrafe vom Obersten Gerichtshof in eine 18-jährige Kerkerstrafe umgewandelt, Adler als "Politischer" in die Strafanstalt Stein bei Krems verlegt.
Am Ende seiner kurzen Herrschaftsepoche erwies Karl I. dem Sohn des von ihm geschätzten Victor Adler sogar die für einen Attentäter höchst seltene, aber durch die Niederlage im Krieg und die notwendige Kooperation mit der SDAP begründete Gunst der Begnadigung und Freilassung aus dem Gefängnis. Die Amnestie kam auch anderen politisch motivierten Straftätern zugute, darunter auch Kommunisten. Was danach folgte, ist bekannt und wird anlässlich des Republikjubiläums im November 2018 vielfach aufgearbeitet werden.
Epilog
Dass die bis zum Adels-Verbot 1919 aristokratische Familie Stürgkh auch in der Zweiten Republik Akzente setzte, wissen wir dank des langjährigen Opernball-Engagements von Desirée Treichl-Stürgkh, die laut autobiographischen Anmerkungen aus einem einstmals verarmten Familienzweig des Reichsgrafen Karl stammt. Aber auch schon 1954 wurde der Nationalratsabgeordnete Berthold Stürgkh Präsident der damals neu gegründeten "Interparlamentarischen Union".
Zwei Jahre davor hatte sich Friedrich Adler per Flugzeug aus der Schweiz nach Wien-Schwechat begeben, um den 100. Geburtstag seines Vaters zu feiern. Ein Zollbeamter und ein erstaunt wirkender Polizeibeamter in Zivil nahmen ihn in Empfang. Der Augenblick, in dem der einst zum Tode verurteilte Attentäter der Obrigkeit der Zweiten Republik begegnete, wurde in einer Schwarzweiß-Aufnahme verewigt.
Sowohl dieses einzigartige Foto als auch die gesamten Prozessakten, die Aufschluss über die politischen Zustände der Jahre 1916/17 geben, sind in der bereits erwähnten, verdienstvollen Studie von Michaela Maier und Georg Spitaler abgedruckt. Ein einleitender Essay beleuchtet die Umstände des Mordes und des Schauprozesses im Lichte ideologischer, familiärer und ödipaler Aspekte.
Literaturhinweise:
Friedrich Adler: Vor dem Ausnahmegericht. Das Attentat gegen den Ersten Weltkrieg.
Hrsgg. von Michaela Maier und Georg Spitaler, Promedia Verlag
Wien 2016.
Ilse Reiter-Zatloukal: Gustav Harpner (18641924), in Gerhard Strejcek (Hrsg.): Gelebtes Recht. 29 Juristenporträts
Österreichische Verlagsgesellschaft/Stämpfli
Wien/Zürich 2012
S. 103125.
Reinhard Pohanka: Attentate in Österreich.
Styria Verlag
Graz/Wien 2001
S. 7788.
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Gerhard Strejcek
Von Ecken, Haken und Schleifen
Wiener Zeitung, 25.09.2016
Der Pädagoge und Philosoph Martin Bolz hat eine historisch und sprachkundlich interessante Lese-Fibel über deutsche Schriftarten verfasst.
Hand aufs Herz, wer schreibt heute noch in Kurrentschrift und nimmt zuweilen ein in Fraktur gedrucktes Werk zur Hand? Die nur mit Mühsal lesbaren, gezackten, hütchenähnlichen Kleinbuchstaben "e, m, n, w" usw. haben Generationen von Schülern zur Verzweiflung gebracht. Und die schwer unterscheidbare Groß- und Kleinschreibung (etwa bei D und K, wo das jeweils kleine fast größer ist als das große) machte Erstklasslern das Leben zur Hölle. Von den drei "S" (Mitte-s, End-s, ß) ganz abgesehen, erwies sich die - mit Federn im Fach Kalligraphie zu akzentuierende und von gestrengen Rohrstaberl-Lehrern dort förmlich exekutierte - Kurrentschrift auf Dauer als pädagogisches Problem.
Nationale Dimension
Heute wird sie oft fälschlich mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht, obwohl die Rückkehr zu Runen (wie im Schreibmaschinenzeichen für "SS") nichts mit der ursprünglichen Fraktur zu tun hat. Dennoch hatte diese Schrift auch eine nationale Dimension, was etwa im Werk des Verfassungsrechtlers Merkl deutlich wird: Erschien die lesenswerte Studie zur "Verfassung der Republik Deutschösterreich" 1919 in moderner Antiqua, so wechselte man 1935 (!) zurück in die Fraktur, um dem interessierten Publikum die "ständisch-autoritäre Verfassung 1934" näher zu bringen.
Vielleicht sind die Wahl der Schrift und die individuelle Auslegung der Syntax allein schon Indiz für Politisches. Kafka schrieb als Schüler Kurrent, danach hatte er, wie viele Pragerdeutsche, eine "heutige" Handschrift (ohne "ß" und sehr beistricharm!); Schnitzler wechselte jäh, noch Jahre vor dem Ersten Weltkrieg; Musil aber und Doderer liebten die Haken und Schleifen der alten Schreibschrift und nahmen ungern Abschied davon. Die Sütterlinschrift (Kurrent-Variante) blieb bis 1928 Schulschrift in der jungen Republik.
Um uns Erwachsenen wieder das Gefühl zu geben, wie es war, als Schulanfänger recht hilflos mit Kartons, Filzbuchstaben für die Tafel oder Setzkasten zu arbeiten, hat Martin Bolz eine originelle Lese-Fibel verfasst. Er geht über das Schulbuch hinaus und legt "fatrastische", also bewusst absurde Texte nach dem Muster französischer Nonsens- und Satiredichtungen des 13. Jahrhunderts vor, die mit aktuellen Internetzitaten und Aufnahmen seltsamer "Abschnitts"-Vögel (Gänse, Reiher, Störche, Habichte, Greifvögel) gespickt sind.
Literatur:
Martin Bolz: ABC-Buch für Erwachsene
Edition Noack&Block, Berlin 2016
118 Seiten
19,80 Euro
Hand aufs Herz, wer schreibt heute noch in Kurrentschrift und nimmt zuweilen ein in Fraktur gedrucktes Werk zur Hand? Die nur mit Mühsal lesbaren, gezackten, hütchenähnlichen Kleinbuchstaben "e, m, n, w" usw. haben Generationen von Schülern zur Verzweiflung gebracht. Und die schwer unterscheidbare Groß- und Kleinschreibung (etwa bei D und K, wo das jeweils kleine fast größer ist als das große) machte Erstklasslern das Leben zur Hölle. Von den drei "S" (Mitte-s, End-s, ß) ganz abgesehen, erwies sich die - mit Federn im Fach Kalligraphie zu akzentuierende und von gestrengen Rohrstaberl-Lehrern dort förmlich exekutierte - Kurrentschrift auf Dauer als pädagogisches Problem.
Nationale Dimension
Heute wird sie oft fälschlich mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht, obwohl die Rückkehr zu Runen (wie im Schreibmaschinenzeichen für "SS") nichts mit der ursprünglichen Fraktur zu tun hat. Dennoch hatte diese Schrift auch eine nationale Dimension, was etwa im Werk des Verfassungsrechtlers Merkl deutlich wird: Erschien die lesenswerte Studie zur "Verfassung der Republik Deutschösterreich" 1919 in moderner Antiqua, so wechselte man 1935 (!) zurück in die Fraktur, um dem interessierten Publikum die "ständisch-autoritäre Verfassung 1934" näher zu bringen.
Vielleicht sind die Wahl der Schrift und die individuelle Auslegung der Syntax allein schon Indiz für Politisches. Kafka schrieb als Schüler Kurrent, danach hatte er, wie viele Pragerdeutsche, eine "heutige" Handschrift (ohne "ß" und sehr beistricharm!); Schnitzler wechselte jäh, noch Jahre vor dem Ersten Weltkrieg; Musil aber und Doderer liebten die Haken und Schleifen der alten Schreibschrift und nahmen ungern Abschied davon. Die Sütterlinschrift (Kurrent-Variante) blieb bis 1928 Schulschrift in der jungen Republik.
Um uns Erwachsenen wieder das Gefühl zu geben, wie es war, als Schulanfänger recht hilflos mit Kartons, Filzbuchstaben für die Tafel oder Setzkasten zu arbeiten, hat Martin Bolz eine originelle Lese-Fibel verfasst. Er geht über das Schulbuch hinaus und legt "fatrastische", also bewusst absurde Texte nach dem Muster französischer Nonsens- und Satiredichtungen des 13. Jahrhunderts vor, die mit aktuellen Internetzitaten und Aufnahmen seltsamer "Abschnitts"-Vögel (Gänse, Reiher, Störche, Habichte, Greifvögel) gespickt sind.
Literatur:
Martin Bolz: ABC-Buch für Erwachsene
Edition Noack&Block, Berlin 2016
118 Seiten
19,80 Euro
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Gerhard Strejcek
Registrierkasse: Kampf gegen privilegierte Konkurrenz
Der Standard, 05.09.2016
Dank neuer Ausnahmen gibt es Erfolgschancen für eine Klage gegen die Registrierkassenpflicht vor dem Menschenrechtsgericht
Wien – Im Windschatten der umstrittenen Aufhebung der Bundespräsidentenwahl hat der Verfassungsgerichtshof vor dem Sommer auch den zweiten großen Registrierkassen-Fall – und zwar wiederum negativ – entschieden. Der VfGH traf diesmal keine Sachentscheidung, sondern wies die umfangreichen Anträge aus formalen Gründen zurück (VfGH 2.7.2016, G 53/2016, V 13/2016). Bundeskanzleramt und Verfassungsdienst hatten mit ihren aggressiven Gegenschriften offenbar Eindruck gemacht..
Die Zurückweisung des sehr präzise formulierten Individualantrags kommt dennoch überraschend und ist nur insofern nachvollziehbar, als bereits im Februar über Bedenken gegen das Gesetz (§ 131b BAO) im Lichte des Grundrechts auf Erwerbsfreiheit vom VfGH (Art 6 StGG) entschieden wurde. Im Winter hatte der VfGH den Antrag eines Taxiunternehmens wegen der Führungspflicht von Registrierkassen abgewiesen, sodass der Grundsatz "Nicht zweimal in derselben Sache" auf den ersten Blick auf die Antragsteller vom Frühjahr anwendbar war.
Diese Begründung vermag aber nicht ganz zu überzeugen, da es den Antragstellern, einem ländlichen Gelegenheitsverkehrsunternehmen, diesmal um andere Grundrechte – vor allem die Eigentumsfreiheit des Art 1 1. ZPEMRK, Gleichheit – ging und zudem auch die Verordnungen wegen unsachlicher Ausnahmeregelungen angegriffen wurden.
Weder die einzelnen Bedenken zu den Durchführungsverordnungen ("cold hands"-Regel und Barumsatz-Verordnung) noch die Frage der Sachlichkeit hat der VfGH inhaltlich näher geprüft, sondern sich auf formale Argumente beschränkt, welche den konkreten Umfang der Anfechtung betrafen. Das ist bedauerlich, denn das verschachtelte, vage Verordnungssystem in Verbindung mit den nur auf der "findoc"-Seite zu findenden Richtlinien wäre einer Nachprüfung Wert gewesen.
Intakte Chancen
Zwischenzeitig hat sich die Rechtslage schon wieder geändert, weil der Gesetzgeber neben Schutzhütten (durchaus nachvollziehbar), Dorf- und Vereinsfesten (eher fraglich) auch die Vorfeldorganisationen der politischen Parteien hinsichtlich Ausschank- und Verköstigung privilegiert hat. Dass diese Bevorzugung den Wirten sauer aufstößt, ist klar. Auch die Taxibetriebe außerhalb Wiens, bei denen die Innung die Registrierkassenpflicht akzeptiert, aber einzelne Fahrer sehr sparsam und nur auf Rückfrage Belege ausstellen, sind nicht bereit, klein beizugeben.
In beiden Gewerbefachgruppen (Gelegenheitsverkehr, Gastgewerbe) sehen sich die Betroffenen einer privilegierten Konkurrenz ausgesetzt, während sie selbst in die Tasche greifen müssen. Ein klassischer Fall von Diskriminierung, würde man meinen.
Die Chancen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, wo binnen eines halben Jahres nach der Zustellung des aktuellen VfGH-Beschlusses eine Beschwerde eingebracht werden müsste, sind daher intakt. Denn die Auslegung des EGMR hinsichtlich des Umfangs des in Art 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK verankerten Eigentumsgrundrechts ist so weit, dass sie sogar die vom Staat verankerten "zusätzlichen vermögenswerten Rechte" schützt, die in den Bereich der Abgaben- oder Sozialhilfegesetze fallen.
Dies hat der EGMR in mehreren Urteilen klargestellt, von denen der Fall EMGR 8.1.2013 Efe, X und Povse Sahin, Nr 9134/06 Österreichs im Einkommenssteuergesetz geregelte Familienbehilfe betraf. Demnach kann auch eine Regelung der Bundesabgabeordnung, die Abrechnungsmodalitäten betrifft, ins Eigentumsrecht der betroffenen Unternehmen eingreifen.
Mächtiges Diskriminierungsverbot
Das ist deshalb wichtig, weil die EMRK nur vor Diskriminierungen in einem Konventionsrecht schützt, wie Art 14 EMRK explizit ausführt. Gemeinsam mit dem Eigentumsschutz bildet das Diskriminierungsverbot aber einen mächtigen Hebel, der zu einer Verurteilung Österreichs und einer Verpflichtung zu einer billigen Entschädigungszahlung führen könnte.
Stellt der EGMR eine Konventionswidrigkeit fest, könnte der Staat sogar noch tiefer in seine eigene Registrierkasse greifen müssen. Allerdings: Der Staat selbst und jene politischen Parteien, die sich an Wahlen beteiligen, müssen kraft Gesetzes gar keine Registrierkasse führen.
Wien – Im Windschatten der umstrittenen Aufhebung der Bundespräsidentenwahl hat der Verfassungsgerichtshof vor dem Sommer auch den zweiten großen Registrierkassen-Fall – und zwar wiederum negativ – entschieden. Der VfGH traf diesmal keine Sachentscheidung, sondern wies die umfangreichen Anträge aus formalen Gründen zurück (VfGH 2.7.2016, G 53/2016, V 13/2016). Bundeskanzleramt und Verfassungsdienst hatten mit ihren aggressiven Gegenschriften offenbar Eindruck gemacht..
Die Zurückweisung des sehr präzise formulierten Individualantrags kommt dennoch überraschend und ist nur insofern nachvollziehbar, als bereits im Februar über Bedenken gegen das Gesetz (§ 131b BAO) im Lichte des Grundrechts auf Erwerbsfreiheit vom VfGH (Art 6 StGG) entschieden wurde. Im Winter hatte der VfGH den Antrag eines Taxiunternehmens wegen der Führungspflicht von Registrierkassen abgewiesen, sodass der Grundsatz "Nicht zweimal in derselben Sache" auf den ersten Blick auf die Antragsteller vom Frühjahr anwendbar war.
Diese Begründung vermag aber nicht ganz zu überzeugen, da es den Antragstellern, einem ländlichen Gelegenheitsverkehrsunternehmen, diesmal um andere Grundrechte – vor allem die Eigentumsfreiheit des Art 1 1. ZPEMRK, Gleichheit – ging und zudem auch die Verordnungen wegen unsachlicher Ausnahmeregelungen angegriffen wurden.
Weder die einzelnen Bedenken zu den Durchführungsverordnungen ("cold hands"-Regel und Barumsatz-Verordnung) noch die Frage der Sachlichkeit hat der VfGH inhaltlich näher geprüft, sondern sich auf formale Argumente beschränkt, welche den konkreten Umfang der Anfechtung betrafen. Das ist bedauerlich, denn das verschachtelte, vage Verordnungssystem in Verbindung mit den nur auf der "findoc"-Seite zu findenden Richtlinien wäre einer Nachprüfung Wert gewesen.
Intakte Chancen
Zwischenzeitig hat sich die Rechtslage schon wieder geändert, weil der Gesetzgeber neben Schutzhütten (durchaus nachvollziehbar), Dorf- und Vereinsfesten (eher fraglich) auch die Vorfeldorganisationen der politischen Parteien hinsichtlich Ausschank- und Verköstigung privilegiert hat. Dass diese Bevorzugung den Wirten sauer aufstößt, ist klar. Auch die Taxibetriebe außerhalb Wiens, bei denen die Innung die Registrierkassenpflicht akzeptiert, aber einzelne Fahrer sehr sparsam und nur auf Rückfrage Belege ausstellen, sind nicht bereit, klein beizugeben.
In beiden Gewerbefachgruppen (Gelegenheitsverkehr, Gastgewerbe) sehen sich die Betroffenen einer privilegierten Konkurrenz ausgesetzt, während sie selbst in die Tasche greifen müssen. Ein klassischer Fall von Diskriminierung, würde man meinen.
Die Chancen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, wo binnen eines halben Jahres nach der Zustellung des aktuellen VfGH-Beschlusses eine Beschwerde eingebracht werden müsste, sind daher intakt. Denn die Auslegung des EGMR hinsichtlich des Umfangs des in Art 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK verankerten Eigentumsgrundrechts ist so weit, dass sie sogar die vom Staat verankerten "zusätzlichen vermögenswerten Rechte" schützt, die in den Bereich der Abgaben- oder Sozialhilfegesetze fallen.
Dies hat der EGMR in mehreren Urteilen klargestellt, von denen der Fall EMGR 8.1.2013 Efe, X und Povse Sahin, Nr 9134/06 Österreichs im Einkommenssteuergesetz geregelte Familienbehilfe betraf. Demnach kann auch eine Regelung der Bundesabgabeordnung, die Abrechnungsmodalitäten betrifft, ins Eigentumsrecht der betroffenen Unternehmen eingreifen.
Mächtiges Diskriminierungsverbot
Das ist deshalb wichtig, weil die EMRK nur vor Diskriminierungen in einem Konventionsrecht schützt, wie Art 14 EMRK explizit ausführt. Gemeinsam mit dem Eigentumsschutz bildet das Diskriminierungsverbot aber einen mächtigen Hebel, der zu einer Verurteilung Österreichs und einer Verpflichtung zu einer billigen Entschädigungszahlung führen könnte.
Stellt der EGMR eine Konventionswidrigkeit fest, könnte der Staat sogar noch tiefer in seine eigene Registrierkasse greifen müssen. Allerdings: Der Staat selbst und jene politischen Parteien, die sich an Wahlen beteiligen, müssen kraft Gesetzes gar keine Registrierkasse führen.
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Gerhard Strejcek
Im Schattenreich der Troglodyten
Wiener Zeitung, 04.09.2016
Kulturgeschichte
In Heimito von Doderers weit verzweigtem Romanwerk tauchen sehr unangenehme Hausmeister und Hausmeisterinnen auf. Einige Überlegungen zu einer tiefsitzenden Antipathie des Autors
Wer einen (beliebigen) Doderer-Roman zur Hand nimmt, gerät unversehens in die Fänge eines ausgesprochen "conciergeophoben" Autors, der den Hausmeister ins verbale Visier nimmt. Natürlich nicht den Hausbetreuer von heute oder die Gestalten, die Zenker/Patzak in den legendären "Kottan"-Folgen aufleben ließen, sondern den Portier, Majordomus oder schlicht Hausbesorger von einst. Er saß in einer Aussparung des Parterregangs bei halb geöffneter Luke und lauerte auf Bewohner, die den Sperrkreuzer nicht entrichten wollten oder sich sonst so absonderlich benahmen - wie Doderer selbst, der nächtliche Besucherinnen oder sein eigenes Ausbüchsen in zwielichtige Lokale mit Abschlagszahlungen beim Türhüter büßen musste.
Die Rache für derartiges Unbill erfolgte prompt, wenn auch sublimiert in Prosaform. Nicht einmal im Alterswerk "Roman No. 7" entließ Doderer die Hausbesorger und die meist noch unwürdigeren Hausbesorgerinnen in einen schlecht bezahlten, aber verdienten Ruhestand. Ganz im Gegenteil, in "Die Wasserfälle von Slunj", dem ersten, noch vollständig erschienenen Teil des auf vier Bände angelegten "Roman No. 7", treten zwei besonders durchtriebene Exemplare jener Gattung auf, die der Autor bösartig als "Troglodyten" (Höhlenbewohner) charakterisierte. Die kupplerische Wewerka in der Adamsgasse und das ehemalige Gangsterliebchen Wenidoppler an einer etwas besseren, ungenannten Adresse jenseits des Donaukanals.
Erpresserinnen
Perfid zeichnet Doderer die Charaktere der beiden Hausmeisterinnen: Sie umgarnen denselben arbeitsamen, wenn auch nicht biederen Hausbewohner, den Prokuristen Chwostik, und spannen ihn für ihre trüben Aktivitäten ein. Der ehemalige Angestellte der Devotionalienhandlung Debrössy tritt in das Mietverhältnis seiner verstorbenen Eltern in der Landstraßer Adamsgasse ein. Nach einem erfolglosen Versuch, dem eigenen Nachkommen die Wohnung zu sichern, schlägt die Wewerka (geborene Nechwatal) Chwostik die Untervermietung an zwei burgenländische Prostituierte vor. Mit der Zustimmung des gutmütigen Angestellten, der seiner nunmehrigen Firma "Clayton bros." viel Nutzen stiftet, setzt die Wewerka ihre maligne Absicht um. Sie pflanzt die zwei, durchaus sympathisch gezeichneten Dirnen Fini und Feverl in die Wohnung Chwostiks ein und kann fortan jeweils zweimal den Sperrkreuzer von den Kunden kassieren, wogegen der nominelle Mieter an ihrer Statt das Kuppler-Risiko trägt.
Laut Doderer wurde die Wohnungsprostitution in diesem Teil des dritten Bezirks damals geduldet, was er vermutlich besser wusste als andere, da er keine zwei Gassen weiter seine Jugend im "Stammhaus" in der Stammgasse verbrachte.
Dennoch bleiben beim Leser leise Zweifel, ob hier nicht eine bewusste Verdrehung der realen Vorbilder Platz fand, denn unbegreiflicher Weise findet Chwostik "gegenüber", das heißt auf der Leopoldstädter Seite des Donaukanals, ein vermeintlich anständiges Quartier, in dem allerdings die allgegenwärtige Hausbesorgerin Wenidoppler ihr Unwesen treibt. Sie war einst dem Einbrecher Okrogelnig verbunden und gerät dank Chwostik an dessen Hinterlassenschaft, die er in einem Nachtkästchen versteckt hat. Deshalb zieht es sie auch magisch in das nun von Chwostik bewohnte Appartement.
Durch ein massives Trinkgeld den Erpressungsversuchen der Vorgängerin in der Adamsgasse entgangen, muss sich der zum Direktor aufgerückte Mieter fürderhin vor den Avancen der durchaus attraktiven Wenidoppler in Acht nehmen. Genau dieses vornehme Entwinden kostet wiederum Einiges an Münzgeld in damaliger, harter Kronen-Währung, denn mit Kreuzern lässt sich die Dame nicht abspeisen.
Eigene Erlebnisse
Rund um die Hausmeisterepisoden flocht der Autor gerne seine eigenen erotischen Erlebnisse in die Romane ein. Auch in seiner um 1958 begonnenen Tetralogie sollte es nicht anders sein, mit dem Unterschied, dass der Autor zweimal verheiratet, sein "Mr. Hyde" in den Büchern aber stets Junggeselle war. In seinem einsamen, ledigen Dasein nimmt etwa der erwähnte Prokurist Chwostik zeitweise die Dienste von "Nicht-Passantinnen" am alten Standort in Anspruch; in diesem Punkt wird er zum Alter Ego des Autors, denn Doderers Schilderung einer vor Chwostik im Stiegenhaus ausladend bergan schreitenden "dicken Dame" erinnert an seine eigenen Vorlieben, die er durch Inserate und Treffen mit reiferen Frauen dokumentiert hat. Viele der realen Partnerinnen Doderers entsprachen diesem Typus, so auch seine zweite Gattin Emma Maria, welche aber lange Zeit nicht mit ihm zusammen wohnte. In dieser Zeit lebte Doderer keineswegs monogam. Somit ist auch klar, dass der Autor trotz seines sehr freundlichen, vermutlich auch trinkgeldschwangeren Verhältnisses zur realen Hausbesorgerin "Poldi" in seiner Josefstädter Wohnung unter Beobachtungsdruck geriet.
Zeitzeugen, die den Dichter in den zunächst sehr mageren Nachkriegsjahren kannten und sahen, beschreiben ihn als höflichen und mageren Herrn, dessen asiatische Züge in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinem altösterreichisch gefärbten Idiom standen. So umgänglich und humorvoll Doderer meist war, er konnte auch anders, wie seine Gewaltphantasien nahelegen. Nicht von ungefähr war Kajetan von Schlaggenberg neben dem Sectionsrat Gey-renhoff oder René von Stangeler (alle in den "Dämonen") jeweils ein Alter Ego des Autors, die in ihrer Gesamtheit mosaikartig seine eigene Persönlichkeit reflektierten.
Gerne lebte der Autor die Prügel an seinen Romanfiguren aus, so etwa wenn in den "Wasserfällen von Slunj" die Hausmeisterin Wewerka mit zwei gewaltigen Ohrfeigen Richtung Horizont befördert wird, wo sie förmlich zerplatzt und den Roman verlässt. Die Aggression, die der Autor hier seiner Romanfigur angedeihen lässt, hat etwas Verstörendes an sich und nimmt der humoristisch gemeinten Pointe ihre Unschuld.
Eine positiver gezeichnete Hausmeistergestalt ist der Herr Waschler, der in den "Dämonen" auftritt, als sich die Ereignisse um den Justizpalastbrand verdichten. Waschler baut seine ganze Torwächter-Imposanz auf, als er zwei versprengten "Rowdies" den Eintritt in ein Haus der Gemeinde Wien verwehrt. Da das Haustor im Rathausviertel keine Luken aufweist, stellt sich Waschler schließlich eine Leiter auf, um von einem der Bogenfenster aus das Geschehen auf der Straße zu beobachten, das bekanntlich zu einer Tragödie großen Ausmaßes geriet.
"Prolet-Arier"
Bliebe es nur beim Herrn Waschler, dann wären "Die Dämonen" durchaus neutral, was die Hausmeisterfrage betrifft. Doch dem Leser bleibt nicht verborgen, dass der Autor rund um die Hausmeisterfigur politische Abrechnung betrieb. In der ersten Hälfte des bereits in der Vorkriegszeit begonnen opus magnum legt Doderer zunächst dem noblen Herrn Gürtzner-Gontard einen Hausmeister-Monolog in den Mund.
Gontard schwadroniert darüber, dass die Hausmeister von einer "Klasse" zur "Rasse" geworden sind; als problematisch erweist sich hier das Wortspiel "Prolet-Arier", wonach laut Gontard offenkundig das Wesen der NS-Barbarei und des Bolschewismus vergleichbar sein sollen, da sich Menschen durch die pure Zugehörigkeit zur Klasse (Proletarier) oder zur Rasse (Arier) von anderen abheben wollen. So spannt sich ein verharmlosender Bogen vom Hausmeister, der ja meist proletarischer Natur war, zum (vermutlich ebensolche Wurzeln aufweisenden) "Blockwart", den Doderer nicht ausdrücklich nennt.
Noch eine zweite Stelle im umfangreichsten Roman Doderers ist dem Hausbesorger-Stand gewidmet. Der Autor malt da die "bösartige und fast dämonisch-obstinate Ausdünstung der hier hausenden Menschenrasse" aus und kommt nach weiteren Ausführungen über die schlechthin unmögliche Hausmeister-Vertreibung zur "geradezu furchtbaren Lebensgesinnung" dieser Menschen. Der logische Schluss aus dieser Tirade ist jener der Unbewohnbarkeit einer Hausmeister-Höhle: "Deshalb bleiben derartige Höhlen auch stets ihrem ursprünglichen Zweck erhalten, und es würde in Wien jedermann mit Grausen sich weigern, in eine Hausmeister-Wohnung zu ziehen, es sei denn, er gehöre dieser Rasse selbst an oder stamme etwa von ihr ab."
Derartige Abneigung muss fundierte Gründe haben. Doch was sollte vor den Hausmeistern konkret verborgen bleiben? Welche Sorgen motivierten den Autor zu derart harscher Ablehnung jener Höhlen- und Grottenbewohner, die ihn auf ihre beschränkte und aufsässige Art zu Tobsuchtsanfällen reizten? Antworten darauf finden sich in den biographischen Arbeiten Wolfgang Fleischers und Dorothea Zeemanns, aber auch diese beiden Quellen können die Schlüsselerlebnisse nicht zur Gänze erhellen.
Geheime Schaulust
Weiteren Aufschluss im Romanwerk geben die "Zihaloide" in "Die erleuchteten Fenster", denn sie teilen Neigungen des Autors. Hier ist anzumerken, dass der Amtsrat Zihal, die namensgebende Figur des Werks, von Doderer ebenfalls als "Troglodyt" eingestuft wird, wiewohl es sich bei ihm um keinen Hausmeister handelt. Doderer geht ironisch auf die anthropologisch und prähistorisch interessante Form des Wohnens in Höhlen ein, das nunmehr eine "fatal spießige, ja geradezu unappetitliche Angelegenheit" geworden sei, wie Wendelin Schmidt-Dengler in seinen lesenswerten Doderer-Aufsätzen meint. Der Germanist hat dieses Porträt als "wenig schmeichelhaft" eingestuft und auf die autobiographischen Züge hingewiesen, was den Voyeurismus betrifft.
Was sich in und gegenüber von Doderers Wohnungen abspielte, bleibt natürlich unbekannt, und das ist gut so. Aber es gibt einen unverdächtigen Zeitzeugen, der hiezu Interessantes berichtet. Der Regisseur Billy Wilder, der in der Josefstadt unweit des langjährigen Doderer-Wohnhauses eine Privatschule besuchte, erzählte in einem Interview, dass es sich bei seinem damaligen Gegenüber um ein übel beleumundetes Stundenhotel handelte. Somit kamen voyeuristische Gelüste in der stillen Gasse gewiss erfolgreich zum Durchbruch, sofern sich nicht der Hausmeister als stets präsenter Störenfried in die Beobachtung einmengte.
In Heimito von Doderers weit verzweigtem Romanwerk tauchen sehr unangenehme Hausmeister und Hausmeisterinnen auf. Einige Überlegungen zu einer tiefsitzenden Antipathie des Autors
Wer einen (beliebigen) Doderer-Roman zur Hand nimmt, gerät unversehens in die Fänge eines ausgesprochen "conciergeophoben" Autors, der den Hausmeister ins verbale Visier nimmt. Natürlich nicht den Hausbetreuer von heute oder die Gestalten, die Zenker/Patzak in den legendären "Kottan"-Folgen aufleben ließen, sondern den Portier, Majordomus oder schlicht Hausbesorger von einst. Er saß in einer Aussparung des Parterregangs bei halb geöffneter Luke und lauerte auf Bewohner, die den Sperrkreuzer nicht entrichten wollten oder sich sonst so absonderlich benahmen - wie Doderer selbst, der nächtliche Besucherinnen oder sein eigenes Ausbüchsen in zwielichtige Lokale mit Abschlagszahlungen beim Türhüter büßen musste.
Die Rache für derartiges Unbill erfolgte prompt, wenn auch sublimiert in Prosaform. Nicht einmal im Alterswerk "Roman No. 7" entließ Doderer die Hausbesorger und die meist noch unwürdigeren Hausbesorgerinnen in einen schlecht bezahlten, aber verdienten Ruhestand. Ganz im Gegenteil, in "Die Wasserfälle von Slunj", dem ersten, noch vollständig erschienenen Teil des auf vier Bände angelegten "Roman No. 7", treten zwei besonders durchtriebene Exemplare jener Gattung auf, die der Autor bösartig als "Troglodyten" (Höhlenbewohner) charakterisierte. Die kupplerische Wewerka in der Adamsgasse und das ehemalige Gangsterliebchen Wenidoppler an einer etwas besseren, ungenannten Adresse jenseits des Donaukanals.
Erpresserinnen
Perfid zeichnet Doderer die Charaktere der beiden Hausmeisterinnen: Sie umgarnen denselben arbeitsamen, wenn auch nicht biederen Hausbewohner, den Prokuristen Chwostik, und spannen ihn für ihre trüben Aktivitäten ein. Der ehemalige Angestellte der Devotionalienhandlung Debrössy tritt in das Mietverhältnis seiner verstorbenen Eltern in der Landstraßer Adamsgasse ein. Nach einem erfolglosen Versuch, dem eigenen Nachkommen die Wohnung zu sichern, schlägt die Wewerka (geborene Nechwatal) Chwostik die Untervermietung an zwei burgenländische Prostituierte vor. Mit der Zustimmung des gutmütigen Angestellten, der seiner nunmehrigen Firma "Clayton bros." viel Nutzen stiftet, setzt die Wewerka ihre maligne Absicht um. Sie pflanzt die zwei, durchaus sympathisch gezeichneten Dirnen Fini und Feverl in die Wohnung Chwostiks ein und kann fortan jeweils zweimal den Sperrkreuzer von den Kunden kassieren, wogegen der nominelle Mieter an ihrer Statt das Kuppler-Risiko trägt.
Laut Doderer wurde die Wohnungsprostitution in diesem Teil des dritten Bezirks damals geduldet, was er vermutlich besser wusste als andere, da er keine zwei Gassen weiter seine Jugend im "Stammhaus" in der Stammgasse verbrachte.
Dennoch bleiben beim Leser leise Zweifel, ob hier nicht eine bewusste Verdrehung der realen Vorbilder Platz fand, denn unbegreiflicher Weise findet Chwostik "gegenüber", das heißt auf der Leopoldstädter Seite des Donaukanals, ein vermeintlich anständiges Quartier, in dem allerdings die allgegenwärtige Hausbesorgerin Wenidoppler ihr Unwesen treibt. Sie war einst dem Einbrecher Okrogelnig verbunden und gerät dank Chwostik an dessen Hinterlassenschaft, die er in einem Nachtkästchen versteckt hat. Deshalb zieht es sie auch magisch in das nun von Chwostik bewohnte Appartement.
Durch ein massives Trinkgeld den Erpressungsversuchen der Vorgängerin in der Adamsgasse entgangen, muss sich der zum Direktor aufgerückte Mieter fürderhin vor den Avancen der durchaus attraktiven Wenidoppler in Acht nehmen. Genau dieses vornehme Entwinden kostet wiederum Einiges an Münzgeld in damaliger, harter Kronen-Währung, denn mit Kreuzern lässt sich die Dame nicht abspeisen.
Eigene Erlebnisse
Rund um die Hausmeisterepisoden flocht der Autor gerne seine eigenen erotischen Erlebnisse in die Romane ein. Auch in seiner um 1958 begonnenen Tetralogie sollte es nicht anders sein, mit dem Unterschied, dass der Autor zweimal verheiratet, sein "Mr. Hyde" in den Büchern aber stets Junggeselle war. In seinem einsamen, ledigen Dasein nimmt etwa der erwähnte Prokurist Chwostik zeitweise die Dienste von "Nicht-Passantinnen" am alten Standort in Anspruch; in diesem Punkt wird er zum Alter Ego des Autors, denn Doderers Schilderung einer vor Chwostik im Stiegenhaus ausladend bergan schreitenden "dicken Dame" erinnert an seine eigenen Vorlieben, die er durch Inserate und Treffen mit reiferen Frauen dokumentiert hat. Viele der realen Partnerinnen Doderers entsprachen diesem Typus, so auch seine zweite Gattin Emma Maria, welche aber lange Zeit nicht mit ihm zusammen wohnte. In dieser Zeit lebte Doderer keineswegs monogam. Somit ist auch klar, dass der Autor trotz seines sehr freundlichen, vermutlich auch trinkgeldschwangeren Verhältnisses zur realen Hausbesorgerin "Poldi" in seiner Josefstädter Wohnung unter Beobachtungsdruck geriet.
Zeitzeugen, die den Dichter in den zunächst sehr mageren Nachkriegsjahren kannten und sahen, beschreiben ihn als höflichen und mageren Herrn, dessen asiatische Züge in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinem altösterreichisch gefärbten Idiom standen. So umgänglich und humorvoll Doderer meist war, er konnte auch anders, wie seine Gewaltphantasien nahelegen. Nicht von ungefähr war Kajetan von Schlaggenberg neben dem Sectionsrat Gey-renhoff oder René von Stangeler (alle in den "Dämonen") jeweils ein Alter Ego des Autors, die in ihrer Gesamtheit mosaikartig seine eigene Persönlichkeit reflektierten.
Gerne lebte der Autor die Prügel an seinen Romanfiguren aus, so etwa wenn in den "Wasserfällen von Slunj" die Hausmeisterin Wewerka mit zwei gewaltigen Ohrfeigen Richtung Horizont befördert wird, wo sie förmlich zerplatzt und den Roman verlässt. Die Aggression, die der Autor hier seiner Romanfigur angedeihen lässt, hat etwas Verstörendes an sich und nimmt der humoristisch gemeinten Pointe ihre Unschuld.
Eine positiver gezeichnete Hausmeistergestalt ist der Herr Waschler, der in den "Dämonen" auftritt, als sich die Ereignisse um den Justizpalastbrand verdichten. Waschler baut seine ganze Torwächter-Imposanz auf, als er zwei versprengten "Rowdies" den Eintritt in ein Haus der Gemeinde Wien verwehrt. Da das Haustor im Rathausviertel keine Luken aufweist, stellt sich Waschler schließlich eine Leiter auf, um von einem der Bogenfenster aus das Geschehen auf der Straße zu beobachten, das bekanntlich zu einer Tragödie großen Ausmaßes geriet.
"Prolet-Arier"
Bliebe es nur beim Herrn Waschler, dann wären "Die Dämonen" durchaus neutral, was die Hausmeisterfrage betrifft. Doch dem Leser bleibt nicht verborgen, dass der Autor rund um die Hausmeisterfigur politische Abrechnung betrieb. In der ersten Hälfte des bereits in der Vorkriegszeit begonnen opus magnum legt Doderer zunächst dem noblen Herrn Gürtzner-Gontard einen Hausmeister-Monolog in den Mund.
Gontard schwadroniert darüber, dass die Hausmeister von einer "Klasse" zur "Rasse" geworden sind; als problematisch erweist sich hier das Wortspiel "Prolet-Arier", wonach laut Gontard offenkundig das Wesen der NS-Barbarei und des Bolschewismus vergleichbar sein sollen, da sich Menschen durch die pure Zugehörigkeit zur Klasse (Proletarier) oder zur Rasse (Arier) von anderen abheben wollen. So spannt sich ein verharmlosender Bogen vom Hausmeister, der ja meist proletarischer Natur war, zum (vermutlich ebensolche Wurzeln aufweisenden) "Blockwart", den Doderer nicht ausdrücklich nennt.
Noch eine zweite Stelle im umfangreichsten Roman Doderers ist dem Hausbesorger-Stand gewidmet. Der Autor malt da die "bösartige und fast dämonisch-obstinate Ausdünstung der hier hausenden Menschenrasse" aus und kommt nach weiteren Ausführungen über die schlechthin unmögliche Hausmeister-Vertreibung zur "geradezu furchtbaren Lebensgesinnung" dieser Menschen. Der logische Schluss aus dieser Tirade ist jener der Unbewohnbarkeit einer Hausmeister-Höhle: "Deshalb bleiben derartige Höhlen auch stets ihrem ursprünglichen Zweck erhalten, und es würde in Wien jedermann mit Grausen sich weigern, in eine Hausmeister-Wohnung zu ziehen, es sei denn, er gehöre dieser Rasse selbst an oder stamme etwa von ihr ab."
Derartige Abneigung muss fundierte Gründe haben. Doch was sollte vor den Hausmeistern konkret verborgen bleiben? Welche Sorgen motivierten den Autor zu derart harscher Ablehnung jener Höhlen- und Grottenbewohner, die ihn auf ihre beschränkte und aufsässige Art zu Tobsuchtsanfällen reizten? Antworten darauf finden sich in den biographischen Arbeiten Wolfgang Fleischers und Dorothea Zeemanns, aber auch diese beiden Quellen können die Schlüsselerlebnisse nicht zur Gänze erhellen.
Geheime Schaulust
Weiteren Aufschluss im Romanwerk geben die "Zihaloide" in "Die erleuchteten Fenster", denn sie teilen Neigungen des Autors. Hier ist anzumerken, dass der Amtsrat Zihal, die namensgebende Figur des Werks, von Doderer ebenfalls als "Troglodyt" eingestuft wird, wiewohl es sich bei ihm um keinen Hausmeister handelt. Doderer geht ironisch auf die anthropologisch und prähistorisch interessante Form des Wohnens in Höhlen ein, das nunmehr eine "fatal spießige, ja geradezu unappetitliche Angelegenheit" geworden sei, wie Wendelin Schmidt-Dengler in seinen lesenswerten Doderer-Aufsätzen meint. Der Germanist hat dieses Porträt als "wenig schmeichelhaft" eingestuft und auf die autobiographischen Züge hingewiesen, was den Voyeurismus betrifft.
Was sich in und gegenüber von Doderers Wohnungen abspielte, bleibt natürlich unbekannt, und das ist gut so. Aber es gibt einen unverdächtigen Zeitzeugen, der hiezu Interessantes berichtet. Der Regisseur Billy Wilder, der in der Josefstadt unweit des langjährigen Doderer-Wohnhauses eine Privatschule besuchte, erzählte in einem Interview, dass es sich bei seinem damaligen Gegenüber um ein übel beleumundetes Stundenhotel handelte. Somit kamen voyeuristische Gelüste in der stillen Gasse gewiss erfolgreich zum Durchbruch, sofern sich nicht der Hausmeister als stets präsenter Störenfried in die Beobachtung einmengte.
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Gerhard Strejcek
"Teutone hoch Vier"
Wiener Zeitung, 21.08.2016
Vor 150 Jahren wurde der deutsche "Heidedichter" Hermann Löns geboren, der trotz NS-Vereinnahmung immer noch große Popularität genießt.
Dass es in Deutschland zahlreiche Goethe-Schulen, Schiller-Denkmäler, Kant-Statuen und eine Humboldt-Universität gibt, wird niemanden verwundern. Seltsame Blüten treibt aber der Erinnerungskult rund um den 1914 an der französischen Front bei Reims gefallenen "Heidedichter" Hermann Löns, der durch simple Lyrik, plattdeutsche Fabeln ("Mümmelmann", "Lüttjemann und Püttjerinchen") und gewaltgeladene historische Erzählungen ("Geschichte der Haidbauern: Der Wehrwolf") bekannt wurde, ansonsten aber vor allem durch ex-tremen Nationalismus, Alkoholexzesse und familienzerstörendes Dandytum aufgefallen ist. Nicht weniger als 140 Löns-Erinnerungsorte verzeichnet das allwissende Web, darunter auch Denkmäler in Österreich.
"Grün ist die Heide, die Heide ist grün/Rot sind die Rosen, eh’ sie verblühn" (bzw "wenn sie blühn") - so lautet einer der bekanntesten Verse aus dem Fundus Löns’scher Heide-Lyrik ("Rosengarten"), für die der norddeutsche Germanist und Kafka-Herausgeber Hans-Gerd Koch die Bezeichnung "Kitsch" noch als "Euphemismus" ansieht.
Dem am 29. August 1866 in Kulm/Chelmo bei Bromberg in Westpreußen (heute Polen) geborenen Naturbeobachter Löns sind allerdings einige Phrasen und "fliegende Worte" zuzuschreiben, die sich bis heute gehalten haben, wie etwa das Wahrnehmen von jenem Getier, "das da kreucht und fleucht" (ursprünglich: "fleugt"). Auch die wenig sympathischen Gestalten der Wehrwölfe stammen von Löns, der damit die verschworenen Haidbauern im Dreißigjährigen Krieg meinte. Ansonsten dominieren Scheinidyllen: "Im Wald und auf der Heide", "Was ich von den Tieren erlauschte", "Draußen vor dem Tor" - keine Banalitätsbarriere bewahrte den Leser vor Löns-Titeln.
Natürlich konnte Löns die finalen Ausmaße des nationalistischen Wahns nicht erahnen, starb er doch neunzehn Jahre vor Hitlers Machtübernahme. Bei gehöriger Distanz zu den politischen Implikationen Löns’scher Texte muss dem Autor immerhin journalistisches Talent zugebilligt werden. Der Studienabbrecher reüssierte nach erfolglosen Versuchen in Kaiserslautern und in Gera bei der "Hannoveraner Allgemeinen Zeitung", wo er die Pseudonyme "Fritz von der Leine" und "Ulenspiegel" verwendete.
Seit dem Jahr 1996 liegt eine kritische Löns-Biographie von Thomas Dupke vor. Als er aus seinem Werk an Löns-Gedenkstätten lesen wollte, kam es zu tumultartigen Szenen. Die für manche schmerzhafte, biographische Arbeit zerstörte langjährig gesponnene Löns-Mythen. Gleichwohl treibt der Löns-Erinnerungskult, der bei uns weniger spürbar ist, rund um Hannover und Münster wilde Blüten. In der ehemaligen "Schänke" mit dem treffenden Titel "Zur Falle" und dem Redaktionsgebäude, das einst das jüdische Bankhaus Heyne (Heinrich Heines Onkel gehörend) beherbergte, finden sich jene Räume, in denen Löns um 1890 seine Glossen verfasste.
Aber auch in anderen Städten gibt es Löns-Monumente und sogar Löns-Parks, wie etwa in Düsseldorf, Münster oder Hamburg. Weitere Gedenkstätten, bei denen kritischen Anmerkungen Mangelware sind, finden sich in der Heidegegend Westfalens. Ein Dutzend Löns-Apotheken laden mit Naturheilmitteln zum Genesen am deutschen Wesen ein. Auch ein Löns-Museum kann in der Heidegegend besichtigt werden, die Koordination der Löns-Gesellschaften durch einen zentralen Verein ("e.V.") hat ebenfalls ihr Zentrum in der "Hermann-Löns-Stadt" Walsrode.
Autoren wie Wilhelm Deimann erinnerten vor dem Krieg an Löns’ "soldatisches Vermächtnis" und machten ihn post festum (1966) zum Ahnherrn der Verhaltensforschung. Beides ist zweifelhaft, da Löns vor seinem Tod bei Loivre /Reims nur acht Wochen Ausbildung genoss und als einfacher Füsilier mit 48 Jahren am 26. 9. 1914 in das Mündungsfeuer der französischen Verteidiger geriet. Zuvor hatte er noch in seinem Tagebuch vermerkt, dass er unter "lauter Niedersachsen" war, sein Regiment war auch jenes der Hannoveraner, in dem später Ernst Jünger diente.
Mythos und Kult
Der frühe Tod an der Front trug zum "Mythos Löns" bei, wobei die Epigonen in verklärender und verfälschender Weise den potenziellen Selbstmord nach mehreren Nervenzusammenbrüchen zur patriotischen Heldentat hypostasierten. Dem holzbraunen National-Fass schlägt hier ein Werk von Carl Kuhle den Boden aus, indem es Herbert Löns gemeinsam mit Gorch Fock und Walter Flex zu "Vaterlandsbejahern" adelte. Auch die Löns-Gedenkbücher, ein Löns-Brevier und andere biographische Werke aus der 1930er und 1940er Jahren kehrten die nationale Seite des Heidedichters hervor.
Man hätte daher füglich vermuten dürfen, dass nach 1945 Schluss mit dem Löns-Kult sein würde, aber spätestens ab 1949, als der Entnazifizierungsdruck nachließ, entstanden bereits wieder neue Traditionen und die mehr als sieben Millionen Löns-Bücher erhielten neue Auflagen. Der Heidedichter erlebte eine Renaissance, auf welche viele der verfemten und "verbrannten" Dichter lange warten mussten.
Die Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bemühen sich um das Löns-Erbe in einer angemesseneren Form als einst, wo Blut-und-Boden-Metaphorik, Treueschwüre zum Vaterland und politischer Revisionismus blühten. Datenbanken der westfälischen Autoren (www.lwl.org) erleichtern den Zugang zu den Texten und Biografica. Der unbeugsame Efeu der Geschichte wuchert mildtätig auch über den ursprünglichen Löns-Gedenkstätten und dreht den "spin" in ein andere Richtung: So berichtet eine lokale Zeitung in Winingen etwa von der Aufnahme von 245 Asylwerbern in der dortigen "Löns-Schule". Einst hat sich Löns selbst als "Teutone hoch Vier" bezeichnet und Toleranz als Schwäche abgetan.
Auch an der einstigen journalistischen Wirkungsstätte, der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung", hat Heinrich Thies, ein vormaliger Redakteur, Löns und seiner zweiten Gattin Lisa eine Romanbiographie gewidmet, die heuer im März erschienen ist. Der Autor beschreibt die eigentümliche Liebesgeschichte zwischen der erst siebzehnjährigen Volontärin, die gerne über die Beisetzung Wilhelms I. in einem Mausoleum in Charlottenburg berichtet hätte, zunächst aber Dienste als Telephon-Stenographin verrichten musste.
Erst nach und nach durfte sie auch eigene Texte verfassen. Die Tochter eines bekannten Landschaftsmalers hieß eigentlich Louise Dorette Karoline, die Abkürzung "Lisa" verstellte somit den Blick auf frankophone Vornamen, wobei sie im Gründungsjahr des Deutschen Reichs 1871, unmittelbar nach dem Deutsch-Französischen Krieg, geboren wurde. Füglich stammte Lisa nicht aus einer national eingestellten Familie und wehrte sich auch nach Hitlers Machtübernahme gegen die Vereinnahmung der - allerdings hinsichtlich ihres Hurra-Patriotismus, ja Chauvinismus nur zu willfährig nutzbaren - Texte ihres Gatten für die NS-Propaganda. Dass sie englische Bücher wie Jack Londons "Call Of The Wild" oder eine Familiensaga über die "Singermanns" 1930 übersetzte, spricht gegen eine nationale Ausrichtung von Lisa.
Schreibwahn
Löns’ Werke erschienen im Verlag Adolf Sponholtz (Hameln), bei Diederich (Düsseldorf) und bei Nymphenburger mit Auflagenzahlen jenseits der sieben Millionen. Vermutlich traf der Autor mit seinen zum Teil humoristischen, zum Teil auch kinderbuchtauglichen Texten (etwa über den Hund "Widu" oder Igelfamilien) den Nerv der Zeit und erreichte mit seinen Heide-Titeln die Massen.
Dass Löns als Vorläufer der Naturschutz- und Nationalparkidee angesehen wird, mag auch Substanz haben, wobei aber vielfach die Blut-und-Boden-Metaphorik und die politischen Nebengeräusche verharmlosend ausgeblendet werden. Die Vertonung einiger Löns-Texte verlängerte deren Wirkungsdauer beträchtlich, wenn es sich auch teilweise um kriegstreiberische Soldatenlieder handelt, wie das "Engelland-Lied". (Aus dem Trivialtext: "Gib mir deine Hand, deine weiße Hand . . . denn wir fahren gegen Engelland").
Bedenkt man, dass Löns nur um sieben Jahre länger lebte als Kafka, so gewinnt man den Eindruck, dass er Ghostwriter gehabt haben muss, wenn man sich durch die über achttausend verfügbaren Titel im Zentralverzeichnis der Antiquariate quält. Tatsächlich litt Löns unter einer Art Schreibwahn, er sperrte sich ein und fabrizierte in nächtelangen Sessionen binnen kurzem seine Bücher, in diesem Punkt Kafka nicht völlig unähnlich. Aber während der Prager nie aggressiv wurde und auch nur mäßig trank, soll Löns seine Umwelt mit Messerattacken traktiert haben und mitunter nach durchzechter Nach außerhalb der Stadt aufgewacht sein. Die selbstzerstörerische Arbeitsweise endete naturgemäß in Zusammenbrüchen und einem pathologischen Wandertrieb, verbunden mit den Symptomen eines Quartalsäufers. Daher reichte es im Jahr 1911 auch der toleranten Gattin Lisa und sie verließ, nach tätlichen Angriffen auf den gemeinsamen Sohn Dettmer, den manischen Autor, ohne je Alimente von ihm zu empfangen.
Makabre Groteske
Wer heute in einer der zahlreichen Löns-Parkanlagen Ruhe und Entspannung sucht, wird vielleicht durch die Tatsache irritiert sein, dass der nachmalige "Führer" und Reichskanzler Hitler, dessen Kommen Löns im "Antichrist" vorhergesagt hatte, die Exhumierung und Überführung der im Jahr 1934 angeblich wieder aufgefundenen Löns-Gebeine anordnete.
Nach einer grotesk-makaberen Hin- und Herschieberei der sterblichen Überreste, die noch dazu vermutlich einem anderen Soldaten zuzuordnen sind, kam es zu einer Art "Parallelaktion". Statt zu prüfen, ob es sich bei den Gebeinen überhaupt um die Überreste des Dichters handelte, verzichtete der sonst bürokratisch-akribische NS-Staat auf eine forensische Untersuchung. Da der geplante Begräbnisort auf einem projektierten Truppenübungsplatz lag, musste der Gauleiter ein Privatgrundstück bei Fallingbostel bereitstellen, wohin SA-Männer die Gebeine in einem Handstreich verbrachten; schließlich aber war es die Reichswehr, die Löns (oder das, was man für seinen Leichnam hielt) wieder exhumierte und 1935 feierlich unter einem Findling am Tietlinger Wacholderhain beisetzte - im Übrigen gegen den ausdrücklichen Willen des Dichters, der auf seinem Grab gar keinen Stein wünschte.
Fünfzig Jahre später wiederholte die Bundeswehr, vermutlich in Unkenntnis der politisch untragbaren Löns-Parolen, die militärischen Feiern. In Fallingbostel.
Literatur:
Heinrich Thies: Mein Herz gib’ wieder her. Lisa und Hermann Löns.
Dietrich zu Klampen Verlag, Springe 2016
320 Seiten
Thomas Dupke: Hermann Löns. Mythos und Wahrheiten.
Claassen, Hildesheim 1996.
Dass es in Deutschland zahlreiche Goethe-Schulen, Schiller-Denkmäler, Kant-Statuen und eine Humboldt-Universität gibt, wird niemanden verwundern. Seltsame Blüten treibt aber der Erinnerungskult rund um den 1914 an der französischen Front bei Reims gefallenen "Heidedichter" Hermann Löns, der durch simple Lyrik, plattdeutsche Fabeln ("Mümmelmann", "Lüttjemann und Püttjerinchen") und gewaltgeladene historische Erzählungen ("Geschichte der Haidbauern: Der Wehrwolf") bekannt wurde, ansonsten aber vor allem durch ex-tremen Nationalismus, Alkoholexzesse und familienzerstörendes Dandytum aufgefallen ist. Nicht weniger als 140 Löns-Erinnerungsorte verzeichnet das allwissende Web, darunter auch Denkmäler in Österreich.
"Grün ist die Heide, die Heide ist grün/Rot sind die Rosen, eh’ sie verblühn" (bzw "wenn sie blühn") - so lautet einer der bekanntesten Verse aus dem Fundus Löns’scher Heide-Lyrik ("Rosengarten"), für die der norddeutsche Germanist und Kafka-Herausgeber Hans-Gerd Koch die Bezeichnung "Kitsch" noch als "Euphemismus" ansieht.
Dem am 29. August 1866 in Kulm/Chelmo bei Bromberg in Westpreußen (heute Polen) geborenen Naturbeobachter Löns sind allerdings einige Phrasen und "fliegende Worte" zuzuschreiben, die sich bis heute gehalten haben, wie etwa das Wahrnehmen von jenem Getier, "das da kreucht und fleucht" (ursprünglich: "fleugt"). Auch die wenig sympathischen Gestalten der Wehrwölfe stammen von Löns, der damit die verschworenen Haidbauern im Dreißigjährigen Krieg meinte. Ansonsten dominieren Scheinidyllen: "Im Wald und auf der Heide", "Was ich von den Tieren erlauschte", "Draußen vor dem Tor" - keine Banalitätsbarriere bewahrte den Leser vor Löns-Titeln.
Natürlich konnte Löns die finalen Ausmaße des nationalistischen Wahns nicht erahnen, starb er doch neunzehn Jahre vor Hitlers Machtübernahme. Bei gehöriger Distanz zu den politischen Implikationen Löns’scher Texte muss dem Autor immerhin journalistisches Talent zugebilligt werden. Der Studienabbrecher reüssierte nach erfolglosen Versuchen in Kaiserslautern und in Gera bei der "Hannoveraner Allgemeinen Zeitung", wo er die Pseudonyme "Fritz von der Leine" und "Ulenspiegel" verwendete.
Seit dem Jahr 1996 liegt eine kritische Löns-Biographie von Thomas Dupke vor. Als er aus seinem Werk an Löns-Gedenkstätten lesen wollte, kam es zu tumultartigen Szenen. Die für manche schmerzhafte, biographische Arbeit zerstörte langjährig gesponnene Löns-Mythen. Gleichwohl treibt der Löns-Erinnerungskult, der bei uns weniger spürbar ist, rund um Hannover und Münster wilde Blüten. In der ehemaligen "Schänke" mit dem treffenden Titel "Zur Falle" und dem Redaktionsgebäude, das einst das jüdische Bankhaus Heyne (Heinrich Heines Onkel gehörend) beherbergte, finden sich jene Räume, in denen Löns um 1890 seine Glossen verfasste.
Aber auch in anderen Städten gibt es Löns-Monumente und sogar Löns-Parks, wie etwa in Düsseldorf, Münster oder Hamburg. Weitere Gedenkstätten, bei denen kritischen Anmerkungen Mangelware sind, finden sich in der Heidegegend Westfalens. Ein Dutzend Löns-Apotheken laden mit Naturheilmitteln zum Genesen am deutschen Wesen ein. Auch ein Löns-Museum kann in der Heidegegend besichtigt werden, die Koordination der Löns-Gesellschaften durch einen zentralen Verein ("e.V.") hat ebenfalls ihr Zentrum in der "Hermann-Löns-Stadt" Walsrode.
Autoren wie Wilhelm Deimann erinnerten vor dem Krieg an Löns’ "soldatisches Vermächtnis" und machten ihn post festum (1966) zum Ahnherrn der Verhaltensforschung. Beides ist zweifelhaft, da Löns vor seinem Tod bei Loivre /Reims nur acht Wochen Ausbildung genoss und als einfacher Füsilier mit 48 Jahren am 26. 9. 1914 in das Mündungsfeuer der französischen Verteidiger geriet. Zuvor hatte er noch in seinem Tagebuch vermerkt, dass er unter "lauter Niedersachsen" war, sein Regiment war auch jenes der Hannoveraner, in dem später Ernst Jünger diente.
Mythos und Kult
Der frühe Tod an der Front trug zum "Mythos Löns" bei, wobei die Epigonen in verklärender und verfälschender Weise den potenziellen Selbstmord nach mehreren Nervenzusammenbrüchen zur patriotischen Heldentat hypostasierten. Dem holzbraunen National-Fass schlägt hier ein Werk von Carl Kuhle den Boden aus, indem es Herbert Löns gemeinsam mit Gorch Fock und Walter Flex zu "Vaterlandsbejahern" adelte. Auch die Löns-Gedenkbücher, ein Löns-Brevier und andere biographische Werke aus der 1930er und 1940er Jahren kehrten die nationale Seite des Heidedichters hervor.
Man hätte daher füglich vermuten dürfen, dass nach 1945 Schluss mit dem Löns-Kult sein würde, aber spätestens ab 1949, als der Entnazifizierungsdruck nachließ, entstanden bereits wieder neue Traditionen und die mehr als sieben Millionen Löns-Bücher erhielten neue Auflagen. Der Heidedichter erlebte eine Renaissance, auf welche viele der verfemten und "verbrannten" Dichter lange warten mussten.
Die Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bemühen sich um das Löns-Erbe in einer angemesseneren Form als einst, wo Blut-und-Boden-Metaphorik, Treueschwüre zum Vaterland und politischer Revisionismus blühten. Datenbanken der westfälischen Autoren (www.lwl.org) erleichtern den Zugang zu den Texten und Biografica. Der unbeugsame Efeu der Geschichte wuchert mildtätig auch über den ursprünglichen Löns-Gedenkstätten und dreht den "spin" in ein andere Richtung: So berichtet eine lokale Zeitung in Winingen etwa von der Aufnahme von 245 Asylwerbern in der dortigen "Löns-Schule". Einst hat sich Löns selbst als "Teutone hoch Vier" bezeichnet und Toleranz als Schwäche abgetan.
Auch an der einstigen journalistischen Wirkungsstätte, der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung", hat Heinrich Thies, ein vormaliger Redakteur, Löns und seiner zweiten Gattin Lisa eine Romanbiographie gewidmet, die heuer im März erschienen ist. Der Autor beschreibt die eigentümliche Liebesgeschichte zwischen der erst siebzehnjährigen Volontärin, die gerne über die Beisetzung Wilhelms I. in einem Mausoleum in Charlottenburg berichtet hätte, zunächst aber Dienste als Telephon-Stenographin verrichten musste.
Erst nach und nach durfte sie auch eigene Texte verfassen. Die Tochter eines bekannten Landschaftsmalers hieß eigentlich Louise Dorette Karoline, die Abkürzung "Lisa" verstellte somit den Blick auf frankophone Vornamen, wobei sie im Gründungsjahr des Deutschen Reichs 1871, unmittelbar nach dem Deutsch-Französischen Krieg, geboren wurde. Füglich stammte Lisa nicht aus einer national eingestellten Familie und wehrte sich auch nach Hitlers Machtübernahme gegen die Vereinnahmung der - allerdings hinsichtlich ihres Hurra-Patriotismus, ja Chauvinismus nur zu willfährig nutzbaren - Texte ihres Gatten für die NS-Propaganda. Dass sie englische Bücher wie Jack Londons "Call Of The Wild" oder eine Familiensaga über die "Singermanns" 1930 übersetzte, spricht gegen eine nationale Ausrichtung von Lisa.
Schreibwahn
Löns’ Werke erschienen im Verlag Adolf Sponholtz (Hameln), bei Diederich (Düsseldorf) und bei Nymphenburger mit Auflagenzahlen jenseits der sieben Millionen. Vermutlich traf der Autor mit seinen zum Teil humoristischen, zum Teil auch kinderbuchtauglichen Texten (etwa über den Hund "Widu" oder Igelfamilien) den Nerv der Zeit und erreichte mit seinen Heide-Titeln die Massen.
Dass Löns als Vorläufer der Naturschutz- und Nationalparkidee angesehen wird, mag auch Substanz haben, wobei aber vielfach die Blut-und-Boden-Metaphorik und die politischen Nebengeräusche verharmlosend ausgeblendet werden. Die Vertonung einiger Löns-Texte verlängerte deren Wirkungsdauer beträchtlich, wenn es sich auch teilweise um kriegstreiberische Soldatenlieder handelt, wie das "Engelland-Lied". (Aus dem Trivialtext: "Gib mir deine Hand, deine weiße Hand . . . denn wir fahren gegen Engelland").
Bedenkt man, dass Löns nur um sieben Jahre länger lebte als Kafka, so gewinnt man den Eindruck, dass er Ghostwriter gehabt haben muss, wenn man sich durch die über achttausend verfügbaren Titel im Zentralverzeichnis der Antiquariate quält. Tatsächlich litt Löns unter einer Art Schreibwahn, er sperrte sich ein und fabrizierte in nächtelangen Sessionen binnen kurzem seine Bücher, in diesem Punkt Kafka nicht völlig unähnlich. Aber während der Prager nie aggressiv wurde und auch nur mäßig trank, soll Löns seine Umwelt mit Messerattacken traktiert haben und mitunter nach durchzechter Nach außerhalb der Stadt aufgewacht sein. Die selbstzerstörerische Arbeitsweise endete naturgemäß in Zusammenbrüchen und einem pathologischen Wandertrieb, verbunden mit den Symptomen eines Quartalsäufers. Daher reichte es im Jahr 1911 auch der toleranten Gattin Lisa und sie verließ, nach tätlichen Angriffen auf den gemeinsamen Sohn Dettmer, den manischen Autor, ohne je Alimente von ihm zu empfangen.
Makabre Groteske
Wer heute in einer der zahlreichen Löns-Parkanlagen Ruhe und Entspannung sucht, wird vielleicht durch die Tatsache irritiert sein, dass der nachmalige "Führer" und Reichskanzler Hitler, dessen Kommen Löns im "Antichrist" vorhergesagt hatte, die Exhumierung und Überführung der im Jahr 1934 angeblich wieder aufgefundenen Löns-Gebeine anordnete.
Nach einer grotesk-makaberen Hin- und Herschieberei der sterblichen Überreste, die noch dazu vermutlich einem anderen Soldaten zuzuordnen sind, kam es zu einer Art "Parallelaktion". Statt zu prüfen, ob es sich bei den Gebeinen überhaupt um die Überreste des Dichters handelte, verzichtete der sonst bürokratisch-akribische NS-Staat auf eine forensische Untersuchung. Da der geplante Begräbnisort auf einem projektierten Truppenübungsplatz lag, musste der Gauleiter ein Privatgrundstück bei Fallingbostel bereitstellen, wohin SA-Männer die Gebeine in einem Handstreich verbrachten; schließlich aber war es die Reichswehr, die Löns (oder das, was man für seinen Leichnam hielt) wieder exhumierte und 1935 feierlich unter einem Findling am Tietlinger Wacholderhain beisetzte - im Übrigen gegen den ausdrücklichen Willen des Dichters, der auf seinem Grab gar keinen Stein wünschte.
Fünfzig Jahre später wiederholte die Bundeswehr, vermutlich in Unkenntnis der politisch untragbaren Löns-Parolen, die militärischen Feiern. In Fallingbostel.
Literatur:
Heinrich Thies: Mein Herz gib’ wieder her. Lisa und Hermann Löns.
Dietrich zu Klampen Verlag, Springe 2016
320 Seiten
Thomas Dupke: Hermann Löns. Mythos und Wahrheiten.
Claassen, Hildesheim 1996.
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Gerhard Strejcek
Registrierkassenstreit in der Verlängerung
Der Standard, 05.07.2016
Verfassungsklagen der Wirte gegen Ausnahmen für Feste haben Aussicht auf Erfolg
Wien – In der Frühjahrssession (G 606/2015) hat der Verfassungsgerichtshof einen ersten Individualantrag gegen die im Vorjahr beschlossene elektronische Registrierkassenpflicht (§ 131b Bundesabgabenordnung – BAO usw.) abgewiesen. Damit sind aber noch lange nicht alle Bedenken gegenüber dem unübersichtlichen Geflecht an Abgabenvorschriften ausgeräumt.
In der März-Entscheidung ging es um Behauptungen, wonach die Regelung allgemein gegen die Erwerbsfreiheit, das Rückwirkungs- und das Klarheitsgebot verstößt. Der VfGH hielt die Intention des Gesetzgebers für legitim, erachtete die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe wie Barzahlung und -umsätze sowie die Gleichbehandlung von Bar-, Bankomat- und Kreditkartenzahlungen für zulässig und stellte klar, dass Sanktionen erst am 1. Mai in Kraft getreten und seither wirksam sind.
Offen blieb aber, ob die Ausnahmen – etwa für Fiaker, Kutschen und Schlitten, nicht aber für Taxis – gerechtfertigt sind. Dazu kommen weitere Bedenken gegen die Ausführungsverordnungen. Es besteht also Raum für neue, zulässige und erfolgreiche Anträge.
Vermutlich noch in dieser Session des VfGH fällt eine Entscheidung über eine zweite, substanziell begründete Anfechtung eines oberösterreichischen Taxiunternehmens. Diesmal geht es auch um die Gesetzeskonformität der Verordnungen, die die Barumsätze erfassen, und Bedenken gegen die gesetzlichen Grundlagen in § 131b BAO.
Der hauptsächlich im Dorf- und Kleinstadtbereich tätige Unternehmer machte deutlich, zu welchen absurden Folgen die Belegausstellung in einem in zweiter Spur wartenden Fahrzeug mit sich bringt, das z. B. eine Pizzalieferung zustellen muss. Zweifel bestehen auch an der Temperaturbeständigkeit der in Autos verwendbaren Thermodrucker.
Ärger im Finanzministerium
Das Finanzministerium hat das neue Verfahren mit sichtlichem Widerwillen begleitet, wie sich aus den Äußerungen ergibt, die eine neuerliche Befassung in derselben Sache ("ne bis in idem") beklagen. Gerne würden die Beamten auch zukünftige Verfahren gegen die Registrierkassenpflicht mit diesen Gegenargumenten abgedeckt wissen.
Aber es könnte sein, dass der Wunsch nicht in Erfüllung geht, denn der Aufwand erweist sich für Kleingewerbetreibende als eminent – etwa für die Friseurin, die einen Chip um mehr als tausend Euro für ihre bestehende Kasse anschaffen musste.
Verunsicherung und interne Zweifel am "großen Wurf" zeigen sich auch darin, dass zwischenzeitig neue, vermutlich wieder unsachliche Ausnahmen beschlossen wurden. So kann kaum vertreten werden, dass das Beisel von nebenan strengstens zur Umsatzdokumentation gezwungen wird, Großfeste mit prominenten Besuchern hingegen nicht. Kein Wunder, dass sich die Wirte wehren.
Auch angesichts steigender Abgaben zählen die für den Fremdenverkehr und das Gesellschaftsleben in Ortschaften so wichtigen Wirte zu den am stärksten belasteten Unternehmern, die nun bei vergleichbaren Tätigkeiten wie Ausschank und Verköstigung gegenüber Landwirten, Vereinen und Parteien unsachlich benachteiligt werden. Die nächste Runde des Registrierkassenstreits ist bereits eingeläutet.
Wien – In der Frühjahrssession (G 606/2015) hat der Verfassungsgerichtshof einen ersten Individualantrag gegen die im Vorjahr beschlossene elektronische Registrierkassenpflicht (§ 131b Bundesabgabenordnung – BAO usw.) abgewiesen. Damit sind aber noch lange nicht alle Bedenken gegenüber dem unübersichtlichen Geflecht an Abgabenvorschriften ausgeräumt.
In der März-Entscheidung ging es um Behauptungen, wonach die Regelung allgemein gegen die Erwerbsfreiheit, das Rückwirkungs- und das Klarheitsgebot verstößt. Der VfGH hielt die Intention des Gesetzgebers für legitim, erachtete die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe wie Barzahlung und -umsätze sowie die Gleichbehandlung von Bar-, Bankomat- und Kreditkartenzahlungen für zulässig und stellte klar, dass Sanktionen erst am 1. Mai in Kraft getreten und seither wirksam sind.
Offen blieb aber, ob die Ausnahmen – etwa für Fiaker, Kutschen und Schlitten, nicht aber für Taxis – gerechtfertigt sind. Dazu kommen weitere Bedenken gegen die Ausführungsverordnungen. Es besteht also Raum für neue, zulässige und erfolgreiche Anträge.
Vermutlich noch in dieser Session des VfGH fällt eine Entscheidung über eine zweite, substanziell begründete Anfechtung eines oberösterreichischen Taxiunternehmens. Diesmal geht es auch um die Gesetzeskonformität der Verordnungen, die die Barumsätze erfassen, und Bedenken gegen die gesetzlichen Grundlagen in § 131b BAO.
Der hauptsächlich im Dorf- und Kleinstadtbereich tätige Unternehmer machte deutlich, zu welchen absurden Folgen die Belegausstellung in einem in zweiter Spur wartenden Fahrzeug mit sich bringt, das z. B. eine Pizzalieferung zustellen muss. Zweifel bestehen auch an der Temperaturbeständigkeit der in Autos verwendbaren Thermodrucker.
Ärger im Finanzministerium
Das Finanzministerium hat das neue Verfahren mit sichtlichem Widerwillen begleitet, wie sich aus den Äußerungen ergibt, die eine neuerliche Befassung in derselben Sache ("ne bis in idem") beklagen. Gerne würden die Beamten auch zukünftige Verfahren gegen die Registrierkassenpflicht mit diesen Gegenargumenten abgedeckt wissen.
Aber es könnte sein, dass der Wunsch nicht in Erfüllung geht, denn der Aufwand erweist sich für Kleingewerbetreibende als eminent – etwa für die Friseurin, die einen Chip um mehr als tausend Euro für ihre bestehende Kasse anschaffen musste.
Verunsicherung und interne Zweifel am "großen Wurf" zeigen sich auch darin, dass zwischenzeitig neue, vermutlich wieder unsachliche Ausnahmen beschlossen wurden. So kann kaum vertreten werden, dass das Beisel von nebenan strengstens zur Umsatzdokumentation gezwungen wird, Großfeste mit prominenten Besuchern hingegen nicht. Kein Wunder, dass sich die Wirte wehren.
Auch angesichts steigender Abgaben zählen die für den Fremdenverkehr und das Gesellschaftsleben in Ortschaften so wichtigen Wirte zu den am stärksten belasteten Unternehmern, die nun bei vergleichbaren Tätigkeiten wie Ausschank und Verköstigung gegenüber Landwirten, Vereinen und Parteien unsachlich benachteiligt werden. Die nächste Runde des Registrierkassenstreits ist bereits eingeläutet.
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Gerhard Strejcek
Novizin als Meisterin
Wiener Zeitung, 02.07.2016
Christine Lavants zu Lebzeiten erschienenen Erzählungen sind erstmals gesammelt erschienen - und zeigen sie als ästhetisch höchst eigenständige Autorin.
Als am 4. Juli des Vorjahres die hundertste Wiederkehr des Geburtstages der lange schon verstorbenen Christine Lavant (geb. Thonhauser, verehelichte Habernig) anstand, ging ein Raunen durch den Blätterwald. Die ehemalige Nonne aus dem Kärntner Lavanttal, die es als Novizin im Ständestaat in das mittlerweile aufgelassene Frauen-Kloster im niederösterreichischen Eichgraben verschlagen hatte, erwies sich im Rückblick als ungewöhnliche, sensible und eigenständige Autorin - eine der besten, die Österreich je hervor gebracht hat.
Kettenraucherin
Dank der kundigen und umfangreichen Edition ihrer zu Lebzeiten publizierten Prosa im Göttinger Wallstein-Verlag bleibt uns die stille Kettenraucherin nun auch hundertein Jahre nach ihrer Geburt in Erinnerung. Ihre zugleich verstörenden wie auch ästhetisch ansprechenden Erzählungen, viele davon aus der Perspektive des Kindes oder der jungen Frau konzipiert, ziehen den Leser in ihren Bann. Da ist die magische Tür, durch welche die erkrankten Kinder im Pflegeheim in einen abenteuergeladenen Mikrokosmos tauchen, da sind die unheimlichen Kobolde, das Wechselbälgchen und andere Wesen, die einer Sage entsprungen zu sein scheinen.
Lavant ist und bleibt eine Ausnahmedichterin, deren von Rilke beeinflusste Lyrik vielen bekannt war, doch als Erzählerin ist sie eine späte Wieder-Entdeckung. Ihr Prosawerk war schwer zugänglich und bis vor kurzem größtenteils vergriffen. Dass es so wenige Ausgaben ihrer ansprechenden Werke gab, hing mit den Kosten und einer schwierigen Editionsgeschichte in der Nachkriegszeit zusammen.
Doch im Vorjahr konnte mit Hilfe Klagenfurter Germanisten eine vorzügliche und weitgehend vollständige Ausgabe der zu Lebzeiten verstreut erschienenen Prosa Lavants bei Wallstein erscheinen, die in jede Biblioteca Austriaca gehört und ebenso wie der Lyrikband in einer passenden Cyan-Farbe am Schutzumschlag und mit einer wertvollen. bibliophilen Ausstattung erschienen ist.
Einige der Erzählungen stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und spiegeln das überaus karge Landleben sowie die ausufernde Phantasie der noch jungen Autorin wider. Später konnte die unkonventionelle, zerbrechlich-robuste Überlebenskünstlerin ihre sozialen und regionalen Grenzen ausdehnen. Inspirierend wirkte sie auf Thomas Bernhard, ein Teil seiner Autobiografie trägt ja den Titel "Ein Kind", der von der Lavant stammen könnte. Sie blieb mit ihm in Korrespondenz, oftmals aufmunternd, stets kollegial und warmherzig. Sie wusste um die harte Jugend Bernhards, kannte wohl auch die Fotos, die den Blondschopf in Lederhosen mit der verhärmt wirkenden, strengen Mutter Anna Bernhard und dem bürgerlich-fremden Stiefvater zeigen.
Bei Christine Lavant war das alle anders, aber wegen ihrer schwachen Konstitution ging es ihr auch nicht viel besser als Thomas Bernhard in der Kindheit. Darüber konnte sie sich mit ihm am Thonhof austauschen; von dort schied der Schwierige im Streit mit Gerhard und Maja Lampersberg, was er später bekanntlich in "Holzfällen" in extremer und kontroversieller Form thematisierte. Lavants Reflexionen sind milder, aber nicht weniger beunruhigend als die ihres Alter Ego in Ohlsdorf.
"Wechselbälgchen"
Wer sich zusätzlich zum dicken und bibliophilen Wallstein-Band, dem zweiten nach der Ausgabe ihrer Gedichte, den kleinen Luxus eines Hörbuchs mit musikalischen Intermezzi des Rosmanith-Trios gönnen will, dem sei die Ausgabe des "Wechselbälgchens" im Mandelbaum-Verlag empfohlen, deren Duktus durch die markante Stimme von Sophie Rois gewinnt.
Als am 4. Juli des Vorjahres die hundertste Wiederkehr des Geburtstages der lange schon verstorbenen Christine Lavant (geb. Thonhauser, verehelichte Habernig) anstand, ging ein Raunen durch den Blätterwald. Die ehemalige Nonne aus dem Kärntner Lavanttal, die es als Novizin im Ständestaat in das mittlerweile aufgelassene Frauen-Kloster im niederösterreichischen Eichgraben verschlagen hatte, erwies sich im Rückblick als ungewöhnliche, sensible und eigenständige Autorin - eine der besten, die Österreich je hervor gebracht hat.
Kettenraucherin
Dank der kundigen und umfangreichen Edition ihrer zu Lebzeiten publizierten Prosa im Göttinger Wallstein-Verlag bleibt uns die stille Kettenraucherin nun auch hundertein Jahre nach ihrer Geburt in Erinnerung. Ihre zugleich verstörenden wie auch ästhetisch ansprechenden Erzählungen, viele davon aus der Perspektive des Kindes oder der jungen Frau konzipiert, ziehen den Leser in ihren Bann. Da ist die magische Tür, durch welche die erkrankten Kinder im Pflegeheim in einen abenteuergeladenen Mikrokosmos tauchen, da sind die unheimlichen Kobolde, das Wechselbälgchen und andere Wesen, die einer Sage entsprungen zu sein scheinen.
Lavant ist und bleibt eine Ausnahmedichterin, deren von Rilke beeinflusste Lyrik vielen bekannt war, doch als Erzählerin ist sie eine späte Wieder-Entdeckung. Ihr Prosawerk war schwer zugänglich und bis vor kurzem größtenteils vergriffen. Dass es so wenige Ausgaben ihrer ansprechenden Werke gab, hing mit den Kosten und einer schwierigen Editionsgeschichte in der Nachkriegszeit zusammen.
Doch im Vorjahr konnte mit Hilfe Klagenfurter Germanisten eine vorzügliche und weitgehend vollständige Ausgabe der zu Lebzeiten verstreut erschienenen Prosa Lavants bei Wallstein erscheinen, die in jede Biblioteca Austriaca gehört und ebenso wie der Lyrikband in einer passenden Cyan-Farbe am Schutzumschlag und mit einer wertvollen. bibliophilen Ausstattung erschienen ist.
Einige der Erzählungen stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und spiegeln das überaus karge Landleben sowie die ausufernde Phantasie der noch jungen Autorin wider. Später konnte die unkonventionelle, zerbrechlich-robuste Überlebenskünstlerin ihre sozialen und regionalen Grenzen ausdehnen. Inspirierend wirkte sie auf Thomas Bernhard, ein Teil seiner Autobiografie trägt ja den Titel "Ein Kind", der von der Lavant stammen könnte. Sie blieb mit ihm in Korrespondenz, oftmals aufmunternd, stets kollegial und warmherzig. Sie wusste um die harte Jugend Bernhards, kannte wohl auch die Fotos, die den Blondschopf in Lederhosen mit der verhärmt wirkenden, strengen Mutter Anna Bernhard und dem bürgerlich-fremden Stiefvater zeigen.
Bei Christine Lavant war das alle anders, aber wegen ihrer schwachen Konstitution ging es ihr auch nicht viel besser als Thomas Bernhard in der Kindheit. Darüber konnte sie sich mit ihm am Thonhof austauschen; von dort schied der Schwierige im Streit mit Gerhard und Maja Lampersberg, was er später bekanntlich in "Holzfällen" in extremer und kontroversieller Form thematisierte. Lavants Reflexionen sind milder, aber nicht weniger beunruhigend als die ihres Alter Ego in Ohlsdorf.
"Wechselbälgchen"
Wer sich zusätzlich zum dicken und bibliophilen Wallstein-Band, dem zweiten nach der Ausgabe ihrer Gedichte, den kleinen Luxus eines Hörbuchs mit musikalischen Intermezzi des Rosmanith-Trios gönnen will, dem sei die Ausgabe des "Wechselbälgchens" im Mandelbaum-Verlag empfohlen, deren Duktus durch die markante Stimme von Sophie Rois gewinnt.
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Gerhard Strejcek
Prager Reminiszenzen
Wiener Zeitung, 26.06.2016
Max Brods Erinnerungen an das Literatencafé Arco und seine Besucher wurden nun im Wallstein Verlag neu aufgelegt.
Es gab Zeiten, in denen Böhmen trotz aller politischen Konflikte das literarisch fruchtbarste Kronland der Habsburger war. In Prag saßen die Tschechisch und Deutsch Schreibenden nebeneinander, sie konferierten im Café "Arco" und anderen Literaturzen-tralen, während die Nationalitätenkonflikte auf der Straße oder im fernen Reichsrat in Wien tobten. Viele Autoren aus aufstrebenden jüdischen Familien waren darunter: der Jungstar Franz Werfel, dessen stolzer Vater Handschuhe erzeugte, der seltene Gast Kafka, dessen raubeiniger Vater mit Galanteriewaren handelte, und Max Brod, dessen besorgter Vater über den Bilanzen seiner Sparkasse brütete.
Produktives Umfeld
Vor fünfzig Jahren (1966) erschien erstmals Max Brods teils historisierende, teils analysierende Reminiszenz "Der Prager Kreis", die jetzt neu aufgelegt worden ist. Über Brods mitunter allzu selbst- und sendungsbewusste Darstellung lässt sich streiten, aber nicht darüber, dass die Leistungen dieses produktiven literarischen Umfelds tradiert werden müssen.
Abgesehen von Kafka wurden die Prager Feder-Ästheten ja zur Zielscheibe des Spotts, den Karl Kraus über die "Arconauten" ausschüttete. Obwohl selbst aus Gitschin/Jicin stammend, nahm der Wiener Satiriker dem schreibenden Max die Butter vom "Brod", wohl wissend, dass dies das tschechische Wort für Furt ist, weshalb viele slawische Städte an Flüssen so heißen. Aber für ein ironisches Wortspiel ließ der "Fackel"-Kraus Fünf gerade sein.
Dennoch: Die jungen Prager Literaten "lasen wohl zehn Jahre lang alles gemeinsam", trafen sich in diversen Zirkeln, neben dem Arco etwa bei Frau Fanto, dem Prager Pendant zu Jenny Mauthner und der Hofrätin Zuckerkandl, im Prager Louvre, oder auch im Rahmen der jüdischen Vereinigung Bar Kochba - allesamt soziale Netzwerke, die Steffen Höhne, der Verfasser des kundigen, soziologisch-literarisch fundierten Nachworts zur Neuerscheinung, Brodscher Initiative zuschreibt.
Aus Brünn stieß der schreibende Arzt Ernst Weiß zum Prager Kreis, Johannes Urzidil, der Meister der kleinen Form und Biograf namhafter Politiker belebte den Diskurs, Rainer Maria Rilke trumpfte von vielen unbemerkt mit Elegien auf. Und da war Paul Kornfeld, gemessen an heutigen Standards eine Begabung, den Brod verachtete und im Rückblick als "Belanglosigkeit in Person" beschrieb. Trotz solcher subjektiver Zuschreibungen war Brod, wie Peter Demetz im Vorwort zur Neuedition schreibt, "wie kein anderer dazu berufen, die Geschichte der Prager deutschen Literatur zu schreiben". Diese Literatur entstand in einem bipolaren Verhältnis zwischen den österreichisch-deutschen, jüdischen und den slawischen Kunstschaffenden. Hier konnten nationale, zionistische und slawophile Ausrichtungen nebeneinander bestehen und gedeihen.
Doch dann kam die Zuspitzung im Ersten Weltkrieg, die das fragile Gleichgewicht zerstörte. 1919 saß Max Brod im Prager Jüdischen Nationalrat, wurde Redakteur des "Prager Tagblattes" und Dramaturg, brachte es zu zahlreichen Ehrungen in der tschechischen Republik.
Das Ende
Zwei Jahrzehnte später war alles vorbei, Brod emigrierte 1938 nach Palästina. Der Prager Kreis, der - so Brod - von 1904 bis 1939 eine "viel freiere, hoffende, wenn auch nicht geradezu naive, so doch kindhafte Stimmung" verbreitete, als es die mitunter gehörte Unterstellung einer "dreifachen Ghettomauer" unterstellte, hatte sein Ende gefunden.
Gut also, dass der Kreis literarisch in einer von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann im Zusammenwirken mit Barbora ramková und Norbert Miller edierten Neuausgabe ausgewählter Brod-Werke wieder erstanden ist und durch den vorerst letzten der bibliophilen Bände geschlossen wird.
Literatur:
Max Brod: Der Prager Kreis
Göttingen 2016
344 Seiten
30,50 Euro
Es gab Zeiten, in denen Böhmen trotz aller politischen Konflikte das literarisch fruchtbarste Kronland der Habsburger war. In Prag saßen die Tschechisch und Deutsch Schreibenden nebeneinander, sie konferierten im Café "Arco" und anderen Literaturzen-tralen, während die Nationalitätenkonflikte auf der Straße oder im fernen Reichsrat in Wien tobten. Viele Autoren aus aufstrebenden jüdischen Familien waren darunter: der Jungstar Franz Werfel, dessen stolzer Vater Handschuhe erzeugte, der seltene Gast Kafka, dessen raubeiniger Vater mit Galanteriewaren handelte, und Max Brod, dessen besorgter Vater über den Bilanzen seiner Sparkasse brütete.
Produktives Umfeld
Vor fünfzig Jahren (1966) erschien erstmals Max Brods teils historisierende, teils analysierende Reminiszenz "Der Prager Kreis", die jetzt neu aufgelegt worden ist. Über Brods mitunter allzu selbst- und sendungsbewusste Darstellung lässt sich streiten, aber nicht darüber, dass die Leistungen dieses produktiven literarischen Umfelds tradiert werden müssen.
Abgesehen von Kafka wurden die Prager Feder-Ästheten ja zur Zielscheibe des Spotts, den Karl Kraus über die "Arconauten" ausschüttete. Obwohl selbst aus Gitschin/Jicin stammend, nahm der Wiener Satiriker dem schreibenden Max die Butter vom "Brod", wohl wissend, dass dies das tschechische Wort für Furt ist, weshalb viele slawische Städte an Flüssen so heißen. Aber für ein ironisches Wortspiel ließ der "Fackel"-Kraus Fünf gerade sein.
Dennoch: Die jungen Prager Literaten "lasen wohl zehn Jahre lang alles gemeinsam", trafen sich in diversen Zirkeln, neben dem Arco etwa bei Frau Fanto, dem Prager Pendant zu Jenny Mauthner und der Hofrätin Zuckerkandl, im Prager Louvre, oder auch im Rahmen der jüdischen Vereinigung Bar Kochba - allesamt soziale Netzwerke, die Steffen Höhne, der Verfasser des kundigen, soziologisch-literarisch fundierten Nachworts zur Neuerscheinung, Brodscher Initiative zuschreibt.
Aus Brünn stieß der schreibende Arzt Ernst Weiß zum Prager Kreis, Johannes Urzidil, der Meister der kleinen Form und Biograf namhafter Politiker belebte den Diskurs, Rainer Maria Rilke trumpfte von vielen unbemerkt mit Elegien auf. Und da war Paul Kornfeld, gemessen an heutigen Standards eine Begabung, den Brod verachtete und im Rückblick als "Belanglosigkeit in Person" beschrieb. Trotz solcher subjektiver Zuschreibungen war Brod, wie Peter Demetz im Vorwort zur Neuedition schreibt, "wie kein anderer dazu berufen, die Geschichte der Prager deutschen Literatur zu schreiben". Diese Literatur entstand in einem bipolaren Verhältnis zwischen den österreichisch-deutschen, jüdischen und den slawischen Kunstschaffenden. Hier konnten nationale, zionistische und slawophile Ausrichtungen nebeneinander bestehen und gedeihen.
Doch dann kam die Zuspitzung im Ersten Weltkrieg, die das fragile Gleichgewicht zerstörte. 1919 saß Max Brod im Prager Jüdischen Nationalrat, wurde Redakteur des "Prager Tagblattes" und Dramaturg, brachte es zu zahlreichen Ehrungen in der tschechischen Republik.
Das Ende
Zwei Jahrzehnte später war alles vorbei, Brod emigrierte 1938 nach Palästina. Der Prager Kreis, der - so Brod - von 1904 bis 1939 eine "viel freiere, hoffende, wenn auch nicht geradezu naive, so doch kindhafte Stimmung" verbreitete, als es die mitunter gehörte Unterstellung einer "dreifachen Ghettomauer" unterstellte, hatte sein Ende gefunden.
Gut also, dass der Kreis literarisch in einer von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann im Zusammenwirken mit Barbora ramková und Norbert Miller edierten Neuausgabe ausgewählter Brod-Werke wieder erstanden ist und durch den vorerst letzten der bibliophilen Bände geschlossen wird.
Literatur:
Max Brod: Der Prager Kreis
Göttingen 2016
344 Seiten
30,50 Euro
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Gerhard Strejcek
Porträtist in Uniform
Wiener Zeitung, 12.06.2016
Einem Einsatz an der Front entging Egon Schiele 1914 zwar, als bedingt tauglicher Soldat musste er aber Wach- und Schreibdienste
leisten, bei welchen er seine Darstellungskünste mittels Phantasie verfeinerte.
Wer sich den am 12. Juni 1890 in Tulln geborenen Maler Egon Schiele vor 100 Jahren vorstellen will, sieht vor dem geistigen Auge einen hageren Mann mit kurzgeschorenem Haar in der einfachen, grauen k.u.k. Felduniform, der seinen Dienst als Wachsoldat ableistet.
Schiele hoffte zunächst, dem Militärdienst zu entgehen, da anlässlich der militärärztlichen Untersuchung im Herbst 1914 ein unterdimensioniertes Herz festgestellt wurde. Doch im Folgejahr musste der Künstler auf Grund einer Nachmusterung einrücken und wurde in einer Schreibstube eines Kriegsgefangenenlagers für russische Offiziere unweit von Wieselburg eingesetzt. Seine Ausbildung zum Waffendienst erfolgte in Prag, in Wien musste Schiele Schanzarbeiten und Wachdienste leisten. Auch in der k.k. Konsumgenossenschaft für Militärgagisten amtierte der schlanke Mittzwanziger, der nicht zur Front abkommandiert wurde.
Sein Alter Ego in Prag, der ebenfalls schlanke und hoch aufgeschossene Franz Kafka (geboren am 4. 7. 1893), zählte zu den "Reklamierten", da er in der Arbeiter-Unfallversicherung unabkömmlich war, doch in einer Phase der Unproduktivität stellte Kafka 1916 allen Ernstes den Antrag, die Reklamierung aufzuheben, um einzurücken. Der Antrag wurde vom Direktor, der den freiwilligen Kriegsdienst "komisch" fand, abgelehnt, aber Kafka durfte trotz Urlaubssperre für Reklamierte im Juli 1916 nach Marienbad fahren, wo er sich mit seiner Verlobten Felice Bauer traf.
"Günstigste" Heirat
Zu diesem Zeitpunkt hatte Egon Schiele bereits geheiratet und zwar "günstigst", wie er einem Freund versicherte. Die Auserwählte war eine gutbürgerliche Nachbarstochter namens Edith Harms, die im Haus Hietzinger Hauptstraße 114 ihm gegenüber gelebt hatte und ihm gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Adele aufgefallen war. Das eigentliche Opfer von Schieles Avancen war nicht die bürgerliche Moral, der er sich auf Wunsch der Schwiegermutter unterwarf, sondern seine zunächst nichts ahnende Lebensgefährtin Wally Neuzil.
Als Verheirateter und nur bedingt tauglicher Soldat hatte Schiele beim Militär einige Vergünstigungen, dank verständnisvoller Vorgesetzter konnte er zeitweise produktiv weiter arbeiten. Vergnügen war sein Dienst dennoch keiner. Wacheschieben vor Arsenalen und Kasernen und militärische Schreibarbeiten sind - verglichen mit dem Fronteinsatz - zwar ein Privileg, aber mitunter trotzdem eine quälende, nicht enden wollende Angelegenheit.
Schiele vertrieb sich die "toten Stunden", indem er in Foto-Motiven dachte. Diese einzigartige Apperzeptionsgabe verdankte er dem tschechischen Fotokünstler Trcka, der Schiele, so wie andere böhmische Fotografen, für diese Technik begeistert hatte. Dass damals mit Platten und nur in Schwarz-Weiß gearbeitet wurde, kam dem Grafiker und Maler entgegen. Nachkolorieren war eine der Stärken Schieles, die er bei Bleistift- und Kreidezeichnungen optimierte. Seine Farben waren expressiver und anders als jene, die erst viel später (ab den 1930er Jahren) auf Zelluloid gebannt werden konnten.
Schiele überlegte sich in der Öde des uniformen Auf und Ab neue Bilder, vor allem Selbstpor-träts und Darstellungen seiner Gattin Edith, die er knapp vor seinem Einrücken nach evangelischem Ritus geheiratet hatte. Obwohl Schiele von der Krumauer Mutterseite her katholisch getauft war, hatten die Schwiegereltern auf der Beibehaltung der Konfession ihrer Tochter bestanden.
Der unstete Maler war als Ehemann trotz der bedrohlichen Auswirkungen des Weltkriegs ausgeglichener und ruhiger geworden. Seiner früheren Geliebten Wally Neuzil hatte er seinen Sinneswandel zu erklären versucht, aber nach einer Abschiedsszene in einem Hietzinger Café, die Dietmar Grieser in "Eine Liebe in Wien" einfühlsam beschreibt, musste Wally verbittert weichen. Sie wurde Rotkreuzschwester und starb 1917 in einem dalmatinischen Marinelazarett, wo sie sich mit Scharlach angesteckt hatte.
Wally und Edith ähnelten einander zwar in mancherlei Hinsicht, aber die Gattin schien feiner strukturiert als ihre Vorgängerin und bestand auf einer "reinen" Beziehung, deren Rahmen sie vorgegeben und mit ihrer Würde als "Weib" begründet hatte. Sie war zwar drei Jahre jünger als Egon, wirkte aber trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre ladylike und erwachsen. Mit den exponierten Darstellungen ihrer Vorgängerin Wally lernte sie zu leben, duldete aber zunächst keine anderen Aktmodelle. Edith ("Dit", "Ditta") erkannte und liebte den Genius an ihrer Seite und wusste, dass Egon zu ihr stand, sie bewunderte und manchmal einen Gang zurück schaltete, wenn es um öffentliche Auftritte ging. Das modische Paar rund um die Hietzinger Wohnung fiel den Passanten auf. Wenn es Dienst und Energien zuließen, hielt sich Schiele in einem seiner zwei Ateliers auf, für größere Formate hatte er in der Wattmanngasse dank steigender Nachfrage ein Studio mit höheren Räumen angemietet, wo er bis zum Sommer 1918 einige wichtige Werke vollenden konnte.
In Wien konnte Schiele freier agieren als in Krumau oder Neulengbach, wo er in Konflikte mit Behörden geraten war. 1912 musste Schiele in Neulengbach eine empfindliche Demütigung hinnehmen: Nach lokalen Denunziationen, er hätte ein jugendliches Modell "entführt", geriet er in U-Haft und musste schließlich eine dreitägige Arreststrafe absitzen. Schon in Krumau hatten besorgte Bürger die Aktivitäten des Zwanzigjährigen angezeigt. Die demütigende Neulengbacher Haft des Künstlers kann heute im Schiele-Museum in Tulln vom Besucher dank einer nachgebauten Zelle nachvollzogen werden.
Erfolg und Tod
Zum Zeitpunkt seiner Verurteilung war der gebürtige Tullner als Künstler kein Unbekannter, denn schon 1908 hatte er erstmals an einer Ausstellung im Stift Klosterneuburg seine Werke zeigen können. Im idyllischen Stiftsmuseum der Chorherren hängen heute noch zwei kleine, besonders stimmungsvolle Darstellungen von Straßenszenen, die Schiele damals angefertigt hatte. Aber der junge Wilde wollte weiter hinaus. Gemeinsam mit Anton Peschka und Anton Faistauer gründete er 1909 die "Neukunstgruppe", womit sich die Abwendung vom Jugendstil und die Hinwendung zu expressiver Darstellung schon abzeichnete.
Erfolg und Tod lagen bei Schiele eng beisammen, denn in den letzten Kriegsjahren war das Interesse an seinen Werken sprunghaft gestiegen: Hofrat Haberditzl hatte ein Porträt von Edith für die Österreichische Galerie angekauft, auch Schieles andere Werke (etwa die Kreidezeichnungen) fanden Käufer, darunter viele kunstinteressierte jüdische Sammler. Als Soldat musste Schiele aber stets mit dem Schlimmsten rechnen und hatte daher seine privaten Verhältnisse geordnet. Sowohl Egon als auch Edith verfassten ihre Testamente auf zartrotem Papier, wobei auffällt, dass Schiele erst nach 1922 eine Veräußerung seiner Werke erlaubte, nachdem er bereits Ende Oktober 1918 tatsächlich in Wien verstorben war.
Auch Edith starb, noch dazu schwanger, knapp vor ihm an der Spanischen Grippe, und wurde am Friedhof in Ober Sankt Veit begraben. Nach der Beerdigung nahm das Schicksal seinen Lauf, auch Schiele ereilte der Virus. Mit den verzweifelten Worten "Der Krieg ist aus, und ich muss gehen", die seine Schwägerin Adele Harms aufzeichnete, verschied der Künstler am Reformationstag (31. 10.) des Jahres 1918.
Tullner Erinnerungen
Im Juni und Juli empfiehlt es sich besonders, auf Schieles Spuren nach Tulln zu fahren. Rund um den Jahrestag seines Geburtstags steht die Nibelungen- und Bezirkshauptstadt ganz im Zeichen des 1918 verstorbenen Malers.
Vor kurzem wurde eine Tullner Schule in der Kirchengasse nach Schiele benannt, deren rühriger Direktor und in England diplomierter Pädagoge, Josef Schostal, nicht locker ließ, ehe die erste von drei Tullner Volksschulen diesen Namen erhielt. Wer das Art Center und das 2011 neu adaptierte Museum besucht, kann Schieles Leben und Schaffen von vielen Seiten her kennen lernen, auf einem interaktiven Schiele-Weg wandeln und in einem Schiele-Garten innehalten.
Seit rund 25 Jahren würdigt die Stadt Tulln ihren berühmtesten Bürger intensiv, indem sie sein Geburtshaus renovieren ließ und eigene Schiele-Stadtführungen angeboten werden. Am Wochenende des 11. und 12. Juni bieten Experten ein vielfältiges Programm unter dem Titel "Begegnung mit Egon Schiele", wo der Sohn des Bahnhofsvorstands von Tulln u.a. auch in seiner kindlichen Liebe für Modelleisenbahnen vorkommt. br>
Literatur:
Dietmar Grieser: Eine Liebe in Wien.
Verlag des NÖ Pressehauses
St.Pölten/Wien 1989.
Christian Nebehay: Egon Schiele. Leben und Werk.
Verlag Brandstätter
Wien 1980.
Wer sich den am 12. Juni 1890 in Tulln geborenen Maler Egon Schiele vor 100 Jahren vorstellen will, sieht vor dem geistigen Auge einen hageren Mann mit kurzgeschorenem Haar in der einfachen, grauen k.u.k. Felduniform, der seinen Dienst als Wachsoldat ableistet.
Schiele hoffte zunächst, dem Militärdienst zu entgehen, da anlässlich der militärärztlichen Untersuchung im Herbst 1914 ein unterdimensioniertes Herz festgestellt wurde. Doch im Folgejahr musste der Künstler auf Grund einer Nachmusterung einrücken und wurde in einer Schreibstube eines Kriegsgefangenenlagers für russische Offiziere unweit von Wieselburg eingesetzt. Seine Ausbildung zum Waffendienst erfolgte in Prag, in Wien musste Schiele Schanzarbeiten und Wachdienste leisten. Auch in der k.k. Konsumgenossenschaft für Militärgagisten amtierte der schlanke Mittzwanziger, der nicht zur Front abkommandiert wurde.
Sein Alter Ego in Prag, der ebenfalls schlanke und hoch aufgeschossene Franz Kafka (geboren am 4. 7. 1893), zählte zu den "Reklamierten", da er in der Arbeiter-Unfallversicherung unabkömmlich war, doch in einer Phase der Unproduktivität stellte Kafka 1916 allen Ernstes den Antrag, die Reklamierung aufzuheben, um einzurücken. Der Antrag wurde vom Direktor, der den freiwilligen Kriegsdienst "komisch" fand, abgelehnt, aber Kafka durfte trotz Urlaubssperre für Reklamierte im Juli 1916 nach Marienbad fahren, wo er sich mit seiner Verlobten Felice Bauer traf.
"Günstigste" Heirat
Zu diesem Zeitpunkt hatte Egon Schiele bereits geheiratet und zwar "günstigst", wie er einem Freund versicherte. Die Auserwählte war eine gutbürgerliche Nachbarstochter namens Edith Harms, die im Haus Hietzinger Hauptstraße 114 ihm gegenüber gelebt hatte und ihm gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Adele aufgefallen war. Das eigentliche Opfer von Schieles Avancen war nicht die bürgerliche Moral, der er sich auf Wunsch der Schwiegermutter unterwarf, sondern seine zunächst nichts ahnende Lebensgefährtin Wally Neuzil.
Als Verheirateter und nur bedingt tauglicher Soldat hatte Schiele beim Militär einige Vergünstigungen, dank verständnisvoller Vorgesetzter konnte er zeitweise produktiv weiter arbeiten. Vergnügen war sein Dienst dennoch keiner. Wacheschieben vor Arsenalen und Kasernen und militärische Schreibarbeiten sind - verglichen mit dem Fronteinsatz - zwar ein Privileg, aber mitunter trotzdem eine quälende, nicht enden wollende Angelegenheit.
Schiele vertrieb sich die "toten Stunden", indem er in Foto-Motiven dachte. Diese einzigartige Apperzeptionsgabe verdankte er dem tschechischen Fotokünstler Trcka, der Schiele, so wie andere böhmische Fotografen, für diese Technik begeistert hatte. Dass damals mit Platten und nur in Schwarz-Weiß gearbeitet wurde, kam dem Grafiker und Maler entgegen. Nachkolorieren war eine der Stärken Schieles, die er bei Bleistift- und Kreidezeichnungen optimierte. Seine Farben waren expressiver und anders als jene, die erst viel später (ab den 1930er Jahren) auf Zelluloid gebannt werden konnten.
Schiele überlegte sich in der Öde des uniformen Auf und Ab neue Bilder, vor allem Selbstpor-träts und Darstellungen seiner Gattin Edith, die er knapp vor seinem Einrücken nach evangelischem Ritus geheiratet hatte. Obwohl Schiele von der Krumauer Mutterseite her katholisch getauft war, hatten die Schwiegereltern auf der Beibehaltung der Konfession ihrer Tochter bestanden.
Der unstete Maler war als Ehemann trotz der bedrohlichen Auswirkungen des Weltkriegs ausgeglichener und ruhiger geworden. Seiner früheren Geliebten Wally Neuzil hatte er seinen Sinneswandel zu erklären versucht, aber nach einer Abschiedsszene in einem Hietzinger Café, die Dietmar Grieser in "Eine Liebe in Wien" einfühlsam beschreibt, musste Wally verbittert weichen. Sie wurde Rotkreuzschwester und starb 1917 in einem dalmatinischen Marinelazarett, wo sie sich mit Scharlach angesteckt hatte.
Wally und Edith ähnelten einander zwar in mancherlei Hinsicht, aber die Gattin schien feiner strukturiert als ihre Vorgängerin und bestand auf einer "reinen" Beziehung, deren Rahmen sie vorgegeben und mit ihrer Würde als "Weib" begründet hatte. Sie war zwar drei Jahre jünger als Egon, wirkte aber trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre ladylike und erwachsen. Mit den exponierten Darstellungen ihrer Vorgängerin Wally lernte sie zu leben, duldete aber zunächst keine anderen Aktmodelle. Edith ("Dit", "Ditta") erkannte und liebte den Genius an ihrer Seite und wusste, dass Egon zu ihr stand, sie bewunderte und manchmal einen Gang zurück schaltete, wenn es um öffentliche Auftritte ging. Das modische Paar rund um die Hietzinger Wohnung fiel den Passanten auf. Wenn es Dienst und Energien zuließen, hielt sich Schiele in einem seiner zwei Ateliers auf, für größere Formate hatte er in der Wattmanngasse dank steigender Nachfrage ein Studio mit höheren Räumen angemietet, wo er bis zum Sommer 1918 einige wichtige Werke vollenden konnte.
In Wien konnte Schiele freier agieren als in Krumau oder Neulengbach, wo er in Konflikte mit Behörden geraten war. 1912 musste Schiele in Neulengbach eine empfindliche Demütigung hinnehmen: Nach lokalen Denunziationen, er hätte ein jugendliches Modell "entführt", geriet er in U-Haft und musste schließlich eine dreitägige Arreststrafe absitzen. Schon in Krumau hatten besorgte Bürger die Aktivitäten des Zwanzigjährigen angezeigt. Die demütigende Neulengbacher Haft des Künstlers kann heute im Schiele-Museum in Tulln vom Besucher dank einer nachgebauten Zelle nachvollzogen werden.
Erfolg und Tod
Zum Zeitpunkt seiner Verurteilung war der gebürtige Tullner als Künstler kein Unbekannter, denn schon 1908 hatte er erstmals an einer Ausstellung im Stift Klosterneuburg seine Werke zeigen können. Im idyllischen Stiftsmuseum der Chorherren hängen heute noch zwei kleine, besonders stimmungsvolle Darstellungen von Straßenszenen, die Schiele damals angefertigt hatte. Aber der junge Wilde wollte weiter hinaus. Gemeinsam mit Anton Peschka und Anton Faistauer gründete er 1909 die "Neukunstgruppe", womit sich die Abwendung vom Jugendstil und die Hinwendung zu expressiver Darstellung schon abzeichnete.
Erfolg und Tod lagen bei Schiele eng beisammen, denn in den letzten Kriegsjahren war das Interesse an seinen Werken sprunghaft gestiegen: Hofrat Haberditzl hatte ein Porträt von Edith für die Österreichische Galerie angekauft, auch Schieles andere Werke (etwa die Kreidezeichnungen) fanden Käufer, darunter viele kunstinteressierte jüdische Sammler. Als Soldat musste Schiele aber stets mit dem Schlimmsten rechnen und hatte daher seine privaten Verhältnisse geordnet. Sowohl Egon als auch Edith verfassten ihre Testamente auf zartrotem Papier, wobei auffällt, dass Schiele erst nach 1922 eine Veräußerung seiner Werke erlaubte, nachdem er bereits Ende Oktober 1918 tatsächlich in Wien verstorben war.
Auch Edith starb, noch dazu schwanger, knapp vor ihm an der Spanischen Grippe, und wurde am Friedhof in Ober Sankt Veit begraben. Nach der Beerdigung nahm das Schicksal seinen Lauf, auch Schiele ereilte der Virus. Mit den verzweifelten Worten "Der Krieg ist aus, und ich muss gehen", die seine Schwägerin Adele Harms aufzeichnete, verschied der Künstler am Reformationstag (31. 10.) des Jahres 1918.
Tullner Erinnerungen
Im Juni und Juli empfiehlt es sich besonders, auf Schieles Spuren nach Tulln zu fahren. Rund um den Jahrestag seines Geburtstags steht die Nibelungen- und Bezirkshauptstadt ganz im Zeichen des 1918 verstorbenen Malers.
Vor kurzem wurde eine Tullner Schule in der Kirchengasse nach Schiele benannt, deren rühriger Direktor und in England diplomierter Pädagoge, Josef Schostal, nicht locker ließ, ehe die erste von drei Tullner Volksschulen diesen Namen erhielt. Wer das Art Center und das 2011 neu adaptierte Museum besucht, kann Schieles Leben und Schaffen von vielen Seiten her kennen lernen, auf einem interaktiven Schiele-Weg wandeln und in einem Schiele-Garten innehalten.
Seit rund 25 Jahren würdigt die Stadt Tulln ihren berühmtesten Bürger intensiv, indem sie sein Geburtshaus renovieren ließ und eigene Schiele-Stadtführungen angeboten werden. Am Wochenende des 11. und 12. Juni bieten Experten ein vielfältiges Programm unter dem Titel "Begegnung mit Egon Schiele", wo der Sohn des Bahnhofsvorstands von Tulln u.a. auch in seiner kindlichen Liebe für Modelleisenbahnen vorkommt. br>
Literatur:
Dietmar Grieser: Eine Liebe in Wien.
Verlag des NÖ Pressehauses
St.Pölten/Wien 1989.
Christian Nebehay: Egon Schiele. Leben und Werk.
Verlag Brandstätter
Wien 1980.
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Gerhard Strejcek
Streicherweich
Wiener Zeitung, 17.04.2016
Das neue Album des deutschen Duos Tropic.
Der Regen, den es im März reichlich gab, und die nun ergrünten Wiesen passen jahreszeitlich gut zu "I Am The Rain If You Are The Meadow", der esoterisch klingenden Scheibe des deutschen Duos Tropic. Hinter dem gelungenen Projekt stehen Peter Folk und Johannes Lehniger, die als Einflüsse ihres Albums Scott Walker und David Bowie nennen.
Man hört Trennungsschmerz, erotische und düstere Erinnerungen, verarbeitet auf zehn Tracks mit streicherweichen Arrangements. Was hier geboten wird, wirkt anregend und verführt auch zu musikalischen Assoziationen: Hier ein Hauch von "Ocean Rain" (Echo & the Bunnymen), dort eine Prise Seegrotte und alles in allem eher britische als teutonische Klangfarben.
Tropic
I Am The Rain If You Are The Meadow
(Motor Music)
Der Regen, den es im März reichlich gab, und die nun ergrünten Wiesen passen jahreszeitlich gut zu "I Am The Rain If You Are The Meadow", der esoterisch klingenden Scheibe des deutschen Duos Tropic. Hinter dem gelungenen Projekt stehen Peter Folk und Johannes Lehniger, die als Einflüsse ihres Albums Scott Walker und David Bowie nennen.
Man hört Trennungsschmerz, erotische und düstere Erinnerungen, verarbeitet auf zehn Tracks mit streicherweichen Arrangements. Was hier geboten wird, wirkt anregend und verführt auch zu musikalischen Assoziationen: Hier ein Hauch von "Ocean Rain" (Echo & the Bunnymen), dort eine Prise Seegrotte und alles in allem eher britische als teutonische Klangfarben.
Tropic
I Am The Rain If You Are The Meadow
(Motor Music)
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Gerhard Strejcek
Uni-Heimstatt im Heimatstil
Wiener Zeitung, 10.04.2016
Vor hundert Jahren wurde die Exportakademie in Wien-Währing fertiggestellt, die viele Jahrzehnte die Hochschule für Welthandel beherbergte.
Unweit des Währinger Parks fällt ein weitläufiges Universitätsgebäude ins Auge, das für sechs Jahrzehnte der Hochschule für Welthandel und für weitere fünf Jahre (von 197580) deren Nachfolge-Institution, der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), als akademische Unterrichtsstätte diente. Das im Heimatstil erbaute Gebäude wurde zwar durch zwei spätere Anbauten in seiner Wirkung und Symmetrie gestört, doch beeindruckt es bis heute von mehreren Perspektiven aus in seiner ästhetischen und symbolhaften Gestaltung. Steinerne Masken an den Fassaden erinnern an ferne, exotische Länder, Jugendstilornamente geben dem vierstöckigen Bildungspalast Glanz und Wertigkeit; ein imposantes Entrée und ein Foyer mit den großen europäischen Handelshäfen erinnert an die ursprüngliche Widmung des Gebäudes in der Franz-Kleingasse. Vermutlich hätte Adolf Loos die Ornamente gegeißelt, aber sie vermitteln bis heute einen eigentümlichen, ästhetischen Reiz und regen den Betrachter zum Nachdenken an. Architekt Alfred Keller gelang unter Mithilfe von Steinmetzen und Bildhauern die Visualisierung der Exportwirtschaft und des Freihandels, zudem passt dieses Dekor erstaunlich gut zur gegenwärtigen Nutzung des einstigen Übungskontors, in dem heute Alte Geschichte, Archäologie, Ägyptologie und Papyrologie gelehrt werden.
Zeitlose Ornamente
Einen besseren Beweis für zeitlosen Gebäudeschmuck kann man nicht liefern, als es die Versatilität von Symbolen bei einer völlig geänderten Nutzung zeigt. In Wien gilt dies gleich für mehrere historische Gebäude, deren Nutzung seit der k.u.k. Monarchie zum Teil dramatische Änderungen erfahren hat. So befindet sich etwa im ehemaligen Militärgeografischen Institut an der Landesgerichtsstraße heute eine Dienststelle des Magistrats, aber die Weltkugel auf dem Dach passt sowohl zur Vermessung der Welt als auch zur Aufnahme von Fremden in einer Metropole. Theophil Hansens Parlamentsdekor hat den Übergang vom Reichsrat in ein republikanisches Parlament dank seiner antiken Zitate (Quadriga, Pallas Athene etc.) viel unbeschadeter überstanden, als es eine opportunistische Anpassung an imperiale Zeiten der k.u.k. Monarchie geschafft hätte. Der dänische Architekt bediente sich lieber der antiken Formensprache, die er mit seinem Bruder in Athen zur Genüge kennen gelernt hatte.
Auch der in Graz geborene Architekt Alfred Keller tat, was er am besten konnte - und das war der damals modern gewordene Heimatschutz, der keine nationalen Implikationen hatte, sondern sich am englischen Cottagestil orientierte. Damit passte das neue Gebäude perfekt in die oberhalb gelegene Währinger und Döblinger Cottagesiedlung, in der Schlichtheit und Fachwerk dominierten.
Mitten im Ersten Weltkrieg brachte Keller sein ehrgeiziges Projekt nach lediglich zweijähriger Bauzeit zu einem gelungenen Abschluss. Trotz einiger budgetbedingter Abstriche konnte er das - gemessen am Prunk der Ferstel-Universität und der RingstraßenPalais - eher schlichte Gebäude errichten und die unabdingbaren Ornamente durchsetzen. Lediglich ein einziges, aber besonders wichtiges Merkmal einer Universität fehlte dem Neubau der Exportakdemie: ein Auditorium Maximum, ein zentral gelegener und ausreichend großer Hörsaal, um auch die Kapazitäten für den Andrang in Friedenszeiten erfüllen zu können.
Dieses Manko ließ die Architekten Carl Appel und Kurt Eckel in der Zweiten Republik auf den Plan treten, um in zwei Phasen Kellers Bau Richtung Westen (Gymnasiumstraße) zu erweitern. Beide Male ernteten die Planer zwar herbe Kritik, konnten mit der Erweiterung aber die Schübe an Studierenden in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren einigermaßen unterbringen. Seit dem Auszug der "WU" benutzen Dolmetscher und Translationswissenschafter der Universität Wien den modernen Trakt neben den Sportanlagen im Währinger Park.
Die Lage im Grünen zählt(e) zu den größten Vorteilen, welche das Hochschulgebäude für sich verbuchen konnte; die öffentliche Anbindung hingegen war und ist nicht gerade optimal. Als Alfred Keller den Planungsauftrag vom Verein Exportakademie erhielt, befand sich noch ein Friedhof auf dem Areal, das unweit eines 1856 errichteten englischen Gaswerks gelegen war. Der Architekt ließ sich aber von diesen ungünstigen Vorgaben nicht entmutigen, stand doch eine Umwidmung in einen öffentlichen Park bereits fest.
Keller wusste das, denn er verfügte über ausgezeichnete Beziehungen zum Wiener Magistrat und hatte selbst jahrelang in der Baubehörde der Reichshauptstadt als Experte mitgewirkt. Für seine eigene Planungstätigkeit fiel der eine oder andere, nicht unbeträchtliche Auftrag an, wie etwa das riesige Polizeigebäude an der Roßauer Lände und das Gerichtsgebäude in der Riemergasse. Während die "Liesl" nach wie vor als Polizeigefängnis genutzt wird, hat sich die Justiz zwischenzeitig eine schlechtere Bleibe in Wien-Mitte gesucht - schlechter deshalb, weil im neuen Justizzentrum auf die Verhandlungsräume vergessen wurde . . .
Verzögerte Eröffnung
An Pannen gab es auch schon vor hundert Jahren keinen Mangel. Mit der Eröffnung der Exportakademie wollte es im Jahr 1916 nicht und nicht klappen. Zwar stand das Gebäude fertig im Grünen, aber die Politik ließ sich reichlich Zeit, bis ein offizieller Termin angesetzt werden konnte. Dramatische und welthistorisch relevante Gründe spielten herein, wie der Kriegseintritt Rumäniens im Sommer 1916, der Tod des Kaisers im November und die durch einen weiteren Todesfall erzwungene Neubildung der Regierung unter Ministerpräsident Clam-Martinic gegen Jahresende.
Da sich aber die in der Berggasse 16 im Palais Festetics untergebrachten Dozenten und Studierenden nicht mehr weiter mit dem zu eng gewordenen "k.k. Handelsmuseum" abfinden und identifizieren wollten, nahmen sie den neuen Wissenschaftstempel hoch erfreut in Besitz und veröffentlichten noch im selben Jahr eine im Jugenstildesign gehaltene Erinnerungsschrift an die Eröffnung im Herbst 1916. Aus heutiger Perspektive muten nicht nur die Beschwörung griechischer Handelsgötter und die devote Adresse eines Studenten der k.k. Exportakademie in der Festbroschüre aus 1916 skurril an, sondern besonders die Tatsache, dass es wenige Monate später eine neuerliche Erinnerungsschrift gab. Diesmal berichteten die Beiträge in einer deutlich billigeren äußeren Ausstattung von der "feierlichen Eröffnung" des Neubaus der k.k. Exportakademie am 20. März des Folgejahres, also 1917. Zu diesem Anlass erschienen neben dem Bürgermeister Richard Weiskirchner auch die beiden ressortzuständigen Minister, der k.k. Handelsminister Anton Urban und der k.k. Unterrichtsminister Max von Hussarek-Heinlein.
Letzterer, ein konservativer Adeliger, lehrte an der Universität Wien Staatskirchenrecht und galt dank seines 1905 erschienenen Lehrbuchs als anerkannter Experte für dieses Rechtsgebiet. Bei der Eröffnungszeremonie musste er aber dem deutschfortschrittlichen Brauereibesitzer Anton Urban den Vortritt lassen, weil die Exportakademie als gemeinsame Gründung der Handelskammer und des privaten Vereins aus Wirtschaftstreibenden beim Handelsminister ressortierte.
Heutzutage wäre das insofern kein Problem, als erstmalig in der österreichischen Geschichte diese beiden Ressorts (Wissenschaft/Wirtschaft) in einer Hand vereint sind - bekanntlich in jener des amtierenden Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner. Die Hochschule für Welthandel musste sich bis zu einer Studienreform im Jahr 1968 mit der Zweigleisigkeit herumschlagen. Sie erhielt zwar nach langen Kämpfen das Promotionsrecht (1930), doch blieb die Zuordnung zu den zwei Ressorts bis Ende der Sechzigerjahre erhalten. Einen richtigen Neuanfang gab es erst nach der Aufwertung zur Universität unter der Regierung Kreisky 1975.
Die Adresse des Gebäudes lautete zunächst nach dem alten britischen Gasbehälter "Gaswerkstraße", wurde sodann in "Exportakademiestraße" umbenannt, nach dem Tod des Justizministers Franz Klein aber ehrenhalber nach diesem benannt. Die Tatsache, dass Klein auch an der Universität Wien Zivilprozessrecht gelehrt hatte, ließ ihn fälschlich in manchen Chroniken zum "Professor an der Hochschule für Welthandel" werden. An der Exportakademie lehrten aber andere bekannte Wissenschafter, wie etwa der Schöpfer der Bundesverfassung, Hans Kelsen. Da der Zeitpunkt zur Erweiterung und Eröffnung der größten Handelshochschule der Donaumonarchie mitten in den Ersten Weltkrieg fiel, konnte er der Feier nicht beiwohnen, denn Kelsen absolvierte gerade seinen Wehrdienst als Militärauditor (Staatsanwalt) im Kriegsministerium.
Kelsens Gutachten
Der Staatsrechtslehrer hatte 1913 den Auftrag erhalten, die Frage gutachterlich zu klären, ob sich die k.k. Exportakademie rechtmäßig eine "Handels-Hochschule" nennen durfte. Sein Votum fiel überraschend aus: Der Untertitel sei nicht geschützt. Dennoch strebten die Funktionäre und die Professoren nach einer staatlich anerkannten Aufwertung, da außer in Wien nur eine kleine Privathandelsschule in Triest bestand, wogegen der deutsche Nachbar mehrere renommierte Handelshochschulen aufwies.
Besonders schmerzte die Exportakademie, dass ihr berühmtester Handelswissenschafter, der Wiener Professor Josef Hellauer, im Jahr 1912 nach Berlin an die dortige Handelshochschule berufen worden war. Sein System der Welthandelslehre entwickelte sich zu einem Studienbuchschlager, der in den Fünfzigerjahren neu aufgelegt wurde. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte sich die "Welthandel" bereits zu einer anerkannten Bildungsinstitution entwickelt - und heute verfügt die WU nicht nur über einen eigenen Campus im Prater, sondern sogar über eine wertvolle internationale Zertifizierung.
Literatur:
Matthias Böckl: Der Campus der Wirtschaftsuniversität Wien,
Wien 2014.
Jürgen Busch: Hans Kelsen an der Exportakademie.
in: Festschrift für Werner Ogris, Manz 2010,
S. 85-101.
Unweit des Währinger Parks fällt ein weitläufiges Universitätsgebäude ins Auge, das für sechs Jahrzehnte der Hochschule für Welthandel und für weitere fünf Jahre (von 197580) deren Nachfolge-Institution, der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), als akademische Unterrichtsstätte diente. Das im Heimatstil erbaute Gebäude wurde zwar durch zwei spätere Anbauten in seiner Wirkung und Symmetrie gestört, doch beeindruckt es bis heute von mehreren Perspektiven aus in seiner ästhetischen und symbolhaften Gestaltung. Steinerne Masken an den Fassaden erinnern an ferne, exotische Länder, Jugendstilornamente geben dem vierstöckigen Bildungspalast Glanz und Wertigkeit; ein imposantes Entrée und ein Foyer mit den großen europäischen Handelshäfen erinnert an die ursprüngliche Widmung des Gebäudes in der Franz-Kleingasse. Vermutlich hätte Adolf Loos die Ornamente gegeißelt, aber sie vermitteln bis heute einen eigentümlichen, ästhetischen Reiz und regen den Betrachter zum Nachdenken an. Architekt Alfred Keller gelang unter Mithilfe von Steinmetzen und Bildhauern die Visualisierung der Exportwirtschaft und des Freihandels, zudem passt dieses Dekor erstaunlich gut zur gegenwärtigen Nutzung des einstigen Übungskontors, in dem heute Alte Geschichte, Archäologie, Ägyptologie und Papyrologie gelehrt werden.
Zeitlose Ornamente
Einen besseren Beweis für zeitlosen Gebäudeschmuck kann man nicht liefern, als es die Versatilität von Symbolen bei einer völlig geänderten Nutzung zeigt. In Wien gilt dies gleich für mehrere historische Gebäude, deren Nutzung seit der k.u.k. Monarchie zum Teil dramatische Änderungen erfahren hat. So befindet sich etwa im ehemaligen Militärgeografischen Institut an der Landesgerichtsstraße heute eine Dienststelle des Magistrats, aber die Weltkugel auf dem Dach passt sowohl zur Vermessung der Welt als auch zur Aufnahme von Fremden in einer Metropole. Theophil Hansens Parlamentsdekor hat den Übergang vom Reichsrat in ein republikanisches Parlament dank seiner antiken Zitate (Quadriga, Pallas Athene etc.) viel unbeschadeter überstanden, als es eine opportunistische Anpassung an imperiale Zeiten der k.u.k. Monarchie geschafft hätte. Der dänische Architekt bediente sich lieber der antiken Formensprache, die er mit seinem Bruder in Athen zur Genüge kennen gelernt hatte.
Auch der in Graz geborene Architekt Alfred Keller tat, was er am besten konnte - und das war der damals modern gewordene Heimatschutz, der keine nationalen Implikationen hatte, sondern sich am englischen Cottagestil orientierte. Damit passte das neue Gebäude perfekt in die oberhalb gelegene Währinger und Döblinger Cottagesiedlung, in der Schlichtheit und Fachwerk dominierten.
Mitten im Ersten Weltkrieg brachte Keller sein ehrgeiziges Projekt nach lediglich zweijähriger Bauzeit zu einem gelungenen Abschluss. Trotz einiger budgetbedingter Abstriche konnte er das - gemessen am Prunk der Ferstel-Universität und der RingstraßenPalais - eher schlichte Gebäude errichten und die unabdingbaren Ornamente durchsetzen. Lediglich ein einziges, aber besonders wichtiges Merkmal einer Universität fehlte dem Neubau der Exportakdemie: ein Auditorium Maximum, ein zentral gelegener und ausreichend großer Hörsaal, um auch die Kapazitäten für den Andrang in Friedenszeiten erfüllen zu können.
Dieses Manko ließ die Architekten Carl Appel und Kurt Eckel in der Zweiten Republik auf den Plan treten, um in zwei Phasen Kellers Bau Richtung Westen (Gymnasiumstraße) zu erweitern. Beide Male ernteten die Planer zwar herbe Kritik, konnten mit der Erweiterung aber die Schübe an Studierenden in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren einigermaßen unterbringen. Seit dem Auszug der "WU" benutzen Dolmetscher und Translationswissenschafter der Universität Wien den modernen Trakt neben den Sportanlagen im Währinger Park.
Die Lage im Grünen zählt(e) zu den größten Vorteilen, welche das Hochschulgebäude für sich verbuchen konnte; die öffentliche Anbindung hingegen war und ist nicht gerade optimal. Als Alfred Keller den Planungsauftrag vom Verein Exportakademie erhielt, befand sich noch ein Friedhof auf dem Areal, das unweit eines 1856 errichteten englischen Gaswerks gelegen war. Der Architekt ließ sich aber von diesen ungünstigen Vorgaben nicht entmutigen, stand doch eine Umwidmung in einen öffentlichen Park bereits fest.
Keller wusste das, denn er verfügte über ausgezeichnete Beziehungen zum Wiener Magistrat und hatte selbst jahrelang in der Baubehörde der Reichshauptstadt als Experte mitgewirkt. Für seine eigene Planungstätigkeit fiel der eine oder andere, nicht unbeträchtliche Auftrag an, wie etwa das riesige Polizeigebäude an der Roßauer Lände und das Gerichtsgebäude in der Riemergasse. Während die "Liesl" nach wie vor als Polizeigefängnis genutzt wird, hat sich die Justiz zwischenzeitig eine schlechtere Bleibe in Wien-Mitte gesucht - schlechter deshalb, weil im neuen Justizzentrum auf die Verhandlungsräume vergessen wurde . . .
Verzögerte Eröffnung
An Pannen gab es auch schon vor hundert Jahren keinen Mangel. Mit der Eröffnung der Exportakademie wollte es im Jahr 1916 nicht und nicht klappen. Zwar stand das Gebäude fertig im Grünen, aber die Politik ließ sich reichlich Zeit, bis ein offizieller Termin angesetzt werden konnte. Dramatische und welthistorisch relevante Gründe spielten herein, wie der Kriegseintritt Rumäniens im Sommer 1916, der Tod des Kaisers im November und die durch einen weiteren Todesfall erzwungene Neubildung der Regierung unter Ministerpräsident Clam-Martinic gegen Jahresende.
Da sich aber die in der Berggasse 16 im Palais Festetics untergebrachten Dozenten und Studierenden nicht mehr weiter mit dem zu eng gewordenen "k.k. Handelsmuseum" abfinden und identifizieren wollten, nahmen sie den neuen Wissenschaftstempel hoch erfreut in Besitz und veröffentlichten noch im selben Jahr eine im Jugenstildesign gehaltene Erinnerungsschrift an die Eröffnung im Herbst 1916. Aus heutiger Perspektive muten nicht nur die Beschwörung griechischer Handelsgötter und die devote Adresse eines Studenten der k.k. Exportakademie in der Festbroschüre aus 1916 skurril an, sondern besonders die Tatsache, dass es wenige Monate später eine neuerliche Erinnerungsschrift gab. Diesmal berichteten die Beiträge in einer deutlich billigeren äußeren Ausstattung von der "feierlichen Eröffnung" des Neubaus der k.k. Exportakademie am 20. März des Folgejahres, also 1917. Zu diesem Anlass erschienen neben dem Bürgermeister Richard Weiskirchner auch die beiden ressortzuständigen Minister, der k.k. Handelsminister Anton Urban und der k.k. Unterrichtsminister Max von Hussarek-Heinlein.
Letzterer, ein konservativer Adeliger, lehrte an der Universität Wien Staatskirchenrecht und galt dank seines 1905 erschienenen Lehrbuchs als anerkannter Experte für dieses Rechtsgebiet. Bei der Eröffnungszeremonie musste er aber dem deutschfortschrittlichen Brauereibesitzer Anton Urban den Vortritt lassen, weil die Exportakademie als gemeinsame Gründung der Handelskammer und des privaten Vereins aus Wirtschaftstreibenden beim Handelsminister ressortierte.
Heutzutage wäre das insofern kein Problem, als erstmalig in der österreichischen Geschichte diese beiden Ressorts (Wissenschaft/Wirtschaft) in einer Hand vereint sind - bekanntlich in jener des amtierenden Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner. Die Hochschule für Welthandel musste sich bis zu einer Studienreform im Jahr 1968 mit der Zweigleisigkeit herumschlagen. Sie erhielt zwar nach langen Kämpfen das Promotionsrecht (1930), doch blieb die Zuordnung zu den zwei Ressorts bis Ende der Sechzigerjahre erhalten. Einen richtigen Neuanfang gab es erst nach der Aufwertung zur Universität unter der Regierung Kreisky 1975.
Die Adresse des Gebäudes lautete zunächst nach dem alten britischen Gasbehälter "Gaswerkstraße", wurde sodann in "Exportakademiestraße" umbenannt, nach dem Tod des Justizministers Franz Klein aber ehrenhalber nach diesem benannt. Die Tatsache, dass Klein auch an der Universität Wien Zivilprozessrecht gelehrt hatte, ließ ihn fälschlich in manchen Chroniken zum "Professor an der Hochschule für Welthandel" werden. An der Exportakademie lehrten aber andere bekannte Wissenschafter, wie etwa der Schöpfer der Bundesverfassung, Hans Kelsen. Da der Zeitpunkt zur Erweiterung und Eröffnung der größten Handelshochschule der Donaumonarchie mitten in den Ersten Weltkrieg fiel, konnte er der Feier nicht beiwohnen, denn Kelsen absolvierte gerade seinen Wehrdienst als Militärauditor (Staatsanwalt) im Kriegsministerium.
Kelsens Gutachten
Der Staatsrechtslehrer hatte 1913 den Auftrag erhalten, die Frage gutachterlich zu klären, ob sich die k.k. Exportakademie rechtmäßig eine "Handels-Hochschule" nennen durfte. Sein Votum fiel überraschend aus: Der Untertitel sei nicht geschützt. Dennoch strebten die Funktionäre und die Professoren nach einer staatlich anerkannten Aufwertung, da außer in Wien nur eine kleine Privathandelsschule in Triest bestand, wogegen der deutsche Nachbar mehrere renommierte Handelshochschulen aufwies.
Besonders schmerzte die Exportakademie, dass ihr berühmtester Handelswissenschafter, der Wiener Professor Josef Hellauer, im Jahr 1912 nach Berlin an die dortige Handelshochschule berufen worden war. Sein System der Welthandelslehre entwickelte sich zu einem Studienbuchschlager, der in den Fünfzigerjahren neu aufgelegt wurde. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte sich die "Welthandel" bereits zu einer anerkannten Bildungsinstitution entwickelt - und heute verfügt die WU nicht nur über einen eigenen Campus im Prater, sondern sogar über eine wertvolle internationale Zertifizierung.
Literatur:
Matthias Böckl: Der Campus der Wirtschaftsuniversität Wien,
Wien 2014.
Jürgen Busch: Hans Kelsen an der Exportakademie.
in: Festschrift für Werner Ogris, Manz 2010,
S. 85-101.
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Gerhard Strejcek
Nur Bares ist Wahres
Salzburger Nachrichten, 21.03.2016
Die Politik stilisiert sich als Verteidigerin des Bargelds. Tatsächlich wurde der Bargeldverkehr aber erst jüngst weiter eingeschränkt. Ist das mit dem Grundrecht zum Schutz der Privatspähre vereinbar?
Bisher hat der Gesetzgeber kein einziges Recht auf Barzahlung, wohl aber Barverbote erlasssen. Seit am 1.1.2016 das Steuerreformpaket in Kraft getreten ist, verbietet das Einkommensteuergesetz zum Beispiel die Lohnauszahlung im Baugewerbe in Form von Bargeld, sofern der Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf ein Konto hat. Hier knüpft eine im Interesse der Schwarzgeldbekämpfung an sich sinnvolle Regelung an eine problematische Voraussetzung an, denn niemand hat in Österreich einen derartigen Anspruch, wenn eine Bank aus Bonitätsrücksichten die Kontoeröffnung ablehnt.
Unbar und zudem trinkgeldlos werden künftig auch viele alltägliche Geschäfte verlaufen. Wenn sich eine Taxifahrt so abspielt, dass am Fahrziel bereits minutenlange Manipulationen mit der Erfassung des Fuhrlohns erforderlich sind, wird auch hier das Bargeld bald aus den Taschen der Lenker verschwinden. Dass dies der Fall ist, hat der Antrag einer oberösterreichischen Firma eindrucksvoll nachgewiesen. Die beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) eingebrachten Individualanträge zur Überprüfung der Registrierkassenpflicht (G 060/15 u.a.) offenbaren eine unüberlegte und durch Erlässe in gesetzwidriger Weise "gemilderte" Zwangsordnung, deren Tendenz eindeutig weg vom Barumsatz führt. Die Vorgangsweise der Finanz stieß daher auch auf Befremden bei den kritisch nachfragenden Verfassungshütern.
Bargeldverbote gab es nicht immer, im Gegenteil, in der österreichischen Rechtsordnung gab es einst Barzahlungsgebote, wie im aktuellen Zusammenhang der Bundespräsidentenwahl. Der Wahlkostenbeitrag war nach dem Bundespräsidentenwahlgesetz (BPräsWG 1971) zwingend bar zu erlegen, woran sogar einige Bewerber formal scheiterten. Seit geraumer Zeit ist nun aber die Überweisung der 5000 Euro an das Innenministerium möglich.
Im Bereich des Umsatzsteuerrechts, das Lieferungen und Leistungen im Inland erfasst, schlägt die Verordnungskeule zu. Die Barumsatzverordnung des Finanzministeriums (BGBl II 2015/247), die Rechnungslegungsverordnung (BGBL II 2015/466) und nicht zu vergessen die Registrierkassensicherheitsverordnung, die ab 2017 auch fälschungssichere Übertragungsformen (etwa sichere Signaturen) erfordern wird, sind nur einige Beispiele darfür. Auch eine eigene Kassenrichtlinie besteht seit 2011.
Dass manche nun ein Recht auf Barzahlung fordern, das auch in der Verfassung verankert wird, scheint dort sinnvoll, wo es um private Umsätze geht, die den Staat definitiv nichts angehen.Denn das Recht auf Privatheit hat gegenüber de staatlichen Wunsch nach Zahlungstransparenz dort Vorrang, wo es nicht um die unbestrittenermaßen sinnvolle Bekämpfung von Geldwäsche oder Steuerhinterziehung im großen Stil geht.
Wer dem Sohn des Nachbarn fürs Rasenmähen einen Zwanziger spendet, Barbelohnungen für gute Schularbeitsnoten vornimmt oder schlicht will, dass der Ankauf von Medikamenten oder Genussmitteln geheim bleibt, hat Anspruch auf Schutz der Privatsspähre und der Geheimhaltung. Nach Abschaffung des Bargelds würden all diese Vorgänge zeitlich und örtlich dokumentierbar werden, was mit fiskalischen Zielen nicht zu rechtfertigen ist.
Ein Recht auf Barzahlung steht somit in einem engen Zusammenhang mit dem Grundrecht zum Schutz der Privatsphäre, das schon jetzt eine gesetzliche Verankerung von Eingriffen und eine Interessenabwägung im Lichte der Verhältnismäßigkeit gebietet. Angesichts der elektronischen Aufzeichnung von Transaktionsnummern und der IBAN des Zahlers im unbaren Geldverkehr läge oftmals ein Datenschutzproblem vor, vor allem dann, wenn die Möglichkeit, bar zu bezahlen, gänzlich abgeschafft würde.
Bisher hat der Gesetzgeber kein einziges Recht auf Barzahlung, wohl aber Barverbote erlasssen. Seit am 1.1.2016 das Steuerreformpaket in Kraft getreten ist, verbietet das Einkommensteuergesetz zum Beispiel die Lohnauszahlung im Baugewerbe in Form von Bargeld, sofern der Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf ein Konto hat. Hier knüpft eine im Interesse der Schwarzgeldbekämpfung an sich sinnvolle Regelung an eine problematische Voraussetzung an, denn niemand hat in Österreich einen derartigen Anspruch, wenn eine Bank aus Bonitätsrücksichten die Kontoeröffnung ablehnt.
Unbar und zudem trinkgeldlos werden künftig auch viele alltägliche Geschäfte verlaufen. Wenn sich eine Taxifahrt so abspielt, dass am Fahrziel bereits minutenlange Manipulationen mit der Erfassung des Fuhrlohns erforderlich sind, wird auch hier das Bargeld bald aus den Taschen der Lenker verschwinden. Dass dies der Fall ist, hat der Antrag einer oberösterreichischen Firma eindrucksvoll nachgewiesen. Die beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) eingebrachten Individualanträge zur Überprüfung der Registrierkassenpflicht (G 060/15 u.a.) offenbaren eine unüberlegte und durch Erlässe in gesetzwidriger Weise "gemilderte" Zwangsordnung, deren Tendenz eindeutig weg vom Barumsatz führt. Die Vorgangsweise der Finanz stieß daher auch auf Befremden bei den kritisch nachfragenden Verfassungshütern.
Bargeldverbote gab es nicht immer, im Gegenteil, in der österreichischen Rechtsordnung gab es einst Barzahlungsgebote, wie im aktuellen Zusammenhang der Bundespräsidentenwahl. Der Wahlkostenbeitrag war nach dem Bundespräsidentenwahlgesetz (BPräsWG 1971) zwingend bar zu erlegen, woran sogar einige Bewerber formal scheiterten. Seit geraumer Zeit ist nun aber die Überweisung der 5000 Euro an das Innenministerium möglich.
Im Bereich des Umsatzsteuerrechts, das Lieferungen und Leistungen im Inland erfasst, schlägt die Verordnungskeule zu. Die Barumsatzverordnung des Finanzministeriums (BGBl II 2015/247), die Rechnungslegungsverordnung (BGBL II 2015/466) und nicht zu vergessen die Registrierkassensicherheitsverordnung, die ab 2017 auch fälschungssichere Übertragungsformen (etwa sichere Signaturen) erfordern wird, sind nur einige Beispiele darfür. Auch eine eigene Kassenrichtlinie besteht seit 2011.
Dass manche nun ein Recht auf Barzahlung fordern, das auch in der Verfassung verankert wird, scheint dort sinnvoll, wo es um private Umsätze geht, die den Staat definitiv nichts angehen.Denn das Recht auf Privatheit hat gegenüber de staatlichen Wunsch nach Zahlungstransparenz dort Vorrang, wo es nicht um die unbestrittenermaßen sinnvolle Bekämpfung von Geldwäsche oder Steuerhinterziehung im großen Stil geht.
Wer dem Sohn des Nachbarn fürs Rasenmähen einen Zwanziger spendet, Barbelohnungen für gute Schularbeitsnoten vornimmt oder schlicht will, dass der Ankauf von Medikamenten oder Genussmitteln geheim bleibt, hat Anspruch auf Schutz der Privatsspähre und der Geheimhaltung. Nach Abschaffung des Bargelds würden all diese Vorgänge zeitlich und örtlich dokumentierbar werden, was mit fiskalischen Zielen nicht zu rechtfertigen ist.
Ein Recht auf Barzahlung steht somit in einem engen Zusammenhang mit dem Grundrecht zum Schutz der Privatsphäre, das schon jetzt eine gesetzliche Verankerung von Eingriffen und eine Interessenabwägung im Lichte der Verhältnismäßigkeit gebietet. Angesichts der elektronischen Aufzeichnung von Transaktionsnummern und der IBAN des Zahlers im unbaren Geldverkehr läge oftmals ein Datenschutzproblem vor, vor allem dann, wenn die Möglichkeit, bar zu bezahlen, gänzlich abgeschafft würde.
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Gerhard Strejcek
Zweifel an der Registrierkasse
Der Standard, 15.03.2016
Zahlreiche Verfassungsbedenken gegen die neue Pflicht
Wien – Auch nach der Verhandlung der ersten drei Individualanträge beim Verfassungsgerichtshof Anfang März hat sich der Nebel rund um die Registrierkassenpflicht nicht gehoben. Angefochten wurde vorerst nur eine Bestimmung aus der Bundesabgabenordnung (§ 131b BAO), ein profunder Antrag aus Oberösterreich hat aber auch weitere anzuwendende Rechtsvorschriften problematisiert.
Zumindest die Frage, ob der Gesetzgeber die grundrechtlichen Schranken der Erwerbsfreiheit, der Gleichheit und das Legalitätsprinzip gewahrt hat, wird das Höchstgericht eingehend beantworten. Im Einzelnen muss der VfGH prüfen, ob die zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung eingeführte Pflicht a) zur Zielerreichung erforderlich, b) verhältnismäßig und c) auch sonst sachlich gerechtfertigt ist.
Viele Argumente sprechen gegen die Verfassungskonformität von § 131b BAO: Die Umsatzgrenze ist viel zu niedrig bemessen, denn wer im Monat nur knapp mehr als 1250 Euro umsetzt, kann noch lange nicht vom Einnahmenüberschuss leben. Auch Unternehmer, die unter dem Existenzminimum verdienen, benötigen somit eine Registrierkasse.
Die Anknüpfung an die Vorjahresumsätze könnte gleichheitswidrig sein. Die Aufschiebung der vom Gesetz angeordneten Strafbarkeit (§ 25 FinStrG) bei Fehlen einer Registrierkasse erfolgt mittels Erlass, der in der Verhandlung als "Weisung" ohne Rechtsgrundlage bezeichnet wurde. Diese könnte der VfGH auch als außenwirksame Verordnung einstufen, die sie auf Verfassungskonformität nach Art 139 B-VG prüfen kann.
Bis Ende März strafen die Behörden nicht, bis Ende Juni kann man sich auf Lieferverzögerungen und technische Probleme berufen, ab 1. Juli ist das Gesetz "scharf" anzuwenden. Diese zeitliche Staffelung ist außergesetzlich geregelt, und das stößt den Höchstrichtern auf. Denn Strafnormen unterliegen einer besonders strengen Legalitätsbindung und müssen im Gesetz selbst in allen Nuancen umschrieben sein.
Verhältnismäßigkeitsprüfung
Aber auch auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung gibt es zahlreiche Argumente gegen die neue Pflicht. Das zeigt eine Durchschnittsbetrachtung einzelner betroffener Sparten, Fachgruppen und Unternehmen: Die Friseurin von nebenan hat bereits eine Registrierkasse, aber sie benötigt dazu einen Chip, der sie 1700 Euro kostet.
Der Taxiunternehmer auf dem Land muss alle seine Fahrzeuge mit Thermodruckern ausrüsten, die bei den extremen Temperaturschwankungen ihren Dienst versagen. Die Verbuchung erfolgt mittels einer App, die eine stabile Mobilfunkverbindung erfordert, was im Alpenraum nicht überall gewährleistet ist. Der Zahlungsvorgang nach einer Taxifahrt wird künftig in eine verkehrsbehindernde und geschäftsstörende Länge gezogen.
Mit dem Inkrafttreten der Registrierkassen-Sicherheitsverordnung Anfang 2017 kommt dann neue Unbill auf die Unternehmer zu, die soeben erst ihre Infrastruktur für das Finanzamt aufgerüstet haben, weil sie dann einer sicheren Signatur bei der Datenübertragung bedürfen. Weitere Kosten sind programmiert, und die Zuschüsse sind minimal.
Wien – Auch nach der Verhandlung der ersten drei Individualanträge beim Verfassungsgerichtshof Anfang März hat sich der Nebel rund um die Registrierkassenpflicht nicht gehoben. Angefochten wurde vorerst nur eine Bestimmung aus der Bundesabgabenordnung (§ 131b BAO), ein profunder Antrag aus Oberösterreich hat aber auch weitere anzuwendende Rechtsvorschriften problematisiert.
Zumindest die Frage, ob der Gesetzgeber die grundrechtlichen Schranken der Erwerbsfreiheit, der Gleichheit und das Legalitätsprinzip gewahrt hat, wird das Höchstgericht eingehend beantworten. Im Einzelnen muss der VfGH prüfen, ob die zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung eingeführte Pflicht a) zur Zielerreichung erforderlich, b) verhältnismäßig und c) auch sonst sachlich gerechtfertigt ist.
Viele Argumente sprechen gegen die Verfassungskonformität von § 131b BAO: Die Umsatzgrenze ist viel zu niedrig bemessen, denn wer im Monat nur knapp mehr als 1250 Euro umsetzt, kann noch lange nicht vom Einnahmenüberschuss leben. Auch Unternehmer, die unter dem Existenzminimum verdienen, benötigen somit eine Registrierkasse.
Die Anknüpfung an die Vorjahresumsätze könnte gleichheitswidrig sein. Die Aufschiebung der vom Gesetz angeordneten Strafbarkeit (§ 25 FinStrG) bei Fehlen einer Registrierkasse erfolgt mittels Erlass, der in der Verhandlung als "Weisung" ohne Rechtsgrundlage bezeichnet wurde. Diese könnte der VfGH auch als außenwirksame Verordnung einstufen, die sie auf Verfassungskonformität nach Art 139 B-VG prüfen kann.
Bis Ende März strafen die Behörden nicht, bis Ende Juni kann man sich auf Lieferverzögerungen und technische Probleme berufen, ab 1. Juli ist das Gesetz "scharf" anzuwenden. Diese zeitliche Staffelung ist außergesetzlich geregelt, und das stößt den Höchstrichtern auf. Denn Strafnormen unterliegen einer besonders strengen Legalitätsbindung und müssen im Gesetz selbst in allen Nuancen umschrieben sein.
Verhältnismäßigkeitsprüfung
Aber auch auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung gibt es zahlreiche Argumente gegen die neue Pflicht. Das zeigt eine Durchschnittsbetrachtung einzelner betroffener Sparten, Fachgruppen und Unternehmen: Die Friseurin von nebenan hat bereits eine Registrierkasse, aber sie benötigt dazu einen Chip, der sie 1700 Euro kostet.
Der Taxiunternehmer auf dem Land muss alle seine Fahrzeuge mit Thermodruckern ausrüsten, die bei den extremen Temperaturschwankungen ihren Dienst versagen. Die Verbuchung erfolgt mittels einer App, die eine stabile Mobilfunkverbindung erfordert, was im Alpenraum nicht überall gewährleistet ist. Der Zahlungsvorgang nach einer Taxifahrt wird künftig in eine verkehrsbehindernde und geschäftsstörende Länge gezogen.
Mit dem Inkrafttreten der Registrierkassen-Sicherheitsverordnung Anfang 2017 kommt dann neue Unbill auf die Unternehmer zu, die soeben erst ihre Infrastruktur für das Finanzamt aufgerüstet haben, weil sie dann einer sicheren Signatur bei der Datenübertragung bedürfen. Weitere Kosten sind programmiert, und die Zuschüsse sind minimal.
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Gerhard Strejcek
EuGH stellt Enteignung von Wettbürogeräten infrage
Der Standard, 23.02.2016
Gericht bestätigt Konzessionspflicht in Italien, nicht aber Zwangsübergabe bei Auslaufen der Berechtigung
Wien – Ähnlich wie in Österreich gehen die Behörden in Italien auf einer neuen Gesetzesgrundlage (Gesetz Nr. 220/2012) schärfer gegen illegale Wettanbieter vor. So musste eine Unternehmerin ihre Aktivitäten im Hinterzimmer eines Betriebs einstellen, der eine direkte Verbindung zu einem maltesischen Online-Anbieter ermöglichte. Ob die Betreffende aber ihre gesamte Verwaltung und ihre Online-Annahmegeräte an die Monopolverwaltung abgeben muss, prüft derzeit ein italienisches Gericht. Die Entscheidung könnte insofern spannend werden, als das italienische System der zwangsweisen Weitergabe auf dem Prüfstand eines Vorabentscheidungsverfahrens stand.
Der Europäische Gerichtshof befand vor kurzem, dass das Gesetz Nr. 220 wegen der unentgeltlichen Übergabepflicht unverhältnismäßige Folgen haben kann (Rs Laezza C-375/14 vom 28. 1. 2016). Entgegen dem ersten Eindruck hat diese Entscheidung keine Auswirkungen auf Österreich, wo der Einzug und Verfall von illegal betriebenen Geräten (z. B. Spielautomaten) gesetzlich vorgesehen ist.
Die Beschwerdeführerin im Anlassfall hatte keine Wettkonzession angestrebt, sondern vertrieb illegal Sportwetten eines maltesischen Anbieters in einem Hinterzimmer. Das italienische Recht sieht allerdings nicht nur in diesem Fall gesetzliche Pflichten zur unentgeltlichen Abtretung von Annahmegeräten und EDV-Infrastruktur vor, sondern verlangt dies auch bei Konzessionsende eines legalen Anbieters.
Damit geht es über die Anordnung einer Sanktion weit hinaus. Der Anbieter, dessen Konzession ausläuft oder aufgehoben wird, muss nach Aufforderung die Geräte sogar unentgeltlich der Staatsmonopolverwaltung (ADM) übergeben. Diese kann dann dem Nachfolger die Geräte, sowie Soft- und Hardware zur Wettenverwaltung und -annahme zum Gebrauch überlassen. Somit kann der Konzessionsnachfolger nach Ermessen der ADM die fremde Infrastruktur benutzen, was unbillig und inadäquat erscheint.
Konzessionssystem zulässig
Das Konzessionssystem selbst stellte der EuGH ausdrücklich nicht infrage, 2015 hatte er das Höchstzahlsystem bereits im Urteil Stanley International Betting und Stanleybet Malta (C 463/13) als EU-konform befunden. Ein derartiges Konzessionssystem entspricht den in Art 49 und 56 AEUV enthaltenen Grundfreiheiten der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.
Der EuGH hatte damals jedoch die Art der Ausschreibung kritisiert, die nicht sämtliche Anbieter aus dem Binnenmarkt gleich behandelt hatte. Wie es der Zufall will, vertrieb Frau Leazza Dienstleistungen genau dieses Anbieters, der auch gegen die Konzessionsvergabe angetreten war.
Trotz der Vorabentscheidung sind die Chancen der Beschwerdeführerin auf einen Sieg im nationalen Verfahren gering, da sie keine Bewilligung hatte. Sie hat es aber immerhin geschafft, dass die generelle Pflicht der Abgabe an die Staatsmonopolverwaltung künftig Lücken bekommen wird.
Dass man illegalen Anbietern Geräte und Infrastruktur wegnehmen darf, scheint verhältnismäßig, weil es sich um eine Sanktion handelt, die zur Verhinderung weiterer Tätigkeiten notwendig ist. Dass aber die Monopolverwaltung über die Infrastruktur von jenen Anbietern entgeltfrei verfügen kann, deren Konzession lediglich ausgelaufen ist oder nicht erneuert wurde, ist höchst fragwürdig, da es sich um eine entschädigungslose Enteignung von Vermögenswerten handeln könnte.
Wien – Ähnlich wie in Österreich gehen die Behörden in Italien auf einer neuen Gesetzesgrundlage (Gesetz Nr. 220/2012) schärfer gegen illegale Wettanbieter vor. So musste eine Unternehmerin ihre Aktivitäten im Hinterzimmer eines Betriebs einstellen, der eine direkte Verbindung zu einem maltesischen Online-Anbieter ermöglichte. Ob die Betreffende aber ihre gesamte Verwaltung und ihre Online-Annahmegeräte an die Monopolverwaltung abgeben muss, prüft derzeit ein italienisches Gericht. Die Entscheidung könnte insofern spannend werden, als das italienische System der zwangsweisen Weitergabe auf dem Prüfstand eines Vorabentscheidungsverfahrens stand.
Der Europäische Gerichtshof befand vor kurzem, dass das Gesetz Nr. 220 wegen der unentgeltlichen Übergabepflicht unverhältnismäßige Folgen haben kann (Rs Laezza C-375/14 vom 28. 1. 2016). Entgegen dem ersten Eindruck hat diese Entscheidung keine Auswirkungen auf Österreich, wo der Einzug und Verfall von illegal betriebenen Geräten (z. B. Spielautomaten) gesetzlich vorgesehen ist.
Die Beschwerdeführerin im Anlassfall hatte keine Wettkonzession angestrebt, sondern vertrieb illegal Sportwetten eines maltesischen Anbieters in einem Hinterzimmer. Das italienische Recht sieht allerdings nicht nur in diesem Fall gesetzliche Pflichten zur unentgeltlichen Abtretung von Annahmegeräten und EDV-Infrastruktur vor, sondern verlangt dies auch bei Konzessionsende eines legalen Anbieters.
Damit geht es über die Anordnung einer Sanktion weit hinaus. Der Anbieter, dessen Konzession ausläuft oder aufgehoben wird, muss nach Aufforderung die Geräte sogar unentgeltlich der Staatsmonopolverwaltung (ADM) übergeben. Diese kann dann dem Nachfolger die Geräte, sowie Soft- und Hardware zur Wettenverwaltung und -annahme zum Gebrauch überlassen. Somit kann der Konzessionsnachfolger nach Ermessen der ADM die fremde Infrastruktur benutzen, was unbillig und inadäquat erscheint.
Konzessionssystem zulässig
Das Konzessionssystem selbst stellte der EuGH ausdrücklich nicht infrage, 2015 hatte er das Höchstzahlsystem bereits im Urteil Stanley International Betting und Stanleybet Malta (C 463/13) als EU-konform befunden. Ein derartiges Konzessionssystem entspricht den in Art 49 und 56 AEUV enthaltenen Grundfreiheiten der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.
Der EuGH hatte damals jedoch die Art der Ausschreibung kritisiert, die nicht sämtliche Anbieter aus dem Binnenmarkt gleich behandelt hatte. Wie es der Zufall will, vertrieb Frau Leazza Dienstleistungen genau dieses Anbieters, der auch gegen die Konzessionsvergabe angetreten war.
Trotz der Vorabentscheidung sind die Chancen der Beschwerdeführerin auf einen Sieg im nationalen Verfahren gering, da sie keine Bewilligung hatte. Sie hat es aber immerhin geschafft, dass die generelle Pflicht der Abgabe an die Staatsmonopolverwaltung künftig Lücken bekommen wird.
Dass man illegalen Anbietern Geräte und Infrastruktur wegnehmen darf, scheint verhältnismäßig, weil es sich um eine Sanktion handelt, die zur Verhinderung weiterer Tätigkeiten notwendig ist. Dass aber die Monopolverwaltung über die Infrastruktur von jenen Anbietern entgeltfrei verfügen kann, deren Konzession lediglich ausgelaufen ist oder nicht erneuert wurde, ist höchst fragwürdig, da es sich um eine entschädigungslose Enteignung von Vermögenswerten handeln könnte.
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Gerhard Strejcek
Parteien haben bei der Präsidentenwahl keine Rechte
Salzburger Nachrichten, 08.02.2016
Warum die Praxis, Parteikandidaten „öffentlich“ zu nominieren, dem Sinn der Wahlordnung widerspricht.
Mit der unabhängigen Juristin Irmgard Griss als Kandidatin für die Wahl zum Bundespräsidenten kam kurzfristig die Hoffnung auf, der Wahlkampf könnte diesmal zwischen (möglichst parteiunabhängigen) Persönlichkeiten und deren auf das Amt bezogenen, sachlichen Konzepten erfolgen. Dagegen wird nun die Illusion erzeugt, es ginge in diesem Wahlkampf um Themen wie Flüchtlingspolitik oder sonstige politische Gestaltungsfragen, die ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin kraft ihrer verfassungsmäßigen Zuständigkeiten nicht beeinflussen kann. Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Wahlbewerbung nach demBundespräsidentwahlgesetz (BPräsWG) von 1971 nicht Sache der Parteien ist. Die rechtliche Voraussetzung für die Zulassung eines Wahlvorschlags sind 6000 Unterstützungsunterschriften und der Barerlag oder der Nachweis der Überweisung eines Wahlkostenbeitrags (3500 Euro). Die politischen Parteien haben kein Nominierungsrecht und sie können in rechtlicher Hinsicht nichts zur Unterstützung der Wahlbewerbung beitragen, was gute Gründe für sich hat.
Seit dem Wegfall der „Lex Habsburg“ dürfen auch Angehörige regierender oder ehemals regierender Häuser kandidieren. Die Formalkriterien (Vollendung des 35. Lebensjahres am Wahltag, österreichische Staatsbürgerschaft) schaffen die bisher bekannten Kandidaten ohne Probleme.
Die Praxis, Parteikandidaten „öffentlich“ zu nominieren, widerspricht aber dem Sinn der Wahlordnung. Es geht umeine reine Persönlichkeitswahl, daher kommen politische Parteien im Gesetz nicht explizit vor. Lediglich in den nach dem Proporzprinzip zusammengesetzten Wahlbehörden, die sich nach der letzten Nationalratswahl richten, kommen Parteienvertreter zum Zuge. Die Vertreter der im Nationalrat vertretenen Parteien haben neutral und gesetzeskonform zu agieren.
Was die Themen betrifft, herrscht in Österreich zwar Meinungsfreiheit, aber es wäre ein Zeichen politischer Reife und des richtigen Verständnisses der Verfassung, bezögen sich die Bewerber inhaltlich auf ihre zukünftigen Kompetenzen. Dass in einem parlamentarischen Regierungssystem der Bundespräsident keinerlei politische Steuerungsfunktion hat, ist hinlänglich bekannt. Die präsidialen (oder präsidentiellen) Elemente haben in unserer Spielregelverfassung nur Gewicht,wenn ein Anlassfall (etwa bei Ernennungen, Entlassungen, Auflösung des Nationalrats) deren Ausübung erfordert. Dasselbe gilt auch für Notverordnungen, die kein probates Mittel einer Politik außerhalb echter Notzeiten sind. Der Bundespräsident kann trotz formellen Oberbefehls nicht gegen den Verteidigungsminister agieren oder ohne Mitwirkung des Nationalrats über das Bundesheer verfügen. Und wie viele Flüchtlinge in Österreich Asyl erhalten werden und welche Migrationspolitik unserem Staat zumutbar ist, kann der Bundespräsident nur durch mahnende Worte, nicht aber rechtlich beeinflussen.
Mit der unabhängigen Juristin Irmgard Griss als Kandidatin für die Wahl zum Bundespräsidenten kam kurzfristig die Hoffnung auf, der Wahlkampf könnte diesmal zwischen (möglichst parteiunabhängigen) Persönlichkeiten und deren auf das Amt bezogenen, sachlichen Konzepten erfolgen. Dagegen wird nun die Illusion erzeugt, es ginge in diesem Wahlkampf um Themen wie Flüchtlingspolitik oder sonstige politische Gestaltungsfragen, die ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin kraft ihrer verfassungsmäßigen Zuständigkeiten nicht beeinflussen kann. Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Wahlbewerbung nach demBundespräsidentwahlgesetz (BPräsWG) von 1971 nicht Sache der Parteien ist. Die rechtliche Voraussetzung für die Zulassung eines Wahlvorschlags sind 6000 Unterstützungsunterschriften und der Barerlag oder der Nachweis der Überweisung eines Wahlkostenbeitrags (3500 Euro). Die politischen Parteien haben kein Nominierungsrecht und sie können in rechtlicher Hinsicht nichts zur Unterstützung der Wahlbewerbung beitragen, was gute Gründe für sich hat.
Seit dem Wegfall der „Lex Habsburg“ dürfen auch Angehörige regierender oder ehemals regierender Häuser kandidieren. Die Formalkriterien (Vollendung des 35. Lebensjahres am Wahltag, österreichische Staatsbürgerschaft) schaffen die bisher bekannten Kandidaten ohne Probleme.
Die Praxis, Parteikandidaten „öffentlich“ zu nominieren, widerspricht aber dem Sinn der Wahlordnung. Es geht umeine reine Persönlichkeitswahl, daher kommen politische Parteien im Gesetz nicht explizit vor. Lediglich in den nach dem Proporzprinzip zusammengesetzten Wahlbehörden, die sich nach der letzten Nationalratswahl richten, kommen Parteienvertreter zum Zuge. Die Vertreter der im Nationalrat vertretenen Parteien haben neutral und gesetzeskonform zu agieren.
Was die Themen betrifft, herrscht in Österreich zwar Meinungsfreiheit, aber es wäre ein Zeichen politischer Reife und des richtigen Verständnisses der Verfassung, bezögen sich die Bewerber inhaltlich auf ihre zukünftigen Kompetenzen. Dass in einem parlamentarischen Regierungssystem der Bundespräsident keinerlei politische Steuerungsfunktion hat, ist hinlänglich bekannt. Die präsidialen (oder präsidentiellen) Elemente haben in unserer Spielregelverfassung nur Gewicht,wenn ein Anlassfall (etwa bei Ernennungen, Entlassungen, Auflösung des Nationalrats) deren Ausübung erfordert. Dasselbe gilt auch für Notverordnungen, die kein probates Mittel einer Politik außerhalb echter Notzeiten sind. Der Bundespräsident kann trotz formellen Oberbefehls nicht gegen den Verteidigungsminister agieren oder ohne Mitwirkung des Nationalrats über das Bundesheer verfügen. Und wie viele Flüchtlinge in Österreich Asyl erhalten werden und welche Migrationspolitik unserem Staat zumutbar ist, kann der Bundespräsident nur durch mahnende Worte, nicht aber rechtlich beeinflussen.
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Gerhard Strejcek
Registrierkassenpflicht könnte vor Höchstgericht
gebracht werden
Der Standard, 01.02.2016
Der Verfassungsgerichtshof kann bei Beschränkungen der Erwerbsfreiheit prüfen, ob sie gerechtfertigt sind
Wien – Das neue Jahr hat mit der Registrierkassenpflicht, Belegkontrolle, Erweiterung der Register und der Aufzeichnungsvorschriften einen weiteren Regulierungs- und Abgabenschub gebracht. Die Pflicht, eine Registrierkasse zu führen und nach italienischem Vorbild für jeden Umsatz Belege auszustellen, sind wirtschaftlich-bürokratische Einschränkungen, die nicht nur viel Unmut auslösen, sondern auch rechtlich umstritten sind.
Abgesehen von der Umweltbelastung durch Belege fragt es sich, ob das Interesse an höheren Steuereinnahmen mit dem Aufwand der Betroffenen – etwa allein arbeitender Gewerbetreibender wie Friseure, Würstelstandbetreiber und Taxifahrer – im Einklang steht. Diese Neuregelung könnte Gegenstand der Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof werden. Der Zugang zum Höchstgericht steht nach Entscheidung des zuständigen Landesverwaltungs- oder des Bundesfinanzgerichts offen. Denkbar ist auch der neue Rechtsbehelf von Individual- oder Parteienanträgen.
Grundrechtlich betrachtet handelt es sich bei den hier behandelten Regeln um Ausübungsschranken, die der VfGH-Kontrolle unterliegen. Sowohl Antritts- als auch Ausübungsregeln in- und außerhalb der GewO können am Maßstab des Grundrechts auf Erwerbsfreiheit (Art 6 StGG) gemessen werden. Antrittsschranken, die vor Beginn einer Erwerbstätigkeit stehen, unterliegen einem besonders strengen Maßstab der Kontrolle.
Zuletzt standen die Antrittsregeln der Berufsfotografen auf dem Prüfstand der Höchstrichter. Mit dem Erkenntnis VfSlg 19.814/2013 hob der VfGH die Voraussetzung eines Befähigungsnachweises für das "reglementierte" Gewerbe der Fotografen als verfassungswidrig auf. Gleichwohl haben sich die Qualitätsstandards seither nicht verschlechtert. Da es für den Konsumenten aber von Bedeutung ist, dass er von einem hinreichend geschulten Fotografen betreut wird, berufen sich Profifotografen auf Meisterprüfung und auf Zertifizierungen. Auf diese Art erreichen sie nach deutschem Vorbild eine verbesserte Stellung im Wettbewerb, ohne dass der Gewerbezugang reglementiert ist.
Hinsichtlich der Registrierkassenpflicht, die im Steuerrecht verortet ist und eine Ausübungsschranke darstellt, kann der VfGH nachprüfen, ob es das öffentliche Interesse an einer lückenlosen Abgabeneinhebung rechtfertigt, dass – abgesehen von Cold-Hands-Betrieben – nunmehr für jeden Zahlungsvorgang ein registrierter Beleg ausgestellt werden muss. Bloße Verwaltungsökonomie (Datenlisten statt vom Gewerbetreibenden eingereichten Umsatzzahlen) rechtfertigt laut langjähriger Judikatur allein keine Eingriffe in das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit.
Wien – Das neue Jahr hat mit der Registrierkassenpflicht, Belegkontrolle, Erweiterung der Register und der Aufzeichnungsvorschriften einen weiteren Regulierungs- und Abgabenschub gebracht. Die Pflicht, eine Registrierkasse zu führen und nach italienischem Vorbild für jeden Umsatz Belege auszustellen, sind wirtschaftlich-bürokratische Einschränkungen, die nicht nur viel Unmut auslösen, sondern auch rechtlich umstritten sind.
Abgesehen von der Umweltbelastung durch Belege fragt es sich, ob das Interesse an höheren Steuereinnahmen mit dem Aufwand der Betroffenen – etwa allein arbeitender Gewerbetreibender wie Friseure, Würstelstandbetreiber und Taxifahrer – im Einklang steht. Diese Neuregelung könnte Gegenstand der Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof werden. Der Zugang zum Höchstgericht steht nach Entscheidung des zuständigen Landesverwaltungs- oder des Bundesfinanzgerichts offen. Denkbar ist auch der neue Rechtsbehelf von Individual- oder Parteienanträgen.
Grundrechtlich betrachtet handelt es sich bei den hier behandelten Regeln um Ausübungsschranken, die der VfGH-Kontrolle unterliegen. Sowohl Antritts- als auch Ausübungsregeln in- und außerhalb der GewO können am Maßstab des Grundrechts auf Erwerbsfreiheit (Art 6 StGG) gemessen werden. Antrittsschranken, die vor Beginn einer Erwerbstätigkeit stehen, unterliegen einem besonders strengen Maßstab der Kontrolle.
Zuletzt standen die Antrittsregeln der Berufsfotografen auf dem Prüfstand der Höchstrichter. Mit dem Erkenntnis VfSlg 19.814/2013 hob der VfGH die Voraussetzung eines Befähigungsnachweises für das "reglementierte" Gewerbe der Fotografen als verfassungswidrig auf. Gleichwohl haben sich die Qualitätsstandards seither nicht verschlechtert. Da es für den Konsumenten aber von Bedeutung ist, dass er von einem hinreichend geschulten Fotografen betreut wird, berufen sich Profifotografen auf Meisterprüfung und auf Zertifizierungen. Auf diese Art erreichen sie nach deutschem Vorbild eine verbesserte Stellung im Wettbewerb, ohne dass der Gewerbezugang reglementiert ist.
Hinsichtlich der Registrierkassenpflicht, die im Steuerrecht verortet ist und eine Ausübungsschranke darstellt, kann der VfGH nachprüfen, ob es das öffentliche Interesse an einer lückenlosen Abgabeneinhebung rechtfertigt, dass – abgesehen von Cold-Hands-Betrieben – nunmehr für jeden Zahlungsvorgang ein registrierter Beleg ausgestellt werden muss. Bloße Verwaltungsökonomie (Datenlisten statt vom Gewerbetreibenden eingereichten Umsatzzahlen) rechtfertigt laut langjähriger Judikatur allein keine Eingriffe in das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit.
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Gerhard Strejcek
Kafkas Klassen, Bernhards Motorsäge . . .
Die Presse, 08.01.2016
„Bauer Bernhard, Beamter Kafka“: Janko Ferks vergnügliche Essays über die „Zweitberufe“ bekannter österreichischer Dichter.
Soeben ist, nach einem lesenswerten Gedichtband, ein neues essayistisches Buch Janko Ferks erschienen, das sich auch im neuen Jahr durchaus als Geschenk und zur erbaulichen Lektüre eignet. In essayartiger Weise stellt der Autor Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, die einen Zivil- oder Brotberuf ausgeübt haben. Janko Ferk trifft eine repräsentative Auswahl und liefert profunde und analytische biografische Beiträge.
Manche der Beschriebenen empfanden den Job als Qual, etwa Kafka, der lieber nächtelang „gekritzelt“ hätte, als störrische Unternehmer über die staatliche Unfallversicherung aufzuklären. Andere nahmen ihre „zweite“ Profession ernst, litten aber unter der mangelnden Anerkennung ihrer Fähigkeiten, wie Thomas Bernhard, der sich redlich als Landwirt versuchte und dafür auch amtliche Nachweise erbrachte. In Jugendzeiten war er Kaufmannslehrling und holte sich fast den Tod, als er in Eiseskälte schwere Jutesäcke schleppte.
Immerhin erwarb der Schwierige, der sich als Schreibender sah, aber als Landwirt firmierte und Bezeichnungen wie Schriftsteller oder Dichter hasste, nach dem Erfolg von „Frost“ 1964 mehrere landwirtschaftlich genutzte Grundstücke im Bundesland ob der Enns, deren Veräußerung nur an einen Landwirt rechtens war. Da es keine exklusive Fachausbildung zum Landwirt gibt, musste der Erwerber durch tatsächliche Betätigung seine Berufung nachweisen. Das tat Bernhard in Obernathal, wogegen er die „Krucka“ als Fluchtpunkt und Liebesnest, den „Hanspäun“ hingegen als Hort des (ausnehmerischen) Kartenspiels nutzte.
Wer Ferks Buch zur Hand nimmt, erfährt von Bernhards Bemühungen, in die Bezirksbauernkammer aufgenommen zu werden. Im legendären Werk des Bernhard-Maklers Ignaz Hennetmair („Ein Jahr mit Thomas Bernhard“) konnte man Korrespondenzen mit Funktionären lesen und das schwarze Kfz-Kennzeichen auf dem Traktor des Autors betrachten sowie Wissenswertes über Bernhards Mostpresse und seine Motorsägenexperimente erfahren.
Ferk ist nicht nur Jus-Professor und Richter, sondern auch ausgewiesener Kafka-Experte, sodass seine Darstellung von Kafkas juristischem Zivilberuf als AUVA-Beamter präziser ausfällt als in den ziegeldicken Biografien. Kafkas Zuständigkeit zu „Beäußerungen“ missdeuteten Stach und Wagenbach als Beantwortungen oder Erledigungen eines Rechtsmittels. In Wahrheit war die Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das KönigreichBöhmen aber keine Behörde, sondern Sozialversicherungsträger und sachverständige Einrichtung, die sich zur Einstufung von Unternehmen in „Gefahrenklassen“ äußern konnte. Die tatsächliche Einstufung nahm die Bezirkshauptmannschaft als Gewerbebehörde vor, deren Votum nicht stets im Instanzenzug hielt, womit sich Kafkas machtlose Behörden in den Werken „Der Process“ und „Das Schloss“ erklären.
Die Bezeichnung von Schnitzlers Zivilberuf als Facharzt für Laryngologie wäre inadäquat, denn der Autor der „Liebelei“ und des „Reigen“ schloss zwar Studium und Turnus ab, ließ sich aber nie als Facharzt nieder, sondern lebte (nicht ohne Existenzängste) von Tantiemen und Honoraren. Die Doppelberufung führt bei Nichtösterreichern häufig zu terminologischen Unschärfen. Anlässlich eines Schnitzler-Gedenktags schrieb ein Zürcher „NZZ-Redaktor“, Schnitzler sei praktizierender Arzt gewesen. Aber das stimmt so nicht, denn nur in der verhältnismäßig kurzen Ära nach Abschluss des Studiums half er seinem Vater bei der Redaktion einer Fachzeitschrift und praktizierte selbst als Laryngologe. Später aber behandelte er nur Freunde, wobei es mehr um die Beschwichtigung bei hypochondrischen Beschwerden oder um einfühlsames Frauenverstehen als um die Anamnese und Therapie ging.
Janko Ferk arbeitet auch Albert Drachs juristische Tätigkeit gekonnt auf und liefert zu allen Objekten seiner Darstellung weiterführendes Schrifttum, was ihn als profunden und wissenschaftlich ausgewiesenen Autor bestätigt. Dazu kommen sein unprätentiöser Stil sowie sein Bemühen um Faktentreue und Diskretion, die zu einem vergnüglichen und bereichernden Leseerlebnis beitragen. br>
Literatur:
Janko Ferk
Bauer Bernhard, Beamter Kafka
Dichter und ihre Zivilberufe. 176 S., geb., € 19,90
(Styria premium Verlag, Wien/Graz)
Soeben ist, nach einem lesenswerten Gedichtband, ein neues essayistisches Buch Janko Ferks erschienen, das sich auch im neuen Jahr durchaus als Geschenk und zur erbaulichen Lektüre eignet. In essayartiger Weise stellt der Autor Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, die einen Zivil- oder Brotberuf ausgeübt haben. Janko Ferk trifft eine repräsentative Auswahl und liefert profunde und analytische biografische Beiträge.
Manche der Beschriebenen empfanden den Job als Qual, etwa Kafka, der lieber nächtelang „gekritzelt“ hätte, als störrische Unternehmer über die staatliche Unfallversicherung aufzuklären. Andere nahmen ihre „zweite“ Profession ernst, litten aber unter der mangelnden Anerkennung ihrer Fähigkeiten, wie Thomas Bernhard, der sich redlich als Landwirt versuchte und dafür auch amtliche Nachweise erbrachte. In Jugendzeiten war er Kaufmannslehrling und holte sich fast den Tod, als er in Eiseskälte schwere Jutesäcke schleppte.
Immerhin erwarb der Schwierige, der sich als Schreibender sah, aber als Landwirt firmierte und Bezeichnungen wie Schriftsteller oder Dichter hasste, nach dem Erfolg von „Frost“ 1964 mehrere landwirtschaftlich genutzte Grundstücke im Bundesland ob der Enns, deren Veräußerung nur an einen Landwirt rechtens war. Da es keine exklusive Fachausbildung zum Landwirt gibt, musste der Erwerber durch tatsächliche Betätigung seine Berufung nachweisen. Das tat Bernhard in Obernathal, wogegen er die „Krucka“ als Fluchtpunkt und Liebesnest, den „Hanspäun“ hingegen als Hort des (ausnehmerischen) Kartenspiels nutzte.
Wer Ferks Buch zur Hand nimmt, erfährt von Bernhards Bemühungen, in die Bezirksbauernkammer aufgenommen zu werden. Im legendären Werk des Bernhard-Maklers Ignaz Hennetmair („Ein Jahr mit Thomas Bernhard“) konnte man Korrespondenzen mit Funktionären lesen und das schwarze Kfz-Kennzeichen auf dem Traktor des Autors betrachten sowie Wissenswertes über Bernhards Mostpresse und seine Motorsägenexperimente erfahren.
Ferk ist nicht nur Jus-Professor und Richter, sondern auch ausgewiesener Kafka-Experte, sodass seine Darstellung von Kafkas juristischem Zivilberuf als AUVA-Beamter präziser ausfällt als in den ziegeldicken Biografien. Kafkas Zuständigkeit zu „Beäußerungen“ missdeuteten Stach und Wagenbach als Beantwortungen oder Erledigungen eines Rechtsmittels. In Wahrheit war die Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das KönigreichBöhmen aber keine Behörde, sondern Sozialversicherungsträger und sachverständige Einrichtung, die sich zur Einstufung von Unternehmen in „Gefahrenklassen“ äußern konnte. Die tatsächliche Einstufung nahm die Bezirkshauptmannschaft als Gewerbebehörde vor, deren Votum nicht stets im Instanzenzug hielt, womit sich Kafkas machtlose Behörden in den Werken „Der Process“ und „Das Schloss“ erklären.
Die Bezeichnung von Schnitzlers Zivilberuf als Facharzt für Laryngologie wäre inadäquat, denn der Autor der „Liebelei“ und des „Reigen“ schloss zwar Studium und Turnus ab, ließ sich aber nie als Facharzt nieder, sondern lebte (nicht ohne Existenzängste) von Tantiemen und Honoraren. Die Doppelberufung führt bei Nichtösterreichern häufig zu terminologischen Unschärfen. Anlässlich eines Schnitzler-Gedenktags schrieb ein Zürcher „NZZ-Redaktor“, Schnitzler sei praktizierender Arzt gewesen. Aber das stimmt so nicht, denn nur in der verhältnismäßig kurzen Ära nach Abschluss des Studiums half er seinem Vater bei der Redaktion einer Fachzeitschrift und praktizierte selbst als Laryngologe. Später aber behandelte er nur Freunde, wobei es mehr um die Beschwichtigung bei hypochondrischen Beschwerden oder um einfühlsames Frauenverstehen als um die Anamnese und Therapie ging.
Janko Ferk arbeitet auch Albert Drachs juristische Tätigkeit gekonnt auf und liefert zu allen Objekten seiner Darstellung weiterführendes Schrifttum, was ihn als profunden und wissenschaftlich ausgewiesenen Autor bestätigt. Dazu kommen sein unprätentiöser Stil sowie sein Bemühen um Faktentreue und Diskretion, die zu einem vergnüglichen und bereichernden Leseerlebnis beitragen. br>
Literatur:
Janko Ferk
Bauer Bernhard, Beamter Kafka
Dichter und ihre Zivilberufe. 176 S., geb., € 19,90
(Styria premium Verlag, Wien/Graz)
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B.Jaschke/H.Mürzl/A.Rauschal/
G.Schmickl/U.Schütte/G.Strejcek/
A.Walker/A.Wirthensohn
Durchforstung des Sound-Dickichts
Wiener Zeitung, 05.01.2016
Die "music"-Mitarbeiter der "Wiener Zeitung" besprechen Alben, die sie im Jahr 2015 zu Unrecht überhört haben. Explizite (Kauf-)Empfehlungen.
Das aus Atlanta, Georgia stammende Trio Algiers durchforstet auf seinem selbstbetitelten Debütalbum (Matador/Beggars Group) US-Südstaatenmusik zwischen Gospel, Soul und Blues in Hinsicht auf ihr Substrat - getragen von wehklagenden Doo-wop-Gesängen und Franklin James Fi-shers nichts weniger als atemberaubendem Frontvortrag (fiebriges Gefeixe, galliges Gebell!) - und wird dabei auch fündig.
Andererseits erlaubt die Wurzelsuche mit Elementen aus Post-Punk, Dub und zappendusterer Elektronik, die auf alten Synthesizern beim Knöpfedrehen entsteht, auch den stilistischen Brückenschlag. Angesichts der um Rassismus und Unterdrückung kreisenden Texte kommt das alles entweder angriffig unter Strom oder gezeichnet, müde und entsprechend verschleppt daher. Gitarren pfeifen aus dem letzten Loch. Unter Berücksichtigung von "reverb" und "distortion" wird die Soundkulisse zum Dampfen gebracht. Endzeitlich läuten vom Kirchturm her Begräbnisglocken herüber. Der Teufel hat einen Gastauftritt. Andreas Rauschal
***
Unter dem buchstäblich klingenden Projektnamen And The Golden Choirhuldigt der deutsche Musiker und Produzent (Kettcar, Philipp Boa) Tobias Siebert auf seinem Debüt "Another Half Life" (Cargo Records) dem Prinzip der Selbstvervielfältigung. Bis zu 25 Tonspuren seiner Stimme hat er in minutiöser Aufnahmearbeit übereinandergeschichtet - und so zum namengebenden Chor aufgetürmt, mit welchem das Album seine Pforten a cappella (er)öffnet.
Hinter dieser Schwelle betritt man einen fast sakral anmutenden Raum, gefüllt mit solemn-erhabenem Orchestral-Pop. Dass dieses Unternehmen nicht an Schwülstigkeit erstickt, hat mit der dezenten Arbeitsweise des Tüftlers zu tun, der über vier Jahre an dem Album werkte. Er verzichtete dabei fast gänzlich auf digitale Technik, spielte jede Spur selbst live ein und bearbeitete keinen der Klänge nach. Bevor in wenigen Wochen der ästhetisch ähnlich versierte Konstantin Gropper alias Get Well Soon sein neues Album herausbringt, sei mit Nachdruck an dieses kleine analoge Wunderwerk von Siebert erinnert, das bereits im Jänner 2015 erschienen ist. Gerald Schmickl
***
Balthazar haben mit ihrem dritten Album, "Thin Walls" (PIAS), zwar das Rad nicht neu erfunden, aber eine Kollektion von zehn Songs eingespielt, die melancholische Eleganz, tanzbare Coolness und atmosphärische Erhabenheit miteinander verknüpft. Wie seine belgischen Vorbilder Deus frönt auch das Quintett aus Gent einem Eklektizismus, der vielen Größen der Popwelt ein Denkmal setzt.
Ben Hillier und Jason Cox sorgten als Produzenten für den mit viel britischer Indiepop-Raffinesse und ausgeklügelten Arrangement-Feinheiten ausgestatteten Sound. Jeder dieser Songs schmeichelt sich, an den richtigen Stellen vertrackt, ohne aber auf prägnante Basslinien und tanzbare Beats zu verzichten, so eingängig wie geschmeidig in die Ohren. Die pointierten Gitarrenklänge harmonieren hervorragend mit der sonoren, zwischen Verschlafenheit und Nuscheln changierenden Stimme von Maarten Devoldere, eine da und dort schmirgelnde Orgel sorgt für ein wenig Retro-Touch - und dezente Streicher und Bläser demonstrieren Kammerpop-Affinität. Heimo Mürzl
***
Nach fast 20 Jahren Pause lässt mit The Chills eine der besten Indiepop-Bands (nicht nur) Neuseelands wieder von sich hören und tut dabei so, als habe sie sich gerade einmal einen Kurzurlaub gegönnt. Schön und mit souveräner Ausdauer führt Band-Boss Martin Phillipps - zugleich das einzige Fix-Mitglied - die Stärken des Quintetts vor, das es nie geschafft hat, Ansätze von Erfolg in ein konstantes Karriere-Momentum zu transferieren: die feinsinnig akzentuierenden und dabei doch dynamischen Gitarren, die oft kontrapunktisch dazu gesetzten Keyboards, die grandios raffinierten Melodien und natürlich Phillipps sonor-tragikumflorte Stimme, die im achtminütigen "Pyramid / When The Poor Can Reach The Moon" in der Utopie einer gerechteren Welt schwelgt oder aber in "Underwater Wasteland" in einen Umwelt-Gau abtaucht. Und wenn sich "Tomboy" mit der einigermaßen penetranten Wiederholung des titelgebenden Wortes schon als einer der vergleichsweise schwächeren Tracks auf "Silver Bullets" (Fire/Trost) ausnimmt - weniger begabte Mitbewerber hätten auch damit ihre Freude. Bruno Jaschke
***
Schon der Bandname lässt nicht unbedingt unbeschwertes Sangesgut erwarten. Und tatsächlich bietet das Debüt der Mini-Supergroup Kodiak Deathbeds (Affairs Of The Heart/Indigo) aus Sängerin Amber Webber (früher Black Mountain und Lightning Dust) und Gitarrist Derek Fudesco (der in Bands mit so schönen Namen wie Pretty Girls Make Graves tätig war) zehn sehr zarte, gedämpfte Songs, die sich nur gelegentlich in den Midtempo-Bereich vorwagen. Getragen von Webbers großartiger Stimme, die Sanft- und Bestimmtheit, Hauch und Härte aufs Vollkommenste miteinander vereint, werden auf dem titellosen Erstling die langsameren Facetten des Folk zelebriert: Country, Neo, Weird oder auch Dream. Nach Sterbebett klingt das ganz und gar nicht, eher nach einer Frischzellenkur für ein Genre, das mit einfachsten Mitteln immer wieder erstaunlich Neues hervorzaubert. "We Found A Home" heißt der letzte Song. Wäre schön, wenn uns diese musikalische Heimat ein wenig länger erhalten bliebe. Andreas Wirthensohn
***
Neben der Autobahn (für die bekanntlich Kraftwerk zuständig sind) kümmern sich um den Wald, das andere deutsche Nationalsymbol also, gleich zwei Elektromusiker - neben dem Kompakt-Label-Gründer Wolfgang Voigt a.k.a. Gas nun auch der Berliner Dub-Glitcher Stefan Betke a.k.a. Pole. Acht Jahre nach seinem letzten großen Wurf "Steingarten" legt Pole mit "Wald" (Pole/Rough Trade) ein Album vor, in dem man seine Sound-Signatur sofort erkennt und das zugleich ganz anders klingt als vergleichbare Electronica. Sein Rezept ist altbewährt, hat aber nichts an Anziehungskraft verloren: Eine fast schon alchemistische Fusion von Dub-Bass und elektrostatischem Knistern als Fundament, aus dem diverse Klangereignisse hervorbrechen, die so unerhört daherkommen, dass sie geradezu synästhetische Empfindungen auslösen. Und in der Tat - es erwacht ein akustischer Wald zu Leben, krabbeln doch Käfer vorbei, rascheln die Zweige und es erklingt der elektronische Ruf der Vögel . . . Uwe Schütte
***
Sannhet ist das norwegische Wort für Wahrheit. Das gleichnamige Trio aus Brooklyn entfaltet diese in symphonisch arrangierten Noise-Ekstasen. Dabei klingen John Refano (Gitarre), Christopher Todd (Schlagzeug) und AJ Annunziata (Bass) so orchestral, als würden sie gotische Kathedralen aus Klängen aufschichten. Musik ist nicht nur ein Ausdrucksmittel der Zeit, denn von der Magie des Imaginären, die den Hörer zu fantastischen Reisen einlädt und in fremde Landschaften versetzt, erzählt auch "Revisionist" (Flenser), das zweite Album der New Yorker.
Sannhet werden gern dem Post-Metal zugeordnet. Doch anders als bei anderen Bands ähnlicher Ausrichtung mäandern die Kompositionen hier nicht ins Uferlose. Es werden Dramolette von drei bis fünf Minuten Länge entworfen. Die Kürze dient der Intensität: Bedrohliche Szenarien werden skizziert, weite Horizonte durchmessen und sakral anmutende Bauten erschaffen. Die Wahrheit ist unbequem, trostlos und von poetischer Dichte.Andreas Walker
***
Belastende Aufgaben, uralte Kopien und nutzlose Gegenstände, Gerümpel, Weggelegtes, Gesammeltes, aber nie Verwendetes - wer leidet nicht darunter? Die Befreiung wäre nicht so schwer, die fachgerechte Entsorgung des angestauten Mülls erleichtert, nicht nur physisch. Dann geht es mit "leichtem Gepäck" weiter zu neuen Taten und auf beschwingte Reisen ins Ungewisse.
Dies zum Gegenstand eines Songs, ja eines Albums zu machen, blieb der sächsisch-deutschen Band Silbermond vorbehalten. Stimmlich hat sich Energiebündel Stefanie Kloß von Nena emanzipiert, die Stolle-Brüder und Andreas Nowak runden den kräftigen Sound "made in Bautzen" ab. "Leichtes Gepäck" (Sony) zählt mit 12 hitverdächtigen, klaren und einfach strukturierten Songs zu den gelungensten Pop-Alben des abgelaufenen Jahres. Silbermond werden übrigens laut Tourplan am 18. Mai 2016 in der Wiener Stadthalle aufspielen. Gerhard Strejcek
***
Ein Saxofon ist ein Saxofon, eine Violine eine Violine? Wenn die Luft akustisch flirrt und schillert, ist der Schall das eigentliche Medium. Im Ausloten instrumenteller Grenzen wird, wie bei Colin Stetson und Sarah Neufeld, die Musik zu einer Meditation über aerische Klangformationen. Stetson gehört (zusammen mit Mats Gustafsson, mit dem er 2012 das Album "Stones" veröffentlichte) gegenwärtig zu den spannendsten Saxofonisten - man denke etwa an seine "New History Warfare"-Trilogie. Zuvor und ab "Neon Bible" hatte er bereits Arcade Fire unterstützt.
Mit Sarah Neufeld, die ebenfalls zur Tour-Band der Kanadier gehört, spielte er 2013 die Musik für den Film "Blue Caprice" von Alexandre Moors ein. Mit "Never Were The Way She Was" (Constellation/Trost) dürfte die zweite Zusammenarbeit von Stetson und Neufeld nun zu den intimsten Alben des vergangenen Jahres gehören. In den Tönen atmet Musik, die an lockende Feen oder Waldgeister denken lässt. Ein Saxofon ist der Tanz eines Fauns, eine Violine der Gesang der Fauna . . . Andreas Walker
Das aus Atlanta, Georgia stammende Trio Algiers durchforstet auf seinem selbstbetitelten Debütalbum (Matador/Beggars Group) US-Südstaatenmusik zwischen Gospel, Soul und Blues in Hinsicht auf ihr Substrat - getragen von wehklagenden Doo-wop-Gesängen und Franklin James Fi-shers nichts weniger als atemberaubendem Frontvortrag (fiebriges Gefeixe, galliges Gebell!) - und wird dabei auch fündig.
Andererseits erlaubt die Wurzelsuche mit Elementen aus Post-Punk, Dub und zappendusterer Elektronik, die auf alten Synthesizern beim Knöpfedrehen entsteht, auch den stilistischen Brückenschlag. Angesichts der um Rassismus und Unterdrückung kreisenden Texte kommt das alles entweder angriffig unter Strom oder gezeichnet, müde und entsprechend verschleppt daher. Gitarren pfeifen aus dem letzten Loch. Unter Berücksichtigung von "reverb" und "distortion" wird die Soundkulisse zum Dampfen gebracht. Endzeitlich läuten vom Kirchturm her Begräbnisglocken herüber. Der Teufel hat einen Gastauftritt. Andreas Rauschal
***
Unter dem buchstäblich klingenden Projektnamen And The Golden Choirhuldigt der deutsche Musiker und Produzent (Kettcar, Philipp Boa) Tobias Siebert auf seinem Debüt "Another Half Life" (Cargo Records) dem Prinzip der Selbstvervielfältigung. Bis zu 25 Tonspuren seiner Stimme hat er in minutiöser Aufnahmearbeit übereinandergeschichtet - und so zum namengebenden Chor aufgetürmt, mit welchem das Album seine Pforten a cappella (er)öffnet.
Hinter dieser Schwelle betritt man einen fast sakral anmutenden Raum, gefüllt mit solemn-erhabenem Orchestral-Pop. Dass dieses Unternehmen nicht an Schwülstigkeit erstickt, hat mit der dezenten Arbeitsweise des Tüftlers zu tun, der über vier Jahre an dem Album werkte. Er verzichtete dabei fast gänzlich auf digitale Technik, spielte jede Spur selbst live ein und bearbeitete keinen der Klänge nach. Bevor in wenigen Wochen der ästhetisch ähnlich versierte Konstantin Gropper alias Get Well Soon sein neues Album herausbringt, sei mit Nachdruck an dieses kleine analoge Wunderwerk von Siebert erinnert, das bereits im Jänner 2015 erschienen ist. Gerald Schmickl
***
Balthazar haben mit ihrem dritten Album, "Thin Walls" (PIAS), zwar das Rad nicht neu erfunden, aber eine Kollektion von zehn Songs eingespielt, die melancholische Eleganz, tanzbare Coolness und atmosphärische Erhabenheit miteinander verknüpft. Wie seine belgischen Vorbilder Deus frönt auch das Quintett aus Gent einem Eklektizismus, der vielen Größen der Popwelt ein Denkmal setzt.
Ben Hillier und Jason Cox sorgten als Produzenten für den mit viel britischer Indiepop-Raffinesse und ausgeklügelten Arrangement-Feinheiten ausgestatteten Sound. Jeder dieser Songs schmeichelt sich, an den richtigen Stellen vertrackt, ohne aber auf prägnante Basslinien und tanzbare Beats zu verzichten, so eingängig wie geschmeidig in die Ohren. Die pointierten Gitarrenklänge harmonieren hervorragend mit der sonoren, zwischen Verschlafenheit und Nuscheln changierenden Stimme von Maarten Devoldere, eine da und dort schmirgelnde Orgel sorgt für ein wenig Retro-Touch - und dezente Streicher und Bläser demonstrieren Kammerpop-Affinität. Heimo Mürzl
***
Nach fast 20 Jahren Pause lässt mit The Chills eine der besten Indiepop-Bands (nicht nur) Neuseelands wieder von sich hören und tut dabei so, als habe sie sich gerade einmal einen Kurzurlaub gegönnt. Schön und mit souveräner Ausdauer führt Band-Boss Martin Phillipps - zugleich das einzige Fix-Mitglied - die Stärken des Quintetts vor, das es nie geschafft hat, Ansätze von Erfolg in ein konstantes Karriere-Momentum zu transferieren: die feinsinnig akzentuierenden und dabei doch dynamischen Gitarren, die oft kontrapunktisch dazu gesetzten Keyboards, die grandios raffinierten Melodien und natürlich Phillipps sonor-tragikumflorte Stimme, die im achtminütigen "Pyramid / When The Poor Can Reach The Moon" in der Utopie einer gerechteren Welt schwelgt oder aber in "Underwater Wasteland" in einen Umwelt-Gau abtaucht. Und wenn sich "Tomboy" mit der einigermaßen penetranten Wiederholung des titelgebenden Wortes schon als einer der vergleichsweise schwächeren Tracks auf "Silver Bullets" (Fire/Trost) ausnimmt - weniger begabte Mitbewerber hätten auch damit ihre Freude. Bruno Jaschke
***
Schon der Bandname lässt nicht unbedingt unbeschwertes Sangesgut erwarten. Und tatsächlich bietet das Debüt der Mini-Supergroup Kodiak Deathbeds (Affairs Of The Heart/Indigo) aus Sängerin Amber Webber (früher Black Mountain und Lightning Dust) und Gitarrist Derek Fudesco (der in Bands mit so schönen Namen wie Pretty Girls Make Graves tätig war) zehn sehr zarte, gedämpfte Songs, die sich nur gelegentlich in den Midtempo-Bereich vorwagen. Getragen von Webbers großartiger Stimme, die Sanft- und Bestimmtheit, Hauch und Härte aufs Vollkommenste miteinander vereint, werden auf dem titellosen Erstling die langsameren Facetten des Folk zelebriert: Country, Neo, Weird oder auch Dream. Nach Sterbebett klingt das ganz und gar nicht, eher nach einer Frischzellenkur für ein Genre, das mit einfachsten Mitteln immer wieder erstaunlich Neues hervorzaubert. "We Found A Home" heißt der letzte Song. Wäre schön, wenn uns diese musikalische Heimat ein wenig länger erhalten bliebe. Andreas Wirthensohn
***
Neben der Autobahn (für die bekanntlich Kraftwerk zuständig sind) kümmern sich um den Wald, das andere deutsche Nationalsymbol also, gleich zwei Elektromusiker - neben dem Kompakt-Label-Gründer Wolfgang Voigt a.k.a. Gas nun auch der Berliner Dub-Glitcher Stefan Betke a.k.a. Pole. Acht Jahre nach seinem letzten großen Wurf "Steingarten" legt Pole mit "Wald" (Pole/Rough Trade) ein Album vor, in dem man seine Sound-Signatur sofort erkennt und das zugleich ganz anders klingt als vergleichbare Electronica. Sein Rezept ist altbewährt, hat aber nichts an Anziehungskraft verloren: Eine fast schon alchemistische Fusion von Dub-Bass und elektrostatischem Knistern als Fundament, aus dem diverse Klangereignisse hervorbrechen, die so unerhört daherkommen, dass sie geradezu synästhetische Empfindungen auslösen. Und in der Tat - es erwacht ein akustischer Wald zu Leben, krabbeln doch Käfer vorbei, rascheln die Zweige und es erklingt der elektronische Ruf der Vögel . . . Uwe Schütte
***
Sannhet ist das norwegische Wort für Wahrheit. Das gleichnamige Trio aus Brooklyn entfaltet diese in symphonisch arrangierten Noise-Ekstasen. Dabei klingen John Refano (Gitarre), Christopher Todd (Schlagzeug) und AJ Annunziata (Bass) so orchestral, als würden sie gotische Kathedralen aus Klängen aufschichten. Musik ist nicht nur ein Ausdrucksmittel der Zeit, denn von der Magie des Imaginären, die den Hörer zu fantastischen Reisen einlädt und in fremde Landschaften versetzt, erzählt auch "Revisionist" (Flenser), das zweite Album der New Yorker.
Sannhet werden gern dem Post-Metal zugeordnet. Doch anders als bei anderen Bands ähnlicher Ausrichtung mäandern die Kompositionen hier nicht ins Uferlose. Es werden Dramolette von drei bis fünf Minuten Länge entworfen. Die Kürze dient der Intensität: Bedrohliche Szenarien werden skizziert, weite Horizonte durchmessen und sakral anmutende Bauten erschaffen. Die Wahrheit ist unbequem, trostlos und von poetischer Dichte.Andreas Walker
***
Belastende Aufgaben, uralte Kopien und nutzlose Gegenstände, Gerümpel, Weggelegtes, Gesammeltes, aber nie Verwendetes - wer leidet nicht darunter? Die Befreiung wäre nicht so schwer, die fachgerechte Entsorgung des angestauten Mülls erleichtert, nicht nur physisch. Dann geht es mit "leichtem Gepäck" weiter zu neuen Taten und auf beschwingte Reisen ins Ungewisse.
Dies zum Gegenstand eines Songs, ja eines Albums zu machen, blieb der sächsisch-deutschen Band Silbermond vorbehalten. Stimmlich hat sich Energiebündel Stefanie Kloß von Nena emanzipiert, die Stolle-Brüder und Andreas Nowak runden den kräftigen Sound "made in Bautzen" ab. "Leichtes Gepäck" (Sony) zählt mit 12 hitverdächtigen, klaren und einfach strukturierten Songs zu den gelungensten Pop-Alben des abgelaufenen Jahres. Silbermond werden übrigens laut Tourplan am 18. Mai 2016 in der Wiener Stadthalle aufspielen. Gerhard Strejcek
***
Ein Saxofon ist ein Saxofon, eine Violine eine Violine? Wenn die Luft akustisch flirrt und schillert, ist der Schall das eigentliche Medium. Im Ausloten instrumenteller Grenzen wird, wie bei Colin Stetson und Sarah Neufeld, die Musik zu einer Meditation über aerische Klangformationen. Stetson gehört (zusammen mit Mats Gustafsson, mit dem er 2012 das Album "Stones" veröffentlichte) gegenwärtig zu den spannendsten Saxofonisten - man denke etwa an seine "New History Warfare"-Trilogie. Zuvor und ab "Neon Bible" hatte er bereits Arcade Fire unterstützt.
Mit Sarah Neufeld, die ebenfalls zur Tour-Band der Kanadier gehört, spielte er 2013 die Musik für den Film "Blue Caprice" von Alexandre Moors ein. Mit "Never Were The Way She Was" (Constellation/Trost) dürfte die zweite Zusammenarbeit von Stetson und Neufeld nun zu den intimsten Alben des vergangenen Jahres gehören. In den Tönen atmet Musik, die an lockende Feen oder Waldgeister denken lässt. Ein Saxofon ist der Tanz eines Fauns, eine Violine der Gesang der Fauna . . . Andreas Walker
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Gerhard Strejcek
Narrative Theologie
Wiener Zeitung, 20.12.2015
Martin Bolz legt "Ein Evangelium der Armen" vor.
Wo sich christliche Überlieferung, heidnisches Brauchtum und eine liebgewonnene, regionale Tradition treffen, entsteht eine zugleich naive, aber auch tief empfundene, ehrliche und solcherart beeindruckende Gläubigkeit. Bei uns zu Hause war es nicht anders als bei vielen anderen Familien. Alle Jahre wieder stellte mein Vater die Krippe und die Figuren aus dem Erzgebirge in der Nähe des sorgfältig aufgeputzten Christbaums auf. Die Krippenfiguren beschränkten sich dabei auf Josef, Maria und das Jesuskind, einige Schafe und die Hirten samt ihrem Hund. Die Heiligen drei Könige mit ihren Gaben aus dem Morgenland waren erst im Anmarsch. Im Respektabstand zu diesem heiligen Ort durften sich offenkundig heidnische Figuren wie ein Nussknacker, ein Räuchermännchen und andere illus-tre Gestalten aufhalten. Tatsächlich aber vermischen sich zu Weihnachten die Lichtkulte des Mithras, die nordischen Julfeiern und Baumkulte mit der Überlieferung des Evangeliums. Daher hat der Theologe und Philosoph Martin Bolz Recht, wenn er konstatiert, dass die Geschenke das Wichtigste sind, weil sie rund um Weihnachten "die entscheidende Rolle" spielen. Aus Sicht der Kinder trifft diese Analyse allemal zu, vermutlich aber auch aus jener vieler Erwachsener. Daher hat Bolz der "Geschenke-Sophie" mit ihren Packerln ein Foto und ein ganzes Kapitel seines "Evangeliums für Arme" gewidmet. Natürlich könnte man diese Sophie unschwer als konsumorientiertes Kitschwesen und problematische Nippes-Existenz mit ihrer Weihnachtsmütze identifizieren, aber gleichwohl beharrt Bolz darauf, dass sie keine bloße Randfigur ist. Denn symbolisch haben das Schenken und der freiwillige Gütertransfer zu Weihnachten für viele Menschen einen höheren Stellenwert als das vom Markt zum bloßen Brimborium degradierte Heilsgeschehen der Geburt Christi. Dass das nicht so sein müsste, steht auf einem anderen Blatt.
Wo sich christliche Überlieferung, heidnisches Brauchtum und eine liebgewonnene, regionale Tradition treffen, entsteht eine zugleich naive, aber auch tief empfundene, ehrliche und solcherart beeindruckende Gläubigkeit. Bei uns zu Hause war es nicht anders als bei vielen anderen Familien. Alle Jahre wieder stellte mein Vater die Krippe und die Figuren aus dem Erzgebirge in der Nähe des sorgfältig aufgeputzten Christbaums auf. Die Krippenfiguren beschränkten sich dabei auf Josef, Maria und das Jesuskind, einige Schafe und die Hirten samt ihrem Hund. Die Heiligen drei Könige mit ihren Gaben aus dem Morgenland waren erst im Anmarsch. Im Respektabstand zu diesem heiligen Ort durften sich offenkundig heidnische Figuren wie ein Nussknacker, ein Räuchermännchen und andere illus-tre Gestalten aufhalten. Tatsächlich aber vermischen sich zu Weihnachten die Lichtkulte des Mithras, die nordischen Julfeiern und Baumkulte mit der Überlieferung des Evangeliums. Daher hat der Theologe und Philosoph Martin Bolz Recht, wenn er konstatiert, dass die Geschenke das Wichtigste sind, weil sie rund um Weihnachten "die entscheidende Rolle" spielen. Aus Sicht der Kinder trifft diese Analyse allemal zu, vermutlich aber auch aus jener vieler Erwachsener. Daher hat Bolz der "Geschenke-Sophie" mit ihren Packerln ein Foto und ein ganzes Kapitel seines "Evangeliums für Arme" gewidmet. Natürlich könnte man diese Sophie unschwer als konsumorientiertes Kitschwesen und problematische Nippes-Existenz mit ihrer Weihnachtsmütze identifizieren, aber gleichwohl beharrt Bolz darauf, dass sie keine bloße Randfigur ist. Denn symbolisch haben das Schenken und der freiwillige Gütertransfer zu Weihnachten für viele Menschen einen höheren Stellenwert als das vom Markt zum bloßen Brimborium degradierte Heilsgeschehen der Geburt Christi. Dass das nicht so sein müsste, steht auf einem anderen Blatt.
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Gerhard Strejcek
Piano, Wein und Zelluloid
Wiener Zeitung, 13.12.2015
Unaufdringlich und präzise:
"Elements" von Ludovico Einaudi
Der kürzlich sechzig Jahre alt gewordene italienische Pianist und Filmmusikkomponist ("Ziemlich beste Freunde", "This Is England", "Aprile") Ludovico Einaudi liebt die Produkte des familieneigenen, piemontesischen Weingutes bei Dogliani ebenso wie die kreative Atmosphäre des hauseigenen Studios.
Der gerne in elegantem Schwarz auftretende Musiker performt vor großen Hallen unkompliziert und antidepressiv wirkende Eigenkompositionen als Solist. Sein neues Werk, "Elements", kombiniert sparsame Grundthemen am Klavier mit zusätzlichen Arrangements von Streichern und Perkussionselementen. Der Turiner Pianist stellt auf diese Art die Grundelemente des Lebens, wie Buchstaben ("ABC"), Zahlen ("Numbers") und Wassertropfen ("Drop") dar, auf die sich seine eigenständige Noten-Mystik und die minimalistischen Zeichnungen am Album-Sleeve beziehen. Vier Generationen der Einaudi traten bereits gestaltend an die Öffentlichkeit: Ludovicos Vater Giulio (1912-1999) leitete den Turiner Familien-Verlag, der etwa Italo Calvinos Werk publiziert; Großvater Luigi (1874-1961) war Politiker und als solcher von 1948 bis 1955 italienischer Staatspräsident. Ludovicos Tochter Jessica wiederum, eine sensible Sängerin mit Löwenmähne, reicht elektronischen Homemade-Pop unter dem Bandnamen J Moon. Vor dem geistigen Ohr der Hörerschaft entsteht der innerfamiliäre Diskurs, wenn sich Vater Ludovico mit den Songs von PJ Harvey, Coldplay und Björk befasst, deren Sukkurs mit einem Anhauch von Johann Sebastian Bach Eingang in sein Werk fand.
Einaudi erweist sich mit den zwölf Beiträgen von "Elements" als unaufdringlicher und präzise spielender Überschreiter von Grenzen, dessen Werke mit der Amsterdamer Sinfonie ebenso harmonieren wie mit der Kalimba Francesco Arcuris.
Beiträge des Bratschisten Federico Mecozzi und des Geigers Daniel Hope, die übrigens mit Christoph Burgstaller in Wien aufgenommen wurden, verleihen Einaudis Scheibe dazu die nötige Würze und Exotik.
"Elements" von Ludovico Einaudi
Der kürzlich sechzig Jahre alt gewordene italienische Pianist und Filmmusikkomponist ("Ziemlich beste Freunde", "This Is England", "Aprile") Ludovico Einaudi liebt die Produkte des familieneigenen, piemontesischen Weingutes bei Dogliani ebenso wie die kreative Atmosphäre des hauseigenen Studios.
Der gerne in elegantem Schwarz auftretende Musiker performt vor großen Hallen unkompliziert und antidepressiv wirkende Eigenkompositionen als Solist. Sein neues Werk, "Elements", kombiniert sparsame Grundthemen am Klavier mit zusätzlichen Arrangements von Streichern und Perkussionselementen. Der Turiner Pianist stellt auf diese Art die Grundelemente des Lebens, wie Buchstaben ("ABC"), Zahlen ("Numbers") und Wassertropfen ("Drop") dar, auf die sich seine eigenständige Noten-Mystik und die minimalistischen Zeichnungen am Album-Sleeve beziehen. Vier Generationen der Einaudi traten bereits gestaltend an die Öffentlichkeit: Ludovicos Vater Giulio (1912-1999) leitete den Turiner Familien-Verlag, der etwa Italo Calvinos Werk publiziert; Großvater Luigi (1874-1961) war Politiker und als solcher von 1948 bis 1955 italienischer Staatspräsident. Ludovicos Tochter Jessica wiederum, eine sensible Sängerin mit Löwenmähne, reicht elektronischen Homemade-Pop unter dem Bandnamen J Moon. Vor dem geistigen Ohr der Hörerschaft entsteht der innerfamiliäre Diskurs, wenn sich Vater Ludovico mit den Songs von PJ Harvey, Coldplay und Björk befasst, deren Sukkurs mit einem Anhauch von Johann Sebastian Bach Eingang in sein Werk fand.
Einaudi erweist sich mit den zwölf Beiträgen von "Elements" als unaufdringlicher und präzise spielender Überschreiter von Grenzen, dessen Werke mit der Amsterdamer Sinfonie ebenso harmonieren wie mit der Kalimba Francesco Arcuris.
Beiträge des Bratschisten Federico Mecozzi und des Geigers Daniel Hope, die übrigens mit Christoph Burgstaller in Wien aufgenommen wurden, verleihen Einaudis Scheibe dazu die nötige Würze und Exotik.
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Gerhard Strejcek
Kurze Fristen belasten Rechtsanwälte
Der Standard, 16.11.2015
Die Rechtsordnung erlaubt für Eingaben oft nur wenige Tage Zeit, was längere Urlaube unmöglich macht
Wien – Die österreichische Rechtsordnung kennt in ihren zahlreichen Verfahrensgesetzen höchst unterschiedliche Fristen. Im Bereich der Rechtsbehelfe sind im Spektrum zwischen drei Tagen und sechs Wochen viele Varianten denkbar, auch solche, die definitiv der Verfassung widersprechen.
So hat der Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit Anfechtungen des Ergebnisses von Volksbegehren eine im Gesetz vorgesehene einwöchige Frist als gleichheits- und rechtsstaatswidrig aufgehoben. Seit der Reparatur des Gesetzes gelten auch im Volksbegehrengesetz Vierwochenfristen für Anfechtungen. Im Wahlrecht bestehen allerdings einwöchige Fristen noch bei Bundespräsidentenwahlen (§ 21 Abs 2 BPräsWG) und bei Europawahlen (VfSlg 17.269/2004).
Aber auch Zweiwochenfristen im Verwaltungsverfahren (etwa im Bauverfahren der Gemeinden sowie bei Strafbescheiden der Magistrate oder BHs) oder die Beschwerdefristen von vier Wochen, die im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht und vor den anderen acht neuen Verwaltungsgerichten vorgesehen sind, können rasch zur Neige gehen, wenn ein Bescheid etwa am 23. Oktober 2015 zugestellt wurde und die Woche nach dem Sonntag mit einem Feiertag beginnt und von einer weiteren "kurzen" Woche gefolgt wird. Diese Konstellation verhilft Angestellten zu beliebten Fenstertagen, doch den Rechtsvertretern vergeht die Zeit mit Kanzleistunden noch schneller.
Veraltete Verfahrensregeln
Auch der Zivil- und der Strafprozess haben ihre Tücken. Der Bludenzer Anwalt Christoph Schneider hat unlängst das Thema zu kurzer Fristen in veralteten Verfahrensregeln der Zivilprozessordnung aufgegriffen. Schneiders Vorwurf an den Gesetzgeber richtet sich gegen eine obsolete Rechtslage, die dem elektronischen Rechtsverkehr (ERV) nicht gerecht wird.
So müssen Urkunden, falls es der Prozessgegner verlangt, binnen dreier Tage im Original vorgelegt werden (§ 82 ZPO), eine Vorschrift zur Protokollberichtigung nimmt noch auf die Niederschrift von Stenogrammen Bezug (§ 212 Abs 5 ZPO), die in Zeiten von Diktafon, PDF-Dateien und E-Mail antik anmuten.
Schneider kritisiert, dass die besagten Dreitagesfristen in laufenden Prozessen (Urkundenvorlagen; Protokollberichtigungen) und die lediglich 14-tägige Rekursfrist dazu führen, dass ein Einzelanwalt höchstens in den Gerichtsferien im Sommer sowie zu Weihnachten auf Urlaub gehen kann. In dieser Zeit sind die Notfristen im Berufungs-, Revisions- und Rekursverfahren gehemmt.
Das hat auch Auswirkungen auf das Privat- und Familienleben (Art 8 EMRK). Der Anwalt kann oft nicht einmal eine auswärtige Verhandlung verrichten, ohne Gefahr zu laufen, eine Frist zu versäumen. Im Urlaub muss er ständig E-Mails checken und in der Kanzlei rückfragen.
Zum Handkuss kommen vor allem jene universell tätigen Einzelanwälte, die Parteien vor Zivilgerichten vertreten, aber auch Strafverteidiger, die nach der Verhaftung von Klienten Urlaube sofort abbrechen müssen. Versäumt ein Anwalt Fristen, helfen nur noch Anträge auf Wiedereinsetzung, im schlimmsten Fall aber entsteht Schaden für die Partei; dann drohen Regressansprüche.
Im Vergaberecht sah der Europäische Gerichtshof für Rechtsmittel sogar Zehntagesfristen für Rechtsmittel als ausreichend an. Für Ausschreibungen unter dem Schwellenwert gilt eine Siebentagesfrist, sonst sind es 14 Tage. Der Wiener Vergaberechtsspezialist Michael Breitenfeld ist daher gewohnt, auch am Tag vor Silvester noch Schriftsätze einzubringen. Hier habe die Beschleunigung der Verfahren ihren Preis, sagt er. Man dürfe nicht die Gerichte mit kürzeren Entscheidungsfristen belasten, selbst aber den damit verbundenen Beschleunigungsdruck ablehnen.
Für Breitenfeld sind es viel mehr prohibitiv hohe Gerichtsgebühren, die den Zugang zum Recht erschweren. Im Vergaberecht kann es sein, dass ein Klient 27.000 Euro auf den Tisch legen muss, um einen Rechtsbehelf einzubringen. Hier ist nun der EuGH am Wort, wo die italienische Rechtsordnung, die ähnlich hohe Einbringungsgebühren vorsieht, am Pranger steht. Das könnte sich auch auf Österreich auswirken, hofft Breitenfeld.
Wien – Die österreichische Rechtsordnung kennt in ihren zahlreichen Verfahrensgesetzen höchst unterschiedliche Fristen. Im Bereich der Rechtsbehelfe sind im Spektrum zwischen drei Tagen und sechs Wochen viele Varianten denkbar, auch solche, die definitiv der Verfassung widersprechen.
So hat der Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit Anfechtungen des Ergebnisses von Volksbegehren eine im Gesetz vorgesehene einwöchige Frist als gleichheits- und rechtsstaatswidrig aufgehoben. Seit der Reparatur des Gesetzes gelten auch im Volksbegehrengesetz Vierwochenfristen für Anfechtungen. Im Wahlrecht bestehen allerdings einwöchige Fristen noch bei Bundespräsidentenwahlen (§ 21 Abs 2 BPräsWG) und bei Europawahlen (VfSlg 17.269/2004).
Aber auch Zweiwochenfristen im Verwaltungsverfahren (etwa im Bauverfahren der Gemeinden sowie bei Strafbescheiden der Magistrate oder BHs) oder die Beschwerdefristen von vier Wochen, die im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht und vor den anderen acht neuen Verwaltungsgerichten vorgesehen sind, können rasch zur Neige gehen, wenn ein Bescheid etwa am 23. Oktober 2015 zugestellt wurde und die Woche nach dem Sonntag mit einem Feiertag beginnt und von einer weiteren "kurzen" Woche gefolgt wird. Diese Konstellation verhilft Angestellten zu beliebten Fenstertagen, doch den Rechtsvertretern vergeht die Zeit mit Kanzleistunden noch schneller.
Veraltete Verfahrensregeln
Auch der Zivil- und der Strafprozess haben ihre Tücken. Der Bludenzer Anwalt Christoph Schneider hat unlängst das Thema zu kurzer Fristen in veralteten Verfahrensregeln der Zivilprozessordnung aufgegriffen. Schneiders Vorwurf an den Gesetzgeber richtet sich gegen eine obsolete Rechtslage, die dem elektronischen Rechtsverkehr (ERV) nicht gerecht wird.
So müssen Urkunden, falls es der Prozessgegner verlangt, binnen dreier Tage im Original vorgelegt werden (§ 82 ZPO), eine Vorschrift zur Protokollberichtigung nimmt noch auf die Niederschrift von Stenogrammen Bezug (§ 212 Abs 5 ZPO), die in Zeiten von Diktafon, PDF-Dateien und E-Mail antik anmuten.
Schneider kritisiert, dass die besagten Dreitagesfristen in laufenden Prozessen (Urkundenvorlagen; Protokollberichtigungen) und die lediglich 14-tägige Rekursfrist dazu führen, dass ein Einzelanwalt höchstens in den Gerichtsferien im Sommer sowie zu Weihnachten auf Urlaub gehen kann. In dieser Zeit sind die Notfristen im Berufungs-, Revisions- und Rekursverfahren gehemmt.
Das hat auch Auswirkungen auf das Privat- und Familienleben (Art 8 EMRK). Der Anwalt kann oft nicht einmal eine auswärtige Verhandlung verrichten, ohne Gefahr zu laufen, eine Frist zu versäumen. Im Urlaub muss er ständig E-Mails checken und in der Kanzlei rückfragen.
Zum Handkuss kommen vor allem jene universell tätigen Einzelanwälte, die Parteien vor Zivilgerichten vertreten, aber auch Strafverteidiger, die nach der Verhaftung von Klienten Urlaube sofort abbrechen müssen. Versäumt ein Anwalt Fristen, helfen nur noch Anträge auf Wiedereinsetzung, im schlimmsten Fall aber entsteht Schaden für die Partei; dann drohen Regressansprüche.
Im Vergaberecht sah der Europäische Gerichtshof für Rechtsmittel sogar Zehntagesfristen für Rechtsmittel als ausreichend an. Für Ausschreibungen unter dem Schwellenwert gilt eine Siebentagesfrist, sonst sind es 14 Tage. Der Wiener Vergaberechtsspezialist Michael Breitenfeld ist daher gewohnt, auch am Tag vor Silvester noch Schriftsätze einzubringen. Hier habe die Beschleunigung der Verfahren ihren Preis, sagt er. Man dürfe nicht die Gerichte mit kürzeren Entscheidungsfristen belasten, selbst aber den damit verbundenen Beschleunigungsdruck ablehnen.
Für Breitenfeld sind es viel mehr prohibitiv hohe Gerichtsgebühren, die den Zugang zum Recht erschweren. Im Vergaberecht kann es sein, dass ein Klient 27.000 Euro auf den Tisch legen muss, um einen Rechtsbehelf einzubringen. Hier ist nun der EuGH am Wort, wo die italienische Rechtsordnung, die ähnlich hohe Einbringungsgebühren vorsieht, am Pranger steht. Das könnte sich auch auf Österreich auswirken, hofft Breitenfeld.
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Gerhard Strejcek
Das juristische Ende des Krieges
Wiener Zeitung, 07.11.2015
Im November 1945 begann der "Nürnberger Prozess" gegen wichtige nationalsozialistische Funktionäre.
Das Verfahren beruhte auf einem völkerrechtlichen Vertrag, war aber juristisch umstritten.
Am 9. Juli wäre der heuer im Jänner verstorbene Rechtshistoriker, Universitätslehrer und Goethe-Verehrer Werner Ogris 80 Jahre alt geworden. - Eine Erinnerung.
Am 16. November 1945 begann vor dem Internationalen Militär-Tribunal in Nürnberg der Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, der bis Anfang Oktober 1946, also fast ein Jahr lang, dauerte. Insgesamt wurden zwölf Todesurteile verkündet, die Vollstreckung am eigens dafür errichteten Galgen erfolgte am 15. Oktober 1946. Die Kremierung der Hingerichteten fand unter fremder Identität in München statt, wo nichtsahnende US-Soldaten die Asche der einst Mächtigen in den Isar-Kanal streuten. Neben ehemaligen Gauleitern und Ministern wurden die Generalstabsoffiziere Jodl und Keitel, der ehemalige Außenminister Ribbentrop (Architekt des Hitler-Stalin-Paktes 1939), der SS-Führer und Gestapo-Chef Kaltenbrunner sowie der Wiener Anwalt Arthur Seyß-Inquart hingerichtet.
Das Verfahren beruhte auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den die Alliierten am 8. August 1945 in London miteinander abgeschlossen hatten. Dem IMT-Statut (= International Military Tribunal), dem sich noch zwanzig weitere Staaten angeschlossen hatten, waren kontroverse Vorberatungen vorangegangen, deren Dokumentation im US-State-Department und in britischen Archiven in den 1950er Jahren wissenschaftlichen Forschungen zugänglich gemacht wurde. In vielerlei Hinsicht betraten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit dem Nürnberger Strafgericht Neuland. Wie der Name sagt, sollte laut Statut eigentlich ein Militärgerichtshof (Military Tribunal) mit internationaler Ausrichtung tätig werden.
Kriegsverbrecher
Doch der Begriff scheint irreführend: Weder waren die Richter (mit Ausnahme der Sowjets) ausschließlich Militärangehörige, noch standen ausschließlich deutsche Offiziere vor den Richtern. Im Gegenteil, selbst unter Einbeziehung des ehemaligen Luftwaffen-Chefs Göring waren nur fünf prominente NS-Offiziere aus dem Oberkommando der Wehrmacht und der Marine angeklagt (Keitel, Jodl, Dönitz, Raeder).
Im Vorfeld des Nürnberger Prozesses hatten der Brite Sir David Maxwell-Fyfe und der französische Professor Gros die Frage der Bestrafung des deutschen Angriffskrieges erörtert. Nacheinander hatte Hitler die Tschechoslowakei, Polen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Jugoslawien, Griechenland und die UdSSR angegriffen. Aus britischer Sicht war bereits die Planung und mehr noch die Durchführung dieser Aggressionspläne ein Verbrechen, während die Franzosen darin eher eine ethisch-politische Frage sahen.
Schlussendlich konnten Divergenzen ausgeräumt werden und die großen Vier entsandten ihre juristische Elite nach Nürnberg. Der britische "Lord Justice", Geoffrey Lawrence, führte den Vorsitz in souveräner Weise, neben ihm amtierte der Strafrechts-experte Birkett als Richter. Frankreich war im Gericht durch die Professoren Falco und Donnedieu de Vabres, anerkannte Rechtswissenschafter, vertreten. Letzterer äußerte sich später kritisch über die Verurteilung der Generäle Jodl und Keitel. Die USA entsandten mit Chief Justice Robert Jackson den ranghöchsten Richter der USA als Chefankläger, sowie die Richter Biddle und Parker.
Der zweite Ankläger Telford Taylor, ein US-General, sollte später für den Korea- und Vietnamkrieg eine ähnliche Aburteilung der Verbrechen fordern, was aber versandete. Aus der UdSSR ergänzten die Generäle Woltschkow und Nikischenko die Richterbank, wortgewaltig amtierte der russische Ankläger Generalleutnant Rudenko. Seine Reden vor dem IMT wurden umgehend in der russischen Zone unter dem Titel "Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf!" publiziert.
Auch aus anderen Darstellungen geht hervor, dass der Prozess eine erzieherische Wirkung entfalten sollte. In der Westzone veröffentlichte Alfred Döblin, der berühmte Autor des Romans "Berlin Alexanderplatz", unter dem Pseudonym Hans Fiedeler ein Buch über den "Nürnberger Lehrprozess". Sachliche Dokumentationen kamen erst später, etwa jene des Journalisten Joe Heydecker (gemeinsam mit Johannes Leeb), die ab 1958 bis 2003 oftmals neu aufgelegt wurde. Die Protokolle des ersten Prozesses erschienen 1957 auf Deutsch in einer zweibändigen Ausgabe, 1984 dann als zwölfbändiger Nachdruck sämtlicher 23 Protokollbände im Delphin-Verlag.
Für die Wissenschaft ist diese Dokumentation wichtig, denn nicht nur in revisionistischen Kreisen hielt sich hartnäckig die Einstufung des Prozesses als "Rache-" oder "Siegerjustiz", die einer Nachprüfung nicht standhält. Sachliche Kritik ist aber zulässig und betrifft etwa die technisch misslungene Hinrichtung der zum Tod Verurteilten am 15. Oktober 1946, die den Revisionisten Auftrieb gab.
Die späteren Prozesse sind weniger akribisch dokumentiert worden, wenngleich sie große historische Bedeutung hatten, ging es doch um die NS-Ärzte, Juristen, die Rolle der Industrie (IG-Farben, BUNA, Krupp usw). Die Nürnberger Prozesse betrafen nicht nur Personen, sondern auch Organisationen, sodass die Bezeichnung der SS als verbrecherische Organisation auf einem Gerichtsurteil fußt (wogegen die SA freigesprochen wurde). Im "Wilhelmstraßen-Prozess" standen Diplomaten, darunter der Vater des späteren deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, im Visier der Alliierten.
Kriegsgefangene
Politisch erscheint es von Interesse, dass die Alliierten zunächst mit der Regierung Dönitz (Hitlers Nachfolger als Reichspräsident) zwecks Demobilisierung der deutschen Armee kooperierten. Nach Verabschiedung des IMT-Statuts, das drei Wochen nach der Potsdamer Konferenz beschlussreif war, wurde aber klar, dass die militärische, aber auch die zivile Führungsspitze des zerschlagenen NS-Staates strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden würde. Im Auftrag des Oberkommandierenden Generals der Alliierten Streitkräfte in Europa, Dwight D. Eisenhower, und des sowjetischen Oberkommandos überbrachte der amerikanische Generalmajor Lovell Rooks am 23. Mai 1945 der deutschen Regierung und dem ehemaligen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Flensburg die Nachricht, dass die noch in Freiheit befindlichen Politiker und Offiziere fortan als Kriegsgefangene betrachtet und interniert werden würden.
Die darauf folgende Verhaftung kam überraschend und hatte einen dramatischen wie auch demütigenden Verlauf. Der Stabschef Generaloberst Alfred Jodl, der noch am 7. Mai mit militärischem Gruß in Reims die Gesamtkapitulation unterschrieben hatte, übergab den britischen MPs seine Tagebücher, die dann als Belastungsmaterial im Prozess fungierten. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel war bereits am 13. 5. verhaftet worden, Jodl und die anderen folgten zehn Tage später. Die Presse sah die beiden bereits vor dem Prozess am Galgen baumeln. Damit torpedierten einige Journalisten die Intention der Alliierten, einen fairen und rechtsstaatlich orientierten Strafprozess in Nürnberg zu etablieren, was dank der ausgewogenen Prozessführung des Vorsitzenden Richters Lawrence dennoch gelang.
Vor dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden einige von den Angeklagten in alliierten Internierungslagern (wie z.B. in Mondorf, Luxemburg) angehalten, die intern als "dustbin" oder "ashtray" bezeichnet wurden. Ab August trafen die Angeklagten im Nürnberger Gefängnis ein, wo sie bis zum Prozessbeginn inhaftiert blieben.
Um die beträchtliche Zahl an Kriegsverbrechern abzuurteilen, kam es in den Folgemonaten und -jahren zu weiteren Prozessen nach den Nürnberger IMT-Verfahren. In Polen wurde etwa Rudolf Höß, der Auschwitz-Kommandant, 1946 vor Gericht gestellt und im April 1947 hingerichtet. In der CSSR wurde u.a. der slowakische Vertreter Hitlers, der SA-Mann Ludin, abgeurteilt, und auch in Österreich und Italien fanden Prozesse statt. In Israel wurde dem SS-Führer und Auschwitz-Logistiker Adolf Eichmann der Prozess gemacht.
Die Reichsbahn, deren Infrastruktur die Deportation von Millionen unschuldigen Opfern ermöglicht hatte, wurde als Organisation jedoch freigesprochen - wieder einer der zweifelhaften Persilscheine, die neben den drakonischen Strafurteilen in Nürnberg ausgestellt wurden. Hitlers Architekt Albert Speer konnte nach Verbüßung seiner Haft zum Medienstar und gefeierten Autor ("Spandauer Tagebücher") aufsteigen; nur Rudolf Heß, der 1941 nach Schottland geflogen und von Hitler für "geisteskrank" erklärt worden war, saß als einziger Häftling bis zu seinem späten Selbstmord in Spandau.
Jodls Nachleben
Ähnlich auch das Verhältnis der Stabschefs im Oberkommando der Wehrmacht: Jodl wurde hingerichtet, sein Stellvertreter Warlimont kam mit einer kurzen Haftstrafe davon und schrieb die Erlebnisse auf, die er "im Hauptquartier des Führers" gehabt hatte. Es fällt auf, dass ab Mitte der 1960er Jahre eine Flut revisionistischer und zeitgeschichtlich problematischer Werke den Buchmarkt überschwemmte, welche das Abenteuerhafte und Elitäre des "Dritten Reichs" herausstrichen, statt die Verbrechen des Regimes anzuprangern. Allein über General Jodl erschienen drei höchst unterschiedliche Werke, wie schon die Titel indizieren: Zunächst trat seine Witwe Luise (geborene von Benda) auf den Plan und veröffentlichte das biografische Werk "Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generaloberst A. Jodl" (Molden). Dann trat Günther Just 1971 im National-Verlag mit der Studie "Alfred Jodl. Offizier ohne Furcht und Tadel" auf den Plan; die gängige, aber vergriffene Biografie stammt von Bodo Scheurig (Propyläen 1986).
Literatur:
Joe J. Heydecker/Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozess. Neue Dokumente, neue Beweise, neue Erkenntnisse. KiWi 2003.
Hellmuth Butterweck: Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung. Czernin 2005.
Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Drei Bände, S. Fischer 2011.
Am 9. Juli wäre der heuer im Jänner verstorbene Rechtshistoriker, Universitätslehrer und Goethe-Verehrer Werner Ogris 80 Jahre alt geworden. - Eine Erinnerung.
Am 16. November 1945 begann vor dem Internationalen Militär-Tribunal in Nürnberg der Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, der bis Anfang Oktober 1946, also fast ein Jahr lang, dauerte. Insgesamt wurden zwölf Todesurteile verkündet, die Vollstreckung am eigens dafür errichteten Galgen erfolgte am 15. Oktober 1946. Die Kremierung der Hingerichteten fand unter fremder Identität in München statt, wo nichtsahnende US-Soldaten die Asche der einst Mächtigen in den Isar-Kanal streuten. Neben ehemaligen Gauleitern und Ministern wurden die Generalstabsoffiziere Jodl und Keitel, der ehemalige Außenminister Ribbentrop (Architekt des Hitler-Stalin-Paktes 1939), der SS-Führer und Gestapo-Chef Kaltenbrunner sowie der Wiener Anwalt Arthur Seyß-Inquart hingerichtet.
Das Verfahren beruhte auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den die Alliierten am 8. August 1945 in London miteinander abgeschlossen hatten. Dem IMT-Statut (= International Military Tribunal), dem sich noch zwanzig weitere Staaten angeschlossen hatten, waren kontroverse Vorberatungen vorangegangen, deren Dokumentation im US-State-Department und in britischen Archiven in den 1950er Jahren wissenschaftlichen Forschungen zugänglich gemacht wurde. In vielerlei Hinsicht betraten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit dem Nürnberger Strafgericht Neuland. Wie der Name sagt, sollte laut Statut eigentlich ein Militärgerichtshof (Military Tribunal) mit internationaler Ausrichtung tätig werden.
Kriegsverbrecher
Doch der Begriff scheint irreführend: Weder waren die Richter (mit Ausnahme der Sowjets) ausschließlich Militärangehörige, noch standen ausschließlich deutsche Offiziere vor den Richtern. Im Gegenteil, selbst unter Einbeziehung des ehemaligen Luftwaffen-Chefs Göring waren nur fünf prominente NS-Offiziere aus dem Oberkommando der Wehrmacht und der Marine angeklagt (Keitel, Jodl, Dönitz, Raeder).
Im Vorfeld des Nürnberger Prozesses hatten der Brite Sir David Maxwell-Fyfe und der französische Professor Gros die Frage der Bestrafung des deutschen Angriffskrieges erörtert. Nacheinander hatte Hitler die Tschechoslowakei, Polen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Jugoslawien, Griechenland und die UdSSR angegriffen. Aus britischer Sicht war bereits die Planung und mehr noch die Durchführung dieser Aggressionspläne ein Verbrechen, während die Franzosen darin eher eine ethisch-politische Frage sahen.
Schlussendlich konnten Divergenzen ausgeräumt werden und die großen Vier entsandten ihre juristische Elite nach Nürnberg. Der britische "Lord Justice", Geoffrey Lawrence, führte den Vorsitz in souveräner Weise, neben ihm amtierte der Strafrechts-experte Birkett als Richter. Frankreich war im Gericht durch die Professoren Falco und Donnedieu de Vabres, anerkannte Rechtswissenschafter, vertreten. Letzterer äußerte sich später kritisch über die Verurteilung der Generäle Jodl und Keitel. Die USA entsandten mit Chief Justice Robert Jackson den ranghöchsten Richter der USA als Chefankläger, sowie die Richter Biddle und Parker.
Der zweite Ankläger Telford Taylor, ein US-General, sollte später für den Korea- und Vietnamkrieg eine ähnliche Aburteilung der Verbrechen fordern, was aber versandete. Aus der UdSSR ergänzten die Generäle Woltschkow und Nikischenko die Richterbank, wortgewaltig amtierte der russische Ankläger Generalleutnant Rudenko. Seine Reden vor dem IMT wurden umgehend in der russischen Zone unter dem Titel "Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf!" publiziert.
Auch aus anderen Darstellungen geht hervor, dass der Prozess eine erzieherische Wirkung entfalten sollte. In der Westzone veröffentlichte Alfred Döblin, der berühmte Autor des Romans "Berlin Alexanderplatz", unter dem Pseudonym Hans Fiedeler ein Buch über den "Nürnberger Lehrprozess". Sachliche Dokumentationen kamen erst später, etwa jene des Journalisten Joe Heydecker (gemeinsam mit Johannes Leeb), die ab 1958 bis 2003 oftmals neu aufgelegt wurde. Die Protokolle des ersten Prozesses erschienen 1957 auf Deutsch in einer zweibändigen Ausgabe, 1984 dann als zwölfbändiger Nachdruck sämtlicher 23 Protokollbände im Delphin-Verlag.
Für die Wissenschaft ist diese Dokumentation wichtig, denn nicht nur in revisionistischen Kreisen hielt sich hartnäckig die Einstufung des Prozesses als "Rache-" oder "Siegerjustiz", die einer Nachprüfung nicht standhält. Sachliche Kritik ist aber zulässig und betrifft etwa die technisch misslungene Hinrichtung der zum Tod Verurteilten am 15. Oktober 1946, die den Revisionisten Auftrieb gab.
Die späteren Prozesse sind weniger akribisch dokumentiert worden, wenngleich sie große historische Bedeutung hatten, ging es doch um die NS-Ärzte, Juristen, die Rolle der Industrie (IG-Farben, BUNA, Krupp usw). Die Nürnberger Prozesse betrafen nicht nur Personen, sondern auch Organisationen, sodass die Bezeichnung der SS als verbrecherische Organisation auf einem Gerichtsurteil fußt (wogegen die SA freigesprochen wurde). Im "Wilhelmstraßen-Prozess" standen Diplomaten, darunter der Vater des späteren deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, im Visier der Alliierten.
Kriegsgefangene
Politisch erscheint es von Interesse, dass die Alliierten zunächst mit der Regierung Dönitz (Hitlers Nachfolger als Reichspräsident) zwecks Demobilisierung der deutschen Armee kooperierten. Nach Verabschiedung des IMT-Statuts, das drei Wochen nach der Potsdamer Konferenz beschlussreif war, wurde aber klar, dass die militärische, aber auch die zivile Führungsspitze des zerschlagenen NS-Staates strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden würde. Im Auftrag des Oberkommandierenden Generals der Alliierten Streitkräfte in Europa, Dwight D. Eisenhower, und des sowjetischen Oberkommandos überbrachte der amerikanische Generalmajor Lovell Rooks am 23. Mai 1945 der deutschen Regierung und dem ehemaligen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Flensburg die Nachricht, dass die noch in Freiheit befindlichen Politiker und Offiziere fortan als Kriegsgefangene betrachtet und interniert werden würden.
Die darauf folgende Verhaftung kam überraschend und hatte einen dramatischen wie auch demütigenden Verlauf. Der Stabschef Generaloberst Alfred Jodl, der noch am 7. Mai mit militärischem Gruß in Reims die Gesamtkapitulation unterschrieben hatte, übergab den britischen MPs seine Tagebücher, die dann als Belastungsmaterial im Prozess fungierten. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel war bereits am 13. 5. verhaftet worden, Jodl und die anderen folgten zehn Tage später. Die Presse sah die beiden bereits vor dem Prozess am Galgen baumeln. Damit torpedierten einige Journalisten die Intention der Alliierten, einen fairen und rechtsstaatlich orientierten Strafprozess in Nürnberg zu etablieren, was dank der ausgewogenen Prozessführung des Vorsitzenden Richters Lawrence dennoch gelang.
Vor dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden einige von den Angeklagten in alliierten Internierungslagern (wie z.B. in Mondorf, Luxemburg) angehalten, die intern als "dustbin" oder "ashtray" bezeichnet wurden. Ab August trafen die Angeklagten im Nürnberger Gefängnis ein, wo sie bis zum Prozessbeginn inhaftiert blieben.
Um die beträchtliche Zahl an Kriegsverbrechern abzuurteilen, kam es in den Folgemonaten und -jahren zu weiteren Prozessen nach den Nürnberger IMT-Verfahren. In Polen wurde etwa Rudolf Höß, der Auschwitz-Kommandant, 1946 vor Gericht gestellt und im April 1947 hingerichtet. In der CSSR wurde u.a. der slowakische Vertreter Hitlers, der SA-Mann Ludin, abgeurteilt, und auch in Österreich und Italien fanden Prozesse statt. In Israel wurde dem SS-Führer und Auschwitz-Logistiker Adolf Eichmann der Prozess gemacht.
Die Reichsbahn, deren Infrastruktur die Deportation von Millionen unschuldigen Opfern ermöglicht hatte, wurde als Organisation jedoch freigesprochen - wieder einer der zweifelhaften Persilscheine, die neben den drakonischen Strafurteilen in Nürnberg ausgestellt wurden. Hitlers Architekt Albert Speer konnte nach Verbüßung seiner Haft zum Medienstar und gefeierten Autor ("Spandauer Tagebücher") aufsteigen; nur Rudolf Heß, der 1941 nach Schottland geflogen und von Hitler für "geisteskrank" erklärt worden war, saß als einziger Häftling bis zu seinem späten Selbstmord in Spandau.
Jodls Nachleben
Ähnlich auch das Verhältnis der Stabschefs im Oberkommando der Wehrmacht: Jodl wurde hingerichtet, sein Stellvertreter Warlimont kam mit einer kurzen Haftstrafe davon und schrieb die Erlebnisse auf, die er "im Hauptquartier des Führers" gehabt hatte. Es fällt auf, dass ab Mitte der 1960er Jahre eine Flut revisionistischer und zeitgeschichtlich problematischer Werke den Buchmarkt überschwemmte, welche das Abenteuerhafte und Elitäre des "Dritten Reichs" herausstrichen, statt die Verbrechen des Regimes anzuprangern. Allein über General Jodl erschienen drei höchst unterschiedliche Werke, wie schon die Titel indizieren: Zunächst trat seine Witwe Luise (geborene von Benda) auf den Plan und veröffentlichte das biografische Werk "Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generaloberst A. Jodl" (Molden). Dann trat Günther Just 1971 im National-Verlag mit der Studie "Alfred Jodl. Offizier ohne Furcht und Tadel" auf den Plan; die gängige, aber vergriffene Biografie stammt von Bodo Scheurig (Propyläen 1986).
Literatur:
Joe J. Heydecker/Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozess. Neue Dokumente, neue Beweise, neue Erkenntnisse. KiWi 2003.
Hellmuth Butterweck: Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung. Czernin 2005.
Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Drei Bände, S. Fischer 2011.
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weitere Informationen...
Gerhard Strejcek
Die Saat der Gewalt
Wiener Zeitung, 18.10.2015
Eine neue Biografie des Aktivisten Malcolm X zeigt, wie Rassenhass und Extremismus die US-Gesellschaft immer noch destabilisieren.
Am 21. Februar 1965 wurde der afroamerikanische Bürgerrechtler Malcolm X - er hieß eigentlich Malcolm Little, das "X" verlieh ihm die Nation of Islam (NoI) - in Harlem erschossen. Heute steht in dem Tanzpalast (Ballroom), wo die den ehemaligen Kleinkriminellen zunächst fördernden und unterstützenden Funktionäre der Nation of Islam Malcolm X ermorden ließen, eine Gedenkstätte.
Viele Orte in den USA pflegen sich neuerdings durch Denkmäler, Sport oder Bildungseinrichtungen an afrikanische Amerikaner zu erinnern: Arthur Ashe bekam sein eigenes Stadion, Muhammad Ali, der seinen islamischen Namen von Malcolms Mentor und späterem Todfeind Elijah Muhammad erhielt, ist eine noch lebende Ikone, Martin Luther King ein personifiziertes Denkmal. Kult statt echter Zuneigung, so könnte man diese Memorials und Huldigungen angesichts anhaltender rassistischer Übergriffe nennen.
Bald jährt sich ein anderes Malcolm X-Jubiläum. Denn im November 1965 erschien postum die Autobiografie des aus Omaha, Nebraska, stammenden, charismatischen Kämpfers. Seither weben sich Legenden um den in Jugendzeiten gewalttätigen, später aber als Familienvater (fünf Töchter!) gereiften konvertierten Muslim und geistigen Mitstreiter Luther Kings. Im Jahr 1992 kam der vom afroamerikanischen Regisseur Spike Lee geleitete Film mit Denzel Washington in die Kinos und löste ein Malcolm-X-Revival aus.
Zornigster Amerikaner
Die musikalische Aufbereitung von Malcolms brutaler Devise "By all means necessary" lieferte der Rapper KRS-One schon 1988 und machte damit Zitate von Malcolm X in der Hip-Hop-Szene bekannt. Seither erinnern zahlreiche gerappte Texte an den "zornigsten Mann Amerikas", dem die an der Universität München lehrende Amerikanistin Britta Waldschmidt-Nelson nun eine Biografie widmet. Für Freunde afroamerikanischer Musik ein hilfreiches Werk zum besseren Verständnis der politischen Hintergründe in der immer noch von gegenseitigem Hass und einseitiger Unterdrückung gekennzeichneten amerikanischen Gesellschaft.
Wer tiefer in die Biografie einsteigt, erfährt auch historisch Neues über die Ära des Zweiten Weltkriegs. Am 1. Juni 1943 erschoss ein weißer Polizist in Harlem einen schwarzen Soldaten. Die Folge waren tagelange Unruhen, bei denen über 600 afroamerikanische Bürger auf die Straße gingen. Mitten im Zweiten Weltkrieg drohte, von Europas Öffentlichkeit unbemerkt, die Lage in den schwarzen Quartieren zu eskalieren. New Yorks Bürgermeister Fiorello La Guardia und der NAACP-Anführer Jack White versuchten gemeinsam von einem roten Feuerwehrwagen aus, durch den Unruhebezirk zu fahren und zur Mäßigung und Ruhe aufzurufen.
Die von Britta Waldschmid-Nelson in der übrigens ersten auf Deutsch verfassten Malcolm X-Biografie eindringlich geschilderte Szene erinnert den Leser an den hilflosen Versuch des Wiener Bürgermeisters Seitz, sich mit Hilfe der Feuerwehr im Jahr 1927 einen Weg durch die vor dem Justizpalast demonstrierenden Massen zu bahnen. Aber sie erinnert auch an tagesaktuelle Berichte von Behördengewalt gegenüber Schwarzen in den USA und den ebenso gewaltsamen Folgen.
Der Antagonismus zwischen den Ethnien und Bevölkerungsgruppen verschont kein Land und keine Region, aber in den USA ist die Situation doch eine spezielle, wie auch Präsident Obama nicht müde wird zu betonen. Denn im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist alles schon dagewesen, sogar eine Allianz von KuKlux-Clan und afro-islamischen Extremisten, die einander wechselseitige Abkapselung und Schutz garantierten. Und wenn man zwischen den Zeilen liest, muss man unwillkürlich an die Unterwanderung der USA und damit des Westens durch radikale Muslime denken. Während McCarthy die Kommunisten oder jene, die er dafür hielt, verfolgte, braute sich eine gefährliche Untergrundarmee in allen größeren Ballungszentren zusammen.
Selbststilisierung
Zur Autorin Britta Waldschmidt-Nelson als stellvertretender Direktorin des Deutschen historischen Instituts in Washington und als Professorin für amerikanische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München wie zu ihrem Werk gibt es nur Positives zu vermerken. Sie analysiert sachlich und behutsam die für Europäer schwer entwirrbaren Allianzen und autokratischen Strukturen innerhalb der Organisationen. Und sie zeigt Malcolm X eindrucksvoll in seiner legendenumwobenen Phase knapp vor seiner Ermordung vor fünfzig Jahren, als er durch eine sparsame Handbewegung den geplanten Sturm einer regelrechten Privatarmee auf eine Polizeistation abblasen konnte.
Aber sie bringt auch den fragilen und orientierungslosen jungen Malcolm X zutage, der eine kriminelle Karriere in den 1940ern durchlief und neben illegalem Glücksspiel, Zuhälterei und Gewalttätigkeiten sogar eine Einbrecherbande gründete. Obwohl er sich selbst in seiner Autobiografie als kaltblütigen und gefürchteten Banditen hinstellt, dürfte Malcolm X damals eine weniger charismatische als eingebildete und selbststilisierende Figur mit einem auffälligen Doppelleben gewesen sein. Bei Verwandten spielte er den Picknick-Liebhaber und gutmütigen Onkel, als Berufsverbrecher, Zuhälter und Dealer hingegen nannte er sich Detroit Red (obwohl er in Omaha geboren war und in Lansing aufwuchs) und bedrohte sogar weiße Polizisten mit der stets geladenen und mitgeführten Waffe.
Ähnlich wie seine kriminelle verlief die "legale" Laufbahn. Als junger Mann verdingte er sich als Kellner und Mitarbeiter diverser Eisenbahnunternehmen. Der Einziehung in die U.S. Army entging er durch eine kabarettreife Vorführung vor dem Psychiater, dem er vorgaukelte, möglichst viele Weiße töten zu wollen. Seine Strategie ging auf, und er konnte dem Kriegsdienst entgehen, wiewohl er körperlich auf der Höhe und psychisch intakt war. Seine sozialen Verhältnisse, unter anderem zum jüdischen Barbesitzer Abe Goldmeister, beruhten auf Berechnung und wechselseitiger Ausnützung.
In den 1940er Jahren entwickelten sich intime Verhältnisse mit weißen ("Freundin Bea") und afrikanischen Frauen. Erst im Gefängnis reifte er und fand als gläubiger Muslim Ruhe und familiäre Erfüllung. Aber die brutalen Episoden kann man nicht aus seinem Leben streichen. Dass Malcolm X, der lange Zeit für den bewaffneten Widerstand der Schwarzen eintrat, schließlich ein gewaltsames Ende nahm, scheint dank der konzise dargestellten Vita fast als logisch zwingend. Die Saat der Gewalt, die Malcolm X so oft zitierte ("the hate that hate produced"), war aufgegangen.
Literaturhinweise:
Britta Waldschmidt-Nelson
Malcolm X
Eine Biographie. C.H. Beck Verlag, München 2015, 384 Seiten
19,80 Euro.
Am 21. Februar 1965 wurde der afroamerikanische Bürgerrechtler Malcolm X - er hieß eigentlich Malcolm Little, das "X" verlieh ihm die Nation of Islam (NoI) - in Harlem erschossen. Heute steht in dem Tanzpalast (Ballroom), wo die den ehemaligen Kleinkriminellen zunächst fördernden und unterstützenden Funktionäre der Nation of Islam Malcolm X ermorden ließen, eine Gedenkstätte.
Viele Orte in den USA pflegen sich neuerdings durch Denkmäler, Sport oder Bildungseinrichtungen an afrikanische Amerikaner zu erinnern: Arthur Ashe bekam sein eigenes Stadion, Muhammad Ali, der seinen islamischen Namen von Malcolms Mentor und späterem Todfeind Elijah Muhammad erhielt, ist eine noch lebende Ikone, Martin Luther King ein personifiziertes Denkmal. Kult statt echter Zuneigung, so könnte man diese Memorials und Huldigungen angesichts anhaltender rassistischer Übergriffe nennen.
Bald jährt sich ein anderes Malcolm X-Jubiläum. Denn im November 1965 erschien postum die Autobiografie des aus Omaha, Nebraska, stammenden, charismatischen Kämpfers. Seither weben sich Legenden um den in Jugendzeiten gewalttätigen, später aber als Familienvater (fünf Töchter!) gereiften konvertierten Muslim und geistigen Mitstreiter Luther Kings. Im Jahr 1992 kam der vom afroamerikanischen Regisseur Spike Lee geleitete Film mit Denzel Washington in die Kinos und löste ein Malcolm-X-Revival aus.
Zornigster Amerikaner
Die musikalische Aufbereitung von Malcolms brutaler Devise "By all means necessary" lieferte der Rapper KRS-One schon 1988 und machte damit Zitate von Malcolm X in der Hip-Hop-Szene bekannt. Seither erinnern zahlreiche gerappte Texte an den "zornigsten Mann Amerikas", dem die an der Universität München lehrende Amerikanistin Britta Waldschmidt-Nelson nun eine Biografie widmet. Für Freunde afroamerikanischer Musik ein hilfreiches Werk zum besseren Verständnis der politischen Hintergründe in der immer noch von gegenseitigem Hass und einseitiger Unterdrückung gekennzeichneten amerikanischen Gesellschaft.
Wer tiefer in die Biografie einsteigt, erfährt auch historisch Neues über die Ära des Zweiten Weltkriegs. Am 1. Juni 1943 erschoss ein weißer Polizist in Harlem einen schwarzen Soldaten. Die Folge waren tagelange Unruhen, bei denen über 600 afroamerikanische Bürger auf die Straße gingen. Mitten im Zweiten Weltkrieg drohte, von Europas Öffentlichkeit unbemerkt, die Lage in den schwarzen Quartieren zu eskalieren. New Yorks Bürgermeister Fiorello La Guardia und der NAACP-Anführer Jack White versuchten gemeinsam von einem roten Feuerwehrwagen aus, durch den Unruhebezirk zu fahren und zur Mäßigung und Ruhe aufzurufen.
Die von Britta Waldschmid-Nelson in der übrigens ersten auf Deutsch verfassten Malcolm X-Biografie eindringlich geschilderte Szene erinnert den Leser an den hilflosen Versuch des Wiener Bürgermeisters Seitz, sich mit Hilfe der Feuerwehr im Jahr 1927 einen Weg durch die vor dem Justizpalast demonstrierenden Massen zu bahnen. Aber sie erinnert auch an tagesaktuelle Berichte von Behördengewalt gegenüber Schwarzen in den USA und den ebenso gewaltsamen Folgen.
Der Antagonismus zwischen den Ethnien und Bevölkerungsgruppen verschont kein Land und keine Region, aber in den USA ist die Situation doch eine spezielle, wie auch Präsident Obama nicht müde wird zu betonen. Denn im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist alles schon dagewesen, sogar eine Allianz von KuKlux-Clan und afro-islamischen Extremisten, die einander wechselseitige Abkapselung und Schutz garantierten. Und wenn man zwischen den Zeilen liest, muss man unwillkürlich an die Unterwanderung der USA und damit des Westens durch radikale Muslime denken. Während McCarthy die Kommunisten oder jene, die er dafür hielt, verfolgte, braute sich eine gefährliche Untergrundarmee in allen größeren Ballungszentren zusammen.
Selbststilisierung
Zur Autorin Britta Waldschmidt-Nelson als stellvertretender Direktorin des Deutschen historischen Instituts in Washington und als Professorin für amerikanische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München wie zu ihrem Werk gibt es nur Positives zu vermerken. Sie analysiert sachlich und behutsam die für Europäer schwer entwirrbaren Allianzen und autokratischen Strukturen innerhalb der Organisationen. Und sie zeigt Malcolm X eindrucksvoll in seiner legendenumwobenen Phase knapp vor seiner Ermordung vor fünfzig Jahren, als er durch eine sparsame Handbewegung den geplanten Sturm einer regelrechten Privatarmee auf eine Polizeistation abblasen konnte.
Aber sie bringt auch den fragilen und orientierungslosen jungen Malcolm X zutage, der eine kriminelle Karriere in den 1940ern durchlief und neben illegalem Glücksspiel, Zuhälterei und Gewalttätigkeiten sogar eine Einbrecherbande gründete. Obwohl er sich selbst in seiner Autobiografie als kaltblütigen und gefürchteten Banditen hinstellt, dürfte Malcolm X damals eine weniger charismatische als eingebildete und selbststilisierende Figur mit einem auffälligen Doppelleben gewesen sein. Bei Verwandten spielte er den Picknick-Liebhaber und gutmütigen Onkel, als Berufsverbrecher, Zuhälter und Dealer hingegen nannte er sich Detroit Red (obwohl er in Omaha geboren war und in Lansing aufwuchs) und bedrohte sogar weiße Polizisten mit der stets geladenen und mitgeführten Waffe.
Ähnlich wie seine kriminelle verlief die "legale" Laufbahn. Als junger Mann verdingte er sich als Kellner und Mitarbeiter diverser Eisenbahnunternehmen. Der Einziehung in die U.S. Army entging er durch eine kabarettreife Vorführung vor dem Psychiater, dem er vorgaukelte, möglichst viele Weiße töten zu wollen. Seine Strategie ging auf, und er konnte dem Kriegsdienst entgehen, wiewohl er körperlich auf der Höhe und psychisch intakt war. Seine sozialen Verhältnisse, unter anderem zum jüdischen Barbesitzer Abe Goldmeister, beruhten auf Berechnung und wechselseitiger Ausnützung.
In den 1940er Jahren entwickelten sich intime Verhältnisse mit weißen ("Freundin Bea") und afrikanischen Frauen. Erst im Gefängnis reifte er und fand als gläubiger Muslim Ruhe und familiäre Erfüllung. Aber die brutalen Episoden kann man nicht aus seinem Leben streichen. Dass Malcolm X, der lange Zeit für den bewaffneten Widerstand der Schwarzen eintrat, schließlich ein gewaltsames Ende nahm, scheint dank der konzise dargestellten Vita fast als logisch zwingend. Die Saat der Gewalt, die Malcolm X so oft zitierte ("the hate that hate produced"), war aufgegangen.
Literaturhinweise:
Britta Waldschmidt-Nelson
Malcolm X
Eine Biographie. C.H. Beck Verlag, München 2015, 384 Seiten
19,80 Euro.
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Gerhard Strejcek
Wassersport als Lebensaufgabe
Wiener Zeitung, 12.09.2015
Schwimmunterricht
Vor fünfzig Jahren starb der in Leipzig geborene, aber viele Jahre in Österreich tätige Sportpionier Kurt Wießner, der mit seinem "Natürlichen Schwimmunterricht" für eine nachhaltige didaktische Grundlage sorgte.
Wer in der Online-Enzyklopädie "Wikipedia" das Stichwort "Schwimmen" aufruft, erhält einen instruktiven historischen Überblick über die Geschichte des Wassersports. Der Leser stößt in dem Artikel auch auf den Namen des deutsch-österreichischen Schwimmpioniers Kurt Wießner, der im Jahr 1925 den auf Ernst Pfuel (1805) und Johann Guts Muths (1798) zurückgehenden "mechanistischen" Zugang zur Schwimmschule durch einen neuen Ansatz revolutionierte.
Wießners Gedanken über eine ausgewogene und erfolgversprechende Lehrmethode mündeten in dem Werk "Natürlicher Schwimmunterricht". Sein Zugang entsprach dem Zeitgeist, erschien doch im Jahr 1936 ein Buch des Skiexperten Fritz Hoschek mit dem nicht unähnlichen Titel "Der natürliche Skiunterricht". Kernthese von Wießners illustrierter und häufig auch persönlich (etwa im Wiener Dianabad und in Warschau) demonstrierter Schwimmschule war der Verzicht auf mechanische Hilfsgeräte wie Angeln oder Leinen und eine didaktisch ausgeklügelte Gewöhnung der Schüler an das nasse Element. Am Beginn des Unterrichtsprozesses stehen weder Theorie noch Trockentraining, sondern Schwebeübungen im Schwimmbecken und die allmähliche Überwindung der Angst vor dem Untertauchen.
In diesem, für den Lehrerfolg maßgeblichen Punkt hatte schon die erste europäische Schwimmschule von Everard Digby um 1587 eine Vorreiterrolle gespielt. In seinem Werk "De arte natandi libri duo" (= "Zwei Bücher über die Schwimmkunst") gab der in Cambridge lehrende Theologe den künftigen Schwimmern Tipps, die er durch Holzschnitte verdeutlichte: Man solle langsam ins Wasser gehen, einen Gefährten aus Sicherheitsgründen mitnehmen und keinesfalls in unbekannte Gewässer springen, so der Pfarrer und Biophysiker, der aus Leicester stammte und sich fortan am Land (Rutland) der Betreuung von insgesamt drei Pfarreien und dem geliebten Freizeitsport Schwimmen widmete.
Digby kann als der Ahnherr des Synchronschwimmens gelten, zeigte er doch eindrucksvolle Figuren im Wasser, die mehr der Ästhetik als der schnellen Fortbewegung verpflichtet waren. Die Ansichten in Digbys bahnbrechendem, von Charles Middleton 1596 auf Englisch übersetztem Werk illustrieren bereits Grundzüge des Rücken-, Seiten- und Brustschwimmens samt den damit verbundenen Bewegungen zur Wasserverdrängung, wogegen die Wettkampfstile Kraulen und Delphin späteren, außereuropäischen Entwicklungen entsprangen.
Wießners Schwimmschule verfolgte anders als jene Digbys weder einen ästhetischen noch einen leistungssportlichen Ansatz, sondern richtete sich an Schwimmlehrer und -warte, aber auch an die baulichen Planer und Gestalter der deutschen und österreichischen Bäder, die 1920 vielfach in einem hoffnungslos veralteten Zustand waren. Hatten die Flussbäder in Moldau, Spree und Donau zwar ein gutes Jahrhundert lang ihre Dienste geleistet, so entsprachen sie nicht mehr den Anforderungen an zeitgemäße Einrichtungen für das Schulschwimmen. Der Autor sprach sich daher für eine moderne und funktionelle Gestaltung der Ausbildungsstätten in der Weimarer Republik aus und konzipierte diese als gelernter Bautechniker (Absolvent der Leipziger Baugewerbeschule) gleich selbst.
Konzepte für Bäderbau
Wießners Konzepte sollten im Schulunterricht und im Breitensport wertvolle Dienste leisten und hatten maßgebliche Auswirkungen auf den Bäderbau in mehreren europäischen Ländern (wie Niederlande, Dänemark, Polen). Selbst die gelungenen Beispiele des modernen Wiener städtischen Bäderbaus in den 1950er und 1960er Jahren, die zumeist unter Beauftragung des heute wegen seiner Rolle im NS-Staat umstrittenen Architekten Roland Rainer vor sich gingen, berücksichtigten diese Erkenntnisse und entwickelten Wießners Thesen weiter.
In der Tat ist eine übersichtliche und anheimelnde Atmosphäre in einem Schwimmbad von großer atmosphärischer Bedeutung. Befragt man heutige Wiener Schülerinnen und Schüler im Zuge des Schwimm-Sportunterrichts, so zeigt sich, dass sich diese in den Wiener Bädern in Simmering, der Großfeldsiedlung, Donaustadt, Brigittenau, Hietzing und Döbling am wohlsten fühlen, die alle einem einheitlichen und übersichtlichen Konzept folgen. Hingegen gelten Jörger- und Amalienbad zwar als bauhistorische Juwele, finden aber bei den jungen Schwimmschülern weniger Anklang, weil sie in den hohen Räumlichkeiten und der hallenden Akustik weniger Sicherheit verspüren.
Im Wesentlichen entsprach aber die Bauart der älteren Bäder dem state of the art der frühen Zwanzigerjahre. Auch in der Weimarer Republik konnte Wießner neue Akzente setzen. Eine Studie der Architekturhistorikerin Uta Maria Bräuer und ihres Kollegen Jost Lehne über die Geschichte der Berliner Bäder, die im Jahr 2013 erschienen ist, dokumentiert die Umsetzung von Wießners Thesen in den dortigen Schwimm-Einrichtungen.
Die ersten Schwimmbäder der deutschen Hauptstadt gehen übrigens auf denselben Urheber zurück wie die Prager Militärschwimmschule (1810) und vermutlich auch die Rekruten-Schwimmschule im Wiener Prater (1813), nämlich auf Ernst Henrich Adolf Ritter von Pfuel. Denn im Zuge der Befreiungskriege, in denen sich die nach Digby ausgebildeten französischen Soldaten auch als Schwimmer bewährten, kam der märkische Schwimmpionier als Major in österreichischen Diensten nach Prag und nach Wien. Er war mit Heinrich Kleist eng befreundet, wobei der Dichter und Dramatiker die Schwimmkünste Pfuels überschwänglich lobte.
Die von Pfuel entwickelte Brustschwimmtechnik, die ihm sogar den fälschlichen Ruf als "Erfinder" dieses Schwimmstils einbrachte, fand in Karl Csillagh einen interessierten Rezipienten, der seine Kenntnisse 1841 in einen Lehrbehelf für den "philanthropischen Schwimmmeister" goss. Aber auch Csillagh stellte wie einst Digby den Showeffekt spektakulärer Bewegungsabläufe und Sprünge (etwa über einen Barren) in den Vordergrund. Hingegen fehlte eine Unterrichtsmethode, um den meist jugendlichen Schülern die Scheu vor dem Wasser zu nehmen. Diesen Stand fand Wießner vor, als er sich für die Entwicklung der natürlichen Lehrmethode zu interessieren begann.
Da der Lebensweg des Leipziger Schwimmpioniers bald nach der Publikation seiner Studie 1924/25 nach Wien führte, ist die Biografie des gebürtigen Sachsen auch von besonderem Interesse für die österreichische Sportgeschichte. Wießner wurde am 14. Juli 1894 in Leipzig geboren und nahm als einundzwanzigähriger Soldat im Dienst Wilhelms II. am Ersten Weltkrieg teil, den er nur knapp nach einer schweren Verwundung (Schusswunde am Kopf mit Augenverletzung) überlebte.
In der Ära der Ersten Republik zog Wießner nach Wien und gründete, nachdem er - nicht zuletzt aufgrund seiner sportwissenschaftlichen und unterrichtspraktischen Leistungen - die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, eine Turn- und Gymnastikschule in der Bräunerstraße. Seinen Wohnsitz wählte Wießner gemeinsam mit Gattin und den beiden Töchtern in der Währinger Dittesgasse. Während der Sommermonate zog Wießner mit seiner Familie in eine Aussichtslage oberhalb des Klosterneuburger "Sachsenviertels", wo er 1928 einen Garten erwarb und mit Genehmigung des Bürgermeisters ein kleines Sommerhaus errichtete.
In Klosterneuburg tätig
Von dort wanderte er unzählige Male ins Sportbad am Klosterneuburger Durchstich, dessen Umgestaltung als ursprüngliches reines Militärbad zu einer Bundeseinrichtung 1931 erfolgte. Heute liegt das noch intakte Bad in einem Kleingartenverein und ist nicht mehr öffentlich zugänglich. An interessierten Schwimmschülern mangelte es im idyllischen Vorort Wiens nicht, denn zu dieser Zeit bestand auch bereits das aus dem privaten Englbad 1913 hervorgegangene Klosterneuburger Strandbad auf einem Pachtgrund des Stiftes an demselben Nebenarm wie das Militär- und Sportbad, sodass sich zahlreiche Wassersportler (Schwimmer, Wasserballspieler, Zillen- und Kanufahrer) auf dem ruhigen Gewässer trafen.
Wassersport hatte in den 1930er Jahren wie die meisten Freizeittätigkeiten auch eine politische Implikation. Das zeigte sich auch im Klosterneuburger Raum, als im autoritären Ständestaat ab 1934 Parteienverbote wirksam wurden. Mit der NS-Machtübernahme hatte das Idyll für viele ein Ende, Juden wurden umgehend aus den Freizeitanlagen gewiesen und enteignet, die betroffenen Kabanen arisiert und verdienten "Parteigenossen" zugewiesen. Für Wießner, der selbst nicht verfolgt wurde, aber als Kriegsversehrter und Freiberufler um sein Auskommen bangen musste, erwies sich die Zwangsemigration und Deportation vieler seiner Schüler als fatal.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Sportunterricht an Schulen und Universitäten wieder langsam in die Gänge. Von einer Wiedererrichtung der Turnschulen in der Bräunerstraße und im Palais Ferstel konnte für den Schwimmpionier aber keine Rede sein, auch der Universitätssport blieb ihm verschlossen. Wießner war in dieser späten Phase seines Lebens im "Haus des Sportes" unter der Ägide des Unterrichtsministeriums tätig. Er widmete sich zudem der Konzeption von Sportsandalen und anderen orthopädischen Hilfsgeräten und weckte so unter anderem das Interesse des vielseitigen Masseurs und Fitness-Gurus Willi Dungl.
Am 16. September 1965 starb Wießner infolge eines Gehirnschlags, der auch mit seiner alten Kriegsverwundung im Zusammenhang gestanden war. Kurz zuvor hatte er noch das Goldene Ehrenzeichen der Republik für seine Verdienste um den Schwimmsport erhalten.
Vor fünfzig Jahren starb der in Leipzig geborene, aber viele Jahre in Österreich tätige Sportpionier Kurt Wießner, der mit seinem "Natürlichen Schwimmunterricht" für eine nachhaltige didaktische Grundlage sorgte.
Wer in der Online-Enzyklopädie "Wikipedia" das Stichwort "Schwimmen" aufruft, erhält einen instruktiven historischen Überblick über die Geschichte des Wassersports. Der Leser stößt in dem Artikel auch auf den Namen des deutsch-österreichischen Schwimmpioniers Kurt Wießner, der im Jahr 1925 den auf Ernst Pfuel (1805) und Johann Guts Muths (1798) zurückgehenden "mechanistischen" Zugang zur Schwimmschule durch einen neuen Ansatz revolutionierte.
Wießners Gedanken über eine ausgewogene und erfolgversprechende Lehrmethode mündeten in dem Werk "Natürlicher Schwimmunterricht". Sein Zugang entsprach dem Zeitgeist, erschien doch im Jahr 1936 ein Buch des Skiexperten Fritz Hoschek mit dem nicht unähnlichen Titel "Der natürliche Skiunterricht". Kernthese von Wießners illustrierter und häufig auch persönlich (etwa im Wiener Dianabad und in Warschau) demonstrierter Schwimmschule war der Verzicht auf mechanische Hilfsgeräte wie Angeln oder Leinen und eine didaktisch ausgeklügelte Gewöhnung der Schüler an das nasse Element. Am Beginn des Unterrichtsprozesses stehen weder Theorie noch Trockentraining, sondern Schwebeübungen im Schwimmbecken und die allmähliche Überwindung der Angst vor dem Untertauchen.
In diesem, für den Lehrerfolg maßgeblichen Punkt hatte schon die erste europäische Schwimmschule von Everard Digby um 1587 eine Vorreiterrolle gespielt. In seinem Werk "De arte natandi libri duo" (= "Zwei Bücher über die Schwimmkunst") gab der in Cambridge lehrende Theologe den künftigen Schwimmern Tipps, die er durch Holzschnitte verdeutlichte: Man solle langsam ins Wasser gehen, einen Gefährten aus Sicherheitsgründen mitnehmen und keinesfalls in unbekannte Gewässer springen, so der Pfarrer und Biophysiker, der aus Leicester stammte und sich fortan am Land (Rutland) der Betreuung von insgesamt drei Pfarreien und dem geliebten Freizeitsport Schwimmen widmete.
Digby kann als der Ahnherr des Synchronschwimmens gelten, zeigte er doch eindrucksvolle Figuren im Wasser, die mehr der Ästhetik als der schnellen Fortbewegung verpflichtet waren. Die Ansichten in Digbys bahnbrechendem, von Charles Middleton 1596 auf Englisch übersetztem Werk illustrieren bereits Grundzüge des Rücken-, Seiten- und Brustschwimmens samt den damit verbundenen Bewegungen zur Wasserverdrängung, wogegen die Wettkampfstile Kraulen und Delphin späteren, außereuropäischen Entwicklungen entsprangen.
Wießners Schwimmschule verfolgte anders als jene Digbys weder einen ästhetischen noch einen leistungssportlichen Ansatz, sondern richtete sich an Schwimmlehrer und -warte, aber auch an die baulichen Planer und Gestalter der deutschen und österreichischen Bäder, die 1920 vielfach in einem hoffnungslos veralteten Zustand waren. Hatten die Flussbäder in Moldau, Spree und Donau zwar ein gutes Jahrhundert lang ihre Dienste geleistet, so entsprachen sie nicht mehr den Anforderungen an zeitgemäße Einrichtungen für das Schulschwimmen. Der Autor sprach sich daher für eine moderne und funktionelle Gestaltung der Ausbildungsstätten in der Weimarer Republik aus und konzipierte diese als gelernter Bautechniker (Absolvent der Leipziger Baugewerbeschule) gleich selbst.
Konzepte für Bäderbau
Wießners Konzepte sollten im Schulunterricht und im Breitensport wertvolle Dienste leisten und hatten maßgebliche Auswirkungen auf den Bäderbau in mehreren europäischen Ländern (wie Niederlande, Dänemark, Polen). Selbst die gelungenen Beispiele des modernen Wiener städtischen Bäderbaus in den 1950er und 1960er Jahren, die zumeist unter Beauftragung des heute wegen seiner Rolle im NS-Staat umstrittenen Architekten Roland Rainer vor sich gingen, berücksichtigten diese Erkenntnisse und entwickelten Wießners Thesen weiter.
In der Tat ist eine übersichtliche und anheimelnde Atmosphäre in einem Schwimmbad von großer atmosphärischer Bedeutung. Befragt man heutige Wiener Schülerinnen und Schüler im Zuge des Schwimm-Sportunterrichts, so zeigt sich, dass sich diese in den Wiener Bädern in Simmering, der Großfeldsiedlung, Donaustadt, Brigittenau, Hietzing und Döbling am wohlsten fühlen, die alle einem einheitlichen und übersichtlichen Konzept folgen. Hingegen gelten Jörger- und Amalienbad zwar als bauhistorische Juwele, finden aber bei den jungen Schwimmschülern weniger Anklang, weil sie in den hohen Räumlichkeiten und der hallenden Akustik weniger Sicherheit verspüren.
Im Wesentlichen entsprach aber die Bauart der älteren Bäder dem state of the art der frühen Zwanzigerjahre. Auch in der Weimarer Republik konnte Wießner neue Akzente setzen. Eine Studie der Architekturhistorikerin Uta Maria Bräuer und ihres Kollegen Jost Lehne über die Geschichte der Berliner Bäder, die im Jahr 2013 erschienen ist, dokumentiert die Umsetzung von Wießners Thesen in den dortigen Schwimm-Einrichtungen.
Die ersten Schwimmbäder der deutschen Hauptstadt gehen übrigens auf denselben Urheber zurück wie die Prager Militärschwimmschule (1810) und vermutlich auch die Rekruten-Schwimmschule im Wiener Prater (1813), nämlich auf Ernst Henrich Adolf Ritter von Pfuel. Denn im Zuge der Befreiungskriege, in denen sich die nach Digby ausgebildeten französischen Soldaten auch als Schwimmer bewährten, kam der märkische Schwimmpionier als Major in österreichischen Diensten nach Prag und nach Wien. Er war mit Heinrich Kleist eng befreundet, wobei der Dichter und Dramatiker die Schwimmkünste Pfuels überschwänglich lobte.
Die von Pfuel entwickelte Brustschwimmtechnik, die ihm sogar den fälschlichen Ruf als "Erfinder" dieses Schwimmstils einbrachte, fand in Karl Csillagh einen interessierten Rezipienten, der seine Kenntnisse 1841 in einen Lehrbehelf für den "philanthropischen Schwimmmeister" goss. Aber auch Csillagh stellte wie einst Digby den Showeffekt spektakulärer Bewegungsabläufe und Sprünge (etwa über einen Barren) in den Vordergrund. Hingegen fehlte eine Unterrichtsmethode, um den meist jugendlichen Schülern die Scheu vor dem Wasser zu nehmen. Diesen Stand fand Wießner vor, als er sich für die Entwicklung der natürlichen Lehrmethode zu interessieren begann.
Da der Lebensweg des Leipziger Schwimmpioniers bald nach der Publikation seiner Studie 1924/25 nach Wien führte, ist die Biografie des gebürtigen Sachsen auch von besonderem Interesse für die österreichische Sportgeschichte. Wießner wurde am 14. Juli 1894 in Leipzig geboren und nahm als einundzwanzigähriger Soldat im Dienst Wilhelms II. am Ersten Weltkrieg teil, den er nur knapp nach einer schweren Verwundung (Schusswunde am Kopf mit Augenverletzung) überlebte.
In der Ära der Ersten Republik zog Wießner nach Wien und gründete, nachdem er - nicht zuletzt aufgrund seiner sportwissenschaftlichen und unterrichtspraktischen Leistungen - die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, eine Turn- und Gymnastikschule in der Bräunerstraße. Seinen Wohnsitz wählte Wießner gemeinsam mit Gattin und den beiden Töchtern in der Währinger Dittesgasse. Während der Sommermonate zog Wießner mit seiner Familie in eine Aussichtslage oberhalb des Klosterneuburger "Sachsenviertels", wo er 1928 einen Garten erwarb und mit Genehmigung des Bürgermeisters ein kleines Sommerhaus errichtete.
In Klosterneuburg tätig
Von dort wanderte er unzählige Male ins Sportbad am Klosterneuburger Durchstich, dessen Umgestaltung als ursprüngliches reines Militärbad zu einer Bundeseinrichtung 1931 erfolgte. Heute liegt das noch intakte Bad in einem Kleingartenverein und ist nicht mehr öffentlich zugänglich. An interessierten Schwimmschülern mangelte es im idyllischen Vorort Wiens nicht, denn zu dieser Zeit bestand auch bereits das aus dem privaten Englbad 1913 hervorgegangene Klosterneuburger Strandbad auf einem Pachtgrund des Stiftes an demselben Nebenarm wie das Militär- und Sportbad, sodass sich zahlreiche Wassersportler (Schwimmer, Wasserballspieler, Zillen- und Kanufahrer) auf dem ruhigen Gewässer trafen.
Wassersport hatte in den 1930er Jahren wie die meisten Freizeittätigkeiten auch eine politische Implikation. Das zeigte sich auch im Klosterneuburger Raum, als im autoritären Ständestaat ab 1934 Parteienverbote wirksam wurden. Mit der NS-Machtübernahme hatte das Idyll für viele ein Ende, Juden wurden umgehend aus den Freizeitanlagen gewiesen und enteignet, die betroffenen Kabanen arisiert und verdienten "Parteigenossen" zugewiesen. Für Wießner, der selbst nicht verfolgt wurde, aber als Kriegsversehrter und Freiberufler um sein Auskommen bangen musste, erwies sich die Zwangsemigration und Deportation vieler seiner Schüler als fatal.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Sportunterricht an Schulen und Universitäten wieder langsam in die Gänge. Von einer Wiedererrichtung der Turnschulen in der Bräunerstraße und im Palais Ferstel konnte für den Schwimmpionier aber keine Rede sein, auch der Universitätssport blieb ihm verschlossen. Wießner war in dieser späten Phase seines Lebens im "Haus des Sportes" unter der Ägide des Unterrichtsministeriums tätig. Er widmete sich zudem der Konzeption von Sportsandalen und anderen orthopädischen Hilfsgeräten und weckte so unter anderem das Interesse des vielseitigen Masseurs und Fitness-Gurus Willi Dungl.
Am 16. September 1965 starb Wießner infolge eines Gehirnschlags, der auch mit seiner alten Kriegsverwundung im Zusammenhang gestanden war. Kurz zuvor hatte er noch das Goldene Ehrenzeichen der Republik für seine Verdienste um den Schwimmsport erhalten.
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Gerhard Strejcek
Becca Stevens Band
Wiener Zeitung, 09.08.2015
Perfect Animal
Das perfekte Lebewesen ist unerreichbar, aber die Arbeit an einem komplizierten musikalischen Stoff ist vergleichbar mit der Gestaltung einer lebenden Materie. Deshalb findet sich der Song "Imperfect Animals" auf "Perfect Animal", dem aktuellen Album der Becca Stevens Band.
Nach zwei Singer-Songwriter-Platten gelang der aus North Carolina stammenden Komponistin und Sängerin Becca Stevens damit ein großer Wurf. Zehn Songs bieten perfekt arrangierte Coverversionen von Usher ("You Make Me Wanna"), Frank Ocean ("Thinkin Bout You") oder des Winwood-Klassikers "Higher Love".
Den Sound gestalten Synthies, Gitarren, Akkordeon und Beccas Ukulele. Das Album überzeugt mit vokaler Perfektion, tiefgründigen Texten und Jazz-affiner Ins-trumentierung. Im August lehrt Stevens beim Jazz-Workshop in Siena; im Rahmen einer Tour gastiert sie mit ihrer Ausnahmeband am 15. September im nahegelegenen München (Ampere).
Becca Stevens Band
Perfect Animal
(Universal Music)
Das perfekte Lebewesen ist unerreichbar, aber die Arbeit an einem komplizierten musikalischen Stoff ist vergleichbar mit der Gestaltung einer lebenden Materie. Deshalb findet sich der Song "Imperfect Animals" auf "Perfect Animal", dem aktuellen Album der Becca Stevens Band.
Nach zwei Singer-Songwriter-Platten gelang der aus North Carolina stammenden Komponistin und Sängerin Becca Stevens damit ein großer Wurf. Zehn Songs bieten perfekt arrangierte Coverversionen von Usher ("You Make Me Wanna"), Frank Ocean ("Thinkin Bout You") oder des Winwood-Klassikers "Higher Love".
Den Sound gestalten Synthies, Gitarren, Akkordeon und Beccas Ukulele. Das Album überzeugt mit vokaler Perfektion, tiefgründigen Texten und Jazz-affiner Ins-trumentierung. Im August lehrt Stevens beim Jazz-Workshop in Siena; im Rahmen einer Tour gastiert sie mit ihrer Ausnahmeband am 15. September im nahegelegenen München (Ampere).
Becca Stevens Band
Perfect Animal
(Universal Music)
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Gerhard Strejcek
Reportage und Provokation
Wiener Zeitung, 26.07.2015
Kunst der Reportage
Egon Erwin Kisch gilt als Begründer der Reportage als literarische Kunstform und des Aufdeckerjournalismus.
Kisch führte einen unermüdlichen Kampf gegen den Nationalsozialismus. Wikipedia / Public domain
Das Jahr 1915 brachte für Egon Erwin Kisch körperlichen Schmerz, psychische Beruhigung und ideelle Anerkennung mit sich. Nach seiner Verwundung an der südöstlichen Weltkriegs-Front, der Rückkehr in die Heimatstadt und der Beförderung zum Unteroffizier stand einem wehrhaften Weiterleben unter marxistischen Auspizien nichts mehr im Wege. Dem Bruder des "Presse"-Wirtschaftsredakteurs Paul Kisch sollten die militärische Ausbildung und sein Dienstgrad noch bei zahlreichen Scharmützeln nutzen, wenn auch nicht allzu viel Ruhm und Ehre bringen. In der jungen Ersten Republik kommandierte Egon, den seine greise Großtante versehentlich "Egmont" nannte (sie war glühende Goethe-Verehrerin) im Winter 1918/19 kurzzeitig die "Rote Garde" in Wien, mit der er bevorzugt Medien- und Militäreinrichtungen erstürmte, wenn er nicht gerade mit Werfels Hilfe eine bolschewistische Brandrede hielt.
Man stelle sich den wenig martialischen, aber schriftstellerisch hochbegabten, pausbäckigen "kleinen" Franz auf dem Deutschmeisterplatz vor, wie er im Schatten des Hansen’schen Weltausstellungshotels (heute "Kempinski") und der gegenüber liegenden Roßauerkaserne einen Trupp Rotgardisten gegen die besitzenden Klassen und die ehemaligen k.u.k. Offiziere aufhetzt - also genau genommen gegen sich und die in der Textilbranche tätigen Familien Werfel und Kisch höchstselbst. Ein klarer Kopf wie Arthur Schnitzler reagierte empört darauf, dass wohlhabende, spießbürgerliche Villenbewohner (in concreto: Mahler/Werfel in der Steinfeldgasse 4 auf der Hohen Warte) sich auf offener Straße oder im Salon als Reserve-Trotzkis gebärdeten.
Kampf gegen Hitler
Kisch war zwar kein Riese, aber sportlicher, mutiger und somit als Kämpfer glaubwürdiger als Werfel, wie seine sozialkritischen Reportagen aus Prager Zeiten zeigten. Unvergesslich wurde aber sein Dialog mit Paul Kisch, (den er später vergeblich dementierte) im Stiegenhaus der "Neuen Freien Presse". Egon: "Im Namen der Revolution fordere ich Dich ein letztes Mal auf, den Weg freizugeben." Paul: "Gut, ich weiche der Gewalt, aber ich sag’s der Mama in Prag!" Fazit - Egon "Erwin" (selbst erwählter Zweitvorname) Kisch zog mit der roten Horde ab.
Längerfristiges Ergebnis seiner Umtriebe war allerdings seine Ausweisung aus Deutsch-Österreich. Es folgten Jahre in der Weimarer Republik bis zu den verhängnisvollen Reichstagswahlen, dem Aufstieg der NSDAP und Hitlers Kanzlerschaft ab Februar 1933. In Berlin währte Kischs Kampf gegen den Diktator nur kurz, denn nach seiner Verhaftung im Gefolge des Reichstagsbrands schob ihn die deutsche Regierung nach Prag ab. Es folgten das australische Abenteuer (siehe S. 38) und 1935 ein Auftritt am Schriftstellerkongress in Paris.
Der Wortgewaltige wehrte sich weiterhin aus dem französischen Exil gegen Hitler, er schrieb einen offenen Brief an den Diktator und zeigte darin einige Widersprüchlichkeiten auf, wie der zum wahnwitzigen GröFAZ ("größten Feldherrn aller Zeiten") aufsteigende Gefreite zu seinem "Eisernen Kreuz" gekommen zu sein behauptet hatte. In der Tat existieren von dieser Episode an der Marne 1918 mehr als drei Versionen - und es erschien bereits zeitgenössischen Militärexperten der Reichswehr seltsam, dass der fast kriegsblinde EK-Träger Hitler als Meldegänger angeblich Heldentaten vollbracht hatte, ohne in all den Jahren befördert worden zu sein. Aber das Volk glaubte Hitler, nicht Kisch.
Doch dieser gab nicht auf und stand als über 50-Jähriger (geb. 29. 4. 1885) persönlich wieder auf den Barrikaden. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er 1937 gegen Franco aufseiten der Republikaner, auch hier vergeblich. Und schließlich erlebte er, als Frankreich Nazideutschland unterlag, seine transatlantisch-dramatische Flucht, mehr oder minder als Gefangener. Aus der Internierung in Ellis Island vor den Pforten der Einwanderungsbehörde von New York heraus führte er nun einen Kampf gegen die Bürokratie. Er hatte nur ein chilenisches Durchreise-Visum, wollte aber in die USA, das von ihm ironisch beschriebene "Paradies", und ging sodann ins Exil nach Mexiko. Doch kehren wir noch einmal zurück zum Ausgangspunkt der Kisch-Erfolgssaga, dem unseligen Krieg gegen Serbien. Nachdem Kisch bereits am 2. August 1914 in das Prager Korps eingerückt war, erlebte er noch als Gemeiner der k.u.k. Armee in Serbien das Desaster der ersten Angriffe mit. Vor seinem Einsatz im Kriegspressequartier verfasste der Prager Schriftsteller und begnadete Reporter authentische Schilderungen von seinem Fronteinsatz, die er ab 1922 schrittweise veröffentlichte. In seinem Kriegstagebuch brachte er erschreckende Details über den Krieg zutage. Vielfach wurden die vorrückenden k.u.k. Truppen mit Munition beschossen, die aus heimischen Beständen stammte und noch kurz vor Kriegsbeginn an den Feind ausgeliefert worden war. Anders als in den Manövern, bei denen es darum gegangen war, den Erzherzögen, hochadeligen Gästen und Generalstäblern zu imponieren, versagten zahlreiche Berufsoffiziere im Kampfeinsatz.
Kriegsverbrechen
Hingegen bewährten sich die Reservisten, darunter eine beachtliche Anzahl jüdischer Offiziere, die ihre Intelligenz und ihre Fähigkeit zu strategischem Denken und zur Menschenführung zu nutzen wussten. Denn dort, wo demotivierte Berufsoffiziere kommandierten, passierte oft Furchtbares. Die Frustration der schlecht geführten Soldaten, die von den erbittert an ihrer Heimatfront kämpfenden Serben zurückgeschlagen wurden und erst im Herbst 1915 allmählich die Oberhand gewannen, entlud sich in Massakern und Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Neben einfachen Dorfbewohnern und vermeintlichen "Spionen" gerieten auch orthodoxe Popen in die Schusslinie. Mitunter hielten die marodierenden Militärs sogar Popen für Rabbiner, sodass zum Hass auf die Serben ("Serbien muss sterbien") auch der Antisemitismus und die xenophobe Haltung gegenüber einer fremden Kultur und Religion hinzutraten. In erschreckender Weise erinnern Fotografien von gehängten und hingerichteten Zivilisten an diese Kriegsgräuel.
Kisch fällt in allen Lebensphasen durch sein konsequentes Infragestellen von Befehlen und Verboten auf. Schon in Prager Jugendzeiten berichtete er als frecher Schüler über Maturaschwindel und das bei Deutschtümlern zunächst höchst unbeliebte Fußball-Spiel. Als junger Reporter, der für die "Bohemia" schrieb, wurde er mehrfach verhaftet und ignorierte sogar ein eigens vom k.k. Ministerium für Justiz für ihn erlassenes Besuchsverbot einer Vollzugseinrichtung. Den Erlass aus dem Jahr 1911, den ihm die Oberstaatsanwaltschaft Prag intimiert hatte, missachtete Kisch bewusst und veröffentlichte diesen in einem Feuilleton ("Die Abenteuer in Prag").
Die Reportagen in der Weimarer Republik erzielten höchste Auflagen. Die berührende Geschichte eines Tiroler Spanienkämpfers ("Drei Kühe") erschien auf Spanisch in Mexiko. Als Kisch aus dem Exil nach Prag 1946 zurückkehrte, war er ein gefeierter "antifaschistischer" Schriftsteller, dessen Werke fortan im Ost-Berliner Aufbau-Verlag erschienen. Angesichts seiner Popularität bei der linientreuen KP hinterließ Kisch nach seinem Tod im März 1948 (nach drei Schlaganfällen) ein Erbe von Skeptikern im Westen. Der auffrischende Kalte Krieg schadete der Rezeption seines vielseitigen Werks, das erst in den letzten Jahren wieder eine Renaissance erlebte.
Anders als Joseph Roth, der die versunkene Welt Kakaniens in herbstlichen Tönen anklingen ließ, fand sich bei Kisch stets auch der sozialkritische Ansatz, wenn auch nicht ohne Wehmut an die "Prager" Zeit vor dem großen Krieg. Wer seine Reportagen unbefangen liest, wird einen stets am Puls der Zeit fühlenden, erfrischend originell schreibenden Autor kennenlernen, dessen "linke" Gesinnung nur insofern durchdringt, als er auch einfachen und gestrandeten Menschen, wie Industrie- und Bergarbeitern, Obdachlosen und Gefängnisinsassen Augenmerk schenkt. Seine Reportagen aus fremden Landen sind hingegen von der Sehnsucht nach der Sensation und dem Aufdecken von Skurrilitäten, wie etwa einem Kloster für pensionierte Eunuchen unweit von Peking, gekennzeichnet. Welcher Autor sonst hat auf allen fünf Kontinenten recherchiert und publiziert?
Kunstform Reportage
Kisch begründete nicht nur die literarische Kunstform der Reportage, sondern betätigte sich in einem Genre, das im Österreich der Zweiten Republik etwa die beiden unermüdlichen, leider schon verstorbenen Journalisten Kurt Kuch und Alfred Worm bedienten, und das der umtriebige Günter Walraff in Deutschland bis dato zur Hochblüte getrieben hat, sei es als Undercover-Reporter in Großküchen oder Bergbaubetrieben. Alle sind sie letztlich auf eine gewisse Art Egon-Kisch-Erben.
Schon in der Affäre um den Generalstabschef Oberst Redl 1913 hatte sich der Reporter als Aufdecker betätigt. Da der Armeechef Conrad von Hötzendorf den Spion zum Selbstmord zwingen ließ, blieben damals bange Fragen offen. Gegenüber Kritikern hatte Hötzendorf allerdings stets höhnisch darauf verwiesen, dass die von Redl verratenen Aufmarschpläne gegen das Zarenreich längst überholt waren. Aufmerksame Beobachter hatten aber noch ganz andere Dimensionen der Spionage entdeckt, wie Flugaufklärung durch Fesselballons, ungebetene Manövergäste und eine überaktive diplomatische Vertretung. Mit diesen Methoden unterschied sich, abgesehen vom technischen Fortschritt moderner Abhöranlagen, die Stoßrichtung der Aufklärung und Abwehr vor einem Jahrhundert nicht maßgeblich von der heutigen Informationsbeschaffung.
Literaturhinweise:
Kisch-Werke sind in acht Bänden im Aufbau Verlag Berlin/Weimar erschienen, etwa "Der Mädchenhirt" (Roman) und Reportagen wie "Schreib das auf Kisch", "Der rasende Reporter", "Paradies Amerika", "Landung in Australien", "Die Abenteuer in Prag" oder "Nichts ist erregender als die Wahrheit."
Egon Erwin Kisch gilt als Begründer der Reportage als literarische Kunstform und des Aufdeckerjournalismus.
Kisch führte einen unermüdlichen Kampf gegen den Nationalsozialismus. Wikipedia / Public domain
Das Jahr 1915 brachte für Egon Erwin Kisch körperlichen Schmerz, psychische Beruhigung und ideelle Anerkennung mit sich. Nach seiner Verwundung an der südöstlichen Weltkriegs-Front, der Rückkehr in die Heimatstadt und der Beförderung zum Unteroffizier stand einem wehrhaften Weiterleben unter marxistischen Auspizien nichts mehr im Wege. Dem Bruder des "Presse"-Wirtschaftsredakteurs Paul Kisch sollten die militärische Ausbildung und sein Dienstgrad noch bei zahlreichen Scharmützeln nutzen, wenn auch nicht allzu viel Ruhm und Ehre bringen. In der jungen Ersten Republik kommandierte Egon, den seine greise Großtante versehentlich "Egmont" nannte (sie war glühende Goethe-Verehrerin) im Winter 1918/19 kurzzeitig die "Rote Garde" in Wien, mit der er bevorzugt Medien- und Militäreinrichtungen erstürmte, wenn er nicht gerade mit Werfels Hilfe eine bolschewistische Brandrede hielt.
Man stelle sich den wenig martialischen, aber schriftstellerisch hochbegabten, pausbäckigen "kleinen" Franz auf dem Deutschmeisterplatz vor, wie er im Schatten des Hansen’schen Weltausstellungshotels (heute "Kempinski") und der gegenüber liegenden Roßauerkaserne einen Trupp Rotgardisten gegen die besitzenden Klassen und die ehemaligen k.u.k. Offiziere aufhetzt - also genau genommen gegen sich und die in der Textilbranche tätigen Familien Werfel und Kisch höchstselbst. Ein klarer Kopf wie Arthur Schnitzler reagierte empört darauf, dass wohlhabende, spießbürgerliche Villenbewohner (in concreto: Mahler/Werfel in der Steinfeldgasse 4 auf der Hohen Warte) sich auf offener Straße oder im Salon als Reserve-Trotzkis gebärdeten.
Kampf gegen Hitler
Kisch war zwar kein Riese, aber sportlicher, mutiger und somit als Kämpfer glaubwürdiger als Werfel, wie seine sozialkritischen Reportagen aus Prager Zeiten zeigten. Unvergesslich wurde aber sein Dialog mit Paul Kisch, (den er später vergeblich dementierte) im Stiegenhaus der "Neuen Freien Presse". Egon: "Im Namen der Revolution fordere ich Dich ein letztes Mal auf, den Weg freizugeben." Paul: "Gut, ich weiche der Gewalt, aber ich sag’s der Mama in Prag!" Fazit - Egon "Erwin" (selbst erwählter Zweitvorname) Kisch zog mit der roten Horde ab.
Längerfristiges Ergebnis seiner Umtriebe war allerdings seine Ausweisung aus Deutsch-Österreich. Es folgten Jahre in der Weimarer Republik bis zu den verhängnisvollen Reichstagswahlen, dem Aufstieg der NSDAP und Hitlers Kanzlerschaft ab Februar 1933. In Berlin währte Kischs Kampf gegen den Diktator nur kurz, denn nach seiner Verhaftung im Gefolge des Reichstagsbrands schob ihn die deutsche Regierung nach Prag ab. Es folgten das australische Abenteuer (siehe S. 38) und 1935 ein Auftritt am Schriftstellerkongress in Paris.
Der Wortgewaltige wehrte sich weiterhin aus dem französischen Exil gegen Hitler, er schrieb einen offenen Brief an den Diktator und zeigte darin einige Widersprüchlichkeiten auf, wie der zum wahnwitzigen GröFAZ ("größten Feldherrn aller Zeiten") aufsteigende Gefreite zu seinem "Eisernen Kreuz" gekommen zu sein behauptet hatte. In der Tat existieren von dieser Episode an der Marne 1918 mehr als drei Versionen - und es erschien bereits zeitgenössischen Militärexperten der Reichswehr seltsam, dass der fast kriegsblinde EK-Träger Hitler als Meldegänger angeblich Heldentaten vollbracht hatte, ohne in all den Jahren befördert worden zu sein. Aber das Volk glaubte Hitler, nicht Kisch.
Doch dieser gab nicht auf und stand als über 50-Jähriger (geb. 29. 4. 1885) persönlich wieder auf den Barrikaden. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er 1937 gegen Franco aufseiten der Republikaner, auch hier vergeblich. Und schließlich erlebte er, als Frankreich Nazideutschland unterlag, seine transatlantisch-dramatische Flucht, mehr oder minder als Gefangener. Aus der Internierung in Ellis Island vor den Pforten der Einwanderungsbehörde von New York heraus führte er nun einen Kampf gegen die Bürokratie. Er hatte nur ein chilenisches Durchreise-Visum, wollte aber in die USA, das von ihm ironisch beschriebene "Paradies", und ging sodann ins Exil nach Mexiko. Doch kehren wir noch einmal zurück zum Ausgangspunkt der Kisch-Erfolgssaga, dem unseligen Krieg gegen Serbien. Nachdem Kisch bereits am 2. August 1914 in das Prager Korps eingerückt war, erlebte er noch als Gemeiner der k.u.k. Armee in Serbien das Desaster der ersten Angriffe mit. Vor seinem Einsatz im Kriegspressequartier verfasste der Prager Schriftsteller und begnadete Reporter authentische Schilderungen von seinem Fronteinsatz, die er ab 1922 schrittweise veröffentlichte. In seinem Kriegstagebuch brachte er erschreckende Details über den Krieg zutage. Vielfach wurden die vorrückenden k.u.k. Truppen mit Munition beschossen, die aus heimischen Beständen stammte und noch kurz vor Kriegsbeginn an den Feind ausgeliefert worden war. Anders als in den Manövern, bei denen es darum gegangen war, den Erzherzögen, hochadeligen Gästen und Generalstäblern zu imponieren, versagten zahlreiche Berufsoffiziere im Kampfeinsatz.
Kriegsverbrechen
Hingegen bewährten sich die Reservisten, darunter eine beachtliche Anzahl jüdischer Offiziere, die ihre Intelligenz und ihre Fähigkeit zu strategischem Denken und zur Menschenführung zu nutzen wussten. Denn dort, wo demotivierte Berufsoffiziere kommandierten, passierte oft Furchtbares. Die Frustration der schlecht geführten Soldaten, die von den erbittert an ihrer Heimatfront kämpfenden Serben zurückgeschlagen wurden und erst im Herbst 1915 allmählich die Oberhand gewannen, entlud sich in Massakern und Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Neben einfachen Dorfbewohnern und vermeintlichen "Spionen" gerieten auch orthodoxe Popen in die Schusslinie. Mitunter hielten die marodierenden Militärs sogar Popen für Rabbiner, sodass zum Hass auf die Serben ("Serbien muss sterbien") auch der Antisemitismus und die xenophobe Haltung gegenüber einer fremden Kultur und Religion hinzutraten. In erschreckender Weise erinnern Fotografien von gehängten und hingerichteten Zivilisten an diese Kriegsgräuel.
Kisch fällt in allen Lebensphasen durch sein konsequentes Infragestellen von Befehlen und Verboten auf. Schon in Prager Jugendzeiten berichtete er als frecher Schüler über Maturaschwindel und das bei Deutschtümlern zunächst höchst unbeliebte Fußball-Spiel. Als junger Reporter, der für die "Bohemia" schrieb, wurde er mehrfach verhaftet und ignorierte sogar ein eigens vom k.k. Ministerium für Justiz für ihn erlassenes Besuchsverbot einer Vollzugseinrichtung. Den Erlass aus dem Jahr 1911, den ihm die Oberstaatsanwaltschaft Prag intimiert hatte, missachtete Kisch bewusst und veröffentlichte diesen in einem Feuilleton ("Die Abenteuer in Prag").
Die Reportagen in der Weimarer Republik erzielten höchste Auflagen. Die berührende Geschichte eines Tiroler Spanienkämpfers ("Drei Kühe") erschien auf Spanisch in Mexiko. Als Kisch aus dem Exil nach Prag 1946 zurückkehrte, war er ein gefeierter "antifaschistischer" Schriftsteller, dessen Werke fortan im Ost-Berliner Aufbau-Verlag erschienen. Angesichts seiner Popularität bei der linientreuen KP hinterließ Kisch nach seinem Tod im März 1948 (nach drei Schlaganfällen) ein Erbe von Skeptikern im Westen. Der auffrischende Kalte Krieg schadete der Rezeption seines vielseitigen Werks, das erst in den letzten Jahren wieder eine Renaissance erlebte.
Anders als Joseph Roth, der die versunkene Welt Kakaniens in herbstlichen Tönen anklingen ließ, fand sich bei Kisch stets auch der sozialkritische Ansatz, wenn auch nicht ohne Wehmut an die "Prager" Zeit vor dem großen Krieg. Wer seine Reportagen unbefangen liest, wird einen stets am Puls der Zeit fühlenden, erfrischend originell schreibenden Autor kennenlernen, dessen "linke" Gesinnung nur insofern durchdringt, als er auch einfachen und gestrandeten Menschen, wie Industrie- und Bergarbeitern, Obdachlosen und Gefängnisinsassen Augenmerk schenkt. Seine Reportagen aus fremden Landen sind hingegen von der Sehnsucht nach der Sensation und dem Aufdecken von Skurrilitäten, wie etwa einem Kloster für pensionierte Eunuchen unweit von Peking, gekennzeichnet. Welcher Autor sonst hat auf allen fünf Kontinenten recherchiert und publiziert?
Kunstform Reportage
Kisch begründete nicht nur die literarische Kunstform der Reportage, sondern betätigte sich in einem Genre, das im Österreich der Zweiten Republik etwa die beiden unermüdlichen, leider schon verstorbenen Journalisten Kurt Kuch und Alfred Worm bedienten, und das der umtriebige Günter Walraff in Deutschland bis dato zur Hochblüte getrieben hat, sei es als Undercover-Reporter in Großküchen oder Bergbaubetrieben. Alle sind sie letztlich auf eine gewisse Art Egon-Kisch-Erben.
Schon in der Affäre um den Generalstabschef Oberst Redl 1913 hatte sich der Reporter als Aufdecker betätigt. Da der Armeechef Conrad von Hötzendorf den Spion zum Selbstmord zwingen ließ, blieben damals bange Fragen offen. Gegenüber Kritikern hatte Hötzendorf allerdings stets höhnisch darauf verwiesen, dass die von Redl verratenen Aufmarschpläne gegen das Zarenreich längst überholt waren. Aufmerksame Beobachter hatten aber noch ganz andere Dimensionen der Spionage entdeckt, wie Flugaufklärung durch Fesselballons, ungebetene Manövergäste und eine überaktive diplomatische Vertretung. Mit diesen Methoden unterschied sich, abgesehen vom technischen Fortschritt moderner Abhöranlagen, die Stoßrichtung der Aufklärung und Abwehr vor einem Jahrhundert nicht maßgeblich von der heutigen Informationsbeschaffung.
Literaturhinweise:
Kisch-Werke sind in acht Bänden im Aufbau Verlag Berlin/Weimar erschienen, etwa "Der Mädchenhirt" (Roman) und Reportagen wie "Schreib das auf Kisch", "Der rasende Reporter", "Paradies Amerika", "Landung in Australien", "Die Abenteuer in Prag" oder "Nichts ist erregender als die Wahrheit."
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Gerhard Strejcek
Olympier der Rechtsgeschichte
Wiener Zeitung, 05.07.2015
Rechtsgeschichte
Am 9. Juli wäre der heuer im Jänner verstorbene Rechtshistoriker, Universitätslehrer und Goethe-Verehrer Werner Ogris 80 Jahre alt geworden. - Eine Erinnerung.
Werner Ogris kam am 9. Juli 1935 in Wien in einem politisch unruhigen Jahr auf die Welt, in dem sich in Mitteleuropa nur mehr Diktaturen (mit Ausnahme der Schweiz) vorfanden.
Am Folgetag seiner Geburt verabschiedete der österreichische Bundestag als minder demokratischer Nachfolger des Nationalrats nach der ständisch-autoritären Maiverfassung ein neues Habsburgergesetz. Dieses Regulativ, mit dem das Gesetz zur Landesverweisung und Vermögenseinziehung des ehemals regierenden Hauses aus 1919 aufgehoben wurde, sah eine Teil-Restitution von Liegenschaften und Kunstwerken an die Habsburger, nicht aber deren Wiedereinsetzung oder sofortige Rückkehr an die Macht vor.
Die Bevölkerung nahm die Geste des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg, einem gebürtigen Adeligen, gelassen bis skeptisch auf. Begeisterung für die Annäherung konnten lediglich einige wenige Legitimisten, darunter Heimwehrchef Starhemberg, entfalten. Aber für den neuen Erdenbürger Werner Ogris hatte die Habsburg-Materie Symbolcharakter, denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Rechts- und Vollziehungssystem des ehemaligen Herrscherhauses sollte für seine Laufbahn und seinen Ruf als Rechtshistoriker eine gewichtige Rolle spielen.
Das Theresianische Gesetzbuch, die josefinischen Reformen, die Rolle des aufgeklärten jüdisch-stämmigen Freiherrn von Sonnenfels, des "Mannes ohne Vorurteil": All dies interessierte den Wissenschafter zeit seiner universitären Tätigkeit besonders - und so verbinden viele Fachgelehrte den Namen Ogris vor allem mit den Publikationen zur Ära des aufgeklärten Absolutismus einschließlich der Entwicklung des Berufsbeamtentums.
Werner Ogris kam zwar in Wien zur Welt, doch bald danach zog die Familie nach Wels, wo er Volksschule und Gymnasium besuchte. Noch heute findet sich in der Bezirkshaupt- und Statutarstadt ein Pharmaunternehmen desselben Namens. Nach erfolgreicher Matura in Wels und Jus-Studium in Wien gelang es dem jungen Studien-Assistenten von Prof. Hans Lentze (der seinerseits durch eine gelungene Monografie über die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein bekannt wurde) bereits Ende der 1950er Jahre, sich mit einer Studie zum mittelalterlichen Leibrentenvertrag für "Deutsches Recht" und "Verfassungsgeschichte" zu habilitieren.
Jüngster Ordinarius
Noch spektakulärer erschien Ogris’ Berufung an die neu gegründete Freie Universität Berlin im Jahr 1962, wo der erst 28-Jährige als jüngster rechtshistorischer Ordinarius des deutschen Sprachraums preußische Verfassungsgeschichte vortrug. Die Vorlesung sorgte für reges Interesse, auch die Medien der geteilten und gerade von Blockade und Einkesselung bedrohten Stadt nahmen den engagierten Dozenten wahr, der mit seiner wissenschaftlich aufgeschlossenen und rhetorisch überzeugenden Art auf Humboldts und Savignys Spuren wandelte und in schweren Zeiten sowjetischer Bedrohung der unbekümmerten "Berliner Schnauze" entgegen kam.
Vier Jahre später (1966) bot sich für den Österreicher, dessen Familienwurzeln in Kärnten lagen, eine Gelegenheit, die neu gegründete zweite Wiener Lehrkanzel für Rechtsgeschichte zu übernehmen. Von der Berufungskommission trotz seines jugendlichen Alters ausgewählt, bildete Ogris sodann mehrere Jahrzehnte lang ein Tandem mit dem deutschen Fachkollegen Rudolf Hoke (geb. 1929), der 1971 der Nachfolger Lentzes wurde. Während der hagere und stets gelassen wirkende, mit einem "fotografischen" Gedächtnis ausgestattete Theaterliebhaber Hoke die germanischen Volksrechte, die Kompilatoren und die Ideengeschichte forcierte, widmete sich der dynamisch auftretende, informationsgeladene Ogris unter anderem den Fachbereichen Privatrechtsentwicklung, Strafrechts- und Verfassungsgeschichte. Mit logistischer Hilfe des Staatsrechtslehrers und zeitweiligen Rektors Günther Winkler gab Ogris einen Gesetzeskommentar zum Personenstandsrecht heraus. Abwechselnd prüften Hoke und er sowie einige Praktiker in den dreiköpfigen Staatsprüfungskommissionen. Hier begegneten sie den charismatischen Professorinnen Charlotte Leitmaier und Inge Gampl, der ersten Dekanin der Fakultät. Ogris amtierte auch für zwei Jahre als Dekan, länger war er als Präses der Ersten Staatsprüfungskommission tätig. Der Reformdruck, die von der Praxis gefragten neuen Schwerpunkte im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und der nicht abreißende Studentenstrom verlangten nach einer Studienreform. Ogris war kein Modernisierungsgegner, sondern ein elastisch reagierender Wissenschaftsprofi, der das Beste aus der neue Situation und dem damit nur zwei Jahre zeitversetzt einhergehenden Umzug der Fakultät in den Glaspalast "Juridicum" in der Schottenbastei machte.
Einen Schwerpunkt von Ogris’ Arbeit bildeten neben einer Editions- und Rezensionstätigkeit für die Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte ("Germanistische Abteilung") zahllose Vorträge, Publikationen und die Lehre, darunter die beliebten Blockseminare außerhalb Wiens. Hier entfaltete der umfassend gebildete Goethe-Verehrer sein Talent, Studierende mit spannenden Themen aus der Rechtsgeschichte zu fesseln. Für rechtshistorisch interessierte Leser manifestieren Werke aus der Reihe "Tatort Rechtsgeschichte" bis heute die Gabe des "Olympiers" (so nannte man auch sein Vorbild Goethe), eine scheinbar trockene Materie mit kriminologischer und enzyklopädischer Energie aufzuladen und darzubringen.
Emeritierung 2003
Gleichgültig, ob die Reise ins Isonzotal, nach Nürnberg oder an den Bodensee ging - Ogris hatte stets eine Epochen überspannende und Fachgrenzen überschreitende Themenauswahl zu bieten, bei der auch seine Mitarbeiter und die Seminarteilnehmer fachlich gefordert wurden. So gelang es dem ab den späten 1970ern mehr und mehr in ein "Massenstudium" verstrickten, sportaffinen Vater zweier Söhne, eine breite und treue Anhängerschaft für das rechtshistorische Genre an die Universität zu binden. Man wird nicht übertreiben, wenn man Ogris als einen der großen Förderer dieses Faches ansieht.
Nach seiner Emeritierung 2003 forschte Ogris weiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und lehrte an der Universität Bratislava. Er erhielt zahlreiche wissenschaftliche Preise sowie mehrere Ehrendoktorate (u.a. Prag, Pécs und Pressburg).
Nach kurzer, schwerer Krankheit verschied Werner Ogris Mitte Jänner und hinterließ seine Frau, die Rechtsanwältin Eva Ogris, und die beiden akademisch gebildeten Söhne Michael und Martin, welch Letzterer in der regulativ-hoheitlichen Vollziehung des Verwaltungsrechts als Jurist tätig ist. Werner Ogris wird als ein begnadeter, akademischer Autor und Lehrer in Erinnerung bleiben, dem viele Freunde noch gerne persönlich zum runden Geburtstag gratuliert hätten.
Am 9. Juli wäre der heuer im Jänner verstorbene Rechtshistoriker, Universitätslehrer und Goethe-Verehrer Werner Ogris 80 Jahre alt geworden. - Eine Erinnerung.
Werner Ogris kam am 9. Juli 1935 in Wien in einem politisch unruhigen Jahr auf die Welt, in dem sich in Mitteleuropa nur mehr Diktaturen (mit Ausnahme der Schweiz) vorfanden.
Am Folgetag seiner Geburt verabschiedete der österreichische Bundestag als minder demokratischer Nachfolger des Nationalrats nach der ständisch-autoritären Maiverfassung ein neues Habsburgergesetz. Dieses Regulativ, mit dem das Gesetz zur Landesverweisung und Vermögenseinziehung des ehemals regierenden Hauses aus 1919 aufgehoben wurde, sah eine Teil-Restitution von Liegenschaften und Kunstwerken an die Habsburger, nicht aber deren Wiedereinsetzung oder sofortige Rückkehr an die Macht vor.
Die Bevölkerung nahm die Geste des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg, einem gebürtigen Adeligen, gelassen bis skeptisch auf. Begeisterung für die Annäherung konnten lediglich einige wenige Legitimisten, darunter Heimwehrchef Starhemberg, entfalten. Aber für den neuen Erdenbürger Werner Ogris hatte die Habsburg-Materie Symbolcharakter, denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Rechts- und Vollziehungssystem des ehemaligen Herrscherhauses sollte für seine Laufbahn und seinen Ruf als Rechtshistoriker eine gewichtige Rolle spielen.
Das Theresianische Gesetzbuch, die josefinischen Reformen, die Rolle des aufgeklärten jüdisch-stämmigen Freiherrn von Sonnenfels, des "Mannes ohne Vorurteil": All dies interessierte den Wissenschafter zeit seiner universitären Tätigkeit besonders - und so verbinden viele Fachgelehrte den Namen Ogris vor allem mit den Publikationen zur Ära des aufgeklärten Absolutismus einschließlich der Entwicklung des Berufsbeamtentums.
Werner Ogris kam zwar in Wien zur Welt, doch bald danach zog die Familie nach Wels, wo er Volksschule und Gymnasium besuchte. Noch heute findet sich in der Bezirkshaupt- und Statutarstadt ein Pharmaunternehmen desselben Namens. Nach erfolgreicher Matura in Wels und Jus-Studium in Wien gelang es dem jungen Studien-Assistenten von Prof. Hans Lentze (der seinerseits durch eine gelungene Monografie über die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein bekannt wurde) bereits Ende der 1950er Jahre, sich mit einer Studie zum mittelalterlichen Leibrentenvertrag für "Deutsches Recht" und "Verfassungsgeschichte" zu habilitieren.
Jüngster Ordinarius
Noch spektakulärer erschien Ogris’ Berufung an die neu gegründete Freie Universität Berlin im Jahr 1962, wo der erst 28-Jährige als jüngster rechtshistorischer Ordinarius des deutschen Sprachraums preußische Verfassungsgeschichte vortrug. Die Vorlesung sorgte für reges Interesse, auch die Medien der geteilten und gerade von Blockade und Einkesselung bedrohten Stadt nahmen den engagierten Dozenten wahr, der mit seiner wissenschaftlich aufgeschlossenen und rhetorisch überzeugenden Art auf Humboldts und Savignys Spuren wandelte und in schweren Zeiten sowjetischer Bedrohung der unbekümmerten "Berliner Schnauze" entgegen kam.
Vier Jahre später (1966) bot sich für den Österreicher, dessen Familienwurzeln in Kärnten lagen, eine Gelegenheit, die neu gegründete zweite Wiener Lehrkanzel für Rechtsgeschichte zu übernehmen. Von der Berufungskommission trotz seines jugendlichen Alters ausgewählt, bildete Ogris sodann mehrere Jahrzehnte lang ein Tandem mit dem deutschen Fachkollegen Rudolf Hoke (geb. 1929), der 1971 der Nachfolger Lentzes wurde. Während der hagere und stets gelassen wirkende, mit einem "fotografischen" Gedächtnis ausgestattete Theaterliebhaber Hoke die germanischen Volksrechte, die Kompilatoren und die Ideengeschichte forcierte, widmete sich der dynamisch auftretende, informationsgeladene Ogris unter anderem den Fachbereichen Privatrechtsentwicklung, Strafrechts- und Verfassungsgeschichte. Mit logistischer Hilfe des Staatsrechtslehrers und zeitweiligen Rektors Günther Winkler gab Ogris einen Gesetzeskommentar zum Personenstandsrecht heraus. Abwechselnd prüften Hoke und er sowie einige Praktiker in den dreiköpfigen Staatsprüfungskommissionen. Hier begegneten sie den charismatischen Professorinnen Charlotte Leitmaier und Inge Gampl, der ersten Dekanin der Fakultät. Ogris amtierte auch für zwei Jahre als Dekan, länger war er als Präses der Ersten Staatsprüfungskommission tätig. Der Reformdruck, die von der Praxis gefragten neuen Schwerpunkte im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und der nicht abreißende Studentenstrom verlangten nach einer Studienreform. Ogris war kein Modernisierungsgegner, sondern ein elastisch reagierender Wissenschaftsprofi, der das Beste aus der neue Situation und dem damit nur zwei Jahre zeitversetzt einhergehenden Umzug der Fakultät in den Glaspalast "Juridicum" in der Schottenbastei machte.
Einen Schwerpunkt von Ogris’ Arbeit bildeten neben einer Editions- und Rezensionstätigkeit für die Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte ("Germanistische Abteilung") zahllose Vorträge, Publikationen und die Lehre, darunter die beliebten Blockseminare außerhalb Wiens. Hier entfaltete der umfassend gebildete Goethe-Verehrer sein Talent, Studierende mit spannenden Themen aus der Rechtsgeschichte zu fesseln. Für rechtshistorisch interessierte Leser manifestieren Werke aus der Reihe "Tatort Rechtsgeschichte" bis heute die Gabe des "Olympiers" (so nannte man auch sein Vorbild Goethe), eine scheinbar trockene Materie mit kriminologischer und enzyklopädischer Energie aufzuladen und darzubringen.
Emeritierung 2003
Gleichgültig, ob die Reise ins Isonzotal, nach Nürnberg oder an den Bodensee ging - Ogris hatte stets eine Epochen überspannende und Fachgrenzen überschreitende Themenauswahl zu bieten, bei der auch seine Mitarbeiter und die Seminarteilnehmer fachlich gefordert wurden. So gelang es dem ab den späten 1970ern mehr und mehr in ein "Massenstudium" verstrickten, sportaffinen Vater zweier Söhne, eine breite und treue Anhängerschaft für das rechtshistorische Genre an die Universität zu binden. Man wird nicht übertreiben, wenn man Ogris als einen der großen Förderer dieses Faches ansieht.
Nach seiner Emeritierung 2003 forschte Ogris weiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und lehrte an der Universität Bratislava. Er erhielt zahlreiche wissenschaftliche Preise sowie mehrere Ehrendoktorate (u.a. Prag, Pécs und Pressburg).
Nach kurzer, schwerer Krankheit verschied Werner Ogris Mitte Jänner und hinterließ seine Frau, die Rechtsanwältin Eva Ogris, und die beiden akademisch gebildeten Söhne Michael und Martin, welch Letzterer in der regulativ-hoheitlichen Vollziehung des Verwaltungsrechts als Jurist tätig ist. Werner Ogris wird als ein begnadeter, akademischer Autor und Lehrer in Erinnerung bleiben, dem viele Freunde noch gerne persönlich zum runden Geburtstag gratuliert hätten.
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Gerhard Strejcek
Ein Opfer des Hasses
Wiener Zeitung, 10.04.2015
Abraham Lincoln
Vor 150 Jahren wurde Abraham Lincoln von einem politischen Fanatiker erschossen.
Als der Schauspieler John Wilkes Booth sich am 14. April 1865 dem US-Präsidenten Abraham Lincoln von hinten näherte und diesen in seiner Loge des Ford-Theaters von Washington meuchlings erschoss, tötete er eine politische Integrationsfigur. Ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, starb tags darauf jener Präsident, der bis heute (laut seinem Biografen Nagler) noch vor George Washington und Franklin D. Roosevelt im kollektiven Bewusstsein als "groß" gilt.
Der Mörder beendete mit Gewalt die zweite Amtszeit des Präsidenten, der gerade die größten Triumphe seines Lebens gefeiert hatte: die endgültige Niederlage seines Kriegsgegners im Süden und die Wiederwahl ins mächtigste Amt der USA. Der Hass darüber war das Hauptmotiv des Schützen, der als politischer Fanatiker galt. Er gehörte einer Verschwörergruppe an, die am selben Abend auch versuchte, den Außenminister Seward zu ermorden, was allerdings misslang. Seward wurde verletzt, überlebte aber den Anschlag. Mehrere Verschwörer wurden im Juni 1865 hingerichtet, Lincolns Mörder starb schon früher.
Lincoln und Kennedy
Es gibt Parallelen zwischen diesem Attentat und der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy 98 Jahre später. So wie ein Begleiter Lincolns durch einen abgeirrten Schuss zu Schaden kam, wurde 1963 in Dallas der texanische Gouverneur, der neben John F. Kennedy saß, verletzt. Und grauenhafterweise musste Frau Lincoln ihren tödlich getroffenen Gatten in ihren Schoß betten, genau wie Jackie Bouvier Kennedy später. Beide Attentäter wurden vor ihrem Prozess durch Dritte erschossen: Booth bei einem Schusswechsel in Virginia, Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald bei seiner Vorführung durch Jack Ruby.
Gerade weil beide Attentate die amerikanische Nation erschütterten, wurden die erstaunlichen Parallelen zwischen Lincoln und Kennedy immer wieder hervorgehoben: Genau hundert Jahre lagen zwischen dem Termin der ersten Wahl beider Präsidenten (Lincoln: 1860; Kennedy: 1960), beide Präsidenten hatten einen Nachfolger namens Johnson (1865: Andrew Johnson; 1963: Lyndon B. Johnson). Eine unheimliche Rolle spielten auch die Namen bzw. Marken Ford/Lincoln: Lincoln wurde im Ford-Theater erschossen - Kennedy in einer "Lincoln-Limousine" (die Automarke war 1917 von Leland zu Ehren Lincolns gegründet worden).
Allerdings: Was die Herkunft und das soziale Umfeld betraf, konnten die Unterschiede zwischen dem reichen, aus Boston stammenden Demokraten Kennedy und dem Aufsteiger und Republikaner Lincoln größer nicht sein. Am Anfang seines Lebenswegs schien es Lincoln weder bestimmt zu sein, Präsident der USA zu werden, noch überhaupt je in die Elite des damals erst drei Jahrzehnte alten Bundesstaates vorzudringen.
Der am 12. Februar 1809 geborene Lincoln stammte aus dem ländlichen Kentucky und wuchs in einer wenig begüterten Familie an der Grenze zur Wildnis (frontier) auf, da die Familie 1816 nach Indiana und 1830 nach Illinois zog. Er arbeitete als Holzfäller, Flößer, Knecht, Postmeister, Landvermesser und Kaufmannsgehilfe und schloss sich als 24-jähriger "Captain" dem Kampf gegen den Häuptling Black Hawk und die Sauk-Indianer an. Ein markanter Unterschied bestand zu den begüterten und kultivierten, meist gallophilen Großgrundbesitzer-Familien aus Virginia, welche so berühmte und umfassend gebildete Politiker wie George Washington oder James Madison hervorgebracht hatten. Lincolns Eltern stammten zwar auch aus dieser Gegend, waren aber Baptisten und entschieden sich für ein Farmerdasein im Westen.
MSohn Abraham war ein self-made-man, er studierte auf eigene Faust, meist fernab der Hörsäle, und schaffte es bis zum Anwalt in Springfield. Als Politiker begann er bei den Whigs, also den Liberalen, die im Jahr 1852 zerfielen. Lincoln wurde zunächst ins Repräsentantenhaus des Staates Illinois gewählt, wo sich erstmals seine Redegabe zeigte. Dann wechselte er als Abgeordneter in den Bundes-Kongress und wurde schließlich Senator. Seine unpopuläre Gegnerschaft zum Mexikokrieg des Generals und nachmaligen Präsidenten Zachary Taylor erregte Aufsehen.
Republikanischer Sieg
Ab 1854 schloss sich Lincoln den neu gegründeten Republikanern an. Sein Wahlkampf gegen Senator Stephen Douglas 1858 war legendär, doch die große Chance kam zwei Jahre später, im Mai 1860, als man ihn in Chicago zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl kürte.
Die Demokraten waren in der Frage der Abschaffung der Sklaverei und des Baumwoll-Außenhandels gespalten. So konnte Lincoln im Dezember 1860 knapp gegen zwei demokratische Kandidaten siegen, die zusammen deutlich mehr Stimmen als er erhalten hatten.
Als der erste republikanische Präsident sein Amt antrat, war dies das Signal für die Südstaaten zur Sezession. Neben der Sorge um die bundesweite Abschaffung der Sklaverei taten sich tiefgreifende Mentalitätsgräben auf. Der moderne und industrialisierte Norden stand gegen den feudalen Süden. Staaten wie Virginia verweigerten dem Bund die Treue und schlossen sich den "Aufständischen" (so Lincolns Diktion) an. Zum Präsidenten wählten die Konföderierten den Demokraten Jefferson Davis, mit den Schüssen auf Fort Sumter in South Carolina begannen am 21. April die Feindseligkeiten - der Sezessions- oder Bürgerkrieg hatte begonnen. Er sollte 620.000 Opfer fordern.
Mit der einigenden Figur Lincolns starb auch die Hoffnung auf eine rasche Versöhnung der tief verfeindeten Kriegsparteien. Die Mühen der Wiedervereinigung sollten noch Jahrzehnte andauern, der Rassismus und die Ressentiments trotz dreier Verfassungszusätze sogar noch ein Jahrhundert weiter schwelen.
Der Präsident hatte Anfang März 1865, eineinhalb Monate vor seiner Ermordung, die Angelobung und Amtseinführung gefeiert. Er hatte angekündigt, alles daran zu setzen, die Konföderierten Staaten von Amerika herbeizuführen und die rund zehn Millionen Bewohner der abtrünnigen Südstaaten zu guten und loyalen US-Bürgern zu machen. Dabei setzte er auf Versöhnung und rasche Wiedereingliederung, sodass sein Heimatstaat Kentucky bald nach dem Krieg wieder in seine Rechte als Unionsstaat eingesetzt werden konnte (länger dauerte es bei Texas). Der Sezessionskrieg hatte trotz seines enormen Blutzolls einen technologischen Schub gebracht; gepanzerte Schiffe ersetzten die hölzernen, U-Boote fungierten als Blockade-Brecher, am Feld taten unzählige Geschütze ihre grauenhafte Tötungsarbeit
Zunächst war der Krieg unentschieden verlaufen, den Generälen des Präsidenten, darunter McClellan, gelang es nicht, die südliche Hauptstadt Richmond (Virginia) einzunehmen. Lincoln warf ihnen Versagen vor und tauschte mehrfach das Kommando aus. Auf der Seite der Konföderierten agierten besser ausgebildete Offiziere, viele von ihnen waren in West Point ausgemustert worden, der besten militärischen Schule des Kontinents. An der Spitze der Südstaatenarmee stand der strategisch klug agierende General Robert Lee, der, aus Virginia stammend, selbst gegen die Sklaverei eingestellt war, aber aus Loyalität zu seiner Heimat gegen die Bundesarmee kämpfte.
Der Weg zur Einheit
Lange Zeit hatte Lincoln der motivierten und beweglichen Konföderierten-Armee nur wenig entgegenzusetzen. Die Situation änderte sich erst, nachdem die Westarmee der USA den ganzen Mississippi beherrschte und damit einen Keil zwischen die Südstaaten getrieben hatte. Im Osten markierte die verlustreiche Schlacht bei Gettysburg mit über 50.000 Gefallenen im Juni 1863 die Wende. Die Generäle Ulysses S. Grant, William Tecumseh Sherman und Philip Henry Sheridan verwüsteten hernach das Feindesland (der "totale Krieg" war somit keine Erfindung von Josef Goebbels). Schließlich musste der ressourcenmäßig unterlegene Gegner unter General Lee am 9. April 1865 bei Appomattox kapitulieren.
Lincolns Hauptanliegen, das seine ganze Amtszeit dominiert hatte, war es - unter Berufung auf den American spirit, die Leistungen der Gründerväter und die Kohäsionskraft der erfolgreichen US-Verfassung von 1787 -, die auseinanderdriftende Nation wieder zusammenzuführen.
Paradigmatisch waren seine feierlichen Worte anlässlich der Eröffnung des Kriegerdenkmals und Friedhofs in Gettysburg am 19. 11. 1863. Er ließ sich nicht zu einer siegesbewussten Tirade gegen die "Aufständischen" und abtrünnigen Sezessionisten hinreißen, sondern ehrte alle Gefallenen gleichermaßen. Es gibt unscharfe Fotografien davon, wie der Präsident auf einem Hügel steht und von Zuhörern umringt wird.
Dank der Nachwelt
Lincoln sagte wörtlich, dass sich die Nachwelt nicht mehr an diese Rede erinnern werde - das Gegenteil ist der Fall. Wie der Kieler Historiker Martin Kaufhold darlegt, dauerte die Hauptrede eines heute unbekannten Harvard-Professors mit Dutzenden klassischen Zitaten zwei Stunden und wurde begeistert aufgenommen, während Lincolns kurze Ansprache daneben fast unterging. Gleichwohl hatte er mit wenigen Worten die gesamte Gründungsgeschichte der Nation zitiert und die "Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk" eingemahnt (das Original klingt noch treffender).
Die Schlussworte sind in Goldlettern am Lincoln Memorial in Washington verewigt. Auch das große New Yorker Lincoln Center mit der Metropolitan Opera und anderen Theatern erinnert an den verehrten Präsidenten.
Als Resümee bleibt, dass sich kaum ein Präsident der Vereinigten Staaten so tief in das Bewusstsein einer ganzen Nation eingeprägt hat wie der 1809 geborene und am Karfreitag 1865 ermordete Abraham Lincoln, den seine Zeitgenossen mit Recht "Honest Abe" nannten und dem Walt Whitman das berühmte Gedicht "O Captain, my Captain" widmete.
Literatur:
Jörg Nagler: Abraham Lincoln: Der große Präsident. C. H. Beck, München 2013.
Christof Mauch (Hrsg): Die amerikanischen Präsidenten. 44 Portraits von George Washington bis Barack Obama, C.H. Beck, München 2013 (Beitrag von Jörg Nagler über Lincoln, S. 173-192).
Martin Kaufhold: Die großen Reden der Weltgeschichte. Marix Verlag, Wiesbaden 2009 (Gettysburg Address auf S. 111-117).
Udo Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Kröner, Stuttgart 2013.
Vor 150 Jahren wurde Abraham Lincoln von einem politischen Fanatiker erschossen.
Als der Schauspieler John Wilkes Booth sich am 14. April 1865 dem US-Präsidenten Abraham Lincoln von hinten näherte und diesen in seiner Loge des Ford-Theaters von Washington meuchlings erschoss, tötete er eine politische Integrationsfigur. Ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, starb tags darauf jener Präsident, der bis heute (laut seinem Biografen Nagler) noch vor George Washington und Franklin D. Roosevelt im kollektiven Bewusstsein als "groß" gilt.
Der Mörder beendete mit Gewalt die zweite Amtszeit des Präsidenten, der gerade die größten Triumphe seines Lebens gefeiert hatte: die endgültige Niederlage seines Kriegsgegners im Süden und die Wiederwahl ins mächtigste Amt der USA. Der Hass darüber war das Hauptmotiv des Schützen, der als politischer Fanatiker galt. Er gehörte einer Verschwörergruppe an, die am selben Abend auch versuchte, den Außenminister Seward zu ermorden, was allerdings misslang. Seward wurde verletzt, überlebte aber den Anschlag. Mehrere Verschwörer wurden im Juni 1865 hingerichtet, Lincolns Mörder starb schon früher.
Lincoln und Kennedy
Es gibt Parallelen zwischen diesem Attentat und der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy 98 Jahre später. So wie ein Begleiter Lincolns durch einen abgeirrten Schuss zu Schaden kam, wurde 1963 in Dallas der texanische Gouverneur, der neben John F. Kennedy saß, verletzt. Und grauenhafterweise musste Frau Lincoln ihren tödlich getroffenen Gatten in ihren Schoß betten, genau wie Jackie Bouvier Kennedy später. Beide Attentäter wurden vor ihrem Prozess durch Dritte erschossen: Booth bei einem Schusswechsel in Virginia, Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald bei seiner Vorführung durch Jack Ruby.
Gerade weil beide Attentate die amerikanische Nation erschütterten, wurden die erstaunlichen Parallelen zwischen Lincoln und Kennedy immer wieder hervorgehoben: Genau hundert Jahre lagen zwischen dem Termin der ersten Wahl beider Präsidenten (Lincoln: 1860; Kennedy: 1960), beide Präsidenten hatten einen Nachfolger namens Johnson (1865: Andrew Johnson; 1963: Lyndon B. Johnson). Eine unheimliche Rolle spielten auch die Namen bzw. Marken Ford/Lincoln: Lincoln wurde im Ford-Theater erschossen - Kennedy in einer "Lincoln-Limousine" (die Automarke war 1917 von Leland zu Ehren Lincolns gegründet worden).
Allerdings: Was die Herkunft und das soziale Umfeld betraf, konnten die Unterschiede zwischen dem reichen, aus Boston stammenden Demokraten Kennedy und dem Aufsteiger und Republikaner Lincoln größer nicht sein. Am Anfang seines Lebenswegs schien es Lincoln weder bestimmt zu sein, Präsident der USA zu werden, noch überhaupt je in die Elite des damals erst drei Jahrzehnte alten Bundesstaates vorzudringen.
Der am 12. Februar 1809 geborene Lincoln stammte aus dem ländlichen Kentucky und wuchs in einer wenig begüterten Familie an der Grenze zur Wildnis (frontier) auf, da die Familie 1816 nach Indiana und 1830 nach Illinois zog. Er arbeitete als Holzfäller, Flößer, Knecht, Postmeister, Landvermesser und Kaufmannsgehilfe und schloss sich als 24-jähriger "Captain" dem Kampf gegen den Häuptling Black Hawk und die Sauk-Indianer an. Ein markanter Unterschied bestand zu den begüterten und kultivierten, meist gallophilen Großgrundbesitzer-Familien aus Virginia, welche so berühmte und umfassend gebildete Politiker wie George Washington oder James Madison hervorgebracht hatten. Lincolns Eltern stammten zwar auch aus dieser Gegend, waren aber Baptisten und entschieden sich für ein Farmerdasein im Westen.
MSohn Abraham war ein self-made-man, er studierte auf eigene Faust, meist fernab der Hörsäle, und schaffte es bis zum Anwalt in Springfield. Als Politiker begann er bei den Whigs, also den Liberalen, die im Jahr 1852 zerfielen. Lincoln wurde zunächst ins Repräsentantenhaus des Staates Illinois gewählt, wo sich erstmals seine Redegabe zeigte. Dann wechselte er als Abgeordneter in den Bundes-Kongress und wurde schließlich Senator. Seine unpopuläre Gegnerschaft zum Mexikokrieg des Generals und nachmaligen Präsidenten Zachary Taylor erregte Aufsehen.
Republikanischer Sieg
Ab 1854 schloss sich Lincoln den neu gegründeten Republikanern an. Sein Wahlkampf gegen Senator Stephen Douglas 1858 war legendär, doch die große Chance kam zwei Jahre später, im Mai 1860, als man ihn in Chicago zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl kürte.
Die Demokraten waren in der Frage der Abschaffung der Sklaverei und des Baumwoll-Außenhandels gespalten. So konnte Lincoln im Dezember 1860 knapp gegen zwei demokratische Kandidaten siegen, die zusammen deutlich mehr Stimmen als er erhalten hatten.
Als der erste republikanische Präsident sein Amt antrat, war dies das Signal für die Südstaaten zur Sezession. Neben der Sorge um die bundesweite Abschaffung der Sklaverei taten sich tiefgreifende Mentalitätsgräben auf. Der moderne und industrialisierte Norden stand gegen den feudalen Süden. Staaten wie Virginia verweigerten dem Bund die Treue und schlossen sich den "Aufständischen" (so Lincolns Diktion) an. Zum Präsidenten wählten die Konföderierten den Demokraten Jefferson Davis, mit den Schüssen auf Fort Sumter in South Carolina begannen am 21. April die Feindseligkeiten - der Sezessions- oder Bürgerkrieg hatte begonnen. Er sollte 620.000 Opfer fordern.
Mit der einigenden Figur Lincolns starb auch die Hoffnung auf eine rasche Versöhnung der tief verfeindeten Kriegsparteien. Die Mühen der Wiedervereinigung sollten noch Jahrzehnte andauern, der Rassismus und die Ressentiments trotz dreier Verfassungszusätze sogar noch ein Jahrhundert weiter schwelen.
Der Präsident hatte Anfang März 1865, eineinhalb Monate vor seiner Ermordung, die Angelobung und Amtseinführung gefeiert. Er hatte angekündigt, alles daran zu setzen, die Konföderierten Staaten von Amerika herbeizuführen und die rund zehn Millionen Bewohner der abtrünnigen Südstaaten zu guten und loyalen US-Bürgern zu machen. Dabei setzte er auf Versöhnung und rasche Wiedereingliederung, sodass sein Heimatstaat Kentucky bald nach dem Krieg wieder in seine Rechte als Unionsstaat eingesetzt werden konnte (länger dauerte es bei Texas). Der Sezessionskrieg hatte trotz seines enormen Blutzolls einen technologischen Schub gebracht; gepanzerte Schiffe ersetzten die hölzernen, U-Boote fungierten als Blockade-Brecher, am Feld taten unzählige Geschütze ihre grauenhafte Tötungsarbeit
Zunächst war der Krieg unentschieden verlaufen, den Generälen des Präsidenten, darunter McClellan, gelang es nicht, die südliche Hauptstadt Richmond (Virginia) einzunehmen. Lincoln warf ihnen Versagen vor und tauschte mehrfach das Kommando aus. Auf der Seite der Konföderierten agierten besser ausgebildete Offiziere, viele von ihnen waren in West Point ausgemustert worden, der besten militärischen Schule des Kontinents. An der Spitze der Südstaatenarmee stand der strategisch klug agierende General Robert Lee, der, aus Virginia stammend, selbst gegen die Sklaverei eingestellt war, aber aus Loyalität zu seiner Heimat gegen die Bundesarmee kämpfte.
Der Weg zur Einheit
Lange Zeit hatte Lincoln der motivierten und beweglichen Konföderierten-Armee nur wenig entgegenzusetzen. Die Situation änderte sich erst, nachdem die Westarmee der USA den ganzen Mississippi beherrschte und damit einen Keil zwischen die Südstaaten getrieben hatte. Im Osten markierte die verlustreiche Schlacht bei Gettysburg mit über 50.000 Gefallenen im Juni 1863 die Wende. Die Generäle Ulysses S. Grant, William Tecumseh Sherman und Philip Henry Sheridan verwüsteten hernach das Feindesland (der "totale Krieg" war somit keine Erfindung von Josef Goebbels). Schließlich musste der ressourcenmäßig unterlegene Gegner unter General Lee am 9. April 1865 bei Appomattox kapitulieren.
Lincolns Hauptanliegen, das seine ganze Amtszeit dominiert hatte, war es - unter Berufung auf den American spirit, die Leistungen der Gründerväter und die Kohäsionskraft der erfolgreichen US-Verfassung von 1787 -, die auseinanderdriftende Nation wieder zusammenzuführen.
Paradigmatisch waren seine feierlichen Worte anlässlich der Eröffnung des Kriegerdenkmals und Friedhofs in Gettysburg am 19. 11. 1863. Er ließ sich nicht zu einer siegesbewussten Tirade gegen die "Aufständischen" und abtrünnigen Sezessionisten hinreißen, sondern ehrte alle Gefallenen gleichermaßen. Es gibt unscharfe Fotografien davon, wie der Präsident auf einem Hügel steht und von Zuhörern umringt wird.
Dank der Nachwelt
Lincoln sagte wörtlich, dass sich die Nachwelt nicht mehr an diese Rede erinnern werde - das Gegenteil ist der Fall. Wie der Kieler Historiker Martin Kaufhold darlegt, dauerte die Hauptrede eines heute unbekannten Harvard-Professors mit Dutzenden klassischen Zitaten zwei Stunden und wurde begeistert aufgenommen, während Lincolns kurze Ansprache daneben fast unterging. Gleichwohl hatte er mit wenigen Worten die gesamte Gründungsgeschichte der Nation zitiert und die "Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk" eingemahnt (das Original klingt noch treffender).
Die Schlussworte sind in Goldlettern am Lincoln Memorial in Washington verewigt. Auch das große New Yorker Lincoln Center mit der Metropolitan Opera und anderen Theatern erinnert an den verehrten Präsidenten.
Als Resümee bleibt, dass sich kaum ein Präsident der Vereinigten Staaten so tief in das Bewusstsein einer ganzen Nation eingeprägt hat wie der 1809 geborene und am Karfreitag 1865 ermordete Abraham Lincoln, den seine Zeitgenossen mit Recht "Honest Abe" nannten und dem Walt Whitman das berühmte Gedicht "O Captain, my Captain" widmete.
Literatur:
Jörg Nagler: Abraham Lincoln: Der große Präsident. C. H. Beck, München 2013.
Christof Mauch (Hrsg): Die amerikanischen Präsidenten. 44 Portraits von George Washington bis Barack Obama, C.H. Beck, München 2013 (Beitrag von Jörg Nagler über Lincoln, S. 173-192).
Martin Kaufhold: Die großen Reden der Weltgeschichte. Marix Verlag, Wiesbaden 2009 (Gettysburg Address auf S. 111-117).
Udo Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Kröner, Stuttgart 2013.
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Gerhard Strejcek
Klarheit und Nüchternheit
Wiener Zeitung, 20.03.2015
Adolf Julius Merkl
Vor 125 Jahren, am 23. März 1890, wurde in Wien Adolf Julius Merkl geboren, der später zu einem der profiliertesten und einflussreichsten Juristen Österreichs werden sollte.
Adolf Julius Merkl war - neben Hans Kelsen, dessen rechtstheoretischen Ansatz er konsequent verfocht - die schillerndste Figur des Verfassungsrechts der Ersten Republik. Merkl gelangen eigenständige wissenschaftliche Erfolge, wie die Stufenbaulehre, mit der er die rechtspositivistische Theorie maßgeblich weiter entwickelte.
Vor allem aber beherrschte er eine glasklare rechtsdogmatische Ausdrucksweise, erhellte rechtspolitische Hintergründe in einem unprätentiösen und neutralen Stil. Zu zahlreichen Fragen der Grundrechte, des Hochschul- und des Umweltrechts nahm er Stellung. Sein "Allgemeines Verwaltungsrecht" aus dem Jahr 1923 ist neben dem gleichnamigen Werk seines Kollegen Walter Antoniolli aus der Zweiten Republik das beste Lehrbuch auf diesem Gebiet. Er setzte sich für die freiwillige Abstinenz von Alkohol ein und war volksbildnerisch tätig.
Als enger Mitarbeiter des Staatskanzlers Karl Renner nahm er 1919/20 direkt Einfluss auf die verfassungspolitischen Gestaltungsprozesse. Und als Gelehrter prägte er die Gesetzgebung und die öffentlich-rechtliche Doktrin der 1920er und der 1960er Jahre. Was dazwischen passierte, wird noch Gegenstand dieses Artikels sein.
Schwere Jugendjahre
Obwohl Merkl ein eher mäßiger Schüler des Josefstädter Piaristengymnasiums war, das er sechs Klassen lang besuchte, maturierte er nach einem Schulwechsel planmäßig in Wiener Neustadt und absolvierte auch das Jus-Studium in Mindestzeit. Offenkundig ging es mit dem jungen Mann bergauf, nachdem er wieder mit seiner Familie vereint war, denn sein Vater Adolf Merkl sen. war in der k.u.k. Monarchie als Forstverwalter in Nasswald an der Rax tätig und konnte den Jugendlichen nicht beaufsichtigen.
Die Schulzeit über wohnte Merkl daher zunächst in der Neudeggergasse und dann in der Burggasse bei der Quartiergeberin Josefina Lindermann. In Latein hatte er ein "Nicht Genügend" im ersten Semester der sechsten Klasse ausgefasst, sein Fleiß wurde gerade noch als "hinreichend" eingestuft und das Betragen als "befriedigend", was allesamt keine Insignien eines Musterschülers waren. Über ein "genügend" brachte er es 1906 auch in Naturgeschichte nicht hinaus, obwohl er später das erste Naturschutzgesetz Niederösterreichs mitgestalten sollte.
Durch regelmäßige Besuche auf der Galerie des Abgeordnetenhauses im (damals) neuen Hansen-Gebäude am Ring schulte Merkl sein politisches Verständnis. Angesichts der Obstruktion, des Nationalitätenstreits und des vielfach inakzeptablen Benehmens der über 500 Abgeordneten, die so gut wie nie zugleich im Plenum saßen, entwickelte sich früh eine gewisse Skepsis gegenüber dem Funktionieren des Parlamentarismus. Sie zeigte sich 1923, als Merkl es in einer Monographie ablehnte, neben der Gesetzgebung auch die Verwaltung zu "demokratisieren".
Dennoch blieb der Verfassungsjurist zeitlebens der Demokratie verpflichtet, schroff und präzise reagierte er auf alle Usurpationen eines autoritären Regimes und auf den Anspruch des "absoluten" Staates. Es ist übrigens anzunehmen, dass er zwischen 1909 und 1913 des Öfteren mit einem akademisch gescheiterten Maler namens Adolf Hitler auf der Besuchergalerie saß, der bekanntlich ganz andere Schlüsse aus seinen Reichsrats-Erlebnissen zog. Merkl verurteilte als Staatsrechtslehrer die missbräuchliche Anwendung von Notverordnungen und des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes, er hatte keine Hemmungen, im Diktaturjahr 1935 einen kritischen Grundriss zur Verfassung des autoritären Ständestaats vorzulegen und er wandte sich gegen alle rechtswidrigen Eingriffe des Staates, auch in den demokratisch-rechtsstaatlichen Phasen 1918-34 und 1945 ff.
Merkls Einfluss auf das B-VG aus dem Jahr 1920 und dessen Fortentwicklung ist nicht zu unterschätzen. Entgegen landläufigen Meinungen nahm zwar Kelsen starken Einfluss auf die konkreten Formulierungen der Bundesverfassung, insbesondere die Ausformung der Verfassungsgerichtsbarkeit, doch musste der berühmte Staatsrechtslehrer in manchen Aspekten wie z.B. dem politisch besonders wichtigen Bundeswahlrecht dem Staatskanzler Renner und in föderalen Angelegenheiten dem Tiroler Michael Mayr und anderen Ländervertretern inhaltlich Tribut zollen.
Schüler und Lehrer
Das Verhältnis Kelsens zu Merkl gestaltete sich in der maßgeblichen Ära 1918-1920 sehr herzlich, trat doch der bescheidene Forstverwalterssohn stets in die zweite Reihe und bezeichnete sich als "Schüler" des nur achteinhalb Jahre älteren Professors.
Dabei hatte Merkl schon im Jahr 1919 einen sehr interessanten Band über die "Verfassung der Republik Deutschösterreich" ediert. Dieses Werk ist bis heute maßgeblich, um die republikanische Rumpfverfassung vom November 1918 und März 1919 zu verstehen. Zudem ging Merkl ebendort auch tiefschürfend auf Fragen der Staatslehre ein, wobei in diesem Werk Sympathien für eine "sozialdemokratische" Republik durchschimmern. Genau diese Bemerkungen sollte Merkl, der dem Ständestaat verdächtig, den Nazis verhasst und der zögerlichen Nachkriegsrepublik als "suspekt" erschien, noch bereuen. Aber um politische Befindlichkeiten kümmerte er sich nie.
Nach seinem Studium war Merkl von 1913 bis 1915 im Magistrat der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien tätig, dann im Parlament, wo er die kommunistischen Schussattacken des November 1918 hautnah miterlebte. Nach einer Zeit im Handelsministerium und im Bundeskanzleramt trat er 1930 die Nachfolge Kelsens an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Wiener Universität an. Kelsen war auf einer "gelben Liste" stehend, durch ein perfides Bundesverfassungsgesetz gemeinsam mit dem ebenfalls missliebigen Max Layer aus dem VfGH eliminiert worden. Angewidert verließ er auch die Wiener Universität, an der sich immer mehr antisemitische Tendenzen in der Studentenschaft und im Lehrkörper bemerkbar machten.
Vertreibung des Rechts
Die schale Versprechung Renners, dass Kelsen, der einen Ruf nach Köln annahm "triumphal zurückkehren" würde, erfüllte sich nie. Vielmehr musste Kelsen nach Inkrafttreten des NS-Gesetzes über den "Schutz des Berufsbeamtentums" wegen seiner jüdischen Abstammung (er war 1907 katholisch getauft worden, konvertierte dann zur evangelischen Konfession) Köln verlassen und wandte sich nach Genf und Prag, wo er ebenfalls 1938 von Antisemiten weggemobbt wurde.
Auch am Wiener Institut machten sich ab 1935 bereits dem NS-System "aufgeschlossene" Kollegen wie Hans Frisch und Helfried Pfeiffer bemerkbar. Lediglich der von Kelsen geförderte Assistent Karl Braunias, ein vielsprachiger und akribischer Forscher, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Diplomat tätig war, schien der Republik verpflichtet zu bleiben.
Anders als Kelsen war Merkl nie Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, er wurde er auch nicht rassisch verfolgt, aber er zählte doch zu jenen den braunen Machthabern missliebigen Universitätslehrern, die noch im Jahr 1938 pensioniert wurden, obwohl er damals erst 49 Jahre alt war.
Die "Pensionierung"
In biografischen Lexika steht meist, dass Merkl "von 1920 bis 1965 an der Universität Wien lehrte". Das entspricht nicht den Tatsachen, denn nach seiner "Pensionierung" 1938 gelang es Merkl, der zunächst als Fürsprecher in Finanzangelegenheiten tätig war, nur dank mehreren Interventionen von Rechtsphilosophen und Kollegen, eine "unpolitische" Lehr-Tätigkeit an der Universität Tübingen aufzunehmen. Dort war ihm jegliche Bezugnahme auf politische oder staatsrechtlich-aktuelle Fragen untersagt.
Aber nicht genug damit, verzögerte die österreichische Unterrichtsverwaltung unter dem VP-Minister und CV-er Felix Hurdes und dessen treuem Vollstrecker Sektionschef Dr Otto Skrbensky nach 1945 die Rückberufung politisch "verdächtiger", soll heißen: womöglich nicht konservativ genug eingestellter Professoren nach Wien.
Mit Kelsen, der via Wellesley College und Harvard nach Berkeley (Cal/USA) gegangen war, wurde erst gar nicht verhandelt, Merkl hingegen wurde längere Zeit auf Weisung von Skrbensky hingehalten, ehe er wieder in Wien lehren durfte.
Als traurige Fußnote bleibt hier zu erwähnen, dass nahezu gleichzeitig mit dem mutigen Demokraten Merkl auch die Rehabilitierung des NS-Kollegen Pfeiffer stattfand, der zunächst Lehrverbot hatte, dann aber schrittweise wieder Terrain erlangte, "deutsches Verwaltungsrecht" las (ein an der Universität Wien nicht geprüftes und nach 1945 irrelevantes Fach), ehe er das goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich und ein Nationalratsmandat für den VdU erlangte.
Wer der Meinung sein sollte, dass sich Pfeiffer vom opportunen Nazi zu einem republikstreuen Gelehrten gewandelt hätte, kann das Gegenteil davon in einer "Eckartschrift" der Fünfzigerjahre nachlesen, in der er jenen Staat, der den braunen Professor so geschmeidig wieder integrierte, diskreditiert, dafür aber der Hitler-"Volksbefragung" vom April 1938 Fairness und Rechtskonformität attestiert.
Ehrenvolles Alter
Adolf Julius Merkl, der auch als älterer Gelehrter eine sportliche und bescheidene Erscheinung blieb, zog mit seiner Gattin in ein winziges Haus in der Döblinger Eroicagase gleich beim Heiligenstädter Pfarrplatz, wo posthum eine Gedenktafel angebracht wurde. Seine Ehefrau kam bei einem Autounfall ums Leben, Merkl selbst überlebte seine Emeritierung 1965 noch um 5 Jahre, ehe er im Jahr 1970 hochbetagt und von vielen Fachkollegen respektiert, drei Jahre vor seinem Mentor Kelsen, verstarb. Lange Zeit stand er trotz seiner wissenschaftlichen Leistungen im Schatten des Lehrers. Als zum diesjährigen Neujahrskonzert im Hof der Universität Wien Ballett getanzt wurde, geriet Merkls Gedenktafel im Arkadenhof zufällig einige Sekunden in den Fokus der Kamera. Aber das wird kaum jemand bemerkt haben.
Literatur:
Gerhard Strejcek (Hrsg): Gelebtes Recht. 31 Juristenbiografien. Österreichische Verlagsgesellschaft, Wien 2012;
Gerhard Strejcek: Erlerntes Recht. Zur Ausbildung von Juristinnen und Juristen an der Universität Wien 1365-2015, New Academic Press 2015.
Herbert Schambeck: Adolf Merkl. Leben und Wirken, Duncker & Umblot, Berlin 1994.
Roman und Hans Pfefferle: "Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft an der Universität Wien 1944 und in der Nachkriegszeit" V&R unipress , Göttingen 2014.
Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Hauptkatalog des k.k. Gymnasiums Wien VIII heute Bundesgymnasium Wien VIII - Piaristengymnasium, danke ich Frau OStR iR Dr Brigitte Stemberger.
Vor 125 Jahren, am 23. März 1890, wurde in Wien Adolf Julius Merkl geboren, der später zu einem der profiliertesten und einflussreichsten Juristen Österreichs werden sollte.
Adolf Julius Merkl war - neben Hans Kelsen, dessen rechtstheoretischen Ansatz er konsequent verfocht - die schillerndste Figur des Verfassungsrechts der Ersten Republik. Merkl gelangen eigenständige wissenschaftliche Erfolge, wie die Stufenbaulehre, mit der er die rechtspositivistische Theorie maßgeblich weiter entwickelte.
Vor allem aber beherrschte er eine glasklare rechtsdogmatische Ausdrucksweise, erhellte rechtspolitische Hintergründe in einem unprätentiösen und neutralen Stil. Zu zahlreichen Fragen der Grundrechte, des Hochschul- und des Umweltrechts nahm er Stellung. Sein "Allgemeines Verwaltungsrecht" aus dem Jahr 1923 ist neben dem gleichnamigen Werk seines Kollegen Walter Antoniolli aus der Zweiten Republik das beste Lehrbuch auf diesem Gebiet. Er setzte sich für die freiwillige Abstinenz von Alkohol ein und war volksbildnerisch tätig.
Als enger Mitarbeiter des Staatskanzlers Karl Renner nahm er 1919/20 direkt Einfluss auf die verfassungspolitischen Gestaltungsprozesse. Und als Gelehrter prägte er die Gesetzgebung und die öffentlich-rechtliche Doktrin der 1920er und der 1960er Jahre. Was dazwischen passierte, wird noch Gegenstand dieses Artikels sein.
Schwere Jugendjahre
Obwohl Merkl ein eher mäßiger Schüler des Josefstädter Piaristengymnasiums war, das er sechs Klassen lang besuchte, maturierte er nach einem Schulwechsel planmäßig in Wiener Neustadt und absolvierte auch das Jus-Studium in Mindestzeit. Offenkundig ging es mit dem jungen Mann bergauf, nachdem er wieder mit seiner Familie vereint war, denn sein Vater Adolf Merkl sen. war in der k.u.k. Monarchie als Forstverwalter in Nasswald an der Rax tätig und konnte den Jugendlichen nicht beaufsichtigen.
Die Schulzeit über wohnte Merkl daher zunächst in der Neudeggergasse und dann in der Burggasse bei der Quartiergeberin Josefina Lindermann. In Latein hatte er ein "Nicht Genügend" im ersten Semester der sechsten Klasse ausgefasst, sein Fleiß wurde gerade noch als "hinreichend" eingestuft und das Betragen als "befriedigend", was allesamt keine Insignien eines Musterschülers waren. Über ein "genügend" brachte er es 1906 auch in Naturgeschichte nicht hinaus, obwohl er später das erste Naturschutzgesetz Niederösterreichs mitgestalten sollte.
Durch regelmäßige Besuche auf der Galerie des Abgeordnetenhauses im (damals) neuen Hansen-Gebäude am Ring schulte Merkl sein politisches Verständnis. Angesichts der Obstruktion, des Nationalitätenstreits und des vielfach inakzeptablen Benehmens der über 500 Abgeordneten, die so gut wie nie zugleich im Plenum saßen, entwickelte sich früh eine gewisse Skepsis gegenüber dem Funktionieren des Parlamentarismus. Sie zeigte sich 1923, als Merkl es in einer Monographie ablehnte, neben der Gesetzgebung auch die Verwaltung zu "demokratisieren".
Dennoch blieb der Verfassungsjurist zeitlebens der Demokratie verpflichtet, schroff und präzise reagierte er auf alle Usurpationen eines autoritären Regimes und auf den Anspruch des "absoluten" Staates. Es ist übrigens anzunehmen, dass er zwischen 1909 und 1913 des Öfteren mit einem akademisch gescheiterten Maler namens Adolf Hitler auf der Besuchergalerie saß, der bekanntlich ganz andere Schlüsse aus seinen Reichsrats-Erlebnissen zog. Merkl verurteilte als Staatsrechtslehrer die missbräuchliche Anwendung von Notverordnungen und des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes, er hatte keine Hemmungen, im Diktaturjahr 1935 einen kritischen Grundriss zur Verfassung des autoritären Ständestaats vorzulegen und er wandte sich gegen alle rechtswidrigen Eingriffe des Staates, auch in den demokratisch-rechtsstaatlichen Phasen 1918-34 und 1945 ff.
Merkls Einfluss auf das B-VG aus dem Jahr 1920 und dessen Fortentwicklung ist nicht zu unterschätzen. Entgegen landläufigen Meinungen nahm zwar Kelsen starken Einfluss auf die konkreten Formulierungen der Bundesverfassung, insbesondere die Ausformung der Verfassungsgerichtsbarkeit, doch musste der berühmte Staatsrechtslehrer in manchen Aspekten wie z.B. dem politisch besonders wichtigen Bundeswahlrecht dem Staatskanzler Renner und in föderalen Angelegenheiten dem Tiroler Michael Mayr und anderen Ländervertretern inhaltlich Tribut zollen.
Schüler und Lehrer
Das Verhältnis Kelsens zu Merkl gestaltete sich in der maßgeblichen Ära 1918-1920 sehr herzlich, trat doch der bescheidene Forstverwalterssohn stets in die zweite Reihe und bezeichnete sich als "Schüler" des nur achteinhalb Jahre älteren Professors.
Dabei hatte Merkl schon im Jahr 1919 einen sehr interessanten Band über die "Verfassung der Republik Deutschösterreich" ediert. Dieses Werk ist bis heute maßgeblich, um die republikanische Rumpfverfassung vom November 1918 und März 1919 zu verstehen. Zudem ging Merkl ebendort auch tiefschürfend auf Fragen der Staatslehre ein, wobei in diesem Werk Sympathien für eine "sozialdemokratische" Republik durchschimmern. Genau diese Bemerkungen sollte Merkl, der dem Ständestaat verdächtig, den Nazis verhasst und der zögerlichen Nachkriegsrepublik als "suspekt" erschien, noch bereuen. Aber um politische Befindlichkeiten kümmerte er sich nie.
Nach seinem Studium war Merkl von 1913 bis 1915 im Magistrat der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien tätig, dann im Parlament, wo er die kommunistischen Schussattacken des November 1918 hautnah miterlebte. Nach einer Zeit im Handelsministerium und im Bundeskanzleramt trat er 1930 die Nachfolge Kelsens an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Wiener Universität an. Kelsen war auf einer "gelben Liste" stehend, durch ein perfides Bundesverfassungsgesetz gemeinsam mit dem ebenfalls missliebigen Max Layer aus dem VfGH eliminiert worden. Angewidert verließ er auch die Wiener Universität, an der sich immer mehr antisemitische Tendenzen in der Studentenschaft und im Lehrkörper bemerkbar machten.
Vertreibung des Rechts
Die schale Versprechung Renners, dass Kelsen, der einen Ruf nach Köln annahm "triumphal zurückkehren" würde, erfüllte sich nie. Vielmehr musste Kelsen nach Inkrafttreten des NS-Gesetzes über den "Schutz des Berufsbeamtentums" wegen seiner jüdischen Abstammung (er war 1907 katholisch getauft worden, konvertierte dann zur evangelischen Konfession) Köln verlassen und wandte sich nach Genf und Prag, wo er ebenfalls 1938 von Antisemiten weggemobbt wurde.
Auch am Wiener Institut machten sich ab 1935 bereits dem NS-System "aufgeschlossene" Kollegen wie Hans Frisch und Helfried Pfeiffer bemerkbar. Lediglich der von Kelsen geförderte Assistent Karl Braunias, ein vielsprachiger und akribischer Forscher, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Diplomat tätig war, schien der Republik verpflichtet zu bleiben.
Anders als Kelsen war Merkl nie Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, er wurde er auch nicht rassisch verfolgt, aber er zählte doch zu jenen den braunen Machthabern missliebigen Universitätslehrern, die noch im Jahr 1938 pensioniert wurden, obwohl er damals erst 49 Jahre alt war.
Die "Pensionierung"
In biografischen Lexika steht meist, dass Merkl "von 1920 bis 1965 an der Universität Wien lehrte". Das entspricht nicht den Tatsachen, denn nach seiner "Pensionierung" 1938 gelang es Merkl, der zunächst als Fürsprecher in Finanzangelegenheiten tätig war, nur dank mehreren Interventionen von Rechtsphilosophen und Kollegen, eine "unpolitische" Lehr-Tätigkeit an der Universität Tübingen aufzunehmen. Dort war ihm jegliche Bezugnahme auf politische oder staatsrechtlich-aktuelle Fragen untersagt.
Aber nicht genug damit, verzögerte die österreichische Unterrichtsverwaltung unter dem VP-Minister und CV-er Felix Hurdes und dessen treuem Vollstrecker Sektionschef Dr Otto Skrbensky nach 1945 die Rückberufung politisch "verdächtiger", soll heißen: womöglich nicht konservativ genug eingestellter Professoren nach Wien.
Mit Kelsen, der via Wellesley College und Harvard nach Berkeley (Cal/USA) gegangen war, wurde erst gar nicht verhandelt, Merkl hingegen wurde längere Zeit auf Weisung von Skrbensky hingehalten, ehe er wieder in Wien lehren durfte.
Als traurige Fußnote bleibt hier zu erwähnen, dass nahezu gleichzeitig mit dem mutigen Demokraten Merkl auch die Rehabilitierung des NS-Kollegen Pfeiffer stattfand, der zunächst Lehrverbot hatte, dann aber schrittweise wieder Terrain erlangte, "deutsches Verwaltungsrecht" las (ein an der Universität Wien nicht geprüftes und nach 1945 irrelevantes Fach), ehe er das goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich und ein Nationalratsmandat für den VdU erlangte.
Wer der Meinung sein sollte, dass sich Pfeiffer vom opportunen Nazi zu einem republikstreuen Gelehrten gewandelt hätte, kann das Gegenteil davon in einer "Eckartschrift" der Fünfzigerjahre nachlesen, in der er jenen Staat, der den braunen Professor so geschmeidig wieder integrierte, diskreditiert, dafür aber der Hitler-"Volksbefragung" vom April 1938 Fairness und Rechtskonformität attestiert.
Ehrenvolles Alter
Adolf Julius Merkl, der auch als älterer Gelehrter eine sportliche und bescheidene Erscheinung blieb, zog mit seiner Gattin in ein winziges Haus in der Döblinger Eroicagase gleich beim Heiligenstädter Pfarrplatz, wo posthum eine Gedenktafel angebracht wurde. Seine Ehefrau kam bei einem Autounfall ums Leben, Merkl selbst überlebte seine Emeritierung 1965 noch um 5 Jahre, ehe er im Jahr 1970 hochbetagt und von vielen Fachkollegen respektiert, drei Jahre vor seinem Mentor Kelsen, verstarb. Lange Zeit stand er trotz seiner wissenschaftlichen Leistungen im Schatten des Lehrers. Als zum diesjährigen Neujahrskonzert im Hof der Universität Wien Ballett getanzt wurde, geriet Merkls Gedenktafel im Arkadenhof zufällig einige Sekunden in den Fokus der Kamera. Aber das wird kaum jemand bemerkt haben.
Literatur:
Gerhard Strejcek (Hrsg): Gelebtes Recht. 31 Juristenbiografien. Österreichische Verlagsgesellschaft, Wien 2012;
Gerhard Strejcek: Erlerntes Recht. Zur Ausbildung von Juristinnen und Juristen an der Universität Wien 1365-2015, New Academic Press 2015.
Herbert Schambeck: Adolf Merkl. Leben und Wirken, Duncker & Umblot, Berlin 1994.
Roman und Hans Pfefferle: "Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft an der Universität Wien 1944 und in der Nachkriegszeit" V&R unipress , Göttingen 2014.
Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Hauptkatalog des k.k. Gymnasiums Wien VIII heute Bundesgymnasium Wien VIII - Piaristengymnasium, danke ich Frau OStR iR Dr Brigitte Stemberger.
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Gerhard Strejcek
"Charity-Boom" in der Cottage
Wiener Zeitung, 06.03.2015
Um die Not, die sich im zweiten Kriegsjahr 1915 allerorten zu zeigen begann, etwas zu lindern, wurden in Wien allerlei Opfermaßnahmen, Spendenaktionen und Wohltätigkeits-Veranstaltungen ersonnen.
Vor hundert Jahren ging der Erste Weltkrieg nach dem serbischen Desaster, dem Neutralitätsbruch in Belgien und dem Steckenbleiben der deutschen Truppen im Westen, den russischen Eroberungen und Bedrohungen in Galizien, sowie den ersten zaghaften Erfolgen der Mittelmächte im Osten in sein zweites Jahr. Die Daheimgebliebenen wollten helfen und erdachten neue Maßnahmen, mit denen Geld für die Opfer, darunter bereits zahlreiche Kriegsblinde und Invalide, gesammelt werden könnte. Volksbildner, Sozialdemokraten, kirchennahe Einrichtungen und Frauen aus dem bürgerlichen Milieu wetteiferten um die besten Ideen zwecks Soforthilfe für Flüchtlinge und Verwundete.
In vielen Privathäusern wurden Front-Offiziere, unter denen es im Ersten Weltkrieg viele Verwundete und Gefallene gab, einquartiert und umhegt. Die Gattin des Wiener Bürgermeisters, Bertha Weiskirchner, trat ebenso in den Vordergrund wie Frau Bienerth-Schmerling, deren Ehemann zeitweise Ministerpräsident war, dazu kamen aus dem Indus-triellenmilieu Frau Jenny Mautner und die Gattin des Ophtalmologen Professor Bergmeister, die beide ein künstleraffines Haus führten und einen regelrechten Charity-Boom in der Cottage und in Pötzleinsdorf auslösten.
Notspitäler
Zu den zivilen Aktivitäten, in denen vorwiegend Frauen das Sagen hatten, zählten auch Suppenküchen, Ausspeisungen und Straßen-Sammlungen. Aber auch die Errichtung und der Betrieb von Notspitälern war, sieht man von den mehrheitlich männlichen Ärzten ab, überwiegend in weiblicher Hand, so etwa im Hilfsspital des Burgtheaters im roten Hof, wo sich Hedwig Bleibtreu nützlich machte. Das Künstlerhaus und das Sezessionsgebäude standen für Lazarettzwecke zur Verfügung, im Wiedner Spital operierte der Chirurg Julius Schnitzler, Arthurs Bruder, pausenlos.
DBesonderes Augenmerk aber gewannen kulturelle Veranstaltungen. Die Mitwirkung von Prominenten sollte das Spendenaufkommen erhöhen und so wandte man sich an jene populären Autoren, die nicht im Kriegspressequartier ihren Dienst versahen und für Lesungen verfügbar waren. Arthur Schnitzler, der seinen Pazifismus nie verleugnet hatte, stand im März 1915 für mehrere "Vorlesungen" zur Verfügung. Da mehrere Arzt-Kollegen noch im reifen Alter zum Front- und Lazarettdienst einberufen worden waren, machte Schnitzler (er war 52 Jahre alt) sich beträchtliche Sorgen, sein künstlerisches Schaffen womöglich aufgeben zu müssen.
Während Olga, seine Gattin, bei mehreren Veranstaltungen sang - sie war ausgebildete Opernsängerin -, bot er Frau Bergmeister seine Mithilfe bei "Charities" an. Auch zu den Wiener Volksbildungseinrichtungen dürfte ein gutes Verhältnis bestanden haben, obwohl Schnitzler zu langährig aktiven Vortragenden keinen engeren Kontakt hatte. Doch bot ihm dieser Rahmen die Möglichkeit, als erklärter Kriegsgegner, der sich dem Hurrapatriotismus nie anschloss, einen Beitrag zu den Wohltätigkeitsaktivitäten zu leisten.
"Für die im Feld Erblindeten" und die Versorgung der Kriegswitwen las Schnitzler zweimal in Volksbildungseinrichtungen der Stadt Wien sowie einmal im Konzerthaus, wo naturgemäß der größte Andrang herrschte. Diese Lesung fand am 30. März 1915 statt. Schnitzler notierte in seinem Tagebuch in gewohnt akribischer Art, dass er aus der Erzählung "Der blinde Geronimo und sein Bruder", aus dem "Schleier der Beatrice" und aus dem kurzen Prosawerk "Der letzte Weg" gelesen hatte.
Gemeinsam mit seinem Nachbarn, dem Porträtmaler und Fotografen Professor Ferdinand Schmutzer, der auch viele Habsburger dargestellt hatte, gab Schnitzler überdies eine Sonderausgabe des "Geronimo" im Österreichischen Verlag heraus. Sein deutscher Verleger Samuel Fischer hatte erst im Vorjahr einen Erzählband editiert, der unter anderem auch diese Erzählung enthielt. Niemand stieß sich daran, dass ausgerechnet im Jahr des italienischen Kriegseintritts gegen die k.u.k. Monarchie, der sich bereits im Frühjahr abzeichnete, ein italienischer Sänger der "Held" der illustrierten Ausgabe war.
Schnitzlers "Geronimo"
Die Pointe dieser Erzählung ist ein besonders perfider Akt eines Spenders, der dem blinden Sänger Geronimo weismacht, er habe seinem Bruder ein goldenes 20-Frankenstück gegeben, was nicht den Tatsachen entspricht. Aber das Vertrauen zwischen den beiden Brüdern wird durch diesen bösartig gestifteten Zwist zerstört, was umso schwerer wiegt, da der Bruder auf Grund einer Kindheits-Torheit die Verantwortung für die Erblindung Geronimos trägt. Man hätte diese Geschichte bildlich auch auf die Kriegsparteien übertragen können, aber nur wenigen Bürgern war bewusst, das sie selbst gerade Opfer bösartiger Täuschungen wurden.
Einer jener Autoren, die den Patriotismus chauvinistisch-nationalistischer Prägung mehr schürte als ihn zu kalmieren, war der 1848 in Marburg (damals Unter-Steiermark, seit 1919 Slowenien) geborene Dichter und Priester Ottokar Kernstock. Nach einem abgebrochenen Jus-Studium in Graz hatte er sich der Theologie verschrieben und war zunächst ins Kloster Vorau eingetreten. Schon um die Jahrhundertwende war der langjährig in der Festenburg am Wechsel (St. Lorenzen/Stmk, zugleich sein Todesort 1928) wirkende Priester mit "alldeutschen Weisen" an die Öffentlichkeit getreten. Die Wiener Stadtverwaltung unter dem christlich-sozialen Bürgermeister Richard Weiskirchner bediente sich seiner Verse in unkritischer Manier wie übrigens später auch die NSDAP.
Am 5. März 1915 stellte die Stadtverwaltung am Schwarzenbergplatz einen lebensgroßen, hölzernen Ritter auf, in den die Wiener nach Entrichtung einer Spende Nägel einschlagen konnten. Der dazu verfasste Sinnspruch Kernstocks ist in Fraktur gemeißelt und befindet sich ebenso wie der seltsam düstere Eisen-Mann seit 1919 und bis dato in einer Nische gegenüber vom Rathaus an der Ecke Felderstraße/Rathausstraße unweit der Planungsabteilung des Magistrats.
Die Inschrift über dem Nagelritter lautet: "Der Wehrmann Wiens gemahne an die Zeit, da unerschöpflich wie des Krieges Leid, die Liebe war und die Barmherzigkeit". Sie ist in vergoldeten Lettern in die Wand gemeißelt. Wer aber genau hinsieht, kann die darüber stehende, nicht vergoldete, aber unsägliche Zeile "Gut und Blut fürs Vaterland" entziffern. Dieses Motto geht zwar bis aufs Mittelalter zurück, aber die Zitierung in diesem Kontext ist eindeutig und geradezu paradigmatisch für den Missbrauch und Raubbau, den der Staat zu Kriegszwecken mit den humanen und materiellen Ressourcen seiner Bürger trieb. Die Familien verloren ihre Ernährer, die in Massen auf den Feldern von Verdun und in Galizien niedergemäht wurden; die Zurückgebliebenen verloren ihre Gesundheit, waren unternährt, mussten wegen der Blockade von Ersatzlebensmitteln leben, sämtliches Edelmetall abgeben und investierten ihre letzten Ersparnisse aus vermeintlichem Patriotismus in wertlos werdende Kriegsanleihen.
Wer die pseudo-solemnen und eigenartig verstellten Zeilen Kernstocks vor dem zynischen Hintergrund des Weltkriegs liest, kann darin keine Lyrik oder künstlerische Aussage erkennen, sondern nur einen billigen Werbespruch für eine unmoralische Sache. Die Zeitgenossen sahen dies allerdings anders.
In dem unmittelbar neben der "Wehrmann"-Nische gelegenen Wiener Museum des Augenblicks "Musa" (es bietet zeitgenössische Gemälde und Installationen, die auch entlehnt werden können) verfügt man zwar über die gebotene Distanz zu Kernstocks Spruch und seinem Verfasser, der Magis- trat hat die Zeilen des Wegbereiters des NS-Systems aber bewusst nicht entfernt. Wöchentlich findet eine Veranstaltung zum "Wehrmann" statt, und für vier Euro kann man eine Broschüre zur Bedeutung des eisernen Zeitzeugen erwerben. Das alles ändert nichts daran, dass Kernstock auch der Dichter des "Hakenkreuzliedes" für die Nazi-Ortsgruppe Fürstenfeld war und auch die republikanische Textversion für die Haydn-Hymne im Blut-und-Boden-Stil verfasst hat: "Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold" lautete der von 1929 bis 1938 gesungene Anfang des mehrfach missbrauchten Liedes.
Kriegsleid in Wien
In Wien war im März 1915 bereits deutlich das Leid des Kriegs spürbar geworden. Täglich kamen Nachrichten von Gefallenen, in den Spitälern operierten die Chirurgen pausenlos, zahlreiche Flüchtlinge waren aus dem umkämpften Gebiet der heutigen Ukraine nach Wien gezogen, darunter Handwerker, deutschsprachige Wissenschafter und versprengte Künstler. Die zaristischen Truppen nahmen sich die Bevölkerung vor und terrorisierten vor allem die jüdischen Ansiedler als "Kollaborateure" der k.u.k. Monarchie. Aber auch in Wien herrschten für die Zuwanderer und Flüchtlinge weder Wonne noch Waschtrog.
Wie dramatisch die Situation war, zeigt die Situation der Angehörigen der Universität Lemberg (Galizien, heute West-Ukraine, L’viv), deren Wirkungsstätte in die Hände russischer Truppen fiel. Aber auch die Universität in Czernowitz (damals zu Cisleithanien/Bukowina zählend, heute Ukraine, ab 1918 rumänisch) konnte nicht mehr lange ihren Betrieb aufrecht erhalten. Die einst im Lemberg und Czernowitz Lehrenden standen verzweifelt vor den Toren der niederösterreichischen Statthalterei in Wien und pilgerten sodann ins k.k. Unterrichtsministerium, wo ihnen beschieden wurde, dass eine Gehaltzahlung mangels Existenz der hohen Bildungseinrichtung nicht mehr möglich sei.
Vor hundert Jahren ging der Erste Weltkrieg nach dem serbischen Desaster, dem Neutralitätsbruch in Belgien und dem Steckenbleiben der deutschen Truppen im Westen, den russischen Eroberungen und Bedrohungen in Galizien, sowie den ersten zaghaften Erfolgen der Mittelmächte im Osten in sein zweites Jahr. Die Daheimgebliebenen wollten helfen und erdachten neue Maßnahmen, mit denen Geld für die Opfer, darunter bereits zahlreiche Kriegsblinde und Invalide, gesammelt werden könnte. Volksbildner, Sozialdemokraten, kirchennahe Einrichtungen und Frauen aus dem bürgerlichen Milieu wetteiferten um die besten Ideen zwecks Soforthilfe für Flüchtlinge und Verwundete.
In vielen Privathäusern wurden Front-Offiziere, unter denen es im Ersten Weltkrieg viele Verwundete und Gefallene gab, einquartiert und umhegt. Die Gattin des Wiener Bürgermeisters, Bertha Weiskirchner, trat ebenso in den Vordergrund wie Frau Bienerth-Schmerling, deren Ehemann zeitweise Ministerpräsident war, dazu kamen aus dem Indus-triellenmilieu Frau Jenny Mautner und die Gattin des Ophtalmologen Professor Bergmeister, die beide ein künstleraffines Haus führten und einen regelrechten Charity-Boom in der Cottage und in Pötzleinsdorf auslösten.
Notspitäler
Zu den zivilen Aktivitäten, in denen vorwiegend Frauen das Sagen hatten, zählten auch Suppenküchen, Ausspeisungen und Straßen-Sammlungen. Aber auch die Errichtung und der Betrieb von Notspitälern war, sieht man von den mehrheitlich männlichen Ärzten ab, überwiegend in weiblicher Hand, so etwa im Hilfsspital des Burgtheaters im roten Hof, wo sich Hedwig Bleibtreu nützlich machte. Das Künstlerhaus und das Sezessionsgebäude standen für Lazarettzwecke zur Verfügung, im Wiedner Spital operierte der Chirurg Julius Schnitzler, Arthurs Bruder, pausenlos.
DBesonderes Augenmerk aber gewannen kulturelle Veranstaltungen. Die Mitwirkung von Prominenten sollte das Spendenaufkommen erhöhen und so wandte man sich an jene populären Autoren, die nicht im Kriegspressequartier ihren Dienst versahen und für Lesungen verfügbar waren. Arthur Schnitzler, der seinen Pazifismus nie verleugnet hatte, stand im März 1915 für mehrere "Vorlesungen" zur Verfügung. Da mehrere Arzt-Kollegen noch im reifen Alter zum Front- und Lazarettdienst einberufen worden waren, machte Schnitzler (er war 52 Jahre alt) sich beträchtliche Sorgen, sein künstlerisches Schaffen womöglich aufgeben zu müssen.
Während Olga, seine Gattin, bei mehreren Veranstaltungen sang - sie war ausgebildete Opernsängerin -, bot er Frau Bergmeister seine Mithilfe bei "Charities" an. Auch zu den Wiener Volksbildungseinrichtungen dürfte ein gutes Verhältnis bestanden haben, obwohl Schnitzler zu langährig aktiven Vortragenden keinen engeren Kontakt hatte. Doch bot ihm dieser Rahmen die Möglichkeit, als erklärter Kriegsgegner, der sich dem Hurrapatriotismus nie anschloss, einen Beitrag zu den Wohltätigkeitsaktivitäten zu leisten.
"Für die im Feld Erblindeten" und die Versorgung der Kriegswitwen las Schnitzler zweimal in Volksbildungseinrichtungen der Stadt Wien sowie einmal im Konzerthaus, wo naturgemäß der größte Andrang herrschte. Diese Lesung fand am 30. März 1915 statt. Schnitzler notierte in seinem Tagebuch in gewohnt akribischer Art, dass er aus der Erzählung "Der blinde Geronimo und sein Bruder", aus dem "Schleier der Beatrice" und aus dem kurzen Prosawerk "Der letzte Weg" gelesen hatte.
Gemeinsam mit seinem Nachbarn, dem Porträtmaler und Fotografen Professor Ferdinand Schmutzer, der auch viele Habsburger dargestellt hatte, gab Schnitzler überdies eine Sonderausgabe des "Geronimo" im Österreichischen Verlag heraus. Sein deutscher Verleger Samuel Fischer hatte erst im Vorjahr einen Erzählband editiert, der unter anderem auch diese Erzählung enthielt. Niemand stieß sich daran, dass ausgerechnet im Jahr des italienischen Kriegseintritts gegen die k.u.k. Monarchie, der sich bereits im Frühjahr abzeichnete, ein italienischer Sänger der "Held" der illustrierten Ausgabe war.
Schnitzlers "Geronimo"
Die Pointe dieser Erzählung ist ein besonders perfider Akt eines Spenders, der dem blinden Sänger Geronimo weismacht, er habe seinem Bruder ein goldenes 20-Frankenstück gegeben, was nicht den Tatsachen entspricht. Aber das Vertrauen zwischen den beiden Brüdern wird durch diesen bösartig gestifteten Zwist zerstört, was umso schwerer wiegt, da der Bruder auf Grund einer Kindheits-Torheit die Verantwortung für die Erblindung Geronimos trägt. Man hätte diese Geschichte bildlich auch auf die Kriegsparteien übertragen können, aber nur wenigen Bürgern war bewusst, das sie selbst gerade Opfer bösartiger Täuschungen wurden.
Einer jener Autoren, die den Patriotismus chauvinistisch-nationalistischer Prägung mehr schürte als ihn zu kalmieren, war der 1848 in Marburg (damals Unter-Steiermark, seit 1919 Slowenien) geborene Dichter und Priester Ottokar Kernstock. Nach einem abgebrochenen Jus-Studium in Graz hatte er sich der Theologie verschrieben und war zunächst ins Kloster Vorau eingetreten. Schon um die Jahrhundertwende war der langjährig in der Festenburg am Wechsel (St. Lorenzen/Stmk, zugleich sein Todesort 1928) wirkende Priester mit "alldeutschen Weisen" an die Öffentlichkeit getreten. Die Wiener Stadtverwaltung unter dem christlich-sozialen Bürgermeister Richard Weiskirchner bediente sich seiner Verse in unkritischer Manier wie übrigens später auch die NSDAP.
Am 5. März 1915 stellte die Stadtverwaltung am Schwarzenbergplatz einen lebensgroßen, hölzernen Ritter auf, in den die Wiener nach Entrichtung einer Spende Nägel einschlagen konnten. Der dazu verfasste Sinnspruch Kernstocks ist in Fraktur gemeißelt und befindet sich ebenso wie der seltsam düstere Eisen-Mann seit 1919 und bis dato in einer Nische gegenüber vom Rathaus an der Ecke Felderstraße/Rathausstraße unweit der Planungsabteilung des Magistrats.
Die Inschrift über dem Nagelritter lautet: "Der Wehrmann Wiens gemahne an die Zeit, da unerschöpflich wie des Krieges Leid, die Liebe war und die Barmherzigkeit". Sie ist in vergoldeten Lettern in die Wand gemeißelt. Wer aber genau hinsieht, kann die darüber stehende, nicht vergoldete, aber unsägliche Zeile "Gut und Blut fürs Vaterland" entziffern. Dieses Motto geht zwar bis aufs Mittelalter zurück, aber die Zitierung in diesem Kontext ist eindeutig und geradezu paradigmatisch für den Missbrauch und Raubbau, den der Staat zu Kriegszwecken mit den humanen und materiellen Ressourcen seiner Bürger trieb. Die Familien verloren ihre Ernährer, die in Massen auf den Feldern von Verdun und in Galizien niedergemäht wurden; die Zurückgebliebenen verloren ihre Gesundheit, waren unternährt, mussten wegen der Blockade von Ersatzlebensmitteln leben, sämtliches Edelmetall abgeben und investierten ihre letzten Ersparnisse aus vermeintlichem Patriotismus in wertlos werdende Kriegsanleihen.
Wer die pseudo-solemnen und eigenartig verstellten Zeilen Kernstocks vor dem zynischen Hintergrund des Weltkriegs liest, kann darin keine Lyrik oder künstlerische Aussage erkennen, sondern nur einen billigen Werbespruch für eine unmoralische Sache. Die Zeitgenossen sahen dies allerdings anders.
In dem unmittelbar neben der "Wehrmann"-Nische gelegenen Wiener Museum des Augenblicks "Musa" (es bietet zeitgenössische Gemälde und Installationen, die auch entlehnt werden können) verfügt man zwar über die gebotene Distanz zu Kernstocks Spruch und seinem Verfasser, der Magis- trat hat die Zeilen des Wegbereiters des NS-Systems aber bewusst nicht entfernt. Wöchentlich findet eine Veranstaltung zum "Wehrmann" statt, und für vier Euro kann man eine Broschüre zur Bedeutung des eisernen Zeitzeugen erwerben. Das alles ändert nichts daran, dass Kernstock auch der Dichter des "Hakenkreuzliedes" für die Nazi-Ortsgruppe Fürstenfeld war und auch die republikanische Textversion für die Haydn-Hymne im Blut-und-Boden-Stil verfasst hat: "Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold" lautete der von 1929 bis 1938 gesungene Anfang des mehrfach missbrauchten Liedes.
Kriegsleid in Wien
In Wien war im März 1915 bereits deutlich das Leid des Kriegs spürbar geworden. Täglich kamen Nachrichten von Gefallenen, in den Spitälern operierten die Chirurgen pausenlos, zahlreiche Flüchtlinge waren aus dem umkämpften Gebiet der heutigen Ukraine nach Wien gezogen, darunter Handwerker, deutschsprachige Wissenschafter und versprengte Künstler. Die zaristischen Truppen nahmen sich die Bevölkerung vor und terrorisierten vor allem die jüdischen Ansiedler als "Kollaborateure" der k.u.k. Monarchie. Aber auch in Wien herrschten für die Zuwanderer und Flüchtlinge weder Wonne noch Waschtrog.
Wie dramatisch die Situation war, zeigt die Situation der Angehörigen der Universität Lemberg (Galizien, heute West-Ukraine, L’viv), deren Wirkungsstätte in die Hände russischer Truppen fiel. Aber auch die Universität in Czernowitz (damals zu Cisleithanien/Bukowina zählend, heute Ukraine, ab 1918 rumänisch) konnte nicht mehr lange ihren Betrieb aufrecht erhalten. Die einst im Lemberg und Czernowitz Lehrenden standen verzweifelt vor den Toren der niederösterreichischen Statthalterei in Wien und pilgerten sodann ins k.k. Unterrichtsministerium, wo ihnen beschieden wurde, dass eine Gehaltzahlung mangels Existenz der hohen Bildungseinrichtung nicht mehr möglich sei.
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Gerhard Strejcek
Automatenverbot in Wien hat gewirkt
Der Standard, 02.03.2015
Verfassungsgerichtshof prüft Beschwerden der Betreiber - Kein Ausweichen ins Internet zu beobachten
Wien - Heute, Montag, wird der Verfassungsgerichtshof öffentlich über Anträge von Automatenbetreibern auf Verfassungswidrigkeit von jenen Bestimmungen des Glücksspielgesetzes verhandeln, die im Effekt die Aufstellung von Glücksspielautomaten in Wien verbieten. Im Fadenkreuz der Anträge steht eine Übergangsvorschrift aus der GSpG-Novelle 2010, die auch die Genehmigungen aufgrund von noch gültigen Bescheiden betrifft und so subjektive Rechte "vernichtet".
Um Abschaltung und Abtransport zu verhindern, kommt die Entscheidung zu spät. Seit 1. Januar stehen die Geldabsauger still, die vom Automatenverband behaupteten Substitutionseffekte sind jedoch nicht eingetreten. Ein merkbarer Schwenk ins illegale Internetglücksspiel fand aber ebenso wenig statt wie ein nennenswertes Ansteigen der Kundschaft in den Spielcasinos, in denen das "große" Glücksspiel erlaubt ist.
Schutz vor Geldabflüssen
Somit scheint sich die gesetzgeberische Maßnahme als geeignet zu erweisen, um die klassischen Automatenspieler (Männer zwischen 25 und 40; niedrige Einkommens- und Bildungsschicht; meist Migrationshintergrund) vor unbedachten Geldabflüssen zu schützen. Das ist aber auch ein wichtiges Kriterium für die Verfassungskonformität der Vorgangsweise des Gesetzgebers.
Juristisch stellt sich im Kern die Frage, ob die Maßnahme das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit verletzt, weil sie eine bisher erlaubte Tätigkeit ex lege beendet. Ein unzulässiger Eingriff läge vor allem dann vor, wenn die Maßnahme, die zweifellos einem öffentlichen Interesse dient, unverhältnismäßig oder ungeeignet zur Zielverfolgung wäre, was der VfGH genauso auch für den Erwerbsantritt judiziert (VfSlg 19.814/2013). Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes wären überfallsartige Eingriffe des Gesetzgebers verfassungswidrig. Allerdings konnten sich die Betroffenen vier Jahre (seit Inkrafttreten der GSpG-Novelle 2010) auf die Beendigung einstellen.
Besonderheiten im Glücksspielgesetz
Übrig bleiben formale Aspekte, welche die Antragsteller durch Gutachten zu untermauern suchen, etwa die Frage, ob der Bundesgesetzgeber in seinerzeit von der Landesbehörde erteilte Genehmigungen eingreifen darf. Im Glücksspielrecht gelten allerdings Besonderheiten, die es dem Bund erlauben, Zuständigkeiten im "Monopolwesen" (Art 10 Abs 1 Z 4 B-VG) an sich zu ziehen.
Der EuGH fordert von Österreich gebetsmühlenartig die "Gesamtkoheränz" im Spiel- und Wettbereich ein. Unter diesem Gesichtspunkt war es zweckmäßig, dass der Bund dem Wildwuchs im - entgegen der Bezeichnung hochgefährlichen - "kleinen Glücksspiel" ein Ende setzte und Grundzüge der Landesausspielungen selbst gesetzlich verankert hat.
Kritikwürdig war es aber, dass das Finanzministerium die Konzessionsverfahren für Spielbanken, in denen entsprechende strenge Spielerschutzvorkehrungen gelten, nicht rechtzeitig abschließen konnte. Ob am Verhandlungstag bereits eine Entscheidung über das "kleine Glücksspiel" in Wien fällt, ist ungewiss; aber die Chancen bleiben aufrecht, dass die Einkaufsstraßen automatenfrei bleiben.
Wien - Heute, Montag, wird der Verfassungsgerichtshof öffentlich über Anträge von Automatenbetreibern auf Verfassungswidrigkeit von jenen Bestimmungen des Glücksspielgesetzes verhandeln, die im Effekt die Aufstellung von Glücksspielautomaten in Wien verbieten. Im Fadenkreuz der Anträge steht eine Übergangsvorschrift aus der GSpG-Novelle 2010, die auch die Genehmigungen aufgrund von noch gültigen Bescheiden betrifft und so subjektive Rechte "vernichtet".
Um Abschaltung und Abtransport zu verhindern, kommt die Entscheidung zu spät. Seit 1. Januar stehen die Geldabsauger still, die vom Automatenverband behaupteten Substitutionseffekte sind jedoch nicht eingetreten. Ein merkbarer Schwenk ins illegale Internetglücksspiel fand aber ebenso wenig statt wie ein nennenswertes Ansteigen der Kundschaft in den Spielcasinos, in denen das "große" Glücksspiel erlaubt ist.
Schutz vor Geldabflüssen
Somit scheint sich die gesetzgeberische Maßnahme als geeignet zu erweisen, um die klassischen Automatenspieler (Männer zwischen 25 und 40; niedrige Einkommens- und Bildungsschicht; meist Migrationshintergrund) vor unbedachten Geldabflüssen zu schützen. Das ist aber auch ein wichtiges Kriterium für die Verfassungskonformität der Vorgangsweise des Gesetzgebers.
Juristisch stellt sich im Kern die Frage, ob die Maßnahme das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit verletzt, weil sie eine bisher erlaubte Tätigkeit ex lege beendet. Ein unzulässiger Eingriff läge vor allem dann vor, wenn die Maßnahme, die zweifellos einem öffentlichen Interesse dient, unverhältnismäßig oder ungeeignet zur Zielverfolgung wäre, was der VfGH genauso auch für den Erwerbsantritt judiziert (VfSlg 19.814/2013). Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes wären überfallsartige Eingriffe des Gesetzgebers verfassungswidrig. Allerdings konnten sich die Betroffenen vier Jahre (seit Inkrafttreten der GSpG-Novelle 2010) auf die Beendigung einstellen.
Besonderheiten im Glücksspielgesetz
Übrig bleiben formale Aspekte, welche die Antragsteller durch Gutachten zu untermauern suchen, etwa die Frage, ob der Bundesgesetzgeber in seinerzeit von der Landesbehörde erteilte Genehmigungen eingreifen darf. Im Glücksspielrecht gelten allerdings Besonderheiten, die es dem Bund erlauben, Zuständigkeiten im "Monopolwesen" (Art 10 Abs 1 Z 4 B-VG) an sich zu ziehen.
Der EuGH fordert von Österreich gebetsmühlenartig die "Gesamtkoheränz" im Spiel- und Wettbereich ein. Unter diesem Gesichtspunkt war es zweckmäßig, dass der Bund dem Wildwuchs im - entgegen der Bezeichnung hochgefährlichen - "kleinen Glücksspiel" ein Ende setzte und Grundzüge der Landesausspielungen selbst gesetzlich verankert hat.
Kritikwürdig war es aber, dass das Finanzministerium die Konzessionsverfahren für Spielbanken, in denen entsprechende strenge Spielerschutzvorkehrungen gelten, nicht rechtzeitig abschließen konnte. Ob am Verhandlungstag bereits eine Entscheidung über das "kleine Glücksspiel" in Wien fällt, ist ungewiss; aber die Chancen bleiben aufrecht, dass die Einkaufsstraßen automatenfrei bleiben.
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Gerhard Strejcek
Überwinder von Genregrenzen
Wiener Zeitung, 24.01.2015
Vor vierzig Jahren gab Keith Jarrett sein legendäres, auch als Mitschnitt erhältliches "Köln Concert". Ein Auftritt an der Wegscheide von Klassik und Jazz.
Zu den bekanntesten Aufnahmen des bald siebzigjährigen US-Ausnahme-Pianisten Keith Jarrett zählt der Live-Mitschnitt seines Solo-Konzerts in Köln, das vor vierzig Jahren - genauer: am 24. Jänner des Jahres 1975 - in der dortigen Oper stattfand. Im Rahmen der 1974 gestarteten Reihe "New Jazz in Cologne" trat Jarrett an einem nur mäßigen Stutzflügel an, dem er aber erstaunliche Töne entlockte. Die Aufnahme ist bei ECM sowohl als Doppelvinyl-Platte oder auch als CD verfügbar.
Kölner Legendene
Köln, Bremen und Lausanne markierten bereits eine Phase großer Popularität und grenzüberschreitender Experimente Jarretts, die dem Publikum vielgestaltige, an Improvisationen und an Spontaneität reiche Abende bescherten. "The Köln Concert" liegt an der Wegscheide zwischen Klassik und Jazz, wobei die Rhythmik und die Improvisationstechnik ein Schwergewicht für jenen zeigen. Die Spontanimprovisationen inspirierten Experten wie etwa Joachim-Ernst Berendt ("Ein Fenster aus Jazz", Fischer, Frankfurt/Main 1978) dazu, von "totaler Musik" zu sprechen. Wenn dieser Ausdruck irgendeinen unideologischen Sinn habe, dann sei das, was Jarrett spiele, "totale Musik", so Berendt. Jarrett selbst schätzt Kategorisierungen wenig, nach seiner Meinung soll Musik in die Zukunft gerichtete Visionen transportieren, statt in Schubladen der Vergangenheit zu landen.
Um die Abläufe in Köln ranken sich jedenfalls einige Legenden - bis hin zu einer defekten Klaviermechanik. Obwohl der übermüdete und hungrige Pianist nach den Missgeschicken bereits absagen wollte und nur durch die damals neunzehnjährige Tochter eines Kölner Zahnarztes, die Jung-Managerin Vera Brandes, überhaupt noch zum Auftritt zu bewegen war, gelang ihm an diesem Abend ein besonders dynamisches Konzert. Brandes ist heute als Musiktherapeutin tätig und lebt mit ihrem Gatten, dem emeritierten Mozarteum-Rektor Roland Haas, einem Dramaturgen, in Wien.
Die beiden sind auch als Autoren von Fachbüchern an die Öffentlichkeit getreten, deren - nicht unumstrittene - Grundthese sich auf die "heilende Wirkung" von Musik stützt. In differenzierter Form trifft die Annahme einer antidepressiven Wirkung von Musik gewiss zu (Lloyd Cole nannte eines seiner Alben "Antidepressant"), wenn auch ein klinischer Nachweis bis heute aussteht.
Wie unterschiedlich die Wirkung ein und desselben Musikers sein kann, beweist der Vergleich des Köln-Konzerts mit der drei Jahre älteren Jazz-Aufnahme des Trios mit Charlie Haden und Paul Motian. Seit Kurzem ist eine Aufnahme des in Hamburg absolvierten Konzerts vom 14. Juni 1972 erhältlich ("Hamburg ’72"), die das Konzert im NDR-Funkhaus dokumentiert. Die Tonqualität ist trotz kritischer Stimmen deutlich besser als der einstige Fernseh-Ton. Zwei Tage zuvor, am 12. Juni, waren die Musiker im Münchener Arri-Kino aufgetreten, wovon hingegen kein offizieller Mitschnitt existiert. Bekannt sind aber die älteren und sehr hörenswerten gemeinsamen Platten "Life Between The Exit Signs" (1967), "The Mourning Of A Star" (1971) sowie das Live-Album "Somewhere Before" (1968). Zeitweise traten Jarrett und seine Hamburger Mitstreiter auch als Quartett auf, erweitert um den Saxophonisten Dewey Redman, der das Instrument besser beherrscht als Jarrett selbst (der in Hamburg wiederum auch Flöte spielte).
Das kongeniale Zusammenspiel der drei Musiker und das breite Spektrum von entspanntem Swing bis hin zu Free Jazz zeigte das Potenzial des zum Zeitpunkt des Hamburg-Konzerts erst 27-jährigen Multiinstrumentalisten Jarrett deutlich auf. Der melodisch-weich spielende Bassist Charlie Haden meinte in einem Interview, dass Jarrett zu jeder Probe neue Kompositionen sowie Bearbeitungen präsentierte, was die abwechslungsreiche Performance ebenfalls unterstreicht.
Im Vergleich zu den dynamischen Münchener und Hamburger Auftritten bedeuten die drei Jahre später stattfindenden Solokonzerte Jarretts wiederum eine Zäsur und Metamorphose - nämlich jene zu einem hybriden Konzertpianisten. Die rund einstündige Kölner Aufnahme gliedert sich in vier Teile, die die Aufteilung in einen überlangen ersten Teil mit mehr als sechsundzwanzig Minuten Spieldauer und einen zweiten Teil mit zwei annähernd gleich langen Stücken und einem kurzen Finale furioso enthalten.
Das Publikum ist erst nach dem Ende des ersten Teils zu hören und dürfte Jarretts Wunsch nach Ruhe im Saal weitgehend erfüllt haben. Mit einem ähnlichen Anliegen stieß der Tastenvirtuose anlässlich einer Reunion mit dem "europäisch-amerikanischen" Trio Garbarek/Haden/Jarrett in der New Yorker Carnegie Hall 1976 übrigens auf heftige Ablehnung.
Abschied von Haden
Die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem "singenden" Bass Charlie Hadens wird es leider nicht mehr geben, da der Musiker im Sommer des Vorjahrs 76-jährig aus dem Leben geschieden ist. Anlässlich dieses traurigen Ereignisses ließ ECM das Duo Jarrett/Haden mit den Standards von "Last Dance" noch einmal aufleben, die Bänder stammen aus dem seit 2007 gesammelten Studiomaterial. Es lohnt sich aber, auch zu älteren Platten der beiden miteinander perfekt harmonierenden Amerikaner zu greifen, wie vor allem zur legendären "Survivor’s Suite" oder "Jasmine", die den Zuhörer in den Bann einer rhythmisch-melodischen Kooperation ziehen. Auch andere Zusammenarbeiten, etwa die schöne alte Aufnahme mit dem Vibraphonisten Gary Burton, Sam Brown (Gitarre), Steve Swallow (Bass) und Bill Goodwin (Drums) aus dem Jahr 1971 verdienen Beachtung.
Was für Jarretts im Mai anstehenden 70. Geburtstag als Auftakt dienen kann, ist ein Querschnitt durch die eindrucksvolle Diskografie. Sie zeigt die Weiterentwicklung eines hochbegabten und dabei eigenwilligen Pianisten, der in seinen Lehrjahren mit Charles Lloyd, Ornette Coleman und Miles Davis aufgetreten war, ebenso wie seine Metamorphose zu einem ernst zu nehmenden Überwinder von Genre-Grenzen.
Keith Jarrett: The Köln Concert (ECM/Universal)
Keith Jarrett/Charlie Haden/Paul Motian: Hamburg ’72 (ECM/Universal)
Zu den bekanntesten Aufnahmen des bald siebzigjährigen US-Ausnahme-Pianisten Keith Jarrett zählt der Live-Mitschnitt seines Solo-Konzerts in Köln, das vor vierzig Jahren - genauer: am 24. Jänner des Jahres 1975 - in der dortigen Oper stattfand. Im Rahmen der 1974 gestarteten Reihe "New Jazz in Cologne" trat Jarrett an einem nur mäßigen Stutzflügel an, dem er aber erstaunliche Töne entlockte. Die Aufnahme ist bei ECM sowohl als Doppelvinyl-Platte oder auch als CD verfügbar.
Kölner Legendene
Köln, Bremen und Lausanne markierten bereits eine Phase großer Popularität und grenzüberschreitender Experimente Jarretts, die dem Publikum vielgestaltige, an Improvisationen und an Spontaneität reiche Abende bescherten. "The Köln Concert" liegt an der Wegscheide zwischen Klassik und Jazz, wobei die Rhythmik und die Improvisationstechnik ein Schwergewicht für jenen zeigen. Die Spontanimprovisationen inspirierten Experten wie etwa Joachim-Ernst Berendt ("Ein Fenster aus Jazz", Fischer, Frankfurt/Main 1978) dazu, von "totaler Musik" zu sprechen. Wenn dieser Ausdruck irgendeinen unideologischen Sinn habe, dann sei das, was Jarrett spiele, "totale Musik", so Berendt. Jarrett selbst schätzt Kategorisierungen wenig, nach seiner Meinung soll Musik in die Zukunft gerichtete Visionen transportieren, statt in Schubladen der Vergangenheit zu landen.
Um die Abläufe in Köln ranken sich jedenfalls einige Legenden - bis hin zu einer defekten Klaviermechanik. Obwohl der übermüdete und hungrige Pianist nach den Missgeschicken bereits absagen wollte und nur durch die damals neunzehnjährige Tochter eines Kölner Zahnarztes, die Jung-Managerin Vera Brandes, überhaupt noch zum Auftritt zu bewegen war, gelang ihm an diesem Abend ein besonders dynamisches Konzert. Brandes ist heute als Musiktherapeutin tätig und lebt mit ihrem Gatten, dem emeritierten Mozarteum-Rektor Roland Haas, einem Dramaturgen, in Wien.
Die beiden sind auch als Autoren von Fachbüchern an die Öffentlichkeit getreten, deren - nicht unumstrittene - Grundthese sich auf die "heilende Wirkung" von Musik stützt. In differenzierter Form trifft die Annahme einer antidepressiven Wirkung von Musik gewiss zu (Lloyd Cole nannte eines seiner Alben "Antidepressant"), wenn auch ein klinischer Nachweis bis heute aussteht.
Wie unterschiedlich die Wirkung ein und desselben Musikers sein kann, beweist der Vergleich des Köln-Konzerts mit der drei Jahre älteren Jazz-Aufnahme des Trios mit Charlie Haden und Paul Motian. Seit Kurzem ist eine Aufnahme des in Hamburg absolvierten Konzerts vom 14. Juni 1972 erhältlich ("Hamburg ’72"), die das Konzert im NDR-Funkhaus dokumentiert. Die Tonqualität ist trotz kritischer Stimmen deutlich besser als der einstige Fernseh-Ton. Zwei Tage zuvor, am 12. Juni, waren die Musiker im Münchener Arri-Kino aufgetreten, wovon hingegen kein offizieller Mitschnitt existiert. Bekannt sind aber die älteren und sehr hörenswerten gemeinsamen Platten "Life Between The Exit Signs" (1967), "The Mourning Of A Star" (1971) sowie das Live-Album "Somewhere Before" (1968). Zeitweise traten Jarrett und seine Hamburger Mitstreiter auch als Quartett auf, erweitert um den Saxophonisten Dewey Redman, der das Instrument besser beherrscht als Jarrett selbst (der in Hamburg wiederum auch Flöte spielte).
Das kongeniale Zusammenspiel der drei Musiker und das breite Spektrum von entspanntem Swing bis hin zu Free Jazz zeigte das Potenzial des zum Zeitpunkt des Hamburg-Konzerts erst 27-jährigen Multiinstrumentalisten Jarrett deutlich auf. Der melodisch-weich spielende Bassist Charlie Haden meinte in einem Interview, dass Jarrett zu jeder Probe neue Kompositionen sowie Bearbeitungen präsentierte, was die abwechslungsreiche Performance ebenfalls unterstreicht.
Im Vergleich zu den dynamischen Münchener und Hamburger Auftritten bedeuten die drei Jahre später stattfindenden Solokonzerte Jarretts wiederum eine Zäsur und Metamorphose - nämlich jene zu einem hybriden Konzertpianisten. Die rund einstündige Kölner Aufnahme gliedert sich in vier Teile, die die Aufteilung in einen überlangen ersten Teil mit mehr als sechsundzwanzig Minuten Spieldauer und einen zweiten Teil mit zwei annähernd gleich langen Stücken und einem kurzen Finale furioso enthalten.
Das Publikum ist erst nach dem Ende des ersten Teils zu hören und dürfte Jarretts Wunsch nach Ruhe im Saal weitgehend erfüllt haben. Mit einem ähnlichen Anliegen stieß der Tastenvirtuose anlässlich einer Reunion mit dem "europäisch-amerikanischen" Trio Garbarek/Haden/Jarrett in der New Yorker Carnegie Hall 1976 übrigens auf heftige Ablehnung.
Abschied von Haden
Die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem "singenden" Bass Charlie Hadens wird es leider nicht mehr geben, da der Musiker im Sommer des Vorjahrs 76-jährig aus dem Leben geschieden ist. Anlässlich dieses traurigen Ereignisses ließ ECM das Duo Jarrett/Haden mit den Standards von "Last Dance" noch einmal aufleben, die Bänder stammen aus dem seit 2007 gesammelten Studiomaterial. Es lohnt sich aber, auch zu älteren Platten der beiden miteinander perfekt harmonierenden Amerikaner zu greifen, wie vor allem zur legendären "Survivor’s Suite" oder "Jasmine", die den Zuhörer in den Bann einer rhythmisch-melodischen Kooperation ziehen. Auch andere Zusammenarbeiten, etwa die schöne alte Aufnahme mit dem Vibraphonisten Gary Burton, Sam Brown (Gitarre), Steve Swallow (Bass) und Bill Goodwin (Drums) aus dem Jahr 1971 verdienen Beachtung.
Was für Jarretts im Mai anstehenden 70. Geburtstag als Auftakt dienen kann, ist ein Querschnitt durch die eindrucksvolle Diskografie. Sie zeigt die Weiterentwicklung eines hochbegabten und dabei eigenwilligen Pianisten, der in seinen Lehrjahren mit Charles Lloyd, Ornette Coleman und Miles Davis aufgetreten war, ebenso wie seine Metamorphose zu einem ernst zu nehmenden Überwinder von Genre-Grenzen.
Keith Jarrett: The Köln Concert (ECM/Universal)
Keith Jarrett/Charlie Haden/Paul Motian: Hamburg ’72 (ECM/Universal)
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Gerhard Strejcek
Homemade-Folk und Desert-Blues
Wiener Zeitung, 28.12.2014
"music"-Mitarbeiter verweisen auf Pop- und Rock-Alben, die 2014 zu Unrecht überhört wurden - und reichen Empfehlungen nach.
Auf dem Album "The Hum"(Domino Records) tobt noch eine ordentliche Portion jugendlichen Leichtsinns. Grundsätzlich besteht das Angebot der fünfköpfigen Hookworms aus Leeds aus jener Briten nicht fremden, psychedelisch beschlagseiteten Mischung aus Punk und Balladen, mit der um die Jahrtausendwende etwa auch Clinic unser Herz erfreuten. Das unaufhörliche "Gib- ihm" in den donnernden, rabiat sich verdichtenden Gitarrenpassagen und die hochgepitchten Keyboards sind aber von einer Dringlichkeit, die gegenwärtig ihresgleichen sucht. Da scheinen für einige Momente große Steinzeit-Monolithen wie The Velvet Underground und deren LP "White Light/White Heat" wiederaufzuleben - würde nicht das unablässige Gegeifer des Sängers mit dem grundsätzlich nicht rasend sympathischen Kürzel SS wieder zurück in die Gegenwart führen: Ein Furor, der einer aus den Fugen geratenden Zivilisation seinen Schleim entgegenspuckt . . .
Auf dem Album "The Hum"(Domino Records) tobt noch eine ordentliche Portion jugendlichen Leichtsinns. Grundsätzlich besteht das Angebot der fünfköpfigen Hookworms aus Leeds aus jener Briten nicht fremden, psychedelisch beschlagseiteten Mischung aus Punk und Balladen, mit der um die Jahrtausendwende etwa auch Clinic unser Herz erfreuten. Das unaufhörliche "Gib- ihm" in den donnernden, rabiat sich verdichtenden Gitarrenpassagen und die hochgepitchten Keyboards sind aber von einer Dringlichkeit, die gegenwärtig ihresgleichen sucht. Da scheinen für einige Momente große Steinzeit-Monolithen wie The Velvet Underground und deren LP "White Light/White Heat" wiederaufzuleben - würde nicht das unablässige Gegeifer des Sängers mit dem grundsätzlich nicht rasend sympathischen Kürzel SS wieder zurück in die Gegenwart führen: Ein Furor, der einer aus den Fugen geratenden Zivilisation seinen Schleim entgegenspuckt . . .
Gerhard Strejcek
Der Kampf in den Bergen
Die Presse, 27.12.2014
Probleme eines Alpinisten: das Tourenbuch des Postbeamten Karl S. aus der Ersten Republik.
Die Flucht über die Berge kennzeichnete das Schicksal von einigen Deserteuren der Deutschen Wehrmacht, darunter des bekannten Zwölfton-Komponisten Friedrich Cerha. Über die Berge floh auch so mancher Täter, der die „Alpenfestung“ Richtung Süden verließ. Der Kampf in den Bergen war nicht nur Topos des Ersten Weltkriegs an der Dolomitenfront. Im Zweiten Weltkrieg bestiegen im Herbst 1941 deutsche Gebirgsjäger den Kaukasus, den sie in den 1920er-Jahren gemeinsam mit den Sowjets erkundet hatten, um den Krieg von oben in die Ansiedelungen rund um Stalingrad zu bringen. Ihnen war nur wenig Erfolg beschieden: Die Einheimischen kannten die Region besser und die Rote Armee war nicht zimperlich, um den Usurpator aus dem Westen zurückzuwerfen.
Am Balkan waren viele österreichische Gebirgsjäger in der umstrittenen Heeresgruppe E aktiv, etwa der Oberleutnant Waldheim. Ein anderer war der in einer bayerischen Gebirgsjäger-Einheit dienende, nachmalige Staats- und Völkerrechtsexperte Felix Ermacora. Bergsteigen konnte seit den 1920ern aber auch eine zivile Freizeitbeschäftigung sein. Man floh hier nicht vor Verfolgung, sondern entfloh dem Alltag und der Einförmigkeit.
Einer dieser Alpinisten war der Postbeamte Karl S., der jede freie Minute zum Bergsteigen, Klettern und für Skitouren nutzte. Wegen seiner Dienstzeiten konnte er am Wochenende meist nur den Wienerwald oder die Voralpen besuchen; erst die Sommerferien boten die Möglichkeit für Touren im Karwendelgebirge, im Glocknermassiv oder in den Hohen Tauern. Geboren wurde Karl S. 1904, seine Aufzeichnungen begann er mit 18. Aus seinem reich illustrierten Tourenbuch (Hütten-Stempel, Federzeichnungen von Landschaft und Gebäuden, Post-Marken) kann der heutige Leser die Probleme des „einfachen“ Alpinisten extrahieren.
Steinschlag und Wetterstürze
Endlose Zugfahrten, oft nur mit einem Platz am Trittbrett, Aufstehen im Morgengrauen ohne Frühstück, lange Anmarschwege zu den Kletterzeiten, alpine Gefahren wie Steinschlag und Wetterstürze. Aber auch das wirtschaftliche und politische Umfeld wird spürbar: Galoppierende Inflation ab 1922, Instabilität, Radikalisierung und eine zunehmende national-chauvinistische Stimmung: die bekannten Krankheiten der Ersten Republik. Dann die Machtübernahme der Nazis, der Krieg, in dem der Bergsteiger zur Kavallerie und dann zur Feldpost abkommandiert wurde. Keine Spur von Gebirgsjäger, aber dafür das Überleben als viel wichtigeres Gut.
Martin Bolz, promovierter Philosoph und evangelischer Theologe, nahm sich des Tourenbuches des SK an und stellte es in einen zeitgeschichtlichen Kontext. Der langjährige Johanniter-Pfarrer und Schulinspektor ist ein Mann klarer Worte und kein Schönfärber. Er hat sich der Mühe unterzogen, die vielen lyrischen Zitate (von Anastasius Grün, Hermann Hesse bis zu Maximilian von Mexiko) nachzurecherchieren. Einfühlsam kommentiert Bolz die leidvollen Touren, die nicht nur Freude, sondern auch Übelkeit, Angst und Kälteempfindungen mit sich brachten und im Leser diese Emotionen wachrufen. In einer Einleitung und im Nachwort nimmt Bolz zur „Gunst der späten Geburt“ und zur Einbettung in die Geschichte der Ersten Republik sowie zur Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher einst und heute Stellung.
So ist eine lesenswerte Alpinisten-Biografie des Karl S. zustande gekommen, zugleich ein wichtiges Dokument der Freizeitkultur in der Ersten Republik.
Zwischen den Stühlen
Das Tourenbuch des SK. Hrsg. und bearbeitet von Martin Bolz. 106 S., brosch., €25,50 (AT Edition, Münster)
Die Flucht über die Berge kennzeichnete das Schicksal von einigen Deserteuren der Deutschen Wehrmacht, darunter des bekannten Zwölfton-Komponisten Friedrich Cerha. Über die Berge floh auch so mancher Täter, der die „Alpenfestung“ Richtung Süden verließ. Der Kampf in den Bergen war nicht nur Topos des Ersten Weltkriegs an der Dolomitenfront. Im Zweiten Weltkrieg bestiegen im Herbst 1941 deutsche Gebirgsjäger den Kaukasus, den sie in den 1920er-Jahren gemeinsam mit den Sowjets erkundet hatten, um den Krieg von oben in die Ansiedelungen rund um Stalingrad zu bringen. Ihnen war nur wenig Erfolg beschieden: Die Einheimischen kannten die Region besser und die Rote Armee war nicht zimperlich, um den Usurpator aus dem Westen zurückzuwerfen.
Am Balkan waren viele österreichische Gebirgsjäger in der umstrittenen Heeresgruppe E aktiv, etwa der Oberleutnant Waldheim. Ein anderer war der in einer bayerischen Gebirgsjäger-Einheit dienende, nachmalige Staats- und Völkerrechtsexperte Felix Ermacora. Bergsteigen konnte seit den 1920ern aber auch eine zivile Freizeitbeschäftigung sein. Man floh hier nicht vor Verfolgung, sondern entfloh dem Alltag und der Einförmigkeit.
Einer dieser Alpinisten war der Postbeamte Karl S., der jede freie Minute zum Bergsteigen, Klettern und für Skitouren nutzte. Wegen seiner Dienstzeiten konnte er am Wochenende meist nur den Wienerwald oder die Voralpen besuchen; erst die Sommerferien boten die Möglichkeit für Touren im Karwendelgebirge, im Glocknermassiv oder in den Hohen Tauern. Geboren wurde Karl S. 1904, seine Aufzeichnungen begann er mit 18. Aus seinem reich illustrierten Tourenbuch (Hütten-Stempel, Federzeichnungen von Landschaft und Gebäuden, Post-Marken) kann der heutige Leser die Probleme des „einfachen“ Alpinisten extrahieren.
Steinschlag und Wetterstürze
Endlose Zugfahrten, oft nur mit einem Platz am Trittbrett, Aufstehen im Morgengrauen ohne Frühstück, lange Anmarschwege zu den Kletterzeiten, alpine Gefahren wie Steinschlag und Wetterstürze. Aber auch das wirtschaftliche und politische Umfeld wird spürbar: Galoppierende Inflation ab 1922, Instabilität, Radikalisierung und eine zunehmende national-chauvinistische Stimmung: die bekannten Krankheiten der Ersten Republik. Dann die Machtübernahme der Nazis, der Krieg, in dem der Bergsteiger zur Kavallerie und dann zur Feldpost abkommandiert wurde. Keine Spur von Gebirgsjäger, aber dafür das Überleben als viel wichtigeres Gut.
Martin Bolz, promovierter Philosoph und evangelischer Theologe, nahm sich des Tourenbuches des SK an und stellte es in einen zeitgeschichtlichen Kontext. Der langjährige Johanniter-Pfarrer und Schulinspektor ist ein Mann klarer Worte und kein Schönfärber. Er hat sich der Mühe unterzogen, die vielen lyrischen Zitate (von Anastasius Grün, Hermann Hesse bis zu Maximilian von Mexiko) nachzurecherchieren. Einfühlsam kommentiert Bolz die leidvollen Touren, die nicht nur Freude, sondern auch Übelkeit, Angst und Kälteempfindungen mit sich brachten und im Leser diese Emotionen wachrufen. In einer Einleitung und im Nachwort nimmt Bolz zur „Gunst der späten Geburt“ und zur Einbettung in die Geschichte der Ersten Republik sowie zur Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher einst und heute Stellung.
So ist eine lesenswerte Alpinisten-Biografie des Karl S. zustande gekommen, zugleich ein wichtiges Dokument der Freizeitkultur in der Ersten Republik.
Zwischen den Stühlen
Das Tourenbuch des SK. Hrsg. und bearbeitet von Martin Bolz. 106 S., brosch., €25,50 (AT Edition, Münster)
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Gerhard Strejcek
Entscheidende Lücken
Wiener Zeitung, 05.12.2014
Contra: Reiner Stachs Buch über Franz Kafka mangelt es an Juristen-Kenntnis.
Nunmehr ist also der dritte Band von Reiner Stachs Kafka-Biografie erschienen, der den frühen Jahren Kafkas gewidmet ist. Der Band deckt neben der Schulzeit (1883-1901) in der Altstädter Volksschule und im Staats-Gymnasium die Phase des Jus-Studiums (bis 1906) und der juristischen Tätigkeit Kafkas als Rechtspraktikant und Kurzzeit-Konzipient sowie seine Berufsjahre in der Generali-Versicherung und in der Arbeiter-Unfallversicherung-Anstalt für das Königreich Böhmen (ab 1908) ab. Während Max Brod und Franz Werfel eine andere Schule besuchten, war Kafka Klassenkollege von Felix Weltsch (böhmisch-jüdischer Schriftsteller/Philosoph, Anm.). Und so lernte Kafka seinen Freund und postumen Herausgeber Brod erst beim Studium kennen - und zwar in der Lesehalle, einer gemäßigt deutschnational-liberalen Institution im Umfeld der Ferdinand-Karl-Universität. Brod amtierte später als Jurist bei der Post (laut Kafka ein "Amt ohne Ehrgeiz"), Kafka wurde beim Sozialversicherungsträger AUVA heimisch, der sich juristisch zwischen den Stühlen befand.
Seit jeher hat dieses Faktum bei Kafka-Biografen (u.a. Alt, Anz, Friedlaender, Politzer, Stach, Wagenbach) zu Verständnisproblemen geführt. Kafka konnte weder behördlich entscheiden - hiefür zuständig waren die Gewerbebehörde bei der Bezirkshauptmannschaft, das Ministerium des Inneren und der k.k. VwGH in Wien -, noch war seine Tätigkeit rein theoretischer Natur. Er saß, was Stach unrichtig schildert, den Opfern der Arbeitsunfälle nicht gegenüber, sondern nur aufgebrachten Unternehmern, die so wie sein eigener Vater über Art der Tätigkeiten und die Beitragshöhe zur AUVA stritten.
Kafkas soziales Engagement war endenwollend, nolens volens musste er die Angestellten seines eigenen Betriebs dem gefährlichen Werkstoff Asbest aussetzen, eher er als Kommanditist aus der insolventen Firma seines Schwagers ausschied. Auf Druck des dominanten Vaters musste er an der vorsätzlich unrichtigen sozialversicherungsrechtlichen Einstufung eines Angestellten der Galanteriewaren-Firma im Familienbesitz mitwirken. Kafkas theoretische Beiträge zur Unfallverhütung erfolgten im Auftrag seiner Vorgesetzten, wobei er mit größtem Widerwillen an einem Kongress im Wiener Parlament (Reichsrat) teilnahm. Entspannung fand er hingegen im Prater, auf Grillparzers Spuren im Matschakerhof oder bei einem Kurzbesuch einer zionistischen Veranstaltung. Viele tagsüber auftretende Auslegungsprobleme (wie etwa die Einordnung von Steinbrüchen in Gefahrenklassen der Versicherung) übertrug Kafka in seine Träume und bedrohlichen Schilderungen (Steinbrüche sind Hinrichtungsort im "Process", bilden das Ambiente in der "Strafkolonie").
Auch die scheinbare Machtlosigkeit der Richter, die Unzugänglichkeit des Gesetzes und die Skurrilität mancher Figuren entstammen dem Szenario juristischer Tätigkeit. Zudem fanden familiäre Konflikte ("Urteil"), seine Bindungsangst ("Process") und seine Anamnese ("Josephine") Eingang in sein verstörendes Prosawerk. Alle diese Hintergründe aufzuhellen gelingt Stach nicht einmal annähernd, dafür verbreitet er sich seitenweise eloquent über den Prager Fenstersturz, die Hinrichtungsorgie nach der Schlacht am Weißen Berg und die Enteignung der protestantischen Stände nach 1621 - ein Thema der Wallenstein-Biografie (Golo Mann), nicht jener Kafkas.
In einem Punkt sind die euphorischen Stimmen indes gerechtfertigt, denn der Band ist wie das Gesamtwerk lebendig verfasst und von großer Belesenheit und Methodenvielfalt gekennzeichnet. Es ist zu konzedieren, dass niemand in allen Wissenschaften gleichzeitig und auf demselben Niveau bewandert sein kann.
Wer es aber so wie Stach offenkundig genießt, eine Art Universalgelehrter praeter universitatem (also außerhalb der Universität) zu sein, der muss auch jener Wissenschaft Genüge tun, in der Kafka kraft seines Studienabschlusses beheimatet war. Und genau diese - die Jurisprudenz - fehlt in seiner Darstellung fast zur Gänze, wie auch das ansonsten sehr umfangreiche Literaturverzeichnis deutlich dokumentiert. Wer aber Kafkas juristische Ausbildung nicht erfassen, seine rechtsanwendende Tätigkeit nur nebulos schildern und seine rechtsphilosophische Ausrichtung nur erahnen kann, wird niemals eine "perfekte" Kafka-Biografie schreiben können.
Reiner Stach
Kafka. Die frühen Jahre
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2014, 593 Seiten, 35.- Euro
Nunmehr ist also der dritte Band von Reiner Stachs Kafka-Biografie erschienen, der den frühen Jahren Kafkas gewidmet ist. Der Band deckt neben der Schulzeit (1883-1901) in der Altstädter Volksschule und im Staats-Gymnasium die Phase des Jus-Studiums (bis 1906) und der juristischen Tätigkeit Kafkas als Rechtspraktikant und Kurzzeit-Konzipient sowie seine Berufsjahre in der Generali-Versicherung und in der Arbeiter-Unfallversicherung-Anstalt für das Königreich Böhmen (ab 1908) ab. Während Max Brod und Franz Werfel eine andere Schule besuchten, war Kafka Klassenkollege von Felix Weltsch (böhmisch-jüdischer Schriftsteller/Philosoph, Anm.). Und so lernte Kafka seinen Freund und postumen Herausgeber Brod erst beim Studium kennen - und zwar in der Lesehalle, einer gemäßigt deutschnational-liberalen Institution im Umfeld der Ferdinand-Karl-Universität. Brod amtierte später als Jurist bei der Post (laut Kafka ein "Amt ohne Ehrgeiz"), Kafka wurde beim Sozialversicherungsträger AUVA heimisch, der sich juristisch zwischen den Stühlen befand.
Seit jeher hat dieses Faktum bei Kafka-Biografen (u.a. Alt, Anz, Friedlaender, Politzer, Stach, Wagenbach) zu Verständnisproblemen geführt. Kafka konnte weder behördlich entscheiden - hiefür zuständig waren die Gewerbebehörde bei der Bezirkshauptmannschaft, das Ministerium des Inneren und der k.k. VwGH in Wien -, noch war seine Tätigkeit rein theoretischer Natur. Er saß, was Stach unrichtig schildert, den Opfern der Arbeitsunfälle nicht gegenüber, sondern nur aufgebrachten Unternehmern, die so wie sein eigener Vater über Art der Tätigkeiten und die Beitragshöhe zur AUVA stritten.
Kafkas soziales Engagement war endenwollend, nolens volens musste er die Angestellten seines eigenen Betriebs dem gefährlichen Werkstoff Asbest aussetzen, eher er als Kommanditist aus der insolventen Firma seines Schwagers ausschied. Auf Druck des dominanten Vaters musste er an der vorsätzlich unrichtigen sozialversicherungsrechtlichen Einstufung eines Angestellten der Galanteriewaren-Firma im Familienbesitz mitwirken. Kafkas theoretische Beiträge zur Unfallverhütung erfolgten im Auftrag seiner Vorgesetzten, wobei er mit größtem Widerwillen an einem Kongress im Wiener Parlament (Reichsrat) teilnahm. Entspannung fand er hingegen im Prater, auf Grillparzers Spuren im Matschakerhof oder bei einem Kurzbesuch einer zionistischen Veranstaltung. Viele tagsüber auftretende Auslegungsprobleme (wie etwa die Einordnung von Steinbrüchen in Gefahrenklassen der Versicherung) übertrug Kafka in seine Träume und bedrohlichen Schilderungen (Steinbrüche sind Hinrichtungsort im "Process", bilden das Ambiente in der "Strafkolonie").
Auch die scheinbare Machtlosigkeit der Richter, die Unzugänglichkeit des Gesetzes und die Skurrilität mancher Figuren entstammen dem Szenario juristischer Tätigkeit. Zudem fanden familiäre Konflikte ("Urteil"), seine Bindungsangst ("Process") und seine Anamnese ("Josephine") Eingang in sein verstörendes Prosawerk. Alle diese Hintergründe aufzuhellen gelingt Stach nicht einmal annähernd, dafür verbreitet er sich seitenweise eloquent über den Prager Fenstersturz, die Hinrichtungsorgie nach der Schlacht am Weißen Berg und die Enteignung der protestantischen Stände nach 1621 - ein Thema der Wallenstein-Biografie (Golo Mann), nicht jener Kafkas.
In einem Punkt sind die euphorischen Stimmen indes gerechtfertigt, denn der Band ist wie das Gesamtwerk lebendig verfasst und von großer Belesenheit und Methodenvielfalt gekennzeichnet. Es ist zu konzedieren, dass niemand in allen Wissenschaften gleichzeitig und auf demselben Niveau bewandert sein kann.
Wer es aber so wie Stach offenkundig genießt, eine Art Universalgelehrter praeter universitatem (also außerhalb der Universität) zu sein, der muss auch jener Wissenschaft Genüge tun, in der Kafka kraft seines Studienabschlusses beheimatet war. Und genau diese - die Jurisprudenz - fehlt in seiner Darstellung fast zur Gänze, wie auch das ansonsten sehr umfangreiche Literaturverzeichnis deutlich dokumentiert. Wer aber Kafkas juristische Ausbildung nicht erfassen, seine rechtsanwendende Tätigkeit nur nebulos schildern und seine rechtsphilosophische Ausrichtung nur erahnen kann, wird niemals eine "perfekte" Kafka-Biografie schreiben können.
Reiner Stach
Kafka. Die frühen Jahre
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2014, 593 Seiten, 35.- Euro
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Gerhard Strejcek
Anrainerparken in Wien: Manche gehen leer aus
Der Standard, 24.11.2014
Fragwürdige Durchführung: Die Wiener Regelung benachteiligt Zweiradfahrer, aber auch Anwohner ohne "Parkkleber"
Wien - Wenn Niederösterreicher ohne Großstadterfahrung mit ihrem Auto nach Wien fahren, tappen sie oft in die Kurzparkzonenfalle. In ihrem Bundesland sind derartige Zonen mit einer grünen Tafel am Anfang und Ende (zusätzlich zum Kurzparkzonensymbol) kundzumachen. Wien ist anders: Hier ist die Zusatztafel weiß - § 52 Straßenverkehrsordnung (StVO) enthält nur die Festlegung des Zeichens und die Anordnung der Zusatztafel, nicht aber der Farbe - und sie steht meist nur an der Grenze der betroffenen Straßenzüge, was flächendeckende Kurzparkzonen schwer erkennbar macht. Da in Wien eine unterschiedliche Geltungsdauer der Zonen besteht - außerhalb des Gürtels meist bis 18 Uhr, innerhalb bis 22 Uhr -, kann es zu Missverständnissen kommen. Um eine Kurzparkzone leicht erkennbar zu machen, ist eigentlich eine blaue Bodenmarkierung vorgesehen (§ 25 Abs 2 StVO). Aber dies ist eine "Kann-Bestimmung" - in Wien hat sich der Magistrat dagegen entschieden.
Kurzparkzonen können von der Behörde nur festgelegt werden, wenn es "aus ortsbedingten Gründen" (auch im Interesse der Wohnbevölkerung) oder zur Erleichterung der Verkehrslage erforderlich ist. Die Parkdauer darf nicht weniger als 30 Minuten und nicht länger als drei Stunden betragen. Innerhalb einer Kurzparkzone können weitere Beschränkungen wie Halteverbote und Ladezonen gelten, die auch für Anwohner gelten.
Anwohnerzonen
Eine Besonderheit aber betrifft die Anwohnerzonen, die seit 2012 eingeführt wurden. Dort kann man nicht mit Parkschein parken. Zwar bringen diese Zonen vielen Bewohnern des Bezirks Erleichterung bei der täglichen Parkplatzsuche. Doch ist die Durchführung recht fragwürdig. Das beginnt mit der Zusatztafel "Ausgenommen Kfz mit Parkkleber des (...). Bezirks und Behinderte". Der Begriff "Parkkleber" entspricht weder der in der StVO genannten Ausnahmegenehmigung noch dem Wiener Parkometergesetz. Weiters sind Zweiradfahrer, die ihren Hauptwohnsitz im Straßenzug haben, nicht befugt, in der Anwohnerzone zu parken, denn sie verfügen ex definitione über keinen "Parkkleber" des Bezirks.
Durch die Finger schauen auch Anwohner, die zwar ein Kfz, aber keine Ausnahmebewilligung haben, etwa weil sie im Normalfall anderswo parken. Für sie sind trotz Anwohnerschaft die Zonen auch mit Parkschein gesperrt. Es dürfte daher nur eine Frage der Zeit sein, bis die Frage der Gleichheitskonformität der Neuregelung beim Verfassungsgerichtshof landet.
Wien - Wenn Niederösterreicher ohne Großstadterfahrung mit ihrem Auto nach Wien fahren, tappen sie oft in die Kurzparkzonenfalle. In ihrem Bundesland sind derartige Zonen mit einer grünen Tafel am Anfang und Ende (zusätzlich zum Kurzparkzonensymbol) kundzumachen. Wien ist anders: Hier ist die Zusatztafel weiß - § 52 Straßenverkehrsordnung (StVO) enthält nur die Festlegung des Zeichens und die Anordnung der Zusatztafel, nicht aber der Farbe - und sie steht meist nur an der Grenze der betroffenen Straßenzüge, was flächendeckende Kurzparkzonen schwer erkennbar macht. Da in Wien eine unterschiedliche Geltungsdauer der Zonen besteht - außerhalb des Gürtels meist bis 18 Uhr, innerhalb bis 22 Uhr -, kann es zu Missverständnissen kommen. Um eine Kurzparkzone leicht erkennbar zu machen, ist eigentlich eine blaue Bodenmarkierung vorgesehen (§ 25 Abs 2 StVO). Aber dies ist eine "Kann-Bestimmung" - in Wien hat sich der Magistrat dagegen entschieden.
Kurzparkzonen können von der Behörde nur festgelegt werden, wenn es "aus ortsbedingten Gründen" (auch im Interesse der Wohnbevölkerung) oder zur Erleichterung der Verkehrslage erforderlich ist. Die Parkdauer darf nicht weniger als 30 Minuten und nicht länger als drei Stunden betragen. Innerhalb einer Kurzparkzone können weitere Beschränkungen wie Halteverbote und Ladezonen gelten, die auch für Anwohner gelten.
Anwohnerzonen
Eine Besonderheit aber betrifft die Anwohnerzonen, die seit 2012 eingeführt wurden. Dort kann man nicht mit Parkschein parken. Zwar bringen diese Zonen vielen Bewohnern des Bezirks Erleichterung bei der täglichen Parkplatzsuche. Doch ist die Durchführung recht fragwürdig. Das beginnt mit der Zusatztafel "Ausgenommen Kfz mit Parkkleber des (...). Bezirks und Behinderte". Der Begriff "Parkkleber" entspricht weder der in der StVO genannten Ausnahmegenehmigung noch dem Wiener Parkometergesetz. Weiters sind Zweiradfahrer, die ihren Hauptwohnsitz im Straßenzug haben, nicht befugt, in der Anwohnerzone zu parken, denn sie verfügen ex definitione über keinen "Parkkleber" des Bezirks.
Durch die Finger schauen auch Anwohner, die zwar ein Kfz, aber keine Ausnahmebewilligung haben, etwa weil sie im Normalfall anderswo parken. Für sie sind trotz Anwohnerschaft die Zonen auch mit Parkschein gesperrt. Es dürfte daher nur eine Frage der Zeit sein, bis die Frage der Gleichheitskonformität der Neuregelung beim Verfassungsgerichtshof landet.
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Gerhard Strejcek
Brod, Max: Der Sommer, den man zurückwünscht / Fast ein Vorzugsschüler
Wiener Zeitung, 22.11.2014
Max Brod (1884-1968) verewigte seine Jugend im "wattierten" Alt-Österreich und einen Ferienaufenthalt an der Ostsee in Romanform: Zwei Neu-Editionen.
Anfang der 1950er Jahre schrieb Max Brod im Rückblick auf einen Ferienaufenthalt von 1899 den lesenswerten Roman "Der Sommer, den man zurückwünscht". Man beachte die Formulierung, in der kein rückbezügliches "sich" vorkommt. Aber Brod schrieb eben ein eigenes Deutsch, in dem seine Prager Prägung erkennbar wurde. Gemeinsam mit dem Jugendroman "Fast ein Vorzugsschüler" ist die altösterreichisch-jüdische Familiensaga soeben in einer vom Wallstein Verlag neu besorgten, schön gebundenen und recht ausführlich (mit Vorwort, Nachwort und kurzen biografischen Anmerkungen) dokumentierten Ausgabe erschienen. Allmählich schließt sich damit der Kreis wichtiger Neu-Editionen vergessen geglaubter Brodscher Prosawerke. Der Ferienort Misdroy liegt auf der (heute) polnischen Ostseeinsel Wollin, unweit der deutschen Grenze. Zufällig spielt auch Lutz Seilers heuer mit dem Deutschen Buchpreis prämierter Roman "Kruso" auf einer Ostseeinsel nahe von Max Brods Jugend-Ferienort. Damals, vor 115 Jahren, gehörte Wollin zum Deutschen Reich, sodass die Brods lediglich die österreichisch-deutsche Grenze bei Bodenbach überqueren mussten. Brod lässt zahlreiche Spitzen gegen Deutschland in die Schilderung einfließen: Die hölzernen Stiegenhäuser in Berlin können, so der junge "Erwin" (das ist recte Max; Bruder Otto kommt mit seinem richtigen Namen vor), mit den alten Prager Steinstufen nicht mithalten. Die Töchter einer deutschen Bekannten sind elendslangweilig, während die "Speyer"-Kinder aus Prag (die Familie hieß eigentlich "Trier") für beste Unterhaltung sorgen. Nicht einmal die roten Postkästen, zackigen Schaffner und deutschsprachigen Kutscher (in Prag fluchen diese nur auf Tschechisch!) können dem jungen Brod gefallen, der sich hier als k.u.k. Romantiker entpuppt.
Dennoch fand der junge Erwin/ Max in Misdroy Erfüllung. Der Kurort galt zwar als wenig mondän, dafür waren Kost und Logis preisgünstiger als in den berühmten dänischen Seebädern. Da Max Brod an einer Kyphose (Buckel) litt und zeitweise ein Stahlkorsett tragen musste, hatte ein befreundeter Arzt den Aufenthalt an der Ostsee empfohlen. Die fünfköpfige Familie (Vater Adolf, Mutter Valerie, Bruder Otto, Max und die kleine Schwester Sophie) verbrachten so die schönsten Tage des Jahres samt Kindermädchen Zdenka in einer angemieteten Ferienwohnung.
Die Brods waren (entgegen der Kurzbiografie im Buch) nicht wohlhabend. Man lebte zwar, wie es schien, in Prag recht nobel in der Goldenen Gasse, wo Maxens Großvater einst dank einem Lotteriegewinn zwei Stockwerke erwerben konnte. Aber reich waren die Brods nicht, dafür liefert auch der Schlüssel-Roman hinreichend Belege: Brods Vater konnte erst viel später seinen Urlaub antreten und musste neben seiner Tätigkeit in der Unionbank noch für einen Unternehmer abends den Buchhalter machen. Er trug zwar den Titel eines "Procuristen" und "Vicedirectors", das Gehalt war aber recht bescheiden für eine fünfköpfige Familie samt Dienstmädchen.
Vielleicht wollte seine Frau Geld sparen, indem sie die Angestellte nach spätestens zwei Wochen hinauswarf. Dem Ruf der resoluten, anti-intellektuellen Mutter war das jedenfalls nicht zuträglich: Unduldsame Dienstgeber sprachen sich in Prag herum, die Agenturen weigerten sich bald, Nachschub zu liefern. Zudem brachte sie den 14-jährigen Sohn mit ihren Ausfällen in die peinlichsten Situationen. Ergriff er Partei für die Mädchen, schrie sie ihn zwecks Demütigung unter Verwendung des Namens "Arthur" an - Schnitzler hätte sich, dies wissend, höflich bedankt.
Vier Jahrzehnte nach jenem erinnerungswürdigen Sommer musste der in der tschechoslowakischen Republik hoch angesehene Autor Max Brod nach Tel Aviv emigrieren, als Hitler sich nach dem Sudetenland und der Republik Österreich auch den Rest Böhmens und Mährens einverleibte und die beiden Regionen euphemistisch "Generalgouvernement" nannte. Und was noch viel schlimmer wog: Der geliebte Bruder Otto/Ota wurde nach 1941 in einem NS-Vernichtungslager umgebracht. Dasselbe Schicksal ereilte auch alle drei Schwestern seines schon 1924 verstorbenen Freundes Franz Kafka.
Brod konnte diesen Verlust nie verwinden, dachte aber noch als gereifter Mann sehnsüchtig an seine Jugendzeit mitten im friedlichen, "wattierten" Alt-Österreich zurück. Wie der Schulroman "Fast ein Vorzugsschüler" gibt auch Brods Sommer-Reminiszenz reichlich Aufschluss über die Gebräuche der Donaumonarchie und ihre Mentalitäts-Disparitäten zum preußischen Nachbarn. Wer also Joseph Roth und Friedrich Torberg schätzt, wird auch bei diesem Roman-Duo Lesefreude erleben.
Anfang der 1950er Jahre schrieb Max Brod im Rückblick auf einen Ferienaufenthalt von 1899 den lesenswerten Roman "Der Sommer, den man zurückwünscht". Man beachte die Formulierung, in der kein rückbezügliches "sich" vorkommt. Aber Brod schrieb eben ein eigenes Deutsch, in dem seine Prager Prägung erkennbar wurde. Gemeinsam mit dem Jugendroman "Fast ein Vorzugsschüler" ist die altösterreichisch-jüdische Familiensaga soeben in einer vom Wallstein Verlag neu besorgten, schön gebundenen und recht ausführlich (mit Vorwort, Nachwort und kurzen biografischen Anmerkungen) dokumentierten Ausgabe erschienen. Allmählich schließt sich damit der Kreis wichtiger Neu-Editionen vergessen geglaubter Brodscher Prosawerke. Der Ferienort Misdroy liegt auf der (heute) polnischen Ostseeinsel Wollin, unweit der deutschen Grenze. Zufällig spielt auch Lutz Seilers heuer mit dem Deutschen Buchpreis prämierter Roman "Kruso" auf einer Ostseeinsel nahe von Max Brods Jugend-Ferienort. Damals, vor 115 Jahren, gehörte Wollin zum Deutschen Reich, sodass die Brods lediglich die österreichisch-deutsche Grenze bei Bodenbach überqueren mussten. Brod lässt zahlreiche Spitzen gegen Deutschland in die Schilderung einfließen: Die hölzernen Stiegenhäuser in Berlin können, so der junge "Erwin" (das ist recte Max; Bruder Otto kommt mit seinem richtigen Namen vor), mit den alten Prager Steinstufen nicht mithalten. Die Töchter einer deutschen Bekannten sind elendslangweilig, während die "Speyer"-Kinder aus Prag (die Familie hieß eigentlich "Trier") für beste Unterhaltung sorgen. Nicht einmal die roten Postkästen, zackigen Schaffner und deutschsprachigen Kutscher (in Prag fluchen diese nur auf Tschechisch!) können dem jungen Brod gefallen, der sich hier als k.u.k. Romantiker entpuppt.
Dennoch fand der junge Erwin/ Max in Misdroy Erfüllung. Der Kurort galt zwar als wenig mondän, dafür waren Kost und Logis preisgünstiger als in den berühmten dänischen Seebädern. Da Max Brod an einer Kyphose (Buckel) litt und zeitweise ein Stahlkorsett tragen musste, hatte ein befreundeter Arzt den Aufenthalt an der Ostsee empfohlen. Die fünfköpfige Familie (Vater Adolf, Mutter Valerie, Bruder Otto, Max und die kleine Schwester Sophie) verbrachten so die schönsten Tage des Jahres samt Kindermädchen Zdenka in einer angemieteten Ferienwohnung.
Die Brods waren (entgegen der Kurzbiografie im Buch) nicht wohlhabend. Man lebte zwar, wie es schien, in Prag recht nobel in der Goldenen Gasse, wo Maxens Großvater einst dank einem Lotteriegewinn zwei Stockwerke erwerben konnte. Aber reich waren die Brods nicht, dafür liefert auch der Schlüssel-Roman hinreichend Belege: Brods Vater konnte erst viel später seinen Urlaub antreten und musste neben seiner Tätigkeit in der Unionbank noch für einen Unternehmer abends den Buchhalter machen. Er trug zwar den Titel eines "Procuristen" und "Vicedirectors", das Gehalt war aber recht bescheiden für eine fünfköpfige Familie samt Dienstmädchen.
Vielleicht wollte seine Frau Geld sparen, indem sie die Angestellte nach spätestens zwei Wochen hinauswarf. Dem Ruf der resoluten, anti-intellektuellen Mutter war das jedenfalls nicht zuträglich: Unduldsame Dienstgeber sprachen sich in Prag herum, die Agenturen weigerten sich bald, Nachschub zu liefern. Zudem brachte sie den 14-jährigen Sohn mit ihren Ausfällen in die peinlichsten Situationen. Ergriff er Partei für die Mädchen, schrie sie ihn zwecks Demütigung unter Verwendung des Namens "Arthur" an - Schnitzler hätte sich, dies wissend, höflich bedankt.
Vier Jahrzehnte nach jenem erinnerungswürdigen Sommer musste der in der tschechoslowakischen Republik hoch angesehene Autor Max Brod nach Tel Aviv emigrieren, als Hitler sich nach dem Sudetenland und der Republik Österreich auch den Rest Böhmens und Mährens einverleibte und die beiden Regionen euphemistisch "Generalgouvernement" nannte. Und was noch viel schlimmer wog: Der geliebte Bruder Otto/Ota wurde nach 1941 in einem NS-Vernichtungslager umgebracht. Dasselbe Schicksal ereilte auch alle drei Schwestern seines schon 1924 verstorbenen Freundes Franz Kafka.
Brod konnte diesen Verlust nie verwinden, dachte aber noch als gereifter Mann sehnsüchtig an seine Jugendzeit mitten im friedlichen, "wattierten" Alt-Österreich zurück. Wie der Schulroman "Fast ein Vorzugsschüler" gibt auch Brods Sommer-Reminiszenz reichlich Aufschluss über die Gebräuche der Donaumonarchie und ihre Mentalitäts-Disparitäten zum preußischen Nachbarn. Wer also Joseph Roth und Friedrich Torberg schätzt, wird auch bei diesem Roman-Duo Lesefreude erleben.
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Gerhard Strejcek
Kurzer Prozess mit dem Gegner
Wiener Zeitung, 08.11.2014
In der Weimarer Republik wurden die politischen Auseinandersetzungen mit äußerster Härte ausgetragen. Mehrere Politiker wurden ermordet - und diese Anschläge als "Fememorde" bezeichnet. Zu Unrecht.
Die Jahre des Ersten Weltkriegs brachten eine vorher nie dagewesene Entfesselung von Brutalität und Bestialität, die sich nach Ende des Kriegs als gefährlicher Keim für neue Gewalt entwickeln sollte. Denn das durch die Propaganda angefachte, unerhört hohe Gewaltpotenzial der Frontkämpfer ließ sich nach der Niederlage der Achsenmächte nicht einfach ausschalten wie eine Nachttischlampe. Die Generation Hitlers betrachtete Gewaltanwendung als etwas Natürliches. Nachdem die deutsche und die österreichische Monarchie im November 1918 zusammengebrochen waren, ereigneten sich in Berlin und München markante Mordanschläge, denen meist kommunistische oder sozialdemokratische Politiker zum Opfer fielen. Mitunter traf es aber auch unbeteiligte oder zufällige Zeugen der rechten Verschwörer, die sich allmählich im Sammelbecken der Hakenkreuz-Bewegung und der sich formierenden NSDAP wieder fanden. Unmittelbar nach dem Kriegsende operierten die braunen Zellen aber noch ohne eine zentrale Befehlsstelle.
Gezielte Tötungen
Den Anfang des gezielten Tötens machten die Attentate auf Rosa Luxemburg, die auf roheste Art erschlagen wurde, und auf Karl Liebknecht. Beide waren erklärte Spartakisten, deren Anliegen die Errichtung eines kommunistischen Staates nach sowjetischem Muster war.
Doch dies war erst der Anfang einer Reihe von Gewalttaten. Der rechtsradikal orientierte Graf Arco ermordete am 21. Februar 1919 den bayerischen Linkspolitiker Kurt Eisner vor dem Münchener Landhaus.
Eisner war nicht das einzige prominente Opfer. Zu den begabtesten deutschen Politikern der Weimarer Republik zählte der von Robert Musil wegen seiner Eleganz (widerwillig) bewunderte Außenminister Walther Rathenau. Er fiel im Juni 1922 unter den Schüssen eines Attentäters, was in demokratischen Kreisen tiefe Bestürzung auslöste. Besondere Empörung aber rief die Universitätsleitung in Berlin hervor, die sich weigerte, eine Trauerfeier für Rathenau zu organisieren.
Der Diplomat und Mäzen Harry Graf Kessler notierte am 30. Juni 1922 in seinem Tagebuch, dass er dem zuständigen Professor, dem Physiker Walter Nernst gegenüber Unbehagen geäußert hatte. Da rechte Studenten gedroht hatten, die Trauerfeier zu sprengen, hatte der Rektor den Kopf eingezogen; Kessler meinte jedoch, die Uni sei moralisch verpflichtet, die Veranstaltung gegen alle Proteste durchzuführen.
Am 6. Juli 1922 schrieb der kunstsinnige Diplomat, dass es zu weiteren Gewalttaten gekommen sei: Rechte Marodeure hatten den Journalisten Maximilian Harden verprügelt, mit Steinen auf den Kopf geschlagen und schwer verletzt. Mit Harden, dem Karl Kraus zuerst nahe stand, den er dann aber publizistisch bekämpft hatte, verband Kessler eine Freundschaft, so wie mit Rathenau.
Am 3. Juli 1922, dem Tag nach dem Harden-Attentat, kursierte bereits das neue Gerücht, dass auch der pazifistische Redakteur Helmut von Gerlach ermordet worden sei: "Eine Mordatmosphäre, etwas Unheimliches, Ungreifbares drückt auf alle wie die heutige Gewitterschwüle", schrieb Kessler bedrückt. Knapp ein Jahrzehnt später musste er selbst emigrieren und hilflos zusehen, wie die Nationalsozialisten sich über seinen Weimarer Besitz hermachten und seine Wohnung versteigern ließen. Hatte es noch eines Beweises bedurft, wer für die vielen Gewalttaten der Jahre 1919 bis 1933 verantwortlich war, so zeigte sich nun das wahre Wesen der braunen Machthaber nur allzu deutlich. Wer gegen sie auftrat, befand sich in Lebensgefahr.
Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 herrschte einige Monate Ruhe, ehe sich ein Konflikt mit der SA unter deren Leiter Röhm abzeichnete. Dieser wünschte sich die Umwandlung der "verdienstvollen" hellbraunen Schlägertruppe in eine deutsche Milizarmee, nicht zuletzt, weil er der Reichswehr und Hitlers Leibgarden bei der SS misstraute. Genau diese, teilweise elitären und adeligen Offiziere sahen nun untätig zu, wie die Gestapo und die SS-Getreuen Hitlers Konkurrenten kaltblütig ermordeten.
Der Morphinist Hermann Göring, der je nach Rauschzustand eine brutale Bestie oder ein verhältnismäßig umgänglicher, wenn auch dämonischer Machtmensch war, hatte Hitler eingeredet, dass eine Gefahr einer "zweiten braunen Revolution" bestünde, der womöglich er, Hitler, zum Opfer fallen werde. Himmler stimmte in diese Intrige ein, und berief sich auf geheime Abhörprotokolle der SA-Führung, vor allem des Hauptmanns und SA-Stabschefs Ernst Röhm und des mächtigen SA-Führeres Edmund Heines. Göring diskreditierte auch Joseph Goebbels, der aber durch Kopien der Telegramme an Hitler, die ihm zugespielt worden waren, bereits von Görings Intrige informiert war. Er eilte nun seinerseits zum "Führer", um Röhms angebliche Putschpläne in schwärzesten Farben zu schildern.
Hitlers Brutalität
Bei den Nürnberger Prozessen sollte zutage treten, wie der Diktator auf solche Denunziationen zu reagieren pflegte. Zunächst soll er, einem Stehsatz gleich, bemerkt haben, dass er es nicht zulassen könne, wenn verdiente Veteranen und Parteigenossen beseitigt werden sollten. Doch dann ließ er sich "breitschlagen" und erlaubte es, seinem eigentlichen Wunsch zu entsprechen und mit den "Umzulegenden" kurzen Prozess zu machen.
Neben den ehemaligen Weggefährten war auch Hitlers Konkurrent von Papen auf der Todesliste, letztlich aber blieb es bei einer sehr deutlichen Warnung an den späteren Botschafter in Wien.
Sein Sekretär, der Schriftsteller Edgar Jung, erhielt am 29. Juni 1934 Besuch von der Gestapo. Zwar hatte der ehemalige Reichskanzler Brüning, der auf Görings Initiative hin ebenfalls auf der "Schwarzen Liste" stand, Jung gewarnt. Dieser verließ jedoch in Panik sein Versteck, weil er einen belastenden Brief aus seiner Wohnung entfernen wollte. Dort aber standen Hitlers Schergen und ermordeten ihn am 29. Juni. So wurden an diesem schwarzen Tag sowie am Folgetag (30. 6.) des Jahres 1934 mehrere Dutzend (angebliche oder echte) Hitler-Feinde erschossen.
"Fememorde"?
In zeitgeschichtlichen Betrachtungen werden diese Attentate und Bluttaten oft als "Fememorde" bezeichnet. Genau besehen haben sie aber mit ihren mittelalterlichen Vorläufern wenig zu tun. Der Begiff "Feme" oder "Vehme" steht allgemein für eine heimliche Straf-Gerichtsbarkeit, die zumeist in ein Todesurteil mündet. Die Beisitzer hießen Vehmenoten oder Fem-Genossen, die seltsame Justizinstitution hatte mittelalterliche Wurzeln und blühte zwischen den Jahren 1200 und 1500. Mit der Etablierung einer modernen Strafjustiz infolge der Aufklärung verschwand die Feme.
Dennoch beriefen sich geheime, rechtsradikale Bünde in der Weimarer Republik auf die alte Tradition, um politische Morde zu rechtfertigen. Ob den Anschlägen auf Liebknecht, Luxemburg, Eisner und Rathenau überhaupt Verfahren vorangingen, oder ob es sich hier nicht um bloße, politisch motivierte Morde handelte, blieb im Dunklen. Jedenfalls gelang es den Attentätern, ihre politischen Gegner, Linke, Demokraten und Pazifisten, einzuschüchtern. Dies und die Liquidierung gefährlicher politischer Gegner war das eigentliche Ziel, das mit Strafjustiz nichts gemein hatte.
Die Feme war einst als offizielle Einrichtung von den deutschen Königen anerkannt, die freien Grafengerichte beriefen sich auf den "Königsbann". Erst allmählich entwickelte sich daraus eine geheime Einrichtung, die an die Stelle der Reichsjustiz traten. Obwohl sogar Kaiser wie Sigismund (ca 1280) oder Friedrich III. der Femeorganisation angehörten, wurden sie selbst verfemt. Damit war ein Konflikt mit der Obrigkeit programmiert.
Ihre Herkunft hatte die Femegerichtsbarkeit in Westfalen, wo sie zwischen 1100 und dem "ewigen Landfrieden" aus 1495 eine vorrangige Rolle spielte. Besonders tat sich das Dortmunder Femegericht hervor, später übernahm der Kölner Erzbischof die Aufsicht über die Feme, die sich auf die "Arnsberger Reformation" aus 1437 stützte.
Die Feme trat auch als Sendgericht auf, das nach Bedarf an verschiedenen Orten tagte. Somit trat diese in Konkurrenz mit gutsherrlichen Gerichten (Patrimonialgerichten), kirchlichen Send-Gerichten und einer zunächst noch institutionell schwach ausgebildeten "staatlichen" Strafjustiz, die auch "peinliche Gerichtsbarkeit" oder "Blutbann" genannt wurde und im 15. Jahrhundert ihren Ausgang nahm.
Die justizförmige Bestrafung verbreitete wegen ihrer Strenge mehr Schrecken als die eher willkürlichen Polizeistrafen, ging es doch um die rasche Ahndung einer "handhaften Tat". Dieser Begriff stammt aus dem germanisch-sächsischen Recht. Demjenigen, der auf frischer Tat bei der Begehung eines Mordes, bei einem Raub oder einer Brandstiftung betreten wurde, sollte aus Präventivgründen der "kurze Prozess" durch Aufknüpfen an einen Baum gemacht werden.
Autoritäre Systeme liebäugeln bis heute mit Formen der Schnelljustiz, nötigenfalls unter Einsatz paramilitärischer Einheiten, den in China probaten Hinrichtungswägen oder der Willkür von IS-Terroristen oder einer "Religionspolizei" wie im arabischen Kulturbereich. Dennoch sollten all diese Erscheinungsformen einer offiziösen Paralleljustiz, wie sie auch im Dritten Reich durch den Volksgerichtshof die Justiz pervertierte, nicht mit der historischen Feme gleichgestellt werden, fehlt ihnen doch der ritualisierte und rechtsförmliche Charakter.
Die Jahre des Ersten Weltkriegs brachten eine vorher nie dagewesene Entfesselung von Brutalität und Bestialität, die sich nach Ende des Kriegs als gefährlicher Keim für neue Gewalt entwickeln sollte. Denn das durch die Propaganda angefachte, unerhört hohe Gewaltpotenzial der Frontkämpfer ließ sich nach der Niederlage der Achsenmächte nicht einfach ausschalten wie eine Nachttischlampe. Die Generation Hitlers betrachtete Gewaltanwendung als etwas Natürliches. Nachdem die deutsche und die österreichische Monarchie im November 1918 zusammengebrochen waren, ereigneten sich in Berlin und München markante Mordanschläge, denen meist kommunistische oder sozialdemokratische Politiker zum Opfer fielen. Mitunter traf es aber auch unbeteiligte oder zufällige Zeugen der rechten Verschwörer, die sich allmählich im Sammelbecken der Hakenkreuz-Bewegung und der sich formierenden NSDAP wieder fanden. Unmittelbar nach dem Kriegsende operierten die braunen Zellen aber noch ohne eine zentrale Befehlsstelle.
Gezielte Tötungen
Den Anfang des gezielten Tötens machten die Attentate auf Rosa Luxemburg, die auf roheste Art erschlagen wurde, und auf Karl Liebknecht. Beide waren erklärte Spartakisten, deren Anliegen die Errichtung eines kommunistischen Staates nach sowjetischem Muster war.
Doch dies war erst der Anfang einer Reihe von Gewalttaten. Der rechtsradikal orientierte Graf Arco ermordete am 21. Februar 1919 den bayerischen Linkspolitiker Kurt Eisner vor dem Münchener Landhaus.
Eisner war nicht das einzige prominente Opfer. Zu den begabtesten deutschen Politikern der Weimarer Republik zählte der von Robert Musil wegen seiner Eleganz (widerwillig) bewunderte Außenminister Walther Rathenau. Er fiel im Juni 1922 unter den Schüssen eines Attentäters, was in demokratischen Kreisen tiefe Bestürzung auslöste. Besondere Empörung aber rief die Universitätsleitung in Berlin hervor, die sich weigerte, eine Trauerfeier für Rathenau zu organisieren.
Der Diplomat und Mäzen Harry Graf Kessler notierte am 30. Juni 1922 in seinem Tagebuch, dass er dem zuständigen Professor, dem Physiker Walter Nernst gegenüber Unbehagen geäußert hatte. Da rechte Studenten gedroht hatten, die Trauerfeier zu sprengen, hatte der Rektor den Kopf eingezogen; Kessler meinte jedoch, die Uni sei moralisch verpflichtet, die Veranstaltung gegen alle Proteste durchzuführen.
Am 6. Juli 1922 schrieb der kunstsinnige Diplomat, dass es zu weiteren Gewalttaten gekommen sei: Rechte Marodeure hatten den Journalisten Maximilian Harden verprügelt, mit Steinen auf den Kopf geschlagen und schwer verletzt. Mit Harden, dem Karl Kraus zuerst nahe stand, den er dann aber publizistisch bekämpft hatte, verband Kessler eine Freundschaft, so wie mit Rathenau.
Am 3. Juli 1922, dem Tag nach dem Harden-Attentat, kursierte bereits das neue Gerücht, dass auch der pazifistische Redakteur Helmut von Gerlach ermordet worden sei: "Eine Mordatmosphäre, etwas Unheimliches, Ungreifbares drückt auf alle wie die heutige Gewitterschwüle", schrieb Kessler bedrückt. Knapp ein Jahrzehnt später musste er selbst emigrieren und hilflos zusehen, wie die Nationalsozialisten sich über seinen Weimarer Besitz hermachten und seine Wohnung versteigern ließen. Hatte es noch eines Beweises bedurft, wer für die vielen Gewalttaten der Jahre 1919 bis 1933 verantwortlich war, so zeigte sich nun das wahre Wesen der braunen Machthaber nur allzu deutlich. Wer gegen sie auftrat, befand sich in Lebensgefahr.
Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 herrschte einige Monate Ruhe, ehe sich ein Konflikt mit der SA unter deren Leiter Röhm abzeichnete. Dieser wünschte sich die Umwandlung der "verdienstvollen" hellbraunen Schlägertruppe in eine deutsche Milizarmee, nicht zuletzt, weil er der Reichswehr und Hitlers Leibgarden bei der SS misstraute. Genau diese, teilweise elitären und adeligen Offiziere sahen nun untätig zu, wie die Gestapo und die SS-Getreuen Hitlers Konkurrenten kaltblütig ermordeten.
Der Morphinist Hermann Göring, der je nach Rauschzustand eine brutale Bestie oder ein verhältnismäßig umgänglicher, wenn auch dämonischer Machtmensch war, hatte Hitler eingeredet, dass eine Gefahr einer "zweiten braunen Revolution" bestünde, der womöglich er, Hitler, zum Opfer fallen werde. Himmler stimmte in diese Intrige ein, und berief sich auf geheime Abhörprotokolle der SA-Führung, vor allem des Hauptmanns und SA-Stabschefs Ernst Röhm und des mächtigen SA-Führeres Edmund Heines. Göring diskreditierte auch Joseph Goebbels, der aber durch Kopien der Telegramme an Hitler, die ihm zugespielt worden waren, bereits von Görings Intrige informiert war. Er eilte nun seinerseits zum "Führer", um Röhms angebliche Putschpläne in schwärzesten Farben zu schildern.
Hitlers Brutalität
Bei den Nürnberger Prozessen sollte zutage treten, wie der Diktator auf solche Denunziationen zu reagieren pflegte. Zunächst soll er, einem Stehsatz gleich, bemerkt haben, dass er es nicht zulassen könne, wenn verdiente Veteranen und Parteigenossen beseitigt werden sollten. Doch dann ließ er sich "breitschlagen" und erlaubte es, seinem eigentlichen Wunsch zu entsprechen und mit den "Umzulegenden" kurzen Prozess zu machen.
Neben den ehemaligen Weggefährten war auch Hitlers Konkurrent von Papen auf der Todesliste, letztlich aber blieb es bei einer sehr deutlichen Warnung an den späteren Botschafter in Wien.
Sein Sekretär, der Schriftsteller Edgar Jung, erhielt am 29. Juni 1934 Besuch von der Gestapo. Zwar hatte der ehemalige Reichskanzler Brüning, der auf Görings Initiative hin ebenfalls auf der "Schwarzen Liste" stand, Jung gewarnt. Dieser verließ jedoch in Panik sein Versteck, weil er einen belastenden Brief aus seiner Wohnung entfernen wollte. Dort aber standen Hitlers Schergen und ermordeten ihn am 29. Juni. So wurden an diesem schwarzen Tag sowie am Folgetag (30. 6.) des Jahres 1934 mehrere Dutzend (angebliche oder echte) Hitler-Feinde erschossen.
"Fememorde"?
In zeitgeschichtlichen Betrachtungen werden diese Attentate und Bluttaten oft als "Fememorde" bezeichnet. Genau besehen haben sie aber mit ihren mittelalterlichen Vorläufern wenig zu tun. Der Begiff "Feme" oder "Vehme" steht allgemein für eine heimliche Straf-Gerichtsbarkeit, die zumeist in ein Todesurteil mündet. Die Beisitzer hießen Vehmenoten oder Fem-Genossen, die seltsame Justizinstitution hatte mittelalterliche Wurzeln und blühte zwischen den Jahren 1200 und 1500. Mit der Etablierung einer modernen Strafjustiz infolge der Aufklärung verschwand die Feme.
Dennoch beriefen sich geheime, rechtsradikale Bünde in der Weimarer Republik auf die alte Tradition, um politische Morde zu rechtfertigen. Ob den Anschlägen auf Liebknecht, Luxemburg, Eisner und Rathenau überhaupt Verfahren vorangingen, oder ob es sich hier nicht um bloße, politisch motivierte Morde handelte, blieb im Dunklen. Jedenfalls gelang es den Attentätern, ihre politischen Gegner, Linke, Demokraten und Pazifisten, einzuschüchtern. Dies und die Liquidierung gefährlicher politischer Gegner war das eigentliche Ziel, das mit Strafjustiz nichts gemein hatte.
Die Feme war einst als offizielle Einrichtung von den deutschen Königen anerkannt, die freien Grafengerichte beriefen sich auf den "Königsbann". Erst allmählich entwickelte sich daraus eine geheime Einrichtung, die an die Stelle der Reichsjustiz traten. Obwohl sogar Kaiser wie Sigismund (ca 1280) oder Friedrich III. der Femeorganisation angehörten, wurden sie selbst verfemt. Damit war ein Konflikt mit der Obrigkeit programmiert.
Ihre Herkunft hatte die Femegerichtsbarkeit in Westfalen, wo sie zwischen 1100 und dem "ewigen Landfrieden" aus 1495 eine vorrangige Rolle spielte. Besonders tat sich das Dortmunder Femegericht hervor, später übernahm der Kölner Erzbischof die Aufsicht über die Feme, die sich auf die "Arnsberger Reformation" aus 1437 stützte.
Die Feme trat auch als Sendgericht auf, das nach Bedarf an verschiedenen Orten tagte. Somit trat diese in Konkurrenz mit gutsherrlichen Gerichten (Patrimonialgerichten), kirchlichen Send-Gerichten und einer zunächst noch institutionell schwach ausgebildeten "staatlichen" Strafjustiz, die auch "peinliche Gerichtsbarkeit" oder "Blutbann" genannt wurde und im 15. Jahrhundert ihren Ausgang nahm.
Die justizförmige Bestrafung verbreitete wegen ihrer Strenge mehr Schrecken als die eher willkürlichen Polizeistrafen, ging es doch um die rasche Ahndung einer "handhaften Tat". Dieser Begriff stammt aus dem germanisch-sächsischen Recht. Demjenigen, der auf frischer Tat bei der Begehung eines Mordes, bei einem Raub oder einer Brandstiftung betreten wurde, sollte aus Präventivgründen der "kurze Prozess" durch Aufknüpfen an einen Baum gemacht werden.
Autoritäre Systeme liebäugeln bis heute mit Formen der Schnelljustiz, nötigenfalls unter Einsatz paramilitärischer Einheiten, den in China probaten Hinrichtungswägen oder der Willkür von IS-Terroristen oder einer "Religionspolizei" wie im arabischen Kulturbereich. Dennoch sollten all diese Erscheinungsformen einer offiziösen Paralleljustiz, wie sie auch im Dritten Reich durch den Volksgerichtshof die Justiz pervertierte, nicht mit der historischen Feme gleichgestellt werden, fehlt ihnen doch der ritualisierte und rechtsförmliche Charakter.
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Gerhard Strejcek
Ein Ahnherr des Krautrock
Wiener Zeitung, 25.10.2014
Der deutsche Elektronikmusiker Hans-Joachim Roedelius feiert seinen 80. Geburtstag. Porträt eines Pioniers, der stets auch Weltbürger und Naturliebhaber geblieben ist.
Um einen der interessantesten Vertreter zeitgenössischer Musik kennen zu lernen, der bis heute stilbildend und identitätsstiftend wirkt, muss man nicht weit vor die Tore Wiens fahren. Baden ist der Wohnort und das idyllische Lunz am See eine der Wirkungsstätten von Hans-Joachim Roedelius, der nach wie vor in den USA auftritt und die Mittelmeerinseln bereist. Nach bedrückenden Erfahrungen mit zwei Diktaturen kam Roedelius Ende der Sechzigerjahre aus der DDR nach West-Berlin. 1968 trat er in die Musikkommune Human Being mit Dieter Moebius und Conrad Schnitzler ein. Seine Formationen nannten sich zuerst Kluster, dann Cluster und später Sowieso. Alben als Harmonia wiederum entstanden mit Dieter Moebius und Neu!-Mann Michael Rother.
Starkstrom-Reformator
Die deutschen Bands entwickelten eine atmosphärische, innovative Musik, die bald auch britische Pop-Stars wie David Bowie, Iggy Pop und Brian Eno anzog. Eno, der sich neben Bryan Ferry zur zweiten Säule von Roxy Music entwickeln sollte, hörte von Cluster und spielte mit Roedelius, Moebius und dem 1987 verstorbenen Produzenten und Toningenieur Conny Plank Alben wie "Before And After Science" (1977) ein.
Bedenkt man etwa, dass Eno damals mit David Bowie arbeitete, lassen sich die elektronischen Einflüsse der deutschen Starkstrom-Reformatoren auf Bowies sogenannte Berliner Phase um die bis heute nachwirkenden Alben "Low", "Heroes" und "Lodger" in derselben Zeitspanne klar ausmachen. Roedelius kann auch als Ahnherr von Krautrock-Bands wie Kraftwerk, Amon Düül und Tangerine Dream bezeichnet werden. Tangerine-Dream-Gründer Edgar Froese, der zehn Jahre nach Roedelius geboren wurde, trat einst mit soundgebenden Flipperautomaten in Kapfenberg auf, während Kraftwerk aus Düsseldorf ganze TV-Studios verkabelten, und die nicht nur als Vorarbeit essenziellen Cluster- und Harmonia-Klänge weiterentwickelten. Die lange im Dämmerschlaf liegende BRD hatte endlich eine eigene Musikszene von internationalem Profil gefunden. Pianist und Komponist Friedrich Gulda lud Tangerine Dream gemeinsam mit Pink Floyd 1971 nach Ossiach ein, wohin eine ganze Karawane an Jugendlichen pilgerte, die, anstatt den beschaulichen Kärntner See-Ort in eine Art Woodstock-Wüste zu verwandeln, diszipliniert vor dem Konzertgelände ausharrte und zuhörte.
Neben Eno, Bowie und Syd Barrett reicht Roedelius’ Einfluss bis hin zu Kruder & Dorfmeister. Und auch sein musikalisches Umfeld drang in den Pop-Sektor vor. Conny Plank etwa produzierte drei Alben für Ultravox (und deren Single-Hit "Vienna") in seinem Studio. Und selbst die Neue Deutsche Welle mit Bands wie Extrabreit oder Ideal um Frontfrau Annette Humpe sowie Underground-Acts wie die Einstürzenden Neubauten um Sänger Blixa Bargeld, die jeweils völlig eigene neue Akzente setzten, wären ohne Harmonia und Cluster undenkbar gewesen.
Mehrere Labels (darunter Sky Records, Venture, Multimood, Prudence, Grönland oder Bureau B) markieren den Weg von Hans-Joachim Roedelius ebenso wie zahlreiche weitere künstlerische Kooperationen: Mit Richard Barbieri und Claudio Chianura entstand das Studioalbum "T’ai", nachdem eine Zeit lang Ambient-Jazz mit dem Trio "Aquarello" angesagt war. Mit Conrad Schnitzler kam, als Revival um die Jahrtausendwende, "Acon 2000/1" zustande. Die Begegnung mit David Bickley wiederum führte 2008 zur "Bonaventura"-LP. 2012 arbeitete Roedelius für das Album "King Of Hearts" mit Christopher Chaplin, dem jüngsten Sohn des Komikers Charlie Chaplin, zusammen, und aus der Kooperation mit dem britisch-stämmigen Songwriter Lloyd Cole ging im Vorjahr schließlich das Album "Selected Studies Vol. 1" hervor.
Nicht nur Arbeiten wie Roedelius’ "Self Portraits" geben Auskunft über einen musikalischen Fixstern, den seine Vielseitigkeit ebenso auszeichnet wie seine Impulskraft und Mobilität - und der bis heute nicht nur ein Weltbürger, sondern auch ein Naturliebhaber geblieben ist. In Baden lebt auch Tochter Rosa, eine Schülerin Christian Ludwig Attersees, deren Installationen übrigens in Lunz am See zu sehen sind. Ad multos annos!
Zum 80. Geburtstag (am 26. Oktober) erscheint von Roedelius u.a. das Box-Set "Tape Archive 1973-1978" (Bureau B).
Um einen der interessantesten Vertreter zeitgenössischer Musik kennen zu lernen, der bis heute stilbildend und identitätsstiftend wirkt, muss man nicht weit vor die Tore Wiens fahren. Baden ist der Wohnort und das idyllische Lunz am See eine der Wirkungsstätten von Hans-Joachim Roedelius, der nach wie vor in den USA auftritt und die Mittelmeerinseln bereist. Nach bedrückenden Erfahrungen mit zwei Diktaturen kam Roedelius Ende der Sechzigerjahre aus der DDR nach West-Berlin. 1968 trat er in die Musikkommune Human Being mit Dieter Moebius und Conrad Schnitzler ein. Seine Formationen nannten sich zuerst Kluster, dann Cluster und später Sowieso. Alben als Harmonia wiederum entstanden mit Dieter Moebius und Neu!-Mann Michael Rother.
Starkstrom-Reformator
Die deutschen Bands entwickelten eine atmosphärische, innovative Musik, die bald auch britische Pop-Stars wie David Bowie, Iggy Pop und Brian Eno anzog. Eno, der sich neben Bryan Ferry zur zweiten Säule von Roxy Music entwickeln sollte, hörte von Cluster und spielte mit Roedelius, Moebius und dem 1987 verstorbenen Produzenten und Toningenieur Conny Plank Alben wie "Before And After Science" (1977) ein.
Bedenkt man etwa, dass Eno damals mit David Bowie arbeitete, lassen sich die elektronischen Einflüsse der deutschen Starkstrom-Reformatoren auf Bowies sogenannte Berliner Phase um die bis heute nachwirkenden Alben "Low", "Heroes" und "Lodger" in derselben Zeitspanne klar ausmachen. Roedelius kann auch als Ahnherr von Krautrock-Bands wie Kraftwerk, Amon Düül und Tangerine Dream bezeichnet werden. Tangerine-Dream-Gründer Edgar Froese, der zehn Jahre nach Roedelius geboren wurde, trat einst mit soundgebenden Flipperautomaten in Kapfenberg auf, während Kraftwerk aus Düsseldorf ganze TV-Studios verkabelten, und die nicht nur als Vorarbeit essenziellen Cluster- und Harmonia-Klänge weiterentwickelten. Die lange im Dämmerschlaf liegende BRD hatte endlich eine eigene Musikszene von internationalem Profil gefunden. Pianist und Komponist Friedrich Gulda lud Tangerine Dream gemeinsam mit Pink Floyd 1971 nach Ossiach ein, wohin eine ganze Karawane an Jugendlichen pilgerte, die, anstatt den beschaulichen Kärntner See-Ort in eine Art Woodstock-Wüste zu verwandeln, diszipliniert vor dem Konzertgelände ausharrte und zuhörte.
Neben Eno, Bowie und Syd Barrett reicht Roedelius’ Einfluss bis hin zu Kruder & Dorfmeister. Und auch sein musikalisches Umfeld drang in den Pop-Sektor vor. Conny Plank etwa produzierte drei Alben für Ultravox (und deren Single-Hit "Vienna") in seinem Studio. Und selbst die Neue Deutsche Welle mit Bands wie Extrabreit oder Ideal um Frontfrau Annette Humpe sowie Underground-Acts wie die Einstürzenden Neubauten um Sänger Blixa Bargeld, die jeweils völlig eigene neue Akzente setzten, wären ohne Harmonia und Cluster undenkbar gewesen.
Mehrere Labels (darunter Sky Records, Venture, Multimood, Prudence, Grönland oder Bureau B) markieren den Weg von Hans-Joachim Roedelius ebenso wie zahlreiche weitere künstlerische Kooperationen: Mit Richard Barbieri und Claudio Chianura entstand das Studioalbum "T’ai", nachdem eine Zeit lang Ambient-Jazz mit dem Trio "Aquarello" angesagt war. Mit Conrad Schnitzler kam, als Revival um die Jahrtausendwende, "Acon 2000/1" zustande. Die Begegnung mit David Bickley wiederum führte 2008 zur "Bonaventura"-LP. 2012 arbeitete Roedelius für das Album "King Of Hearts" mit Christopher Chaplin, dem jüngsten Sohn des Komikers Charlie Chaplin, zusammen, und aus der Kooperation mit dem britisch-stämmigen Songwriter Lloyd Cole ging im Vorjahr schließlich das Album "Selected Studies Vol. 1" hervor.
Nicht nur Arbeiten wie Roedelius’ "Self Portraits" geben Auskunft über einen musikalischen Fixstern, den seine Vielseitigkeit ebenso auszeichnet wie seine Impulskraft und Mobilität - und der bis heute nicht nur ein Weltbürger, sondern auch ein Naturliebhaber geblieben ist. In Baden lebt auch Tochter Rosa, eine Schülerin Christian Ludwig Attersees, deren Installationen übrigens in Lunz am See zu sehen sind. Ad multos annos!
Zum 80. Geburtstag (am 26. Oktober) erscheint von Roedelius u.a. das Box-Set "Tape Archive 1973-1978" (Bureau B).
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Gerhard Strejcek
Aufrüsten im Kampf gegen den Wettbetrug
Der Standard, 02.10.2014
Die Rechtslage macht es nicht leicht, Matchfixing und andere Sportwettmanipulation zu ahnden. Der Gesetzgeber ist gefordert
In wenigen Tagen soll im spektakulären Strafprozess gegen Fußballer, denen Beteiligung an Wettbetrug vorgeworfen wird, in Graz das Urteil gesprochen werden. Dass hier rund um die zum Teil prominenten Angeklagten wie Sanel Kuljic und Dominique Taboga einiges unrund gelaufen ist, stand schon nach den ersten Prozesstagen fest, aber dennoch ist es, juristisch betrachtet, nicht einfach, den Beschuldigten, selbst wenn sie hinsichtlich der bezahlten Manipulationsversuche geständig sind, die Begehung der konkreten Straftaten nachzuweisen. Matchfixing oder Wettbetrug sind keine Delikte, die sich in dieser ausdrücklichen Form im Strafrecht finden. Nur wer mit Bereicherungsvorsatz jemanden in seinem Vermögen schädigt, vollendet das Delikt des (Wett-)Betruges (§ 146 StGB). Betrug ist ein "Selbst-Schädigungs-Delikt", der Getäuschte setzt das schädigende Verhalten, er schließt z. B. einen Glücksvertrag ab und zahlt die Quote trotz Manipulation aus, nicht der Täter. Doch wer ist hier der Geschädigte? Laut deutscher Rechtsprechung sind das nur die Wettanbieter, das heißt weder Vereine noch Liga noch andere Wett-Teilnehmer! Wie hoch ist der Schaden? - wo Manipulation herrscht, ist nicht zwingend ein Verlust für den Vermittler bzw. Totalisateur gegeben! - und worin bestehen die tatbildlichen Handlungen der Akteure? Sie wollen zwar mit ihren absichtlich schlechten Leistungen oder Eingriffen (z. B. unmotiviertes Elfer-Foul) Geld verdienen, nehmen auch die Schädigung von Wett-Teilnehmern und -vermittlern, aber auch ihres Vereins, in Kauf - aber es stellen sich hier bei Leugnung hartnäckige Beweisfragen, womöglich wäre ein Match auch ohne Eingriff verloren gewesen, auch kann schwer erkannt werden, ob ein Teilakt bei einem Spiel manipulativ erfolgt.
All das sind nur einige Fragen, die sich im Kontext mit "Betrug" (§ 146 StGB) stellen, die aber konkret zu komplizierten Überlegungen führen. Vielfach bleibt es beim sogenannten "Match-fixing" beim Versuch, das Delikt wird nicht vollendet. Grundsätzlich ist auch der Betrugsversuch strafbar, nicht aber der "absolut untaugliche".
Welche Straftat?
Nehmen wir nun an, die kriminell handelnde Person X stiftet drei Fußballer an, einen Elfmeter in Hälfte 2 zu verschulden und das Match unter allen Umständen zu verlieren; die Person Y setzt hohe Beträge auf die Niederlage und zusätzlich auf das Ereignis (Strafstoß/Elfmeter) bei asiatischen Onlineanbietern, die drei Fußballer vermögen aber das Match gar nicht spielentscheidend zu beeinflussen, der Schiedsrichter gibt den Elfer nicht, die Mannschaft gewinnt dennoch: Welche Straftat wurde dann begangen? War der Versuch hier womöglich "absolut untauglich"? Wie viele Mitglieder einer Mannschaft muss man bestechen, um sicher zu verlieren? Wie die letzten Europacupmatches in der Qualifikationsphase zeigen, können ja österreichische Mannschaften auch ohne Manipulation spektakulär, wenn auch knapp verlieren.
Eine Lösung, um die wirklich Bösen in den Griff zu bekommen, wäre eine Novellierung des Strafgesetzbuchs. Vermutlich wäre es einfacher, zu Verurteilungen wegen einer zweifellos verpönten und unethischen Verhaltensweise zu kommen und präventiv andere Spieler von dem Einstieg ins "Match-Fixing-Gewerbe" abzuhalten, wenn es einen eigenen Straftatbestand gäbe, der Manipulationen des Ausganges eines Sportereignisses auch ohne Schadensnachweis unter Strafe stellt. Matchfixing kann ausdrücklich genannt werden, aber der Anwendungsbereich sollte weiter gehen. Denn eine derartige Vorgangsweise bewirkt schon per se einen beträchtlichen, immateriellen Schaden, der im Vertrauensverlust der Sportfans zu sehen ist. Und das wirkt sich auch auf die Veranstalter und auf die Vereine, ja auch die jeweilige Liga, finanziell negativ aus, ohne dass es dann einer Bewertung bedürfte.
Zudem kann dieses (neue) Delikt auch vollenden, wer z. B. Doping bei Radfahren oder Leichtathletik betreibt oder wer Wintersportereignisse manipuliert. Zwar gibt es schon jetzt den Straftatbestand der "Täuschung" (§ 108 StGB), doch spielt dieser praktisch kaum eine Rolle. Anders als Betrug setzt Täuschung keine Schädigung im Vermögen voraus, sondern es genügt eine Schädigung Dritter in "Rechten". Auch der Staat bzw. Behörden sind mit gemeint, früher wurde die Verwendung falscher KFZ-Tafeln so geahndet, doch das ist Schnee von gestern. Für eine Täuschung ist zudem die qualifizierte Vorsatzform "Absicht" vonnöten, um das Delikt zu vollenden. Die Staatsanwälte meiden diesen Tatbestand eher, da er meist mit anderen, leichter nachweisbaren Delikten (z. B. Urkundenfälschung, Betrug) gepaart auftritt. Daher wäre der obige Vorschlag eines eigenen, neuen "Manipulationsdeliktes" sinnvoller.
Reform des Sportwettenrechts
Eine zweite Reformschiene liegt im Bereich der Landesgesetze, welche die Sportwetten regeln, die auch Buchmacher- und Totalisateurgesetze betitelt sind (die Termini beziehen sich auf Quotenaufstellung bzw. Vermittlung der Wetten). Bereits im Herbst 2013 klangen Reformideen an. So forderte etwa die AK Salzburg guten Willens eine "Verbundlichung" der Sportwetten. Aber der Kompetenzwechsel bedürfte einer Änderung der Bundesverfassung (Art 10 Abs 1 Z 4 oder 8 bzw Art 15 Abs 1 B-VG) und zudem wird meist vergessen, dass österreichische Gesetze keinen Einfluss auf das Angebot in Singapur oder Malaysia haben. Daher fruchtet es auch wenig, wenn sich die redlichen heimischen Wettanbieter freiwillig verpflichteten, Ereignis-Wetten (z. B. über den ersten Eckball oder einen Strafstoß) nicht mehr anzubieten. Aber es wäre auch im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zulässig, die heimischen Anbieter zu privilegieren, wenn sie gewisse Bedingungen erfüllen und damit das Schutzniveau in Österreich höher als in anderen EU- bzw. Drittstaaten wäre. Auch wenn die Umsetzung schwierig ist, sollten die heimischen Gesetze auch den Internet-Wettsektor erfassen, die Teilnahme an bestimmten Angeboten verbieten und unter Verwaltungsstrafe stellen.
Spieler- und Teilnehmerschutz
Noch ein dritter Reformaspekt ist neben dem Strafrecht und der unterm Stichwort der vom EuGH in Spiel- und Wettangelegenheiten stets geforderten "Gesamtkoheränz" beachtlich (siehe 30.4.2014, C-390/12 Pfleger; C 186/11 und C-209/11 Stanleybet). Das bedeutet, dass ungeachtet der Kompetenzzersplitterung in einem Bundesstaat insgesamt die Maßnahmen von Gesetzgebung und Vollziehung (auch der Justiz!) glaubwürdig sein müssen, um ordnungspolitischen Interessen und dem Spielerschutz zu dienen. Auch wenn der OGH (2 Ob 243/12t) trotz weitwendiger Ausführungen zur Rechtsprechung dieses Postulat gründlich missverstanden hat und das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich den Spielerschutz (etwa bei Automaten) nicht einmal als Problem wahrnimmt (9.5.2014, LVwG-410287/4/Gf/Rt), sollte der Gesetzgeber hier tätig werden. Hier bieten die Sportwettengesetze (etwa im Vergleich zum ausgedehnten Schutz der Casino-Spieler in § 25 GSpG 1989) den geeigneten Ort.
Gefährlicher als Glücksspiele
Gegen pathologisches Wetten unternehmen die Länder bisher nur wenig, lediglich in Vorarlberg ist man einen Schritt weiter und sieht auch Spielerschutzmaßnahmen (z. B. verpflichtende Beratung bei exzessivem Wettverhalten) vor. Wetten sind nämlich, was oft verkannt wird, partiell noch gefährlicher als Glücksspiele, weil die Konsumenten sich in der trügerischen Sicherheit wiegen, kraft ihrer Sachkompetenz gewinnen zu können, wogegen ein Lottospieler meist weiß, dass er mit einem Los nur "Hoffnung" kauft. Aber die Stammtisch-Lufthoheit funktioniert im Wettbereich auch dann nicht, wenn ein Spiel frei von Manipulationen ist, denn das "Leder ist rund", um Hans Krankl zu zitieren.
In wenigen Tagen soll im spektakulären Strafprozess gegen Fußballer, denen Beteiligung an Wettbetrug vorgeworfen wird, in Graz das Urteil gesprochen werden. Dass hier rund um die zum Teil prominenten Angeklagten wie Sanel Kuljic und Dominique Taboga einiges unrund gelaufen ist, stand schon nach den ersten Prozesstagen fest, aber dennoch ist es, juristisch betrachtet, nicht einfach, den Beschuldigten, selbst wenn sie hinsichtlich der bezahlten Manipulationsversuche geständig sind, die Begehung der konkreten Straftaten nachzuweisen. Matchfixing oder Wettbetrug sind keine Delikte, die sich in dieser ausdrücklichen Form im Strafrecht finden. Nur wer mit Bereicherungsvorsatz jemanden in seinem Vermögen schädigt, vollendet das Delikt des (Wett-)Betruges (§ 146 StGB). Betrug ist ein "Selbst-Schädigungs-Delikt", der Getäuschte setzt das schädigende Verhalten, er schließt z. B. einen Glücksvertrag ab und zahlt die Quote trotz Manipulation aus, nicht der Täter. Doch wer ist hier der Geschädigte? Laut deutscher Rechtsprechung sind das nur die Wettanbieter, das heißt weder Vereine noch Liga noch andere Wett-Teilnehmer! Wie hoch ist der Schaden? - wo Manipulation herrscht, ist nicht zwingend ein Verlust für den Vermittler bzw. Totalisateur gegeben! - und worin bestehen die tatbildlichen Handlungen der Akteure? Sie wollen zwar mit ihren absichtlich schlechten Leistungen oder Eingriffen (z. B. unmotiviertes Elfer-Foul) Geld verdienen, nehmen auch die Schädigung von Wett-Teilnehmern und -vermittlern, aber auch ihres Vereins, in Kauf - aber es stellen sich hier bei Leugnung hartnäckige Beweisfragen, womöglich wäre ein Match auch ohne Eingriff verloren gewesen, auch kann schwer erkannt werden, ob ein Teilakt bei einem Spiel manipulativ erfolgt.
All das sind nur einige Fragen, die sich im Kontext mit "Betrug" (§ 146 StGB) stellen, die aber konkret zu komplizierten Überlegungen führen. Vielfach bleibt es beim sogenannten "Match-fixing" beim Versuch, das Delikt wird nicht vollendet. Grundsätzlich ist auch der Betrugsversuch strafbar, nicht aber der "absolut untaugliche".
Welche Straftat?
Nehmen wir nun an, die kriminell handelnde Person X stiftet drei Fußballer an, einen Elfmeter in Hälfte 2 zu verschulden und das Match unter allen Umständen zu verlieren; die Person Y setzt hohe Beträge auf die Niederlage und zusätzlich auf das Ereignis (Strafstoß/Elfmeter) bei asiatischen Onlineanbietern, die drei Fußballer vermögen aber das Match gar nicht spielentscheidend zu beeinflussen, der Schiedsrichter gibt den Elfer nicht, die Mannschaft gewinnt dennoch: Welche Straftat wurde dann begangen? War der Versuch hier womöglich "absolut untauglich"? Wie viele Mitglieder einer Mannschaft muss man bestechen, um sicher zu verlieren? Wie die letzten Europacupmatches in der Qualifikationsphase zeigen, können ja österreichische Mannschaften auch ohne Manipulation spektakulär, wenn auch knapp verlieren.
Eine Lösung, um die wirklich Bösen in den Griff zu bekommen, wäre eine Novellierung des Strafgesetzbuchs. Vermutlich wäre es einfacher, zu Verurteilungen wegen einer zweifellos verpönten und unethischen Verhaltensweise zu kommen und präventiv andere Spieler von dem Einstieg ins "Match-Fixing-Gewerbe" abzuhalten, wenn es einen eigenen Straftatbestand gäbe, der Manipulationen des Ausganges eines Sportereignisses auch ohne Schadensnachweis unter Strafe stellt. Matchfixing kann ausdrücklich genannt werden, aber der Anwendungsbereich sollte weiter gehen. Denn eine derartige Vorgangsweise bewirkt schon per se einen beträchtlichen, immateriellen Schaden, der im Vertrauensverlust der Sportfans zu sehen ist. Und das wirkt sich auch auf die Veranstalter und auf die Vereine, ja auch die jeweilige Liga, finanziell negativ aus, ohne dass es dann einer Bewertung bedürfte.
Zudem kann dieses (neue) Delikt auch vollenden, wer z. B. Doping bei Radfahren oder Leichtathletik betreibt oder wer Wintersportereignisse manipuliert. Zwar gibt es schon jetzt den Straftatbestand der "Täuschung" (§ 108 StGB), doch spielt dieser praktisch kaum eine Rolle. Anders als Betrug setzt Täuschung keine Schädigung im Vermögen voraus, sondern es genügt eine Schädigung Dritter in "Rechten". Auch der Staat bzw. Behörden sind mit gemeint, früher wurde die Verwendung falscher KFZ-Tafeln so geahndet, doch das ist Schnee von gestern. Für eine Täuschung ist zudem die qualifizierte Vorsatzform "Absicht" vonnöten, um das Delikt zu vollenden. Die Staatsanwälte meiden diesen Tatbestand eher, da er meist mit anderen, leichter nachweisbaren Delikten (z. B. Urkundenfälschung, Betrug) gepaart auftritt. Daher wäre der obige Vorschlag eines eigenen, neuen "Manipulationsdeliktes" sinnvoller.
Reform des Sportwettenrechts
Eine zweite Reformschiene liegt im Bereich der Landesgesetze, welche die Sportwetten regeln, die auch Buchmacher- und Totalisateurgesetze betitelt sind (die Termini beziehen sich auf Quotenaufstellung bzw. Vermittlung der Wetten). Bereits im Herbst 2013 klangen Reformideen an. So forderte etwa die AK Salzburg guten Willens eine "Verbundlichung" der Sportwetten. Aber der Kompetenzwechsel bedürfte einer Änderung der Bundesverfassung (Art 10 Abs 1 Z 4 oder 8 bzw Art 15 Abs 1 B-VG) und zudem wird meist vergessen, dass österreichische Gesetze keinen Einfluss auf das Angebot in Singapur oder Malaysia haben. Daher fruchtet es auch wenig, wenn sich die redlichen heimischen Wettanbieter freiwillig verpflichteten, Ereignis-Wetten (z. B. über den ersten Eckball oder einen Strafstoß) nicht mehr anzubieten. Aber es wäre auch im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zulässig, die heimischen Anbieter zu privilegieren, wenn sie gewisse Bedingungen erfüllen und damit das Schutzniveau in Österreich höher als in anderen EU- bzw. Drittstaaten wäre. Auch wenn die Umsetzung schwierig ist, sollten die heimischen Gesetze auch den Internet-Wettsektor erfassen, die Teilnahme an bestimmten Angeboten verbieten und unter Verwaltungsstrafe stellen.
Spieler- und Teilnehmerschutz
Noch ein dritter Reformaspekt ist neben dem Strafrecht und der unterm Stichwort der vom EuGH in Spiel- und Wettangelegenheiten stets geforderten "Gesamtkoheränz" beachtlich (siehe 30.4.2014, C-390/12 Pfleger; C 186/11 und C-209/11 Stanleybet). Das bedeutet, dass ungeachtet der Kompetenzzersplitterung in einem Bundesstaat insgesamt die Maßnahmen von Gesetzgebung und Vollziehung (auch der Justiz!) glaubwürdig sein müssen, um ordnungspolitischen Interessen und dem Spielerschutz zu dienen. Auch wenn der OGH (2 Ob 243/12t) trotz weitwendiger Ausführungen zur Rechtsprechung dieses Postulat gründlich missverstanden hat und das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich den Spielerschutz (etwa bei Automaten) nicht einmal als Problem wahrnimmt (9.5.2014, LVwG-410287/4/Gf/Rt), sollte der Gesetzgeber hier tätig werden. Hier bieten die Sportwettengesetze (etwa im Vergleich zum ausgedehnten Schutz der Casino-Spieler in § 25 GSpG 1989) den geeigneten Ort.
Gefährlicher als Glücksspiele
Gegen pathologisches Wetten unternehmen die Länder bisher nur wenig, lediglich in Vorarlberg ist man einen Schritt weiter und sieht auch Spielerschutzmaßnahmen (z. B. verpflichtende Beratung bei exzessivem Wettverhalten) vor. Wetten sind nämlich, was oft verkannt wird, partiell noch gefährlicher als Glücksspiele, weil die Konsumenten sich in der trügerischen Sicherheit wiegen, kraft ihrer Sachkompetenz gewinnen zu können, wogegen ein Lottospieler meist weiß, dass er mit einem Los nur "Hoffnung" kauft. Aber die Stammtisch-Lufthoheit funktioniert im Wettbereich auch dann nicht, wenn ein Spiel frei von Manipulationen ist, denn das "Leder ist rund", um Hans Krankl zu zitieren.
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Gerhard Strejcek
Ein Mime mit sonorer Stimme
Wiener Zeitung, 13.09.2014
Vor hundert Jahren wurde der deutsche Schauspieler Will Quadflieg geboren, der vor allem als Faust- und Jedermann-Darsteller Theatergeschichte geschrieben hat.
Will Quadflieg, geboren am 15. September 1914 in Oberhausen im Ruhrgebiet, stand in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf allen großen deutschsprachigen Bühnen, darunter auch am Zürcher Schauspielhaus und im Wiener Burgtheater. Die vierteilige TV-Saga "Der große Bellheim", inszeniert von Dieter Wedel, rundete eine steile Karriere ab, die ihn aber auch in die Untiefen des autoritären NS-Staates geführt hatte. Seine größten Erfolge verbuchte er als faustischer Charakter in Hamburg und in Salzburg mit zwei Rollen, die er auf eine dynamische und unprätentiöse Weise interpretierte. Auf den Brettern der Hansestadt gab er den "Faust", der seinem Naturell entsprach, vor dem Dom der Mozartstadt und in Zürich verkörperte er den "Jedermann", die volkstümliche Ausgabe des Lebemenschen, der spät zur Einsicht kommt.
Quadflieg selbst dachte sehr wohl nach, reflektierte seine scheinbar unpolitische Meta-Rolle im Dritten Reich als Darsteller in zwei Propagandafilmen und ließ diese Gedanken in seine Autobiografie "Wir spielen immer" einfließen, die seit 1976 in mehreren Auflagen im Frankfurter S. Fischer-Verlag erschienen ist.
Der berühmte Faust
Ausgangspunkt von Quadfliegs steiler Karriere im Nachkriegsdeutschland war die produktive Zusammenarbeit mit Gustaf Gründgens, die ab 1952 ein Jahrzehnt währte. Die von Gründgens inszenierte und von Teo Otto ausgestattete Hamburger "Faust"-Produktion machte in der Spielsaison 1957/58 Furore.
Bilder davon liefern sowohl ein fulminanter Film als auch eine Buchausgabe mit Schwarzweiß-Fotografien von Rosemarie Clausen, die im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Die Bildkünstlerin dokumentiert eindrucksvoll die reduktionistische Darstellung des Mephisto und das zwischen Vitalität und Zweifel schwankende Naturell Heinrich Fausts, verkörpert durch Quadflieg.
Noch einprägsamer ist der beide "Faust"-Teile enthaltende Gründgens-Film. Seit seinem frühen Teufels-Debüt 1918 entwickelte Gründgens seine unbestrittene Paraderolle immer weiter und stellte seit den Dreißigerjahren Überlegungen an, wie Goethes Drama über den "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft" optimal auf die Bühne zu bringen wäre, um der Maxime "Du gleichst dem Geist, den du begreifst" zu entsprechen. Das gelang Gründgens im Lauf der Jahre immer besser und so hatte der Theatermann nach vier Jahrzehnten Bühnenerfahrung bereits einige Heinrich-Darsteller in Versuchung geführt und mitunter auch an die Wand gespielt.
Nicht so den kongenialen, damals 43-jährigen Quadflieg, über den sich der Regisseur und Mephisto-Darsteller, dem Klaus Mann ein ambivalentes literarisches Denkmal gesetzt hat, anerkennend äußerte: "Von den beiden Kollegen, mit denen ich heute ,Faust‘ spiele, ist Quadflieg die mit allen Mitteln verschwenderisch ausgestattete dynamischere Persönlichkeit, die an Schwierigkeiten wächst, weshalb mit Recht vermerkt wurde, dass der ihm theoretisch schwerer zugängliche alte Faust seinen jungen Faust - der ihm von Natur aus viel leichter fallen müsste - überstrahlt."
Peter Suhrkamp bezeichnete Gründgens, der den "Faust" schrittweise entrümpelte und auf das Wesentliche reduzierte, als einen Gratwanderer, der stets in gefährlichster Höhe über einem Abgrund agiert hatte. Auch Quadflieg flog zeitweise zu nahe über das Goebbels-Nest, wie schon eingangs erwähnt wurde. Das war der hohe Preis der Karriere, den er zahlen musste.
Für seinen Einsatz als Protagonist des "Dritten Reichs", den er nicht als Kollaboration verstanden wissen wollte, war er vom Kriegsdienst freigestellt worden. Schuldgefühle allein erklären seine politischen Engagements im reiferen Alter nicht, in denen er sich in der Friedensbewegung, für Tier- und Umweltschutz engagierte. Er trat sogar der deutschen Tierschutzpartei bei, die im Vorfeld der Grünen agierte.
Gewisse Parallelen der Rechtfertigung werden in der jüngst erschienenen Biografie des tschechischen Schlagerstars Karel Gott ("Zwischen zwei Welten", Riva Verlag 2014) deutlich, denn das "Rotkehlchen aus Prag" betont, nie das System der CSSR repräsentiert zu haben, sondern nur die dortige Kultur, die sich ja nicht maßgeblich von jener in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterscheide.
Rückblickend wird die politische Rolle eines Kunstmenschen zumeist von diesem in aller Bescheidenheit herunter gespielt, wie etwa auch Biografien von Fred Hennings ("Heimat Burgtheater", Wien 1974) oder Walter Thomas ("Als der Vorhang fiel", Dortmund 1947) zeigen, wobei Thomas sogar Generalkulturbeauftragter des Reichsstatthalters Baldur von Schirach in Wien war und dessen Mozart- (1941) und Hebbelwoche (1942) ausrichtete.
Im Falle Quadfliegs muss aber auch auf das Faktum verwiesen werden, dass er seit seinem Debüt als Operetteneleve 1933 nur das autoritäre System kannte, da ja Hitler bereits Anfang Februar das Ruder übernommen hatte. Der Schauspieler stammte aus bürgerlichen Verhältnissen. Der Sohn eines Bergbaudirektors und Zechenleiters aus dem kleinen Oberhausen im Ruhrgebiet hieß eigentlich Friedrich Wilhelm. Wie andere Zeitgenossen, die seit den Dreißigerjahren auf der Bühne standen, (z.B. Fred Hennings, Fred Liewehr; aber auch nach dem Krieg Karel Gott/-ar, Udo Jürgens), wählte Quadflieg einen Künstler-Vornamen, den er durch Abkürzung erzielte.
Vielseitige Begabung
Sein Talent zeichnete sich früh ab, bereits als Jugendlicher trat er als Eleve und Statist auf, später nahm er privaten Schauspielunterricht. Sein Debüt feierte er zu Hause in Oberhausen als Weyland in Lehárs Operette "Friederike". Dann wechselte er auf die Volksbühne Gießen unter dem Regie-Impresario und Schauspieler Eugen Klöpfer. Quadflieg spielte in Düsseldorf und in Heidelberg, später auch in Berlin. Nach dem Krieg trat er ab 1947 in Hamburg im Thalia-Theater auf.
Am Wiener Burgtheater spielte er im Jahr 1964 Macbeth. Das Publikum nahm seine Darstellung in Shakespeares gleichnamigem Königsdrama begeistert auf, wogegen Friedrich Torberg die Produktion sarkastisch kritisierte: "Erst gegen Schluss bekam die Aufführung richtigen Schwung, der den Macbeth Will Quadfliegs überzeugend in die Tiefe riss, wenngleich aus keiner besonderen Höhe. Seine große Zeit hatte er am Anfang, als er, zum Unterschied von Vetter Richard in keiner Weise gewillt, ein Bösewicht zu werden, es dennoch wurde."
Als Quadflieg einmal schwankte, ob er eine Rolle annehmen sollte, kommentierte dies Torberg mit der einprägsamen Frage: "Will Quadflieg oder will er nicht?".
Allmählich geriet Quadflieg in Konflikt mit den "Theatermachern", die nicht nur radikale Schnitte vornahmen, sondern tief in dramatische Konzepte und Handlungen eingriffen. Lieber arbeitete er mit werktreu orientierten Regisseuren, was seine Kooperation mit Rudolf Noelte erklärt. Der Alceste in Molières "Menschenfeind", Michael Kramer von Hauptmann und Thomas Paine in Büchners "Dantons Tod" festigten Quadfliegs Ruf als traditionellen Schauspieler hoher Qualität, der durch seine sonore Stimme und sein angenehmes Timbre wie auch durch seine Mimik überzeugte.
Letzte Auftritte
Claus Peymann, der seinerseits Shakespeare und andere Klassiker erfolgreich inszenierte, sodass ihn Thomas Bernhard sogar der "Klassikerkrankheit" zieh, lud Quadflieg zu einer Lesung nach Wien ein. Am 13. November 1988 trug der 74-jährige Schauspieler das Vorspiel auf dem Theater (Faust I) in einer eindrucksvollen Performance auf der Burgtheaterbühne vor. Im Fernsehen kam er noch einmal in der von Dieter Wedel in Szene gesetzten Saga "Der große Bellheim" zu Ehren. Ab 1983 spielte Quadflieg wieder am Thalia-Theater in Hamburg.
Der Mime war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit der Schwedin Benita von Vegesack, sodann mit Margaret Jacobs (ab 1963). Er hatte aus diesen zwei Beziehungen fünf Kinder, darunter die Schriftstellerin und Buchkunst-Ausübende Roswitha und den Schauspieler-Sohn Christian.
Quadfliegs Alterssitz lag in Niedersachsen, in Heilshorn. Seine letzten Stationen sind geografisch im Umkreis von Bremen zu finden. Am 17. November 2003 starb er infolge einer Lungenembolie im Krankenhaus von Osterholz-Scharnbeck. Seine sterblichen Überreste wurden nicht in einem Ehrengrab, sondern anonym am Friedhof von Werschenrege bestattet.
Will Quadflieg, geboren am 15. September 1914 in Oberhausen im Ruhrgebiet, stand in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf allen großen deutschsprachigen Bühnen, darunter auch am Zürcher Schauspielhaus und im Wiener Burgtheater. Die vierteilige TV-Saga "Der große Bellheim", inszeniert von Dieter Wedel, rundete eine steile Karriere ab, die ihn aber auch in die Untiefen des autoritären NS-Staates geführt hatte. Seine größten Erfolge verbuchte er als faustischer Charakter in Hamburg und in Salzburg mit zwei Rollen, die er auf eine dynamische und unprätentiöse Weise interpretierte. Auf den Brettern der Hansestadt gab er den "Faust", der seinem Naturell entsprach, vor dem Dom der Mozartstadt und in Zürich verkörperte er den "Jedermann", die volkstümliche Ausgabe des Lebemenschen, der spät zur Einsicht kommt.
Quadflieg selbst dachte sehr wohl nach, reflektierte seine scheinbar unpolitische Meta-Rolle im Dritten Reich als Darsteller in zwei Propagandafilmen und ließ diese Gedanken in seine Autobiografie "Wir spielen immer" einfließen, die seit 1976 in mehreren Auflagen im Frankfurter S. Fischer-Verlag erschienen ist.
Der berühmte Faust
Ausgangspunkt von Quadfliegs steiler Karriere im Nachkriegsdeutschland war die produktive Zusammenarbeit mit Gustaf Gründgens, die ab 1952 ein Jahrzehnt währte. Die von Gründgens inszenierte und von Teo Otto ausgestattete Hamburger "Faust"-Produktion machte in der Spielsaison 1957/58 Furore.
Bilder davon liefern sowohl ein fulminanter Film als auch eine Buchausgabe mit Schwarzweiß-Fotografien von Rosemarie Clausen, die im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Die Bildkünstlerin dokumentiert eindrucksvoll die reduktionistische Darstellung des Mephisto und das zwischen Vitalität und Zweifel schwankende Naturell Heinrich Fausts, verkörpert durch Quadflieg.
Noch einprägsamer ist der beide "Faust"-Teile enthaltende Gründgens-Film. Seit seinem frühen Teufels-Debüt 1918 entwickelte Gründgens seine unbestrittene Paraderolle immer weiter und stellte seit den Dreißigerjahren Überlegungen an, wie Goethes Drama über den "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft" optimal auf die Bühne zu bringen wäre, um der Maxime "Du gleichst dem Geist, den du begreifst" zu entsprechen. Das gelang Gründgens im Lauf der Jahre immer besser und so hatte der Theatermann nach vier Jahrzehnten Bühnenerfahrung bereits einige Heinrich-Darsteller in Versuchung geführt und mitunter auch an die Wand gespielt.
Nicht so den kongenialen, damals 43-jährigen Quadflieg, über den sich der Regisseur und Mephisto-Darsteller, dem Klaus Mann ein ambivalentes literarisches Denkmal gesetzt hat, anerkennend äußerte: "Von den beiden Kollegen, mit denen ich heute ,Faust‘ spiele, ist Quadflieg die mit allen Mitteln verschwenderisch ausgestattete dynamischere Persönlichkeit, die an Schwierigkeiten wächst, weshalb mit Recht vermerkt wurde, dass der ihm theoretisch schwerer zugängliche alte Faust seinen jungen Faust - der ihm von Natur aus viel leichter fallen müsste - überstrahlt."
Peter Suhrkamp bezeichnete Gründgens, der den "Faust" schrittweise entrümpelte und auf das Wesentliche reduzierte, als einen Gratwanderer, der stets in gefährlichster Höhe über einem Abgrund agiert hatte. Auch Quadflieg flog zeitweise zu nahe über das Goebbels-Nest, wie schon eingangs erwähnt wurde. Das war der hohe Preis der Karriere, den er zahlen musste.
Für seinen Einsatz als Protagonist des "Dritten Reichs", den er nicht als Kollaboration verstanden wissen wollte, war er vom Kriegsdienst freigestellt worden. Schuldgefühle allein erklären seine politischen Engagements im reiferen Alter nicht, in denen er sich in der Friedensbewegung, für Tier- und Umweltschutz engagierte. Er trat sogar der deutschen Tierschutzpartei bei, die im Vorfeld der Grünen agierte.
Gewisse Parallelen der Rechtfertigung werden in der jüngst erschienenen Biografie des tschechischen Schlagerstars Karel Gott ("Zwischen zwei Welten", Riva Verlag 2014) deutlich, denn das "Rotkehlchen aus Prag" betont, nie das System der CSSR repräsentiert zu haben, sondern nur die dortige Kultur, die sich ja nicht maßgeblich von jener in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterscheide.
Rückblickend wird die politische Rolle eines Kunstmenschen zumeist von diesem in aller Bescheidenheit herunter gespielt, wie etwa auch Biografien von Fred Hennings ("Heimat Burgtheater", Wien 1974) oder Walter Thomas ("Als der Vorhang fiel", Dortmund 1947) zeigen, wobei Thomas sogar Generalkulturbeauftragter des Reichsstatthalters Baldur von Schirach in Wien war und dessen Mozart- (1941) und Hebbelwoche (1942) ausrichtete.
Im Falle Quadfliegs muss aber auch auf das Faktum verwiesen werden, dass er seit seinem Debüt als Operetteneleve 1933 nur das autoritäre System kannte, da ja Hitler bereits Anfang Februar das Ruder übernommen hatte. Der Schauspieler stammte aus bürgerlichen Verhältnissen. Der Sohn eines Bergbaudirektors und Zechenleiters aus dem kleinen Oberhausen im Ruhrgebiet hieß eigentlich Friedrich Wilhelm. Wie andere Zeitgenossen, die seit den Dreißigerjahren auf der Bühne standen, (z.B. Fred Hennings, Fred Liewehr; aber auch nach dem Krieg Karel Gott/-ar, Udo Jürgens), wählte Quadflieg einen Künstler-Vornamen, den er durch Abkürzung erzielte.
Vielseitige Begabung
Sein Talent zeichnete sich früh ab, bereits als Jugendlicher trat er als Eleve und Statist auf, später nahm er privaten Schauspielunterricht. Sein Debüt feierte er zu Hause in Oberhausen als Weyland in Lehárs Operette "Friederike". Dann wechselte er auf die Volksbühne Gießen unter dem Regie-Impresario und Schauspieler Eugen Klöpfer. Quadflieg spielte in Düsseldorf und in Heidelberg, später auch in Berlin. Nach dem Krieg trat er ab 1947 in Hamburg im Thalia-Theater auf.
Am Wiener Burgtheater spielte er im Jahr 1964 Macbeth. Das Publikum nahm seine Darstellung in Shakespeares gleichnamigem Königsdrama begeistert auf, wogegen Friedrich Torberg die Produktion sarkastisch kritisierte: "Erst gegen Schluss bekam die Aufführung richtigen Schwung, der den Macbeth Will Quadfliegs überzeugend in die Tiefe riss, wenngleich aus keiner besonderen Höhe. Seine große Zeit hatte er am Anfang, als er, zum Unterschied von Vetter Richard in keiner Weise gewillt, ein Bösewicht zu werden, es dennoch wurde."
Als Quadflieg einmal schwankte, ob er eine Rolle annehmen sollte, kommentierte dies Torberg mit der einprägsamen Frage: "Will Quadflieg oder will er nicht?".
Allmählich geriet Quadflieg in Konflikt mit den "Theatermachern", die nicht nur radikale Schnitte vornahmen, sondern tief in dramatische Konzepte und Handlungen eingriffen. Lieber arbeitete er mit werktreu orientierten Regisseuren, was seine Kooperation mit Rudolf Noelte erklärt. Der Alceste in Molières "Menschenfeind", Michael Kramer von Hauptmann und Thomas Paine in Büchners "Dantons Tod" festigten Quadfliegs Ruf als traditionellen Schauspieler hoher Qualität, der durch seine sonore Stimme und sein angenehmes Timbre wie auch durch seine Mimik überzeugte.
Letzte Auftritte
Claus Peymann, der seinerseits Shakespeare und andere Klassiker erfolgreich inszenierte, sodass ihn Thomas Bernhard sogar der "Klassikerkrankheit" zieh, lud Quadflieg zu einer Lesung nach Wien ein. Am 13. November 1988 trug der 74-jährige Schauspieler das Vorspiel auf dem Theater (Faust I) in einer eindrucksvollen Performance auf der Burgtheaterbühne vor. Im Fernsehen kam er noch einmal in der von Dieter Wedel in Szene gesetzten Saga "Der große Bellheim" zu Ehren. Ab 1983 spielte Quadflieg wieder am Thalia-Theater in Hamburg.
Der Mime war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit der Schwedin Benita von Vegesack, sodann mit Margaret Jacobs (ab 1963). Er hatte aus diesen zwei Beziehungen fünf Kinder, darunter die Schriftstellerin und Buchkunst-Ausübende Roswitha und den Schauspieler-Sohn Christian.
Quadfliegs Alterssitz lag in Niedersachsen, in Heilshorn. Seine letzten Stationen sind geografisch im Umkreis von Bremen zu finden. Am 17. November 2003 starb er infolge einer Lungenembolie im Krankenhaus von Osterholz-Scharnbeck. Seine sterblichen Überreste wurden nicht in einem Ehrengrab, sondern anonym am Friedhof von Werschenrege bestattet.
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Gerhard Strejcek
Sportwetten: Gesamtreform im Rechtsbereich
Salzburger Nachrichten, 24.08.2014
Reform des Zivil- und Strafrechts, des Sport- und Wettrechts. Vorsicht: „Büchse der Pandora“.
Es ist gar nicht so einfach, mit rechtlichen Mitteln den Wettbetrug bei Fußballspielen zu verhindern. Nachdem im ersten Teil dieses Beitrags (18. August) das Umfeld ausgelotet worden war, sind nun Reformvorschläge zu prüfen – in Pro und Kontra:
Die Schaffung einer neuen Bundeskompetenz betreffend „Sportwetten“ und damit die „Verbundlichung“ der derzeit landesgesetzlich geregelten Wettregimes wäre wenig sinnvoll. Diese gut gemeinten Vorschläge stammten von der AK Salzburg, sie bedürften einer Verfassungsänderung und würden letztlich nichts ändern, denn selbst bundesweit geltende, gesetzliche Verbote von Ereigniswetten würden ja nur im Inland wirken. Die Wettbetrüger setzen aber gerne in Fernost im Weg von Onlinewetten.
Eine gesamthafte Reform dieses Rechtsgebiets wäre sinnvoll, sie müsste aber mehrere Punkte erfassen, von denen der Bund vor allem Zivil- und Strafrecht, die Länder das Sport- und Wettrecht novellieren könnten. Die Länder sollen weiterhin das Sportwettwesen regeln und vollziehen, so wie sich das aus der Bundesverfassung ergibt. Es sollte in allen Ländern Vorkehrungen gegen Wettsucht geben, die ebenso gefährlich wie Spielsucht ist.
In den Landesgesetzen finden sich derzeit kaum inhaltliche Vorgaben für das Wettangebot. Die eher formale Vorgabe, dass die Anbieter („Totalisateure“ genannt) ein Wettreglement in ihren Geschäftsräumen aushängen müssen, sagt über den Inhalt nichts aus.
Wenn also bestimmte Wettarten verboten werden, dann geht das nur im Landesrecht. Das zu koordinieren ist schwierig; und im Effekt bringt es nichts, weil im Ausland weiter z. B. per Internet auf Ereignisse innerhalb Österreichs gewettet werden kann.
Daher können die Landesgesetze nur z. B. Verhaltensregeln aufstellen, welche sich auf den Abschluss der Verträge (etwa mit Buchmachern) also auf diesen Erwerbszweig beziehen; landesrechtlich dürften aber auch Sport-Verhaltensregeln erlassen werden. Wenn es hiefür gute Ansätze gäbe, kann man sogar einen Länderstaatsvertrag abschließen, um das zu koordinieren, man braucht keine Verbundlichung dafür. Zu denken wäre an Manipulationsverbote, die unter Verwaltungsstrafsanktion stehen.
Auch der Bund hat Handlungsbedarf: Die Regelung der Glücksverträge im ABGB ist völlig veraltet und geht an den heutigen Bedürfnissen vorbei. Wenn es in § 1271 heißt, dass jedes Spiel eine Art von Wette sei, wird deutlich erkennbar, dass zivilrechtlich keine brauchbare Differenzierung zwischen Glücksspielen und Wetten besteht.
Es sollte klarer definiert werden, dass Wetten über den Ausgang von Sportwettkämpfen oder über den Hergang von Ereignissen während dieser Veranstaltungen stattfinden. Gesellschaftswetten haben in Österreich keine große Relevanz und auch keine Tradition, es ist auch umstritten, ob sie überhaupt von den Ländern geregelt werden dürfen (manche Gesetze, etwa in Sbg. und Vlbg., regeln auch diese).
Im Zivilrecht wäre es sinnvoll, wenn das veraltete Gesetz (= ABGB, § 1271 ff) selbst deutlich macht, dass sich der Wettvertrag vom Ereignis „abkoppelt“, d. h. auch dann gültig bleibt, wenn ein Dritter das Ereignis manipuliert. Alles andere erschiene abwegig und würde letztlich ein seriöses Wettangebot unmöglich machen, wenn der Buchmacher oder Totalisateur dafür geradestehen müsste, dass sich Spieler und Wett-teilnehmer zu Manipulationen (Matchfixing) verabreden. Das wird allerdings auch schon jetzt so gesehen, denn sonst müssten ja die ganzen Verträge aufgeknüpft werden (im Wege der Nichtigkeit).
Im Strafrecht (StGB) wäre ein eigener Deliktstatbestand betreffend „Manipulation von Sportereignissen“ denkbar, der auch das Matchfixing erfassen könnte. Auch Qualifikationen nach Schadenshöhe wären möglich. Aber auch das bloße Manipulieren, das dem Ansehen des Sports schadet und das Vertrauen der Zuseher erschüttert, könnte strafbar sein. Die Frage ist nur, wie weit das gehen soll, ob z. B. auch Skirennen oder Sprungbewerbe erfasst werden, wenn hier etwa außerordentliche Wetterereignisse oder Kurssetzung zur Beeinflussung missbraucht werden. D ie Frage ist, wo der Manipulationsvorwurf beginnt bzw. endet, da ja auch die Wahl der Bodenbeläge etwa im Tennis oder Hallenfußball eine Rolle spielen kann. Auch an technische Hilfsmittel im Kfz-Sport ist hier zu denken. Man muss daher aufpassen, die „Büchse der Pandora“ nicht zu weit zu öffnen.
Es ist gar nicht so einfach, mit rechtlichen Mitteln den Wettbetrug bei Fußballspielen zu verhindern. Nachdem im ersten Teil dieses Beitrags (18. August) das Umfeld ausgelotet worden war, sind nun Reformvorschläge zu prüfen – in Pro und Kontra:
Die Schaffung einer neuen Bundeskompetenz betreffend „Sportwetten“ und damit die „Verbundlichung“ der derzeit landesgesetzlich geregelten Wettregimes wäre wenig sinnvoll. Diese gut gemeinten Vorschläge stammten von der AK Salzburg, sie bedürften einer Verfassungsänderung und würden letztlich nichts ändern, denn selbst bundesweit geltende, gesetzliche Verbote von Ereigniswetten würden ja nur im Inland wirken. Die Wettbetrüger setzen aber gerne in Fernost im Weg von Onlinewetten.
Eine gesamthafte Reform dieses Rechtsgebiets wäre sinnvoll, sie müsste aber mehrere Punkte erfassen, von denen der Bund vor allem Zivil- und Strafrecht, die Länder das Sport- und Wettrecht novellieren könnten. Die Länder sollen weiterhin das Sportwettwesen regeln und vollziehen, so wie sich das aus der Bundesverfassung ergibt. Es sollte in allen Ländern Vorkehrungen gegen Wettsucht geben, die ebenso gefährlich wie Spielsucht ist.
In den Landesgesetzen finden sich derzeit kaum inhaltliche Vorgaben für das Wettangebot. Die eher formale Vorgabe, dass die Anbieter („Totalisateure“ genannt) ein Wettreglement in ihren Geschäftsräumen aushängen müssen, sagt über den Inhalt nichts aus.
Wenn also bestimmte Wettarten verboten werden, dann geht das nur im Landesrecht. Das zu koordinieren ist schwierig; und im Effekt bringt es nichts, weil im Ausland weiter z. B. per Internet auf Ereignisse innerhalb Österreichs gewettet werden kann.
Daher können die Landesgesetze nur z. B. Verhaltensregeln aufstellen, welche sich auf den Abschluss der Verträge (etwa mit Buchmachern) also auf diesen Erwerbszweig beziehen; landesrechtlich dürften aber auch Sport-Verhaltensregeln erlassen werden. Wenn es hiefür gute Ansätze gäbe, kann man sogar einen Länderstaatsvertrag abschließen, um das zu koordinieren, man braucht keine Verbundlichung dafür. Zu denken wäre an Manipulationsverbote, die unter Verwaltungsstrafsanktion stehen.
Auch der Bund hat Handlungsbedarf: Die Regelung der Glücksverträge im ABGB ist völlig veraltet und geht an den heutigen Bedürfnissen vorbei. Wenn es in § 1271 heißt, dass jedes Spiel eine Art von Wette sei, wird deutlich erkennbar, dass zivilrechtlich keine brauchbare Differenzierung zwischen Glücksspielen und Wetten besteht.
Es sollte klarer definiert werden, dass Wetten über den Ausgang von Sportwettkämpfen oder über den Hergang von Ereignissen während dieser Veranstaltungen stattfinden. Gesellschaftswetten haben in Österreich keine große Relevanz und auch keine Tradition, es ist auch umstritten, ob sie überhaupt von den Ländern geregelt werden dürfen (manche Gesetze, etwa in Sbg. und Vlbg., regeln auch diese).
Im Zivilrecht wäre es sinnvoll, wenn das veraltete Gesetz (= ABGB, § 1271 ff) selbst deutlich macht, dass sich der Wettvertrag vom Ereignis „abkoppelt“, d. h. auch dann gültig bleibt, wenn ein Dritter das Ereignis manipuliert. Alles andere erschiene abwegig und würde letztlich ein seriöses Wettangebot unmöglich machen, wenn der Buchmacher oder Totalisateur dafür geradestehen müsste, dass sich Spieler und Wett-teilnehmer zu Manipulationen (Matchfixing) verabreden. Das wird allerdings auch schon jetzt so gesehen, denn sonst müssten ja die ganzen Verträge aufgeknüpft werden (im Wege der Nichtigkeit).
Im Strafrecht (StGB) wäre ein eigener Deliktstatbestand betreffend „Manipulation von Sportereignissen“ denkbar, der auch das Matchfixing erfassen könnte. Auch Qualifikationen nach Schadenshöhe wären möglich. Aber auch das bloße Manipulieren, das dem Ansehen des Sports schadet und das Vertrauen der Zuseher erschüttert, könnte strafbar sein. Die Frage ist nur, wie weit das gehen soll, ob z. B. auch Skirennen oder Sprungbewerbe erfasst werden, wenn hier etwa außerordentliche Wetterereignisse oder Kurssetzung zur Beeinflussung missbraucht werden. D ie Frage ist, wo der Manipulationsvorwurf beginnt bzw. endet, da ja auch die Wahl der Bodenbeläge etwa im Tennis oder Hallenfußball eine Rolle spielen kann. Auch an technische Hilfsmittel im Kfz-Sport ist hier zu denken. Man muss daher aufpassen, die „Büchse der Pandora“ nicht zu weit zu öffnen.
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Gerhard Strejcek
Kann man den Betrug im Fußball verhindern?
Salzburger Nachrichten, 18.08.2014
Rechtspolitische Konsequenzen blieben bisher weitgehend aus. Die Gründe sind nachvollziehbar.
In Graz läuft der Strafprozess gegen die wegen Wettbetrugs angeklagten Fußballspieler Dominique Taboga und Sanel Kuljic u. a. Die Staatsanwaltschaft hat auch Anklage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Erpressung erhoben. Aber in erster Linie interessiert die Öffentlichkeit, wie das Gericht Matchmanipulationen strafrechtlich in den Griff bekommen will.
Da es kein eigenes Delikt mit dem Tatbestand „Matchfixing“ gibt, wofür die bloße Manipulation ausreichend wäre, muss im Einzelfall ein Betrug nachgewiesen werden, der nach dem Strafgesetzbuch Bereicherungsvorsatz, Täuschung und Schädigung in Vermögensrechten vorsieht.
Im Falle eines Wettbetrugs ist das recht kompliziert, weil einerseits die Geschädigten womöglich nichts merken und weil andererseits auch Wettteilnehmer von einer Manipulation profitieren können, ohne in die kriminelle Machenschaften eingeweiht zu sein.
Wer „zufällig“ oder aufgrund einer Eingebung auf eine Niederlage eines Favoriten setzt, kann redlich davon profitieren, dass das Match überraschend verloren geht. Dennoch haben deutsche Gerichte Wettteilnehmer als die Geschädigten („Opfer“) eines Wettbetrugs eingestuft. Gäbe es aber ein eigenes Delikt des Matchfixings, dann würde es ausreichen, das legitime Vertrauen der Öffentlichkeit (nicht nur der Wettteilnehmer) in einem Spielverlauf zu erschüttern, in dem statt sportlichen Kriterien die Manipulation Platz greift.
Leider ist es gar nicht einfach, mit rechtlichen Mitteln den Wettbetrug zu verhindern. Zumeist setzen Mittäter hohe Summen auf sogenannte Ereigniswetten (etwa die Verhängung eines Elfmeters) und platzieren diese bei Online-Anbietern in Asien.
Daher haben es korrekte österreichische Anbieter, die seit dem Auffliegen des Skandals das Angebot von Ereigniswetten zurückschraubten, nicht in der Hand, die verhältnismäßig „sicherste“ Variante der Manipulation zu verhindern. Im Gegenteil, sie schaden sich wirtschaftlich selbst, weil die kriminellen Elemente auf den Online-Markt nach Fernost ausweichen und keine Einsätze mehr hierzulande platzieren, was auch den Vorteil für die Täter hat, dass sie unauffälliger agieren können.
Ein generelles Verbot der Ereigniswette, das in Österreich nur landesgesetzlich verankert werden könnte, bringt daher wenig. Soweit ersichtlich, war aber der freiwillige Verzicht der heimischen Wettanbieter auf dieses Angebot der einzige greifbare, rechtspolitische „Erfolg“ einer Reformdebatte, die Sportminister Gerald Klug eingemahnt hatte.
Die im Herbst des Vorjahrs vorgeschlagene „Verbundlichung“, das heißt die Schaffung einer neuen Bundeskompetenz (etwa nach Muster des Monopolwesens, worauf sich das Glücksspielgesetz stützt), würde die oben erwähnte Problematik nicht lösen. Zudem kann länderübergreifend auch mit dem Mittel eines sogenannten Gliedstaatsvertrags ein einheitliches Regime angestrebt werden. Die bloße Schaffung einer Bundeskompetenz bringt also wenig bis nichts ein.
Interessanter erscheint der Versuch, im Strafrecht Änderungen herbeizuführen. Allerdings wäre es auch hier mit der Schaffung eines neuen Tatbestands allein nicht getan. Denn was das sogenannte Matchfixing betrifft, bei dem ein Ergebnis möglichst punktgenau manipuliert wird, stößt die Beweisführung mitunter an ihre Grenzen. Sofern die Beschuldigten nicht kooperieren und Geständnisse abliefern, ist der manipulierte Matchverlauf objektiv sehr schwer zu erkennen.
Betrachten wir die nunmehr angeklagten Verhaltensweisen, so waren offenbar stümperhafte Fehler im oder vor dem Strafraum beliebt, sodass die Mittäter hohe Quoten einfahren konnten, wenn der Favorit überraschend ein Match verlor. Für den Zuseher ist aber eine solche Manipulation angesichts vergleichbarer Fehlleistungen im wirklichen Fußballleben schwer erkennbar.
Dazu kommt die Ungewissheit der Schiedsrichterentscheidung. Wer sich an die kundigen Analysen bei der Fußball-WM erinnert, wird Zweifel an der als „Tatsachenentscheidung“ geltenden Richtigkeit so manchen Elferpfiffs bekommen haben, was mit Manipulation noch gar nichts zu tun hat.
Man möchte also meinen, dass es einfach ist, ein Spiel absichtlich zu verlieren, aber Fußball ist ein Mannschaftssport, bei dem es zu unerwarteten Leistungen nicht eingeweihter Kollegen kommen kann, die dann überraschend ein bereits verlorenes Match wieder „umdrehen“ oder wenigstens ein Unentschieden herausholen.
Diese Konstellation wurde den bezahlten Verlierern zum Verhängnis, denn die beteiligten Wettbetrüger nahmen es nicht gelassen hin, wenn das gewünschte – schlechte – Ergebnis trotz heftigem Bemühen nicht erreicht werden konnte.
(Lesen Sie demnächst im Teil II: Reformvorschläge: Pro und Kontra).
In Graz läuft der Strafprozess gegen die wegen Wettbetrugs angeklagten Fußballspieler Dominique Taboga und Sanel Kuljic u. a. Die Staatsanwaltschaft hat auch Anklage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Erpressung erhoben. Aber in erster Linie interessiert die Öffentlichkeit, wie das Gericht Matchmanipulationen strafrechtlich in den Griff bekommen will.
Da es kein eigenes Delikt mit dem Tatbestand „Matchfixing“ gibt, wofür die bloße Manipulation ausreichend wäre, muss im Einzelfall ein Betrug nachgewiesen werden, der nach dem Strafgesetzbuch Bereicherungsvorsatz, Täuschung und Schädigung in Vermögensrechten vorsieht.
Im Falle eines Wettbetrugs ist das recht kompliziert, weil einerseits die Geschädigten womöglich nichts merken und weil andererseits auch Wettteilnehmer von einer Manipulation profitieren können, ohne in die kriminelle Machenschaften eingeweiht zu sein.
Wer „zufällig“ oder aufgrund einer Eingebung auf eine Niederlage eines Favoriten setzt, kann redlich davon profitieren, dass das Match überraschend verloren geht. Dennoch haben deutsche Gerichte Wettteilnehmer als die Geschädigten („Opfer“) eines Wettbetrugs eingestuft. Gäbe es aber ein eigenes Delikt des Matchfixings, dann würde es ausreichen, das legitime Vertrauen der Öffentlichkeit (nicht nur der Wettteilnehmer) in einem Spielverlauf zu erschüttern, in dem statt sportlichen Kriterien die Manipulation Platz greift.
Leider ist es gar nicht einfach, mit rechtlichen Mitteln den Wettbetrug zu verhindern. Zumeist setzen Mittäter hohe Summen auf sogenannte Ereigniswetten (etwa die Verhängung eines Elfmeters) und platzieren diese bei Online-Anbietern in Asien.
Daher haben es korrekte österreichische Anbieter, die seit dem Auffliegen des Skandals das Angebot von Ereigniswetten zurückschraubten, nicht in der Hand, die verhältnismäßig „sicherste“ Variante der Manipulation zu verhindern. Im Gegenteil, sie schaden sich wirtschaftlich selbst, weil die kriminellen Elemente auf den Online-Markt nach Fernost ausweichen und keine Einsätze mehr hierzulande platzieren, was auch den Vorteil für die Täter hat, dass sie unauffälliger agieren können.
Ein generelles Verbot der Ereigniswette, das in Österreich nur landesgesetzlich verankert werden könnte, bringt daher wenig. Soweit ersichtlich, war aber der freiwillige Verzicht der heimischen Wettanbieter auf dieses Angebot der einzige greifbare, rechtspolitische „Erfolg“ einer Reformdebatte, die Sportminister Gerald Klug eingemahnt hatte.
Die im Herbst des Vorjahrs vorgeschlagene „Verbundlichung“, das heißt die Schaffung einer neuen Bundeskompetenz (etwa nach Muster des Monopolwesens, worauf sich das Glücksspielgesetz stützt), würde die oben erwähnte Problematik nicht lösen. Zudem kann länderübergreifend auch mit dem Mittel eines sogenannten Gliedstaatsvertrags ein einheitliches Regime angestrebt werden. Die bloße Schaffung einer Bundeskompetenz bringt also wenig bis nichts ein.
Interessanter erscheint der Versuch, im Strafrecht Änderungen herbeizuführen. Allerdings wäre es auch hier mit der Schaffung eines neuen Tatbestands allein nicht getan. Denn was das sogenannte Matchfixing betrifft, bei dem ein Ergebnis möglichst punktgenau manipuliert wird, stößt die Beweisführung mitunter an ihre Grenzen. Sofern die Beschuldigten nicht kooperieren und Geständnisse abliefern, ist der manipulierte Matchverlauf objektiv sehr schwer zu erkennen.
Betrachten wir die nunmehr angeklagten Verhaltensweisen, so waren offenbar stümperhafte Fehler im oder vor dem Strafraum beliebt, sodass die Mittäter hohe Quoten einfahren konnten, wenn der Favorit überraschend ein Match verlor. Für den Zuseher ist aber eine solche Manipulation angesichts vergleichbarer Fehlleistungen im wirklichen Fußballleben schwer erkennbar.
Dazu kommt die Ungewissheit der Schiedsrichterentscheidung. Wer sich an die kundigen Analysen bei der Fußball-WM erinnert, wird Zweifel an der als „Tatsachenentscheidung“ geltenden Richtigkeit so manchen Elferpfiffs bekommen haben, was mit Manipulation noch gar nichts zu tun hat.
Man möchte also meinen, dass es einfach ist, ein Spiel absichtlich zu verlieren, aber Fußball ist ein Mannschaftssport, bei dem es zu unerwarteten Leistungen nicht eingeweihter Kollegen kommen kann, die dann überraschend ein bereits verlorenes Match wieder „umdrehen“ oder wenigstens ein Unentschieden herausholen.
Diese Konstellation wurde den bezahlten Verlierern zum Verhängnis, denn die beteiligten Wettbetrüger nahmen es nicht gelassen hin, wenn das gewünschte – schlechte – Ergebnis trotz heftigem Bemühen nicht erreicht werden konnte.
(Lesen Sie demnächst im Teil II: Reformvorschläge: Pro und Kontra).
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Gerhard Strejcek
Im Windschatten des großen Franz
Wiener Zeitung, 25.05.2014
Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber der Werke von Franz Kafka verblasste das Werk des Schriftstellers Max Brod, der vor 130 Jahren, am 27. Mai 1884, geboren wurde. Nun werden seine Bücher neu aufgelegt.
Max Brod war knapp ein Jahr jünger als sein verehrter Freund Kafka, mit dem er in Prag aufwuchs, doch er überlebte den begnadeten Autor um 34 Jahre. Brod emigrierte 1939 nach Israel, arbeitete als Herausgeber, Publizist und Theaterregisseur und starb (am 20. Dezember 1968) 84-jährig in Tel Aviv. Obwohl er Kafkas Werk für die Nachwelt rettete, ist Brod wegen seiner Editionsstrategie umstritten. In seinem Wunsch, den fragmentarischen Texten Kafkas den Anschein eines stimmigen Ganzen zu geben, hatte er weit übers Ziel hinausgeschossen. Die Kritische Ausgabe der Kafka-Werke, die seit rund zwei Jahrzehnten bei S. Fischer erscheint, machte die Eingriffe wieder rückgängig und orientierte sich, wenn auch nicht in jedem Detail, an den Manuskripten Kafkas.
Damit verblasste das literarische Erbe Brods zunehmend. Seine eigenen Werke waren bis vor kurzem nur mehr antiquarisch erhältlich, Brod schien als Autor der Vergessenheit anheimgefallen zu sein. Doch das hat sich geändert, seit der Göttinger Wallstein Verlag im Vorjahr begann, Brods Werk wieder aufzulegen. Mittlerweile sind sechs Bücher lieferbar.
Jus-Studium in Prag
Brods Biografie steht vor allem in den ersten vier Jahrzehnten im Schatten jener Kafkas. Um die Jahrhundertwende studierten Max Brod und Franz Kafka gemeinsam Rechtswissenschaften an der deutschen Ferdinand-Karls-Universität in Prag. Der Studienplan unterschied sich nicht maßgeblich von dem in Wien vorgesehenen Curriculum. Drei kommissionelle Staatsprüfungen und drei Rigorosen waren zu bewältigen, hingegen musste weder eine Dissertation noch eine sonstige wissenschaftliche Arbeit vorgelegt werden, um das Doktorat zu erlangen.
Die Donaumonarchie hatte einen großen Bedarf an Juristen, die in Bezirkshauptmannschaften und -gerichten praktisch einsetzbar waren und die sich nicht in ausufernde akademische Debatten verlieren sollten. Die beiden Jugendfreunde ächzten unter der trockenen Studienliteratur. Man habe sich in der Lernphase "wochenlang buchstäblich von Holzmehl" ernährt, berichtete Kafka, der seine Staatsprüfung aus Finanzwissenschaften und öffentlichem Recht als "lustig, wenn auch nicht sehr kenntnisreich" umschrieb.
Sowohl Brod als auch Kafka stammten aus bürgerlichen, jüdischen Familien und sie studierten Jus vor allem ihren Eltern zuliebe, denen der Aufstieg in die akademische Welt als Höhepunkt der Assimilierung in Prag erschien. Unausgesprochen aber boykottierten beide eine weitere juristische Karriere, um sich der geliebten Schriftstellerei widmen zu können. Nach Abschluss der Rechtspraxis suchte Franz Kafka im Jahr 1906 einen gemütlichen Arbeitsplatz, um weiterhin, zumindest nächtens, "kritzeln" zu können. So geringschätzig bezeichnete er seine hochkreative Tätigkeit, die aus heutiger Sicht Weltliteratur entstehen ließ, wenn auch unter psychischen Qualen.
Kafkas Vater, ein Prager Galanteriewarenhändler, der die Dohle ("kavka" auf Tschechisch) als Markenzeichen nutzte, hätte den Sohn gerne als Rechtsanwalt oder Unternehmer gesehen, dasselbe galt für die Familie Brod. Aber die Söhne hatten, wie gesagt, andere Pläne. Der umtriebige Brod suchte den Kontakt zu den großen deutschen Verlagen in Leipzig, Berlin und Dresden. Kafka wiederum hielt es nicht lange an seinem ersten Arbeitsplatz bei der Assecurazioni Generali, einer heute noch wichtigen Triester Versicherung mit Sitz in allen größeren Städten Europas. Statt an den versprochenen exotischen Plätzen saß Kafka in Prag, musste zwangsweise Italienisch lernen und litt unter dem hektischen Betrieb der auf Lebens-, Feuer- und Sachversicherung spezialisierten k.k. Gesellschaft.
Die vorläufige Rettung bot der halbstaatliche Sektor. Während Kafka sich bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung für das Königreich Böhmen bewarb, peilte Max Brod eine Tätigkeit bei der Post an. Statt Freund Max zur Anstellung als provisiorischer Post-Jurist zu gratulieren, griff Kafka zu einer für ihn typischen, ironisch-satirischen Formel. Er bezeichnete den Arbeitgeber des Kollegen, die in allen Teilen der k.u.k. Monarchie einheitlich auftretende, schwarzgelbe Post, als "Amt ohne Ehrgeiz". In der AUVA bemühte sich der Beamte Kafka zwar um die Unfallvorsorge und besprach eifrig Erkenntnisse des k.k. Verwaltungsgerichtshofes, aber wenn es darum ging, widerspenstigen Gewerbetreibenden in Gablonz den Sinn der neuen Beiträge und der Versicherungspflicht zu erklären, geriet auch er an die Grenzen seiner Ambitionen.
Max Brods Leben währte zwar doppelt so lang wie Kafkas Erdendasein von vier Lebensjahrzehnten, aber es ist abgesehen von der Jugend- und Studienzeit weniger intensiv erforscht worden als jenes des berühmteren Freundes. Gewiss waren die Begabungen und Neigungen der beiden recht unterschiedlich verteilt - wenn man bedenkt, wie neuartig, prägnant und verstörend Kafkas Werke, beginnend mit dem "Urteil" aus 1913, sind. Brods Talent konnte hier nicht mithalten, aber in der Selbstdarstellung und beim Verkaufen von Projekten schlug er den Freund um Längen. Brod knüpfte unaufhörlich neue Kontakte, als Marketing-Agent stellte er im Literaturbetrieb früh seinen Mann. Auch als Schriftsteller war er zu Lebzeiten dank seines bemühten Auftretens erfolgreicher als Kafka.
Im Jahr 1916 erschien Kafkas Erzählung "Vor dem Gesetz", die später in den postum erschienenen "Process" (1925) Eingang fand. Brod publizierte im selben dritten Kriegsjahr den biografischen Roman "Tycho Brahes Weg zu Gott". Darin beschreibt er den Lebensweg des dänischen Astronomen, der noch fest im ptolemäischen Weltbild verankert war und ab 1599 am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag wirkte. Brahe hinterließ genaue Aufzeichnungen über den Mars und andere Planeten, sodass sein Nachfolger Kepler darauf aufbauend revolutionäre Erkenntnisse gewinnen konnte. Beide Astronomen waren evangelisch und fanden dennoch am Hof des katholischen Habsburgers Schutz und Hilfe. Mysteriös ist allerdings Brahes früher Tod, nachdem er nur ein Jahr lang gemeinsam mit Kepler in Prag wirkte.
Spirituelle Themen
Der lesenswerte Roman erwies sich als Erfolg und konnte bis in die 1970er Jahre als Suhrkamp Taschenbuch (Nr. 490) erworben werden, ehe er bis zur Neuaflage 2013 bei Wallstein von den Ladentischen verschwand. Nicht zufällig kommt "Gott" im Titel vor, Brods Werk kreiste immer wieder um spirituelle Themen, als Zionist interessierte ihn auch das Verhältnis der Religionen zueinander. Der Nahe Osten, wo die Muslime vor 1000 Jahren weitaus toleranter gegenüber den Juden verfahren waren als die Christen, bot reiches Anschauungsmaterial dafür. Mehrere der nunmehr wieder erhältlichen Werke sind romanhafte Biografien, meist Judaica verschiedener Genres, aber auch kunstkritische und politische Publikationen sind darunter.
Der von Karl Kraus rüde verhöhnte ("Butter aufs Brod") Besucher des Café Arco und begeisterte Förderer des "kleinen Franz" (Werfel), emigrierte 1939 nach Palästina. Die zurück liegenden Erfahrungen und Erlebnisse im "Prager Kreis" (Brod, Capek, Kafka, Ernst Weiss, Werfel, Urzidil) ließ Brod in ein Buch einfließen. Aus seiner Zeit in Israel sind Vorträge und Übersetzungen überliefert. Mangels einer letztgültigen Biografie sind aber vor allem Erlebnisse im Windschatten des "großen Franz" von Interesse.
Aus Brods Junggesellenzeit sind zahlreiche Dokumente gemeinsamen Wirkens überliefert. Gelegenheit zum Austausch freundschaftlicher Sticheleien gab es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg genug. Mehrere Reisen führten die Freunde nach Paris (samt Rennbahn- und Bordellbesuch), Zürich sowie nach Brescia (wo moderne Flugzeuge zur Schau standen). Auf einer dieser Reisen via Schweiz nach Italien entstand die allerdings bald aufgegebene Idee eines gemeinsamen, autobiografisch angehauchten Romans.
Falls man nicht gemeinsam reiste, erfüllten Postkarten die Funktion heutiger e-Mails oder SMS-Kanonaden. Das funktionierte fast ebenso rasch wie die Zustellung durch heutige Serviceprovider. Brod hatte auch regen Anteil an Kafkas Beziehungsproblemen. Die Beinahe-Gattin Felice Bauer hatte der Schüchterne etwa im Haus Brod kennen gelernt. Dank Maxens vorauseilender Kuppelei kannte sie Kafkas nicht sehr umfangreiches Werk und interessierte sich, so wie Franz, für Palästina. Brod brachte auch Kafka auf die Idee, Kontakt mit galizischen, ostjüdischen Schauspielern aufzunehmen, die in Prag gastierten.
Kafka war dreimal verlobt, aber nie verheiratet, in seiner letzten Lebensphase, während der Jahre 1923 und 24, sah er Brod nur mehr selten, lebte er doch bis zum Winterende in Berlin, dann kurzfristig in Sanatorien nahe Pernitz, an der Laryngologischen Klinik in Wien und schließlich im Mai und Anfang Juni 1924 am Sterbeort Kierling, das heute zur Gemeinde Klosterneuburg gehört, im heute noch zugänglichen, ehemaligen Sanatorium Hoffmann. Dort starb Kafka am 3. Juni vor neunzig Jahren.
Brod, der in Tel Aviv auch als Theatermanager werkte, machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg an die Edition von Kafkas Werk, das er vor der Vernichtung und dem Zugriff der Nazis (alle drei Schwestern Kafkas wurden von NS-Schergen in Vernichtungslagern umgebracht) gerettet hatte.
In Kafka-Biografien taucht er als mäßig begabte, hyperaktive und umtriebige Figur auf, die stets den Kopf voller unausgegorener Projekte hatte. Reiner Stach etwa schildert ihn als Kafkas Agent, als Kafkas Marketingdirektor, Kafkas Pressesprecher, einen kleinen, unscheinbar-bebrillten Beamten, der den langen Schatten Kafkas, den er um fast eine Generation überlebte, für seine eigene Karriere zu nutzen trachtete. Diesen zweifelhaften Ruf verdankt Brod auch den Eingriffen in Kafkas postum brachliegendem Prosawerk.
Übertriebene Vorwürfe
Vielleicht ging Brod tatsächlich einen Schritt zu weit, indem er aus Kafkas fragmentarischem Werk ein stimmiges Ganzes zu kreieren versuchte, nicht ohne dabei selbst über Gebühr Textpassagen einzufügen. Aber andererseits war Brod sein Leben lang bemüht, dem unterschätzten und unsicheren Kafka als Autor zum Durchbruch zu verhelfen. Seine Motive hiefür konnten gar nicht ausschließlich eigennützig sein, und selbst wenn Brod vermöge Kafkas Talent seine eigenen Defizite überspielen wollte, so bewirkte er im Ergebnis damit auch viel Gutes.
Diejenigen, die Brod heute zu einer Art Unperson stempeln und ihn seiner Editionsstrategie wegen angreifen, handeln somit nicht unähnlich einem Wohnungseigentümer, der die Feuerwehr klagt, weil sie beim Löschen eines verheerenden Brandes die hauseigene Gemäldesammlung leicht beschädigt hat.
Max Brod war knapp ein Jahr jünger als sein verehrter Freund Kafka, mit dem er in Prag aufwuchs, doch er überlebte den begnadeten Autor um 34 Jahre. Brod emigrierte 1939 nach Israel, arbeitete als Herausgeber, Publizist und Theaterregisseur und starb (am 20. Dezember 1968) 84-jährig in Tel Aviv. Obwohl er Kafkas Werk für die Nachwelt rettete, ist Brod wegen seiner Editionsstrategie umstritten. In seinem Wunsch, den fragmentarischen Texten Kafkas den Anschein eines stimmigen Ganzen zu geben, hatte er weit übers Ziel hinausgeschossen. Die Kritische Ausgabe der Kafka-Werke, die seit rund zwei Jahrzehnten bei S. Fischer erscheint, machte die Eingriffe wieder rückgängig und orientierte sich, wenn auch nicht in jedem Detail, an den Manuskripten Kafkas.
Damit verblasste das literarische Erbe Brods zunehmend. Seine eigenen Werke waren bis vor kurzem nur mehr antiquarisch erhältlich, Brod schien als Autor der Vergessenheit anheimgefallen zu sein. Doch das hat sich geändert, seit der Göttinger Wallstein Verlag im Vorjahr begann, Brods Werk wieder aufzulegen. Mittlerweile sind sechs Bücher lieferbar.
Jus-Studium in Prag
Brods Biografie steht vor allem in den ersten vier Jahrzehnten im Schatten jener Kafkas. Um die Jahrhundertwende studierten Max Brod und Franz Kafka gemeinsam Rechtswissenschaften an der deutschen Ferdinand-Karls-Universität in Prag. Der Studienplan unterschied sich nicht maßgeblich von dem in Wien vorgesehenen Curriculum. Drei kommissionelle Staatsprüfungen und drei Rigorosen waren zu bewältigen, hingegen musste weder eine Dissertation noch eine sonstige wissenschaftliche Arbeit vorgelegt werden, um das Doktorat zu erlangen.
Die Donaumonarchie hatte einen großen Bedarf an Juristen, die in Bezirkshauptmannschaften und -gerichten praktisch einsetzbar waren und die sich nicht in ausufernde akademische Debatten verlieren sollten. Die beiden Jugendfreunde ächzten unter der trockenen Studienliteratur. Man habe sich in der Lernphase "wochenlang buchstäblich von Holzmehl" ernährt, berichtete Kafka, der seine Staatsprüfung aus Finanzwissenschaften und öffentlichem Recht als "lustig, wenn auch nicht sehr kenntnisreich" umschrieb.
Sowohl Brod als auch Kafka stammten aus bürgerlichen, jüdischen Familien und sie studierten Jus vor allem ihren Eltern zuliebe, denen der Aufstieg in die akademische Welt als Höhepunkt der Assimilierung in Prag erschien. Unausgesprochen aber boykottierten beide eine weitere juristische Karriere, um sich der geliebten Schriftstellerei widmen zu können. Nach Abschluss der Rechtspraxis suchte Franz Kafka im Jahr 1906 einen gemütlichen Arbeitsplatz, um weiterhin, zumindest nächtens, "kritzeln" zu können. So geringschätzig bezeichnete er seine hochkreative Tätigkeit, die aus heutiger Sicht Weltliteratur entstehen ließ, wenn auch unter psychischen Qualen.
Kafkas Vater, ein Prager Galanteriewarenhändler, der die Dohle ("kavka" auf Tschechisch) als Markenzeichen nutzte, hätte den Sohn gerne als Rechtsanwalt oder Unternehmer gesehen, dasselbe galt für die Familie Brod. Aber die Söhne hatten, wie gesagt, andere Pläne. Der umtriebige Brod suchte den Kontakt zu den großen deutschen Verlagen in Leipzig, Berlin und Dresden. Kafka wiederum hielt es nicht lange an seinem ersten Arbeitsplatz bei der Assecurazioni Generali, einer heute noch wichtigen Triester Versicherung mit Sitz in allen größeren Städten Europas. Statt an den versprochenen exotischen Plätzen saß Kafka in Prag, musste zwangsweise Italienisch lernen und litt unter dem hektischen Betrieb der auf Lebens-, Feuer- und Sachversicherung spezialisierten k.k. Gesellschaft.
Die vorläufige Rettung bot der halbstaatliche Sektor. Während Kafka sich bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung für das Königreich Böhmen bewarb, peilte Max Brod eine Tätigkeit bei der Post an. Statt Freund Max zur Anstellung als provisiorischer Post-Jurist zu gratulieren, griff Kafka zu einer für ihn typischen, ironisch-satirischen Formel. Er bezeichnete den Arbeitgeber des Kollegen, die in allen Teilen der k.u.k. Monarchie einheitlich auftretende, schwarzgelbe Post, als "Amt ohne Ehrgeiz". In der AUVA bemühte sich der Beamte Kafka zwar um die Unfallvorsorge und besprach eifrig Erkenntnisse des k.k. Verwaltungsgerichtshofes, aber wenn es darum ging, widerspenstigen Gewerbetreibenden in Gablonz den Sinn der neuen Beiträge und der Versicherungspflicht zu erklären, geriet auch er an die Grenzen seiner Ambitionen.
Max Brods Leben währte zwar doppelt so lang wie Kafkas Erdendasein von vier Lebensjahrzehnten, aber es ist abgesehen von der Jugend- und Studienzeit weniger intensiv erforscht worden als jenes des berühmteren Freundes. Gewiss waren die Begabungen und Neigungen der beiden recht unterschiedlich verteilt - wenn man bedenkt, wie neuartig, prägnant und verstörend Kafkas Werke, beginnend mit dem "Urteil" aus 1913, sind. Brods Talent konnte hier nicht mithalten, aber in der Selbstdarstellung und beim Verkaufen von Projekten schlug er den Freund um Längen. Brod knüpfte unaufhörlich neue Kontakte, als Marketing-Agent stellte er im Literaturbetrieb früh seinen Mann. Auch als Schriftsteller war er zu Lebzeiten dank seines bemühten Auftretens erfolgreicher als Kafka.
Im Jahr 1916 erschien Kafkas Erzählung "Vor dem Gesetz", die später in den postum erschienenen "Process" (1925) Eingang fand. Brod publizierte im selben dritten Kriegsjahr den biografischen Roman "Tycho Brahes Weg zu Gott". Darin beschreibt er den Lebensweg des dänischen Astronomen, der noch fest im ptolemäischen Weltbild verankert war und ab 1599 am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag wirkte. Brahe hinterließ genaue Aufzeichnungen über den Mars und andere Planeten, sodass sein Nachfolger Kepler darauf aufbauend revolutionäre Erkenntnisse gewinnen konnte. Beide Astronomen waren evangelisch und fanden dennoch am Hof des katholischen Habsburgers Schutz und Hilfe. Mysteriös ist allerdings Brahes früher Tod, nachdem er nur ein Jahr lang gemeinsam mit Kepler in Prag wirkte.
Spirituelle Themen
Der lesenswerte Roman erwies sich als Erfolg und konnte bis in die 1970er Jahre als Suhrkamp Taschenbuch (Nr. 490) erworben werden, ehe er bis zur Neuaflage 2013 bei Wallstein von den Ladentischen verschwand. Nicht zufällig kommt "Gott" im Titel vor, Brods Werk kreiste immer wieder um spirituelle Themen, als Zionist interessierte ihn auch das Verhältnis der Religionen zueinander. Der Nahe Osten, wo die Muslime vor 1000 Jahren weitaus toleranter gegenüber den Juden verfahren waren als die Christen, bot reiches Anschauungsmaterial dafür. Mehrere der nunmehr wieder erhältlichen Werke sind romanhafte Biografien, meist Judaica verschiedener Genres, aber auch kunstkritische und politische Publikationen sind darunter.
Der von Karl Kraus rüde verhöhnte ("Butter aufs Brod") Besucher des Café Arco und begeisterte Förderer des "kleinen Franz" (Werfel), emigrierte 1939 nach Palästina. Die zurück liegenden Erfahrungen und Erlebnisse im "Prager Kreis" (Brod, Capek, Kafka, Ernst Weiss, Werfel, Urzidil) ließ Brod in ein Buch einfließen. Aus seiner Zeit in Israel sind Vorträge und Übersetzungen überliefert. Mangels einer letztgültigen Biografie sind aber vor allem Erlebnisse im Windschatten des "großen Franz" von Interesse.
Aus Brods Junggesellenzeit sind zahlreiche Dokumente gemeinsamen Wirkens überliefert. Gelegenheit zum Austausch freundschaftlicher Sticheleien gab es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg genug. Mehrere Reisen führten die Freunde nach Paris (samt Rennbahn- und Bordellbesuch), Zürich sowie nach Brescia (wo moderne Flugzeuge zur Schau standen). Auf einer dieser Reisen via Schweiz nach Italien entstand die allerdings bald aufgegebene Idee eines gemeinsamen, autobiografisch angehauchten Romans.
Falls man nicht gemeinsam reiste, erfüllten Postkarten die Funktion heutiger e-Mails oder SMS-Kanonaden. Das funktionierte fast ebenso rasch wie die Zustellung durch heutige Serviceprovider. Brod hatte auch regen Anteil an Kafkas Beziehungsproblemen. Die Beinahe-Gattin Felice Bauer hatte der Schüchterne etwa im Haus Brod kennen gelernt. Dank Maxens vorauseilender Kuppelei kannte sie Kafkas nicht sehr umfangreiches Werk und interessierte sich, so wie Franz, für Palästina. Brod brachte auch Kafka auf die Idee, Kontakt mit galizischen, ostjüdischen Schauspielern aufzunehmen, die in Prag gastierten.
Kafka war dreimal verlobt, aber nie verheiratet, in seiner letzten Lebensphase, während der Jahre 1923 und 24, sah er Brod nur mehr selten, lebte er doch bis zum Winterende in Berlin, dann kurzfristig in Sanatorien nahe Pernitz, an der Laryngologischen Klinik in Wien und schließlich im Mai und Anfang Juni 1924 am Sterbeort Kierling, das heute zur Gemeinde Klosterneuburg gehört, im heute noch zugänglichen, ehemaligen Sanatorium Hoffmann. Dort starb Kafka am 3. Juni vor neunzig Jahren.
Brod, der in Tel Aviv auch als Theatermanager werkte, machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg an die Edition von Kafkas Werk, das er vor der Vernichtung und dem Zugriff der Nazis (alle drei Schwestern Kafkas wurden von NS-Schergen in Vernichtungslagern umgebracht) gerettet hatte.
In Kafka-Biografien taucht er als mäßig begabte, hyperaktive und umtriebige Figur auf, die stets den Kopf voller unausgegorener Projekte hatte. Reiner Stach etwa schildert ihn als Kafkas Agent, als Kafkas Marketingdirektor, Kafkas Pressesprecher, einen kleinen, unscheinbar-bebrillten Beamten, der den langen Schatten Kafkas, den er um fast eine Generation überlebte, für seine eigene Karriere zu nutzen trachtete. Diesen zweifelhaften Ruf verdankt Brod auch den Eingriffen in Kafkas postum brachliegendem Prosawerk.
Übertriebene Vorwürfe
Vielleicht ging Brod tatsächlich einen Schritt zu weit, indem er aus Kafkas fragmentarischem Werk ein stimmiges Ganzes zu kreieren versuchte, nicht ohne dabei selbst über Gebühr Textpassagen einzufügen. Aber andererseits war Brod sein Leben lang bemüht, dem unterschätzten und unsicheren Kafka als Autor zum Durchbruch zu verhelfen. Seine Motive hiefür konnten gar nicht ausschließlich eigennützig sein, und selbst wenn Brod vermöge Kafkas Talent seine eigenen Defizite überspielen wollte, so bewirkte er im Ergebnis damit auch viel Gutes.
Diejenigen, die Brod heute zu einer Art Unperson stempeln und ihn seiner Editionsstrategie wegen angreifen, handeln somit nicht unähnlich einem Wohnungseigentümer, der die Feuerwehr klagt, weil sie beim Löschen eines verheerenden Brandes die hauseigene Gemäldesammlung leicht beschädigt hat.
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Gerhard Strejcek
Ferk, Janko: Der Kaiser schickt Soldaten aus
Wiener Zeitung, 26.04.2014
Empfindsame Reise ins Grauen
Der österreichische Autor Janko Ferk ergründet den Charakter von Thronfolger Franz Ferdinand - und das Gemütsspektrum von dessen mutmaßlichem Mörder Gavrilo Princip.
"Ich weiß nicht, ob es meine Kugeln waren", soll Gavrilo Princip am Tag seines Todes, dem 29. 4. 1918, gesagt haben. Die serbische Republik möchte ihm nun ein Denkmal setzen. Warum auch nicht, Princip war ein gebildeter junger Mann, der einiges erdulden musste. So wiesen ihn etwa die Tschetnik-Kommandanten als zu schwächlich zurück. Als Kämpfer für die Terrororganisation "Schwarze Hand", für die Verschwörer und Königsmörder von "Tod oder Einigkeit" und andere malerische Balkanschlächterorganisationen wäre Princip ungeeignet gewesen. Deshalb bezweifelte er bis zu seinem von Tuberkulose und Vernachlässigung verursachten Tod in einer Theresien-städter Zelle, dass er mit seiner Browning wirklich zwei Meisterschüsse abgegeben haben sollte.
Vielleicht hatte tatsächlich einer der Tausenden Feinde (darunter Tiszá und mit ihm ganz Ungarn) des rabiaten Habsburgers die Gunst der Stunde genutzt und sozusagen einen Freischuss auf Princips Kosten abgegeben. Aber das werden wir ebenso nie erfahren wie die wahren Gründe für das behäbige Umkehrmanöver am Ort des Attentats.
Seltsamer Zufall
Faktum ist, dass der Chauffeur just vor Princips Mündung Minuten brauchte, um zu reversieren, so wie 40 Jahre später Kennedys Fahrer im Schneckentempo am Schulbuchdepot von Dallas vorbeischlich, in dem Lee Harvey Oswald lauerte. Alles Zufall, natürlich!
In Janko Ferks romanhafter Chronik, deren Titel metaphorisch zu verstehen ist, erfährt der Leser Interessantes über den Kunstgeschmack des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand von Österreich-Este. Anlässlich eines Empfangs in Duino sprach ihn die befreundete Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe auf Rilke an, dessen Lyrik der jagdbesessene Sammler bereits kannte. Angeblich kaufte der von seinem Onkel Kaiser Franz Joseph I. mehrfach gedemütigte Thronfolger Kitsch und Kunst en gros ein.
Zwischendurch erlegte er eine Viertelmillion an Wild und brachte mit seinen Manöver-Einmischungen den Generalstab unter Conrad von Hoetzendorf zur Verzweiflung. Vom Belvedere aus konterkarierte er die offizielle Außenpolitik der Hofburg und des Ballhausplatzes.
Somit hatten viele Menschen ein Motiv, sich dieser Thronfolger-Figur zu entledigen. Doch anstatt nach dem Attentat am Veitstag, dem höchsten serbischen Feiertag, aufzuatmen und zur Tagesordnung überzugehen, sandte der greise Kaiser seine schlecht gerüsteten Soldaten nach Serbien, während der ungeliebte Bundesgenosse in Berlin gegen Frankreich und das Zarenreich in den Zweifrontenkrieg zog.
Fakten und Gefühl
Autor Janko Ferk, der die slowenische Sprache beherrscht und der sich, anders als einige rückwärtsgewandte "Patrioten", in die serbische Seele und die tiefe Verletzung der nationalen Gefühle der Attentäter einfühlen kann, legt ein kompaktes, redlich erarbeitetes, sprachlich erlesenes und somit überaus lesenswertes Buch vor, das zudem vom Verlag bibliophil ausgestattet wurde.
Die Genrebezeichnung "Roman" ist trotz des chronologischen Aufbaus und der großen Zahl an historischen Fakten, die der Klagenfurter Autor und Richter verarbeitet hat, nicht unberechtigt. Denn wie sein Vorbild Kafka und der frühe Bernhard zieht Ferk den Leser förmlich ins Grauen hinein, auf eine ganz sachliche Art, die aber von großer Schreibkunst zeugt.
Janko Ferk: Der Kaiser schickt Soldaten aus. Ein Sarajevo-Roman. Styria Verlag, Wien 2014, 157 Seiten, 19,90 Euro.
Der österreichische Autor Janko Ferk ergründet den Charakter von Thronfolger Franz Ferdinand - und das Gemütsspektrum von dessen mutmaßlichem Mörder Gavrilo Princip.
"Ich weiß nicht, ob es meine Kugeln waren", soll Gavrilo Princip am Tag seines Todes, dem 29. 4. 1918, gesagt haben. Die serbische Republik möchte ihm nun ein Denkmal setzen. Warum auch nicht, Princip war ein gebildeter junger Mann, der einiges erdulden musste. So wiesen ihn etwa die Tschetnik-Kommandanten als zu schwächlich zurück. Als Kämpfer für die Terrororganisation "Schwarze Hand", für die Verschwörer und Königsmörder von "Tod oder Einigkeit" und andere malerische Balkanschlächterorganisationen wäre Princip ungeeignet gewesen. Deshalb bezweifelte er bis zu seinem von Tuberkulose und Vernachlässigung verursachten Tod in einer Theresien-städter Zelle, dass er mit seiner Browning wirklich zwei Meisterschüsse abgegeben haben sollte.
Vielleicht hatte tatsächlich einer der Tausenden Feinde (darunter Tiszá und mit ihm ganz Ungarn) des rabiaten Habsburgers die Gunst der Stunde genutzt und sozusagen einen Freischuss auf Princips Kosten abgegeben. Aber das werden wir ebenso nie erfahren wie die wahren Gründe für das behäbige Umkehrmanöver am Ort des Attentats.
Seltsamer Zufall
Faktum ist, dass der Chauffeur just vor Princips Mündung Minuten brauchte, um zu reversieren, so wie 40 Jahre später Kennedys Fahrer im Schneckentempo am Schulbuchdepot von Dallas vorbeischlich, in dem Lee Harvey Oswald lauerte. Alles Zufall, natürlich!
In Janko Ferks romanhafter Chronik, deren Titel metaphorisch zu verstehen ist, erfährt der Leser Interessantes über den Kunstgeschmack des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand von Österreich-Este. Anlässlich eines Empfangs in Duino sprach ihn die befreundete Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe auf Rilke an, dessen Lyrik der jagdbesessene Sammler bereits kannte. Angeblich kaufte der von seinem Onkel Kaiser Franz Joseph I. mehrfach gedemütigte Thronfolger Kitsch und Kunst en gros ein.
Zwischendurch erlegte er eine Viertelmillion an Wild und brachte mit seinen Manöver-Einmischungen den Generalstab unter Conrad von Hoetzendorf zur Verzweiflung. Vom Belvedere aus konterkarierte er die offizielle Außenpolitik der Hofburg und des Ballhausplatzes.
Somit hatten viele Menschen ein Motiv, sich dieser Thronfolger-Figur zu entledigen. Doch anstatt nach dem Attentat am Veitstag, dem höchsten serbischen Feiertag, aufzuatmen und zur Tagesordnung überzugehen, sandte der greise Kaiser seine schlecht gerüsteten Soldaten nach Serbien, während der ungeliebte Bundesgenosse in Berlin gegen Frankreich und das Zarenreich in den Zweifrontenkrieg zog.
Fakten und Gefühl
Autor Janko Ferk, der die slowenische Sprache beherrscht und der sich, anders als einige rückwärtsgewandte "Patrioten", in die serbische Seele und die tiefe Verletzung der nationalen Gefühle der Attentäter einfühlen kann, legt ein kompaktes, redlich erarbeitetes, sprachlich erlesenes und somit überaus lesenswertes Buch vor, das zudem vom Verlag bibliophil ausgestattet wurde.
Die Genrebezeichnung "Roman" ist trotz des chronologischen Aufbaus und der großen Zahl an historischen Fakten, die der Klagenfurter Autor und Richter verarbeitet hat, nicht unberechtigt. Denn wie sein Vorbild Kafka und der frühe Bernhard zieht Ferk den Leser förmlich ins Grauen hinein, auf eine ganz sachliche Art, die aber von großer Schreibkunst zeugt.
Janko Ferk: Der Kaiser schickt Soldaten aus. Ein Sarajevo-Roman. Styria Verlag, Wien 2014, 157 Seiten, 19,90 Euro.
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Gerhard Strejcek
Mandell, Eleni: Let’s Fly A Kite
Wiener Zeitung, 26.01.2014
Eleni Mandell und ihr neues Album "Let’s Fly A Kite".
Durch den tiefen amerikanischen Winter stapft die 44-jährige kalifornische Singer-Songwriterin Eleni Mandell mit ihren Zwillingen von Spielplatz zu Spielplatz. Zum Drachensteigen ist es viel zu kalt. Doch dann erfolgt der Szenenwechsel in das wohlig geheizte Lokal mit der knarrenden Bühne, wo die heiße Schokolade schon auf die Kids wartet: Unvermittelt swingt ihre Band los, ganz konventionell mit Kontrabass, Jazzbesen und Schifferklavier. Eleni Mandell selbst greift zur Gitarre und verbreitet stimmlich Wärme und Fröhlichkeit - auf ihrem neuen Album "Let’s Fly A Kite" hält diese einzigartige, familiäre Stimmung von der ersten bis zur letzten Note an. Unterhaltsam und leichtfüßig gleiten die zwölf Songs dahin und steigen, lustigen Drachen gleich (wenn auch mit ironisch verzerrten Gesichtern), in die Höhe. Kaum merkbar werden die Konzentration und auch die Perfektion, die hinter dieser Performance stecken. Derzeit auf Tournee durch die USA, gesteht die im Stil einer Suzanne Vega singende Mutter auf ihrer Homepage (www.elenimandell.com), was es bedeutet, als kreative Songwriterin sowohl beruflichen als auch privaten Pflichten nachzugehen.
Dunkle Melancholie attestierten Kritiker dem zuletzt veröffentlichten Sommer-Album "I Can See The Future" (2012), das fröhliche Americana-Songs mit einem Schuss Satire enthielt. Erinnerungen an die Stories von J. D. Salinger und Sherwood Anderson wurden wach.
"Let’s Fly A Kite" hingegen strahlt einen kindlich-mütterlichen Charme aus, der sich auch auf die Instrumentierung auswirkt. Violine, Vibraphon und Trompete begleiten die produktive Westcoast-Lady auf ihrer folkigen Reise. "Maybe Yes" und "Something To Think About" stehen beispielhaft für ein Dutzend Lieder mit Tiefgang. Wer genau zuhört, vernimmt dabei Erstaunliches: Eleni ist auf dem Weg zu einer Demo, der Sturm tobt und verweht die Transparente, aber ihre Freundinnen singen unbeirrt weiter - etwa über gestandene Männer, die zugleich Fernfahrer und "soft like a kitten" sind.
Eleni Mandell: Let’s Fly A Kite (Yep Roc Records)
Durch den tiefen amerikanischen Winter stapft die 44-jährige kalifornische Singer-Songwriterin Eleni Mandell mit ihren Zwillingen von Spielplatz zu Spielplatz. Zum Drachensteigen ist es viel zu kalt. Doch dann erfolgt der Szenenwechsel in das wohlig geheizte Lokal mit der knarrenden Bühne, wo die heiße Schokolade schon auf die Kids wartet: Unvermittelt swingt ihre Band los, ganz konventionell mit Kontrabass, Jazzbesen und Schifferklavier. Eleni Mandell selbst greift zur Gitarre und verbreitet stimmlich Wärme und Fröhlichkeit - auf ihrem neuen Album "Let’s Fly A Kite" hält diese einzigartige, familiäre Stimmung von der ersten bis zur letzten Note an. Unterhaltsam und leichtfüßig gleiten die zwölf Songs dahin und steigen, lustigen Drachen gleich (wenn auch mit ironisch verzerrten Gesichtern), in die Höhe. Kaum merkbar werden die Konzentration und auch die Perfektion, die hinter dieser Performance stecken. Derzeit auf Tournee durch die USA, gesteht die im Stil einer Suzanne Vega singende Mutter auf ihrer Homepage (www.elenimandell.com), was es bedeutet, als kreative Songwriterin sowohl beruflichen als auch privaten Pflichten nachzugehen.
Dunkle Melancholie attestierten Kritiker dem zuletzt veröffentlichten Sommer-Album "I Can See The Future" (2012), das fröhliche Americana-Songs mit einem Schuss Satire enthielt. Erinnerungen an die Stories von J. D. Salinger und Sherwood Anderson wurden wach.
"Let’s Fly A Kite" hingegen strahlt einen kindlich-mütterlichen Charme aus, der sich auch auf die Instrumentierung auswirkt. Violine, Vibraphon und Trompete begleiten die produktive Westcoast-Lady auf ihrer folkigen Reise. "Maybe Yes" und "Something To Think About" stehen beispielhaft für ein Dutzend Lieder mit Tiefgang. Wer genau zuhört, vernimmt dabei Erstaunliches: Eleni ist auf dem Weg zu einer Demo, der Sturm tobt und verweht die Transparente, aber ihre Freundinnen singen unbeirrt weiter - etwa über gestandene Männer, die zugleich Fernfahrer und "soft like a kitten" sind.
Eleni Mandell: Let’s Fly A Kite (Yep Roc Records)
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Gerhard Strejcek
Regierung saniert Regelungen für Poker
Der Standard, 14.01.2014
Als Reaktion auf eine VfGH-Entscheidung werden neue Glücksspielrechte vergeben
Nicht nur NoVA-Erhöhung, Anhebung der motorbezogenen Versicherungssteuer und Wiedereinführung von Sektabgaben stehen den Österreichern demnächst ins Haus. Das Abgabenänderungsgesetz 2014 enthält auch eine Neuregelung betreffend Pokersalons und die Beschlagnahme von Spielautomaten. Beide Aspekte der Glücksspielnovelle 2014 sind als Reaktion auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs im Vorjahr anzusehen. Den Entwurf für eine entsprechende Regierungsvorlage hat das Finanzministerium bereits versandt, die Fristen zur Stellungnahme sind allerdings denkbar kurz. Der Gesetzgeber will, was legitim erscheint, die vom VfGH klargestellte Kompetenz in Anspruch nehmen, Erwerbstätigkeiten im Kontext mit Poker im Glücksspielgesetz zu regeln. Hier besteht schon deshalb akuter Handlungsbedarf, weil die Gewerbeordnung, auf die sich zahlreiche Kartenkasinos stützen, keine einzige Regelung zum Schutz der Spieler enthält. Will aber Österreich die vom Europäischen Gerichtshof (so z. B. im Fall Dickinger/Ömer 15. 9. 2011, C 347/09) geforderte "kohärente", d. h. in sich stimmige, einem einheitlichen Ziel dienende Regelung der Glücksspiele erreichen, dann ist ein Nebeneinander von strengen Regeln im Glücksspielgesetz 1989 und der "freien" Erwerbstätigkeit nach der Gewerbeordnung undenkbar.
Der Gesetzgeber versucht nun sein Glück mit drei neuen Pokerkonzessionen (statt einer) und einer langen Übergangsfrist für die bestehenden Einrichtungen, die bis 2017 weiterhin tätig bleiben dürften. Das erscheint auf den ersten Blick stimmig, doch Kenner der Materie wundern sich über neuerliche Verlängerungen einer bereits Ende 2012 abgelaufenen Erlaubnis (Vgl VfGH 30. Juni 2012, G 51/11-8 zur Novelle BGBl I 2010/73).
Ob der VfGH zu den bestehenden fünfzehn Spielbankkonzessionen drei weitere auf Poker beschränkte Genehmigungen als rechtens erachten würde, ist zwar eine hypothetische Frage, doch scheint dies im Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung zu liegen, die hier das Erwerbsfreiheitsgrundrecht (Art 6 StGG) und den Gleichheitssatz zu beachten hat.
Problemfall Sportwetten
Komplizierter als die Novellierung im Bereich der dem Bund vorbehaltenen Glücksspiele (Art 10 Abs 1 Z 4 B-VG) sind Neuregelungen auf dem Gebiet der Sportwetten, da die Angelegenheiten dieser Erwerbstätigkeit Landessache sind. Seitdem das Gesetz betreffend Gebühren für Totalisateur- und Buchmacherwetten sowie Maßnahmen zur Unterdrückung des Winkelwettwesens, StGBl 1919/388 nach Inkrafttreten der Kompetenzartikel (1925) als Landesrecht weiterhin galt, besteht daran kein Zweifel.
Will man daher Änderungen, die sich auf bestimmte Wettmöglichkeiten beziehen, stehen Novellierungen in den Ländern an. Die Buchmacher- und Totalisateurgesetze enthalten allerdings kaum inhaltliche Vorgaben, lediglich das Aushängen und Kundmachen der "Wettreglements" ist im Lokal vorgesehen (so etwa das 2012 novellierte Kärntner Gesetz). Zu bedenken ist auch, abgesehen von Koordinationsfragen der Landesgesetze, dass jede auf Österreich beschränkte Regelung (z. B. Verbot der "Ereigniswette", die sich z. B. auf Elfmeter oder rote Karten bezieht) insofern wirkungslos sein dürfte, weil die asiatische Konkurrenz sie weiterhin anbieten dürfte.
Somit hätte der Bundesgesetzgeber selbst nach einer nur schwer vorstellbaren, da einer Zweidrittelmehrheit bedürftigen und die Länderzuständigkeiten gegen deren Willen einschränkenden Bundesverfassungsnovelle kaum Handlungsspielraum bei Sportwetten. Die Forderung nach einer "Verbundlichung" mag gut gemeint sein, aber als Vorkehrung gegen Wettbetrug und Matchfixing wäre sie wirkungslos.
Nicht nur NoVA-Erhöhung, Anhebung der motorbezogenen Versicherungssteuer und Wiedereinführung von Sektabgaben stehen den Österreichern demnächst ins Haus. Das Abgabenänderungsgesetz 2014 enthält auch eine Neuregelung betreffend Pokersalons und die Beschlagnahme von Spielautomaten. Beide Aspekte der Glücksspielnovelle 2014 sind als Reaktion auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs im Vorjahr anzusehen. Den Entwurf für eine entsprechende Regierungsvorlage hat das Finanzministerium bereits versandt, die Fristen zur Stellungnahme sind allerdings denkbar kurz. Der Gesetzgeber will, was legitim erscheint, die vom VfGH klargestellte Kompetenz in Anspruch nehmen, Erwerbstätigkeiten im Kontext mit Poker im Glücksspielgesetz zu regeln. Hier besteht schon deshalb akuter Handlungsbedarf, weil die Gewerbeordnung, auf die sich zahlreiche Kartenkasinos stützen, keine einzige Regelung zum Schutz der Spieler enthält. Will aber Österreich die vom Europäischen Gerichtshof (so z. B. im Fall Dickinger/Ömer 15. 9. 2011, C 347/09) geforderte "kohärente", d. h. in sich stimmige, einem einheitlichen Ziel dienende Regelung der Glücksspiele erreichen, dann ist ein Nebeneinander von strengen Regeln im Glücksspielgesetz 1989 und der "freien" Erwerbstätigkeit nach der Gewerbeordnung undenkbar.
Der Gesetzgeber versucht nun sein Glück mit drei neuen Pokerkonzessionen (statt einer) und einer langen Übergangsfrist für die bestehenden Einrichtungen, die bis 2017 weiterhin tätig bleiben dürften. Das erscheint auf den ersten Blick stimmig, doch Kenner der Materie wundern sich über neuerliche Verlängerungen einer bereits Ende 2012 abgelaufenen Erlaubnis (Vgl VfGH 30. Juni 2012, G 51/11-8 zur Novelle BGBl I 2010/73).
Ob der VfGH zu den bestehenden fünfzehn Spielbankkonzessionen drei weitere auf Poker beschränkte Genehmigungen als rechtens erachten würde, ist zwar eine hypothetische Frage, doch scheint dies im Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung zu liegen, die hier das Erwerbsfreiheitsgrundrecht (Art 6 StGG) und den Gleichheitssatz zu beachten hat.
Problemfall Sportwetten
Komplizierter als die Novellierung im Bereich der dem Bund vorbehaltenen Glücksspiele (Art 10 Abs 1 Z 4 B-VG) sind Neuregelungen auf dem Gebiet der Sportwetten, da die Angelegenheiten dieser Erwerbstätigkeit Landessache sind. Seitdem das Gesetz betreffend Gebühren für Totalisateur- und Buchmacherwetten sowie Maßnahmen zur Unterdrückung des Winkelwettwesens, StGBl 1919/388 nach Inkrafttreten der Kompetenzartikel (1925) als Landesrecht weiterhin galt, besteht daran kein Zweifel.
Will man daher Änderungen, die sich auf bestimmte Wettmöglichkeiten beziehen, stehen Novellierungen in den Ländern an. Die Buchmacher- und Totalisateurgesetze enthalten allerdings kaum inhaltliche Vorgaben, lediglich das Aushängen und Kundmachen der "Wettreglements" ist im Lokal vorgesehen (so etwa das 2012 novellierte Kärntner Gesetz). Zu bedenken ist auch, abgesehen von Koordinationsfragen der Landesgesetze, dass jede auf Österreich beschränkte Regelung (z. B. Verbot der "Ereigniswette", die sich z. B. auf Elfmeter oder rote Karten bezieht) insofern wirkungslos sein dürfte, weil die asiatische Konkurrenz sie weiterhin anbieten dürfte.
Somit hätte der Bundesgesetzgeber selbst nach einer nur schwer vorstellbaren, da einer Zweidrittelmehrheit bedürftigen und die Länderzuständigkeiten gegen deren Willen einschränkenden Bundesverfassungsnovelle kaum Handlungsspielraum bei Sportwetten. Die Forderung nach einer "Verbundlichung" mag gut gemeint sein, aber als Vorkehrung gegen Wettbetrug und Matchfixing wäre sie wirkungslos.
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Gerhard Strejcek
Wetten: Für Lösungen ohne Hast
Salzburger Nachrichten, 18.12.2013
Verfassungsfragen. Die Sportwetten sind Landessache. Will man daher Änderungen, um Auswüchse einzudämmen, stehen Novellierungen der Gesetzeslage den Ländern frei.
Die Salzburger AK forderte unlängst in einer Aussendung ein einheitliches Bundes-Sportwettengesetz. Doch der Nutzen einer Verbundlichung ist fragwürdig. Diese würde gar nichts am derzeitigen Missstand des Wettbetrugs ändern können, dessen Hauptproblem die Aufdeckung, weniger die Bestrafung nach § 148 StGB ist; mit einem Verbot der „Ereigniswette“, das nur die Länder verhängen dürften, würde man indes lediglich der asiatischen Konkurrenz im Internet in die Hände spielen. Will der Bund tätig werden, bedürfte es zunächst einer Änderung der Bundesverfassung. Derzeit ist das Sportwettenwesen Landessache, und das aus verfassungsrechtlicher Sicht völlig zu Recht und in jeder denkbaren Ausprägung des Berufsbilds, wie sich unschwer nachweisen lässt.
Das Gesetz betreffend Gebühren für Totalisateur- und Buchmacherwetten sowie Maßnahmen zur Unterdrückung des Winkelwettwesens, StGBl 1919/388, wurde noch von der Vorläuferin des Nationalrats, nämlich der (am 16. 2. 1919 gewählten) Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen. Wie schon der Titel deutlich machte, sollte auch die illegale „private“ Vermittlung von Wetten etwa auf den Pferderennbahnen in den Zwanzigerjahren gestoppt werden; übrigens setzten auch Prominente wie Arthur Schnitzler ihre „bets“ in Freudenau, Krieau und Baden.
Sie sollten vor Betrug und „Winkelwettanbietern“ geschützt werden; außerdem wollte der Staat einheitliche Gebühren für den Erwerbszweig festlegen.
Vor dem Bundes-Verfassungsgesetz bestand von Verfassung wegen noch kein Bundesstaat, daher konnte die Konstituierende Nationalversammlung jede Materie an sich ziehen. Als das B-VG 1920 am 1. 10. 1920 von der Konstituante beschlossen wurde – und im Wesentlichen schon am 1. 12. 1920 –, hinsichtlich der meisten Kompetenztatbestände (z. B. Gewerbe und Industrie, Art. 10 Abs. 1 Z 8 B-VG) aber erst mit der B-VG-Nov. 1925 in Kraft trat, konnte das zitierte Gesetz aus dem Jahr 1919 mangels historisch-systematischer Anknüpfung an den Gewerbetatbestand nicht mehr als Bundesgesetz angesehen werden.
Für die Abgrenzung der Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie war das Kundmachungspatent der GewO 1859 maßgeblich, aus dem bereits zahlreiche Ausnahmen (z. B. Privatunterricht; Sport-Erwerbstätigkeiten wie z. B. Skischulen; Monopolangelegenheiten) hervorgingen, die daher Landessache sind oder auf andere Bundeskompetenztatbestände (z. B. Glücksspiele – Art. 10 Abs. 1 Z 4 B-VG) zu stützen sind. Mangels anderer Bundeskompetenz galt das „Sportwetten-Gesetz“ aus 1919 nach Inkrafttreten des B-VG in den Bundesländern als Landesgesetz weiter. Lediglich das Sporttoto konnte auf Basis des Art. 10 Abs. 1 Z 4 B-VG wegen seines überwiegenden Spielcharakters im GlücksspielG geregelt werden.
Vor rund einem Jahrzehnt, als Sportwetten im Kommen waren, hatten zunächst Nieder- und Oberösterreich, Kärnten und Salzburg neue Landesgesetze beschlossen, welche dem als LG weiter geltenden Gesetz aus 1919 derogierten bzw. dieses fortentwickelten. In NÖ galt das Gesetz über die Tätigkeit der Buchmacher und Totalisateure, LGBl 1978/210; OÖ regelte die Materie zunächst im VeranstaltungsG LGBl 1992/75 (§§ 1, 12, 13 oö. VeranstG). Das damals modernste Gesetz hatte Kärnten. Dieses war das Totalisateur- und BuchmacherG, LGBl 1996/68; schließlich beschloss auch der Salzburger Landtag mit dem Gesetz über die Tätigkeit der Buchmacher und Totalisateure, LGBl 1995/17, bereits vor bald zwei Jahrzehnten ein modernes Regulativ. Hingegen galt § 1 des G aus 1919 damals noch in fünf Bundesländern, also der Mehrheit aller Länder, konkret im Burgenland, in der Steiermark sowie in Tirol, Wien und Vorarlberg.
Mittlerweile hat vor allem Vorarlberg ein modernes und umfassendes Regulativ, das sowohl die Wettvermittlung sinnvoll regelt, als auch den Schutz der Wettteilnehmer gewährleistet, die etwa nach Muster des § 25 GlücksspielG 1989 durch Wettintensität oder Einsatzhöhen auffällig werden.
Den Ländern stand und steht es demnach frei, auf Basis des Veranstaltungswesens (Art. 15 Abs. 3 B-VG) bzw. im Konnex mit ihrer umfassenden Restkompetenz kraft Generalklausel, welche auch die meisten öffentlich-rechtlichen Sportangelegenheiten erfasst (Art. 15 Abs. 1 B-VG), Novellierungen vorzunehmen, „neue“ SportwettenG zu beschließen oder zu modifizieren. Sie sind auch aufgerufen, das Suchtproblem, dessen Bekämpfung ein West-Ost-Gefälle aufweist, anzugehen. 27.11.2013)
Die Länder haben das Recht und die Pflicht, erkannte Missstände, wie z. B. eine neuartige „Wettvermittlung“ auf Basis kompetenzwidriger „freier Gewerbe“, an sich zu ziehen und abzustellen. Gegenteilige Auffassungen, die etwa Vergleiche zu Versicherungs- oder Immobilienmaklern ziehen und den Bund als zuständig erachten, erscheinen sachlich als unbegründet. Den Ländern kommt es auch zu, bestimmte Wettarten zu verbieten, was aber in Zeiten des Internet vermutlich nur die seriösen österreichischen Buchmacher gefährden würde, weshalb die beste Gesetzgebung jene ist, die dem heimischen Wettkunden ein möglichst seriöses inländisches Angebot garantiert und nach der OGH-Rechtsprechung auch einklagbare Gewinne gewährleistet.
Die Salzburger AK forderte unlängst in einer Aussendung ein einheitliches Bundes-Sportwettengesetz. Doch der Nutzen einer Verbundlichung ist fragwürdig. Diese würde gar nichts am derzeitigen Missstand des Wettbetrugs ändern können, dessen Hauptproblem die Aufdeckung, weniger die Bestrafung nach § 148 StGB ist; mit einem Verbot der „Ereigniswette“, das nur die Länder verhängen dürften, würde man indes lediglich der asiatischen Konkurrenz im Internet in die Hände spielen. Will der Bund tätig werden, bedürfte es zunächst einer Änderung der Bundesverfassung. Derzeit ist das Sportwettenwesen Landessache, und das aus verfassungsrechtlicher Sicht völlig zu Recht und in jeder denkbaren Ausprägung des Berufsbilds, wie sich unschwer nachweisen lässt.
Das Gesetz betreffend Gebühren für Totalisateur- und Buchmacherwetten sowie Maßnahmen zur Unterdrückung des Winkelwettwesens, StGBl 1919/388, wurde noch von der Vorläuferin des Nationalrats, nämlich der (am 16. 2. 1919 gewählten) Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen. Wie schon der Titel deutlich machte, sollte auch die illegale „private“ Vermittlung von Wetten etwa auf den Pferderennbahnen in den Zwanzigerjahren gestoppt werden; übrigens setzten auch Prominente wie Arthur Schnitzler ihre „bets“ in Freudenau, Krieau und Baden.
Sie sollten vor Betrug und „Winkelwettanbietern“ geschützt werden; außerdem wollte der Staat einheitliche Gebühren für den Erwerbszweig festlegen.
Vor dem Bundes-Verfassungsgesetz bestand von Verfassung wegen noch kein Bundesstaat, daher konnte die Konstituierende Nationalversammlung jede Materie an sich ziehen. Als das B-VG 1920 am 1. 10. 1920 von der Konstituante beschlossen wurde – und im Wesentlichen schon am 1. 12. 1920 –, hinsichtlich der meisten Kompetenztatbestände (z. B. Gewerbe und Industrie, Art. 10 Abs. 1 Z 8 B-VG) aber erst mit der B-VG-Nov. 1925 in Kraft trat, konnte das zitierte Gesetz aus dem Jahr 1919 mangels historisch-systematischer Anknüpfung an den Gewerbetatbestand nicht mehr als Bundesgesetz angesehen werden.
Für die Abgrenzung der Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie war das Kundmachungspatent der GewO 1859 maßgeblich, aus dem bereits zahlreiche Ausnahmen (z. B. Privatunterricht; Sport-Erwerbstätigkeiten wie z. B. Skischulen; Monopolangelegenheiten) hervorgingen, die daher Landessache sind oder auf andere Bundeskompetenztatbestände (z. B. Glücksspiele – Art. 10 Abs. 1 Z 4 B-VG) zu stützen sind. Mangels anderer Bundeskompetenz galt das „Sportwetten-Gesetz“ aus 1919 nach Inkrafttreten des B-VG in den Bundesländern als Landesgesetz weiter. Lediglich das Sporttoto konnte auf Basis des Art. 10 Abs. 1 Z 4 B-VG wegen seines überwiegenden Spielcharakters im GlücksspielG geregelt werden.
Vor rund einem Jahrzehnt, als Sportwetten im Kommen waren, hatten zunächst Nieder- und Oberösterreich, Kärnten und Salzburg neue Landesgesetze beschlossen, welche dem als LG weiter geltenden Gesetz aus 1919 derogierten bzw. dieses fortentwickelten. In NÖ galt das Gesetz über die Tätigkeit der Buchmacher und Totalisateure, LGBl 1978/210; OÖ regelte die Materie zunächst im VeranstaltungsG LGBl 1992/75 (§§ 1, 12, 13 oö. VeranstG). Das damals modernste Gesetz hatte Kärnten. Dieses war das Totalisateur- und BuchmacherG, LGBl 1996/68; schließlich beschloss auch der Salzburger Landtag mit dem Gesetz über die Tätigkeit der Buchmacher und Totalisateure, LGBl 1995/17, bereits vor bald zwei Jahrzehnten ein modernes Regulativ. Hingegen galt § 1 des G aus 1919 damals noch in fünf Bundesländern, also der Mehrheit aller Länder, konkret im Burgenland, in der Steiermark sowie in Tirol, Wien und Vorarlberg.
Mittlerweile hat vor allem Vorarlberg ein modernes und umfassendes Regulativ, das sowohl die Wettvermittlung sinnvoll regelt, als auch den Schutz der Wettteilnehmer gewährleistet, die etwa nach Muster des § 25 GlücksspielG 1989 durch Wettintensität oder Einsatzhöhen auffällig werden.
Den Ländern stand und steht es demnach frei, auf Basis des Veranstaltungswesens (Art. 15 Abs. 3 B-VG) bzw. im Konnex mit ihrer umfassenden Restkompetenz kraft Generalklausel, welche auch die meisten öffentlich-rechtlichen Sportangelegenheiten erfasst (Art. 15 Abs. 1 B-VG), Novellierungen vorzunehmen, „neue“ SportwettenG zu beschließen oder zu modifizieren. Sie sind auch aufgerufen, das Suchtproblem, dessen Bekämpfung ein West-Ost-Gefälle aufweist, anzugehen. 27.11.2013)
Die Länder haben das Recht und die Pflicht, erkannte Missstände, wie z. B. eine neuartige „Wettvermittlung“ auf Basis kompetenzwidriger „freier Gewerbe“, an sich zu ziehen und abzustellen. Gegenteilige Auffassungen, die etwa Vergleiche zu Versicherungs- oder Immobilienmaklern ziehen und den Bund als zuständig erachten, erscheinen sachlich als unbegründet. Den Ländern kommt es auch zu, bestimmte Wettarten zu verbieten, was aber in Zeiten des Internet vermutlich nur die seriösen österreichischen Buchmacher gefährden würde, weshalb die beste Gesetzgebung jene ist, die dem heimischen Wettkunden ein möglichst seriöses inländisches Angebot garantiert und nach der OGH-Rechtsprechung auch einklagbare Gewinne gewährleistet.
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Gerhard Strejcek
Boros, Zsófia: En Otra Parte
Wiener Zeitung, 18.12.2013
Zsófia Boros performt schlicht, exakt und solo auf der Akustikgitarre und zieht die Zuhörerschaft durch ihre Bescheidenheit in ihren Bann.
Ihr musikalisches Spektrum reicht von jazzigen Tracks bis zu klassischen Stücken. Technisch wartet sie mit einer individuellen Zupf-, Schlag- und Grifftechnik auf.
Existenzialistisch wie der Titel ihres Albums "En Otra Parte" (Ecm/Universal) muten die lyrischen Elemente des Albums auf der "anderen Seite" des Lebens an. Die musikalischen Quellen liefert die derzeitige Weltelite auf sechs oder zwölf Saiten: Ralph Towner und Quique Sinesi stammen zwar vom selben Kontinent, aber aus ganz unterschiedlichen, wenn auch gebirgigen Regionen - Towner aus Oregon, Sinesi aus der argentinischen Andengegend, deren Seele ("Alma") er nur zu gut kennt. Mit Kompositionen der beiden Gitarristen und nachdenklich-verspielten Tracks lässt Zsófia Boros in kalten Winternächten aufhorchen. Wohltuende Abwechslung von seichter Kaufhaus-Jingle-Beschallung – und ein virtuoses Album, das für beschauliche Stimmung sorgt.
Existenzialistisch wie der Titel ihres Albums "En Otra Parte" (Ecm/Universal) muten die lyrischen Elemente des Albums auf der "anderen Seite" des Lebens an. Die musikalischen Quellen liefert die derzeitige Weltelite auf sechs oder zwölf Saiten: Ralph Towner und Quique Sinesi stammen zwar vom selben Kontinent, aber aus ganz unterschiedlichen, wenn auch gebirgigen Regionen - Towner aus Oregon, Sinesi aus der argentinischen Andengegend, deren Seele ("Alma") er nur zu gut kennt. Mit Kompositionen der beiden Gitarristen und nachdenklich-verspielten Tracks lässt Zsófia Boros in kalten Winternächten aufhorchen. Wohltuende Abwechslung von seichter Kaufhaus-Jingle-Beschallung – und ein virtuoses Album, das für beschauliche Stimmung sorgt.
Gerhard Strejcek
Wien will nicht auf Abschleppkosten sitzenbleiben
Der Standard, 26.11.2013
Wer mit ausländischen Kennzeichen abgeschleppt wird, muss die Gebühr dafür nur selten zahlen. In Wien will man das ändern
Vor einigen Monaten durchbrach ein Autolenker aus Wut über die Entfernung und Verbringung seines außerhalb der EU zugelassenen Autos auf einem Wiener Sammelplatz den dortigen Schranken und fuhr, ohne die angefallene Gebühr von rund 300 Euro gezahlt zu haben, mit quietschenden Reifen davon. Durch das laute Krachen des zerberstenden Schranken aufgeschreckt, notierten Zeugen die Kennzeichendaten. Die spontane Vorsatztat brachte dem Lenker eine Anklage wegen Sachbeschädigung ein, die Abschleppkosten musste er überdies berappen.
Der Mann war schlecht beraten, da nichtösterreichische Fahrzeuglenker nur in seltenen Ausnahmefällen eine Abschleppgebühr oder eine Strafe tatsächlich zahlen müssen. Denn die österreichische Rechtslage verpflichtet die Behörde, ein Kfz auch dann auszufolgen, wenn die Gebühr nicht sofort gezahlt wird. Diesfalls ist lediglich ein Bescheid auszustellen und die Einzahlung im Nachhinein zu verlangen, die dann natürlich nie eintrifft. Vollstreckbar ist der Bescheid de facto nur gegen österreichische Zulassungsinhaber oder Lenker.
Exekution außerhalb der Grenzen ist mühsam, teuer und stößt auf zahlreiche rechtliche Hindernisse, vor allem aber auf eines: Kosten für die Entfernung sind, rechtstechnisch betrachtet, keine Strafe, wenn auch die Abschleppung nur bei rechtswidrigem Abstellen zulässig ist. Daher kommt auch keine Einhebung einer vorläufigen Sicherheitsleistung nach dem Verwaltungsstrafgesetz in Betracht. Und den Kostenbescheid kann der Missetäter getrost dem Papierkorb anvertrauen wie auch das ihm von der Verwaltungsstrafbehörde zugestellte Straferkenntnis. Ersparnis für den Täter: meist über 500 Euro. Kosten aufseiten der Gemeinde oder des Staates: mindestens 200 Euro für Verbringung und Abstellen, zu zahlen vom Steuerzahler.
Unlängst wurde, wie berichtet, die Vollstreckung bestimmter Verkehrsstrafen, etwa Geschwindigkeitsübertretungen auf Autobahnen, europaweit vereinfacht. Die Richtlinie 2011/82 EU trat am 7. November in Kraft; ihr Gegenstand ist der gegenseitige Zugriff auf Zulassungsdaten von Lenkern, die bestimmte Verkehrsdelikte begangen haben.
Es fehlt die Software
Wer glaubt, dass es nun mit dem gegenseitigen Datentransfer sofort losgehen würde, irrt, denn die EU-Mitglieder haben keine einheitliche Software für die Speicherung von Zulassungsdaten; aber etwa ab Mitte 2014 könnte diese Deliktsgruppe dann leichter verfolgt und die Strafe auch im EU-Ausland vollstreckt werden. Für die Stadt Wien und andere Gemeinden ändert diese Richtlinie aber nichts zum Besseren. Zum einen gilt sie nur für die 27 EU-Mitgliedstaaten, zum anderen bleibt der ruhende Verkehr außen vor, und schließlich gilt sie nur für Strafen bei den genannten Delikten. Parken in Behinderten-, Fußgängerzonen oder in zweiter Spur bleibt daher für ausländische Lenker weiterhin gratis.
Angesichts von Millionenschäden versucht die Gemeinde Wien seit mehr als einem Jahr, über das Verkehrsministerium einen Vorschlag für eine Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) an das Parlament heranzutragen. Sie will künftig auch die Kosten für die Entfernung jener rechtswidrig abgestellten Kfz einbringlich machen, die von Nicht-EU-Bürgern und vor allem von jenen Lenkern bzw. Zulassungsbesitzern verursacht werden, die eine Staatsangehörigkeit eines Staates außerhalb eines Vollstreckungsabkommens mit Österreich innehaben. Da aber auch die Kosten eines formalisierten, grenzüberschreitenden Vollstreckungsverfahrens meist über jenen der Abschleppung liegen, haben alle Lenker ohne "A" im Kennzeichen bei uns einen Parkfreibrief.
Kaution beim Abschleppen
Der bereits ausformulierte Entwurf für eine Änderung des § 89a StVO sieht vor, Sicherheitsleistungen (Kautionen) nach Muster des Verwaltungsstrafverfahrens künftig auch für Abschleppkosten einzubehalten, zumindest in Fällen, in denen die Einbringlichkeit gefährdet erscheint. Denn dann kann die Behörde getrost den Ausgang des Verwaltungsverfahrens abwarten, das in den meisten Fällen wegen Aussichtslosigkeit gar nicht stattfinden wird.
Die Änderung ist rechtspolitisch sinnvoll und entspricht auch den Grundrechten; sie stellt keine Diskriminierung nichtösterreichischer Kfz-Lenker dar, weil sie den Inländern faktisch gleichgestellt werden, von denen genauso eine Sicherheitsleistung verlangt werden könnte. Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt auch kein unverhältnismäßiger Eigentumseingriff vor, wenn die Einbringlichkeit von Entfernungskosten gesichert wird, da Betroffenen, die sich zu Unrecht beschuldigt fühlen, die StVO einen hinreichenden Rechtsschutz bietet. (Gerhard Strejcek, DER STANDARD, 27.11.2013)
Vor einigen Monaten durchbrach ein Autolenker aus Wut über die Entfernung und Verbringung seines außerhalb der EU zugelassenen Autos auf einem Wiener Sammelplatz den dortigen Schranken und fuhr, ohne die angefallene Gebühr von rund 300 Euro gezahlt zu haben, mit quietschenden Reifen davon. Durch das laute Krachen des zerberstenden Schranken aufgeschreckt, notierten Zeugen die Kennzeichendaten. Die spontane Vorsatztat brachte dem Lenker eine Anklage wegen Sachbeschädigung ein, die Abschleppkosten musste er überdies berappen.
Der Mann war schlecht beraten, da nichtösterreichische Fahrzeuglenker nur in seltenen Ausnahmefällen eine Abschleppgebühr oder eine Strafe tatsächlich zahlen müssen. Denn die österreichische Rechtslage verpflichtet die Behörde, ein Kfz auch dann auszufolgen, wenn die Gebühr nicht sofort gezahlt wird. Diesfalls ist lediglich ein Bescheid auszustellen und die Einzahlung im Nachhinein zu verlangen, die dann natürlich nie eintrifft. Vollstreckbar ist der Bescheid de facto nur gegen österreichische Zulassungsinhaber oder Lenker.
Exekution außerhalb der Grenzen ist mühsam, teuer und stößt auf zahlreiche rechtliche Hindernisse, vor allem aber auf eines: Kosten für die Entfernung sind, rechtstechnisch betrachtet, keine Strafe, wenn auch die Abschleppung nur bei rechtswidrigem Abstellen zulässig ist. Daher kommt auch keine Einhebung einer vorläufigen Sicherheitsleistung nach dem Verwaltungsstrafgesetz in Betracht. Und den Kostenbescheid kann der Missetäter getrost dem Papierkorb anvertrauen wie auch das ihm von der Verwaltungsstrafbehörde zugestellte Straferkenntnis. Ersparnis für den Täter: meist über 500 Euro. Kosten aufseiten der Gemeinde oder des Staates: mindestens 200 Euro für Verbringung und Abstellen, zu zahlen vom Steuerzahler.
Unlängst wurde, wie berichtet, die Vollstreckung bestimmter Verkehrsstrafen, etwa Geschwindigkeitsübertretungen auf Autobahnen, europaweit vereinfacht. Die Richtlinie 2011/82 EU trat am 7. November in Kraft; ihr Gegenstand ist der gegenseitige Zugriff auf Zulassungsdaten von Lenkern, die bestimmte Verkehrsdelikte begangen haben.
Es fehlt die Software
Wer glaubt, dass es nun mit dem gegenseitigen Datentransfer sofort losgehen würde, irrt, denn die EU-Mitglieder haben keine einheitliche Software für die Speicherung von Zulassungsdaten; aber etwa ab Mitte 2014 könnte diese Deliktsgruppe dann leichter verfolgt und die Strafe auch im EU-Ausland vollstreckt werden. Für die Stadt Wien und andere Gemeinden ändert diese Richtlinie aber nichts zum Besseren. Zum einen gilt sie nur für die 27 EU-Mitgliedstaaten, zum anderen bleibt der ruhende Verkehr außen vor, und schließlich gilt sie nur für Strafen bei den genannten Delikten. Parken in Behinderten-, Fußgängerzonen oder in zweiter Spur bleibt daher für ausländische Lenker weiterhin gratis.
Angesichts von Millionenschäden versucht die Gemeinde Wien seit mehr als einem Jahr, über das Verkehrsministerium einen Vorschlag für eine Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) an das Parlament heranzutragen. Sie will künftig auch die Kosten für die Entfernung jener rechtswidrig abgestellten Kfz einbringlich machen, die von Nicht-EU-Bürgern und vor allem von jenen Lenkern bzw. Zulassungsbesitzern verursacht werden, die eine Staatsangehörigkeit eines Staates außerhalb eines Vollstreckungsabkommens mit Österreich innehaben. Da aber auch die Kosten eines formalisierten, grenzüberschreitenden Vollstreckungsverfahrens meist über jenen der Abschleppung liegen, haben alle Lenker ohne "A" im Kennzeichen bei uns einen Parkfreibrief.
Kaution beim Abschleppen
Der bereits ausformulierte Entwurf für eine Änderung des § 89a StVO sieht vor, Sicherheitsleistungen (Kautionen) nach Muster des Verwaltungsstrafverfahrens künftig auch für Abschleppkosten einzubehalten, zumindest in Fällen, in denen die Einbringlichkeit gefährdet erscheint. Denn dann kann die Behörde getrost den Ausgang des Verwaltungsverfahrens abwarten, das in den meisten Fällen wegen Aussichtslosigkeit gar nicht stattfinden wird.
Die Änderung ist rechtspolitisch sinnvoll und entspricht auch den Grundrechten; sie stellt keine Diskriminierung nichtösterreichischer Kfz-Lenker dar, weil sie den Inländern faktisch gleichgestellt werden, von denen genauso eine Sicherheitsleistung verlangt werden könnte. Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt auch kein unverhältnismäßiger Eigentumseingriff vor, wenn die Einbringlichkeit von Entfernungskosten gesichert wird, da Betroffenen, die sich zu Unrecht beschuldigt fühlen, die StVO einen hinreichenden Rechtsschutz bietet. (Gerhard Strejcek, DER STANDARD, 27.11.2013)
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Gerhard Strejcek
Zaz: Recto Verso
Wiener Zeitung, 15.11.2013
Isabelle Geffroy alias Zaz gastiert demnächst in Wien.
Die schillernde Chansonnière Zaz versprüht auf vielen Ebenen kreative Energie.
Mit ihrer Band, einem Bergführer sowie einem Kamerateam bestieg die 1980 als Isabelle Geffroy geborene Sängerin im Vorjahr etwa den Mont Blanc. Am Gipfel angekommen, zückten die erschöpften Musiker ihre Instrumente und legten los. Die Gitarristen spielten unplugged, und selbst der Kontrabassist hatte sein behäbiges Instrument auf sage und schreibe 4800 Metern Seehöhe mit im Gepäck.
Und dann ertönte in der Einsamkeit der verschneiten Gipfelwelt diese raue, energiegeladene Stimme, die Zaz ihr Eigen nennt und die ihr etwas Freches und Selbstbewusstes gibt. So gelang eine perfekte Inszenierung jener mitreißenden Musik, die ihre Wurzeln im Jazz Manouche eines Django Reinhardt und eben im Chanson hat.
Die 33-jährige Vokalkünstlerin aus Tours, die am 24. November im Rahmen der Reihe "The Art Of Song" im Wiener Konzerthaus auftreten wird, verfügt über viel Kreativität und Empathie. Zart besaitet und humorvoll, lässt sie im Bedarfsfall ein vokales Scat-Gewitter niedergehen. Gerne spielt die Sängerin auch Streiche, wie etwa ihr aktuelles Video zum Chanson "Comme ci, comme ça" zeigt. Dieser Titel, mit dem Zaz ihr Pippi-Langstrumpf-Image pflegt, stammt aus ihrem heuer erschienenen Zweitling "Recto Verso".
Darauf überzeugt die Sängerin mit Genre-Vielfalt und fein abgestuften Nuancen. Von Charles Aznavour bis zum Nouvelle Chanson von Soltani und Volovitch reicht das Spektrum, desgleichen von Swing und Gypsy-Jazz der 1930er Jahre bis hin zu Pop.
Stakkato-artig unternimmt Zaz in "On ira", mit dem das neue Album eröffnet, eine musikalische Reise, die von den Suks in Amman bis nach Tokio führt. Im Vergleich zu ihrer ersten und selbstbetitelten Studio-Platte aus dem Jahr 2010 klingt "Recto Verso" stellenweise "härter", wie etwa das rockige "Déterre" beweist, das sich um ein unheimliches Erlebnis dreht. Im Konzert stehen bei Zaz allerdings immer auch Swing, Tango und witzige Chansons ("Oublie Loulou") auf dem Programm: Ein Hörgenuss für Gallophile ist zu erwarten.
Die schillernde Chansonnière Zaz versprüht auf vielen Ebenen kreative Energie.
Mit ihrer Band, einem Bergführer sowie einem Kamerateam bestieg die 1980 als Isabelle Geffroy geborene Sängerin im Vorjahr etwa den Mont Blanc. Am Gipfel angekommen, zückten die erschöpften Musiker ihre Instrumente und legten los. Die Gitarristen spielten unplugged, und selbst der Kontrabassist hatte sein behäbiges Instrument auf sage und schreibe 4800 Metern Seehöhe mit im Gepäck.
Und dann ertönte in der Einsamkeit der verschneiten Gipfelwelt diese raue, energiegeladene Stimme, die Zaz ihr Eigen nennt und die ihr etwas Freches und Selbstbewusstes gibt. So gelang eine perfekte Inszenierung jener mitreißenden Musik, die ihre Wurzeln im Jazz Manouche eines Django Reinhardt und eben im Chanson hat.
Die 33-jährige Vokalkünstlerin aus Tours, die am 24. November im Rahmen der Reihe "The Art Of Song" im Wiener Konzerthaus auftreten wird, verfügt über viel Kreativität und Empathie. Zart besaitet und humorvoll, lässt sie im Bedarfsfall ein vokales Scat-Gewitter niedergehen. Gerne spielt die Sängerin auch Streiche, wie etwa ihr aktuelles Video zum Chanson "Comme ci, comme ça" zeigt. Dieser Titel, mit dem Zaz ihr Pippi-Langstrumpf-Image pflegt, stammt aus ihrem heuer erschienenen Zweitling "Recto Verso".
Darauf überzeugt die Sängerin mit Genre-Vielfalt und fein abgestuften Nuancen. Von Charles Aznavour bis zum Nouvelle Chanson von Soltani und Volovitch reicht das Spektrum, desgleichen von Swing und Gypsy-Jazz der 1930er Jahre bis hin zu Pop.
Stakkato-artig unternimmt Zaz in "On ira", mit dem das neue Album eröffnet, eine musikalische Reise, die von den Suks in Amman bis nach Tokio führt. Im Vergleich zu ihrer ersten und selbstbetitelten Studio-Platte aus dem Jahr 2010 klingt "Recto Verso" stellenweise "härter", wie etwa das rockige "Déterre" beweist, das sich um ein unheimliches Erlebnis dreht. Im Konzert stehen bei Zaz allerdings immer auch Swing, Tango und witzige Chansons ("Oublie Loulou") auf dem Programm: Ein Hörgenuss für Gallophile ist zu erwarten.
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Gerhard Strejcek
Daheim in der Ferne
Wiener Zeitung, 04.10.2013
Hörenswertes von Christoph Müller und Bergitta Victor.
Normalerweise werkt Müller im Quartett von Martina Eisenreich, die im Gegenzug wiederum den Streicher-Part für sein aktuelles und eben "Home" betiteltes Soloalbum liefert. Dabei führt die Reise nach Georgia, wo Müller vokale Unterstützung durch die Folk-Sängerin Rebecca Lovell erhält.
Wenn sie mit ihrer mitreißenden Stimme Stücke wie "Georgia On My Mind" oder "Lilac Wine" intoniert, duftet es auf Anhieb nach Flieder und der Hörer wähnt sich auf einer Farm mit standesgemäßer Americana-Beschallung.
Zwischen Folk-lastigem Songwriting und virtuosem Spiel auf der akustischen Gitarre bietet Müller durchwegs vielfältige Hörerlebnisse. Auf dem soeben beim Münchner Label GLM erschienenen Werk wird Müller außerdem von einer vielseitigen Combo begleitet, während der String-Artist selbst mit Solopassagen und Fingerpicking auf hohem Niveau überzeugt.
Was für uns tropische Ferne bedeutet, ist für Bergitta Victor hingegen Heimat: Die von den Seychellen stammende Sängerin nimmt uns mit und verführt uns zu einer exotischen Reise. Blick Bassy, der für ihr neues Album mit dem Titel "On A Journey" gewonnen wurde, speist zusätzlich Kalimba- und Gitarrenklänge in die insulare Kulinarik ein und singt mit Bergitta im Duo.
Geheimnisvoll und weich klingt ihr Kreolisch, ein gefährdetes frankophones Idiom, das es zu bewahren gilt ("Protez nou langaz Kreol": Schützt unsere kreolische Sprache, heißt die Eröffnungsnummer programmatisch). Das musikalische Spektrum reicht von Calypso bis hin zum klassischen Singer-Songwritertum in englischer Sprache. Abgemischt und co- produziert hat das Album in bewährter Zusammenarbeit mit der Weltenbummlerin der Schweizer Perkussionist David Stauffacher.
Christoph Müller: Home. (GLM/Soulfood)
Bergitta Victor: On A Journey. (Jazzhaus Records)
Normalerweise werkt Müller im Quartett von Martina Eisenreich, die im Gegenzug wiederum den Streicher-Part für sein aktuelles und eben "Home" betiteltes Soloalbum liefert. Dabei führt die Reise nach Georgia, wo Müller vokale Unterstützung durch die Folk-Sängerin Rebecca Lovell erhält.
Wenn sie mit ihrer mitreißenden Stimme Stücke wie "Georgia On My Mind" oder "Lilac Wine" intoniert, duftet es auf Anhieb nach Flieder und der Hörer wähnt sich auf einer Farm mit standesgemäßer Americana-Beschallung.
Zwischen Folk-lastigem Songwriting und virtuosem Spiel auf der akustischen Gitarre bietet Müller durchwegs vielfältige Hörerlebnisse. Auf dem soeben beim Münchner Label GLM erschienenen Werk wird Müller außerdem von einer vielseitigen Combo begleitet, während der String-Artist selbst mit Solopassagen und Fingerpicking auf hohem Niveau überzeugt.
Was für uns tropische Ferne bedeutet, ist für Bergitta Victor hingegen Heimat: Die von den Seychellen stammende Sängerin nimmt uns mit und verführt uns zu einer exotischen Reise. Blick Bassy, der für ihr neues Album mit dem Titel "On A Journey" gewonnen wurde, speist zusätzlich Kalimba- und Gitarrenklänge in die insulare Kulinarik ein und singt mit Bergitta im Duo.
Geheimnisvoll und weich klingt ihr Kreolisch, ein gefährdetes frankophones Idiom, das es zu bewahren gilt ("Protez nou langaz Kreol": Schützt unsere kreolische Sprache, heißt die Eröffnungsnummer programmatisch). Das musikalische Spektrum reicht von Calypso bis hin zum klassischen Singer-Songwritertum in englischer Sprache. Abgemischt und co- produziert hat das Album in bewährter Zusammenarbeit mit der Weltenbummlerin der Schweizer Perkussionist David Stauffacher.
Christoph Müller: Home. (GLM/Soulfood)
Bergitta Victor: On A Journey. (Jazzhaus Records)
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Gerhard Strejcek
Bürokratische Hürden für Wahlwerber
Salzburger Nachrichten, 20.08.2013
Besonders neu antretende Parteien haben es schwer, sich für die Nationalratswahl in Stellung zu bringen
Die Österreicherinnen und Österreicher haben am Wahltag eine Auswahl zwischen zwölf Parteien und einer Unzahl an Bewerbern auf den Landes- und Bundeswahlvorschlägen. Neu Antretende wie die Neos haben sich erfolgreich in den Bundesländern um Unterstützung bemüht.
Sofern eine wahlwerbende Partei auch einen Bundeswahlvorschlag eingebracht hat, der sie zur Teilnahme am dritten Ermittlungsverfahren (samt Proportionalausgleich) ermächtigt, haben die Wähler demnächst die Möglichkeit der Vergabe von drei Vorzugsstimmen (Regional-, Landeswahlkreis bzw. „Bundesliste“). Durch diese (nur) vorgebliche „Personalisierung“ ist die Debatte über ein Mehrheitswahlrecht leider in den Hintergrund geraten.
Neu antretende Parteien hatten es, abgesehen von Vier-Prozent-Hürde oder (alternativ) Grundmandatssystem (auf welches das BZÖ in Kärnten baut), schwer, auf den Stimmzettel zu kommen, dank bürokratischer Hürden. Der mit Verordnung der Bundesregierung, nach ausdrücklicher Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrats festgelegte Termin der Wahl ist der 29. September 2013, aber schon bis zum 2. August mussten die Unterstützungserklärungen vorliegen; im Parlament (NR) vertretene Parteien benötigten diese nicht, da sie unschwer die Unterschriften dreier NR-Abgeordneter erhalten können, welche die Unterstützung ersetzen; andere Wahlparteien (Neos, Wandel, KP, Legitimisten) mussten „laufen“, bundesweit sind 2600 Unterschriften erforderlich, die nach Ländern gestaffelt sind (B, V: 100; K, S, T: 200; O, St: 400; N, W: 500; daher 2*100=200; 3*200=600; 2*400=800; 2*500=1000; 200+600+800+1000=2600); die Rechtslage ist, wie wiederholt zu Recht kritisiert – vom VfGH aber nie beanstandet – wurde, äußerst formalistisch.
Verglichen mit der Entwicklung des Volksbegehrens ist die NRWO bezüglich des Verfahrens der Wahlbewerbung auf dem Stand von 1923. Um den Staatsbürgern die direkte Demokratie möglichst zu versauern, musste seinerzeit etwa das Volksbegehren in Form eines Gesetzesantrags samt Promulgationsformel usw. eingebracht werden. Hier hat der Gesetzgeber seit dem VBegG 1973 (und Reformen seither) dazugelernt, im Wahlrecht aber blieb alles beim Alten.
Zur Unterstützung zugelassen sind nur Staatsbürger/-innen im Wahlalter, die vor der Gemeindebehörde ein mitgebrachtes (z. B. heruntergeladenes) Formular unterschreiben müssen. Die Behörde bestätigt diesen Vorgang oder das Erscheinen und die notariell beglaubigte Unterschrift und leitet die Erklärung weiter. Da die notarielle Beglaubigung das persönliche Erscheinen vor der Behörde zum Bestätigungsvorgang nicht ersetzt, sondern nur das physische Unterschreiben vor Ort, bringt diese nichts ein; eine ganz bewusst eingebaute Hürde, die sich der Gesetzgeber hätte sparen können, zugleich ein unerklärliches Misstrauen gegenüber dem Stand der Notare, die sich als Personen öffentlichen Glaubens ansonsten viel stärker in die demokratische Willensbildung in diesem Verfahrensabschnitt einbringen können.
Zu erwägen wäre einmal, auch diese Frage vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, da sie die Wahlfreiheit i. S. einer echten und freien Auswahl zwischen Parteien bei Wahlen gesetzgebender Organe (Art 3 1. Zusatzprotokoll EMRK) beeinträchtigt.
Für den Landeswahlvorschlag müssen 435 Euro bei der Behörde bar erlegt oder überwiesen werden, als Beitrag für die Druckkosten der (in der Tat aufwendigen) Stimmzettel in den RWK.
Dieses Mal werden dazu auch unverhältnismäßig hohe Kosten durch die dritte Vorzugsstimme entstehen, welche ein ganzes Heft an Kandidierenden in Druckform erfordert. Hier könnten Internet und amtliche Information vor der Wahl (z. B. „Bote für Tirol“; „Amtsblatt zur Wiener Zeitung“) gute Dienste leisten. Die eingesparten Druckkosten von ca. einer Million Euro könnten an Hochwasseropfer gespendet werden.
Die Österreicherinnen und Österreicher haben am Wahltag eine Auswahl zwischen zwölf Parteien und einer Unzahl an Bewerbern auf den Landes- und Bundeswahlvorschlägen. Neu Antretende wie die Neos haben sich erfolgreich in den Bundesländern um Unterstützung bemüht.
Sofern eine wahlwerbende Partei auch einen Bundeswahlvorschlag eingebracht hat, der sie zur Teilnahme am dritten Ermittlungsverfahren (samt Proportionalausgleich) ermächtigt, haben die Wähler demnächst die Möglichkeit der Vergabe von drei Vorzugsstimmen (Regional-, Landeswahlkreis bzw. „Bundesliste“). Durch diese (nur) vorgebliche „Personalisierung“ ist die Debatte über ein Mehrheitswahlrecht leider in den Hintergrund geraten.
Neu antretende Parteien hatten es, abgesehen von Vier-Prozent-Hürde oder (alternativ) Grundmandatssystem (auf welches das BZÖ in Kärnten baut), schwer, auf den Stimmzettel zu kommen, dank bürokratischer Hürden. Der mit Verordnung der Bundesregierung, nach ausdrücklicher Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrats festgelegte Termin der Wahl ist der 29. September 2013, aber schon bis zum 2. August mussten die Unterstützungserklärungen vorliegen; im Parlament (NR) vertretene Parteien benötigten diese nicht, da sie unschwer die Unterschriften dreier NR-Abgeordneter erhalten können, welche die Unterstützung ersetzen; andere Wahlparteien (Neos, Wandel, KP, Legitimisten) mussten „laufen“, bundesweit sind 2600 Unterschriften erforderlich, die nach Ländern gestaffelt sind (B, V: 100; K, S, T: 200; O, St: 400; N, W: 500; daher 2*100=200; 3*200=600; 2*400=800; 2*500=1000; 200+600+800+1000=2600); die Rechtslage ist, wie wiederholt zu Recht kritisiert – vom VfGH aber nie beanstandet – wurde, äußerst formalistisch.
Verglichen mit der Entwicklung des Volksbegehrens ist die NRWO bezüglich des Verfahrens der Wahlbewerbung auf dem Stand von 1923. Um den Staatsbürgern die direkte Demokratie möglichst zu versauern, musste seinerzeit etwa das Volksbegehren in Form eines Gesetzesantrags samt Promulgationsformel usw. eingebracht werden. Hier hat der Gesetzgeber seit dem VBegG 1973 (und Reformen seither) dazugelernt, im Wahlrecht aber blieb alles beim Alten.
Zur Unterstützung zugelassen sind nur Staatsbürger/-innen im Wahlalter, die vor der Gemeindebehörde ein mitgebrachtes (z. B. heruntergeladenes) Formular unterschreiben müssen. Die Behörde bestätigt diesen Vorgang oder das Erscheinen und die notariell beglaubigte Unterschrift und leitet die Erklärung weiter. Da die notarielle Beglaubigung das persönliche Erscheinen vor der Behörde zum Bestätigungsvorgang nicht ersetzt, sondern nur das physische Unterschreiben vor Ort, bringt diese nichts ein; eine ganz bewusst eingebaute Hürde, die sich der Gesetzgeber hätte sparen können, zugleich ein unerklärliches Misstrauen gegenüber dem Stand der Notare, die sich als Personen öffentlichen Glaubens ansonsten viel stärker in die demokratische Willensbildung in diesem Verfahrensabschnitt einbringen können.
Zu erwägen wäre einmal, auch diese Frage vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, da sie die Wahlfreiheit i. S. einer echten und freien Auswahl zwischen Parteien bei Wahlen gesetzgebender Organe (Art 3 1. Zusatzprotokoll EMRK) beeinträchtigt.
Für den Landeswahlvorschlag müssen 435 Euro bei der Behörde bar erlegt oder überwiesen werden, als Beitrag für die Druckkosten der (in der Tat aufwendigen) Stimmzettel in den RWK.
Dieses Mal werden dazu auch unverhältnismäßig hohe Kosten durch die dritte Vorzugsstimme entstehen, welche ein ganzes Heft an Kandidierenden in Druckform erfordert. Hier könnten Internet und amtliche Information vor der Wahl (z. B. „Bote für Tirol“; „Amtsblatt zur Wiener Zeitung“) gute Dienste leisten. Die eingesparten Druckkosten von ca. einer Million Euro könnten an Hochwasseropfer gespendet werden.
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Gerhard Strejcek
Songs zum Sommer
Wiener Zeitung, 16.08.2013
Rodrigo Leão, Aoife O’Donovan und Levin Deger.
Die aktuelle Kompilation des Portugiesen Rodrigo Leão führt atmosphärisch in die südliche Sound-Hemisphäre. Leão, der zunächst mit der Formation Madredeus auf der Iberischen Halbinsel reüssierte und dann eine Solokarriere startete, setzt auf Kinomusik und schmachtvolle Kompositionen. Die vokalen Interpreten seiner "Songs 2004-2012" lassen nicht nur Insider aufhorchen:
Joan "As Police Woman" Wasser, Beth Gibbons (Portishead), Neil Hannon (The Divine Comedy), Stuart A. Staples (Tinder-sticks) sowie Scott Matthew, der rauchige Australier mit Wohnsitz Brooklyn, bürgen für höchste Qualität. Und mag Leãos Sound-Handschrift bisweilen auch etwas pastellfarben angehaucht sein, so gefallen seine verspielten, romantischen Arrangements doch sehr.
Jenseits des Ozeans besticht Aoife O’Donovan mit folkigen Ingredienzen. Von Brooklyn bis Portland, Oregon, wo auch Jazz-Gitarrist Ralph Towner herstammt, interpretiert Aoife Americana-Songs vom Feinsten. Mit ihrer Band Crooked Still machte sie Furore und gewann die Aufmerksamkeit ihrer Mentorin Alison Krauss. Jetzt gilt sie als angesagtes "Alt-Folk-It-Girl" und punktet auf "Fossils" mit markanten Songs wie "Red & White & Blue & Gold" oder "Beekeeper".
Dass auch in alpenländischen Gefilden Markantes in der Singer-Songwriter-Szene geschieht, verdanken wir Wolfgang Muthspiel, der das Talent des Züricher Newcomers Levin Deger alias Levin erkannt hat und auf "Between The Lights" als Produzent fungiert. Levins stimmungsvolles Debüt-Album erinnert an Cat Stevens’ frühe Songs; der sympathische Gitarrist wählte die US-Sängerin Becca Stevens als Duo-Partnerin und pilgerte mit ihr in Roland Baumanns Studio nach Steinakirchen. Dort entstand ein geniales Songwriting-Album mit Streichern und Hornisten, das all jene beglücken wird, die Österreich und die Schweiz fest im Würgegriff der Volkstümlichkeit wähnen.
Rodrigo Leão: Songs 2004-2012. (Glitterhouse/Indigo)
Aoife O’Donovan. Fossils. (Yep Roc/Cargo)
Levin Deger: Between The Lights. (Material Records)
Die aktuelle Kompilation des Portugiesen Rodrigo Leão führt atmosphärisch in die südliche Sound-Hemisphäre. Leão, der zunächst mit der Formation Madredeus auf der Iberischen Halbinsel reüssierte und dann eine Solokarriere startete, setzt auf Kinomusik und schmachtvolle Kompositionen. Die vokalen Interpreten seiner "Songs 2004-2012" lassen nicht nur Insider aufhorchen:
Joan "As Police Woman" Wasser, Beth Gibbons (Portishead), Neil Hannon (The Divine Comedy), Stuart A. Staples (Tinder-sticks) sowie Scott Matthew, der rauchige Australier mit Wohnsitz Brooklyn, bürgen für höchste Qualität. Und mag Leãos Sound-Handschrift bisweilen auch etwas pastellfarben angehaucht sein, so gefallen seine verspielten, romantischen Arrangements doch sehr.
Jenseits des Ozeans besticht Aoife O’Donovan mit folkigen Ingredienzen. Von Brooklyn bis Portland, Oregon, wo auch Jazz-Gitarrist Ralph Towner herstammt, interpretiert Aoife Americana-Songs vom Feinsten. Mit ihrer Band Crooked Still machte sie Furore und gewann die Aufmerksamkeit ihrer Mentorin Alison Krauss. Jetzt gilt sie als angesagtes "Alt-Folk-It-Girl" und punktet auf "Fossils" mit markanten Songs wie "Red & White & Blue & Gold" oder "Beekeeper".
Dass auch in alpenländischen Gefilden Markantes in der Singer-Songwriter-Szene geschieht, verdanken wir Wolfgang Muthspiel, der das Talent des Züricher Newcomers Levin Deger alias Levin erkannt hat und auf "Between The Lights" als Produzent fungiert. Levins stimmungsvolles Debüt-Album erinnert an Cat Stevens’ frühe Songs; der sympathische Gitarrist wählte die US-Sängerin Becca Stevens als Duo-Partnerin und pilgerte mit ihr in Roland Baumanns Studio nach Steinakirchen. Dort entstand ein geniales Songwriting-Album mit Streichern und Hornisten, das all jene beglücken wird, die Österreich und die Schweiz fest im Würgegriff der Volkstümlichkeit wähnen.
Rodrigo Leão: Songs 2004-2012. (Glitterhouse/Indigo)
Aoife O’Donovan. Fossils. (Yep Roc/Cargo)
Levin Deger: Between The Lights. (Material Records)
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Gerhard Strejcek
Wahlrecht immer komplizierter
Salzburger Nachrichten, 25.06.2013
Novellen. Bei der Wahl im Herbst gibt es erstmals drei Vorzugsstimmen und auch neue Fristen. Das macht das ganze Verfahren nicht gerade einfacher.
Während bereits die Vorbereitungen zur Nationalratswahl im Gange sind, gilt es die Neuerungen der Wahl- und Verfassungsnovellen des Vor- und des Frühjahrs zu verdauen, – immerhin gibt es bei der Herbstwahl erstmals drei Vorzugsstimmen, um das „Persönlichkeitswahlrecht“ zu stärken.
Das Ergebnis ist, nachdem selbst auf handtuchgroße Stimmzettel keine Kandidaten für das dritte (bundesweite) Ermittlungsverfahren mehr passen würden, das (gesetzlich in § 106 NRWO als „Information“ geregelte) Vorzugsstimmenheft für alle Wahlbehörden und -sprengel. Bei einer Auflage von über einer Million Stück könnten die Druckkosten für die Trockenlegung überschwemmter Keller und die Reparatur von Hochwasserschäden alternativ besser eingesetzt werden als zum Abdruck weitgehend unbekannter Namen. Demokratie darf auch etwas kosten, aber die Sinnfrage bleibt im Raum stehen.
Die Erläuterungen zum Initiativantrag vom Jänner (IA 2178 A, 24. GP), der die Novelle im Entwurf ins Parlament brachte, sahen zunächst nur die Auslandsösterreicher als informationsbedürftig an.
Die Wahlausschreibung ist Sache der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrats. In der betreffenden Verordnung ist der Wahl- und der Stichtag festzulegen, der nicht vor dem Tag der Wahlausschreibung liegen darf, der aber für Voraussetzungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit und für die Fristen der NRWO bedeutsam ist. Lag der Stichtag nach alter Rechtslage 68 Tage vor dem Wahltag, sind es jetzt schon mehr als 80 Tage. Die Fristen sind es, welche im Verbund mit der ständigen Verkomplizierung des Wahlrechts die Behörden und die wahlwerbenden Gruppen auf Trab halten. Der Verfassungsgerichtshof kennt in Auslegung des Wahlrechts keinen Pardon, das Gesetz, welches ein Wahlverfahren regelt, ist stets „strikte“ einzuhalten, so die ständige Rsp (zuletzt VfGH 1. 3. 2013, W 1-5/12 zur Wahlordnung im Bereich der beruflichen Selbstverwaltung). Zahlreiche Bestimmungen der NRWO enthalten Fristen, fast sechs Wochen vor der Wahl sind z. B. die Landeswahlvorschläge abzuschließen.
Neuerungen kommen auch auf den VfGH als Wahlgericht zu, allerdings erst Anfang 2014. Mit der Einführung der Verwaltungsgerichte der Länder ändern sich zahlreiche Wege und Anfechtungsmöglichkeiten, doch der VfGH bleibt das zentrale Wahlgericht, das auch über die Rechtmäßigkeit der Berufungsbescheide zu Wählerevidenzen und -verzeichnissen entscheidet.
Hinter dieser formal klingenden Zuständigkeit verbirgt sich die einzige Möglichkeit eines Wählers, sein aktives Wahlrecht höchstgerichtlich durchzusetzen.
Unklar bleibt nach wie vor der Rechtsschutz im Bereich der direkten Demokratie. Ab 1. Jänner 2014 ist dazu kein Bundesgesetz mehr erforderlich, was durch den Wegfall des Art 141 Abs 3 B-VG bewirkt wird; Art 141 Abs 1 lit e B-VG nennt nun die Bundesinstrumente der direkten Demokratie ohne Kompetenzregel. Ob die Länder ihre Rechtsschutzlücken überhaupt verfassungskonform schließen können, bleibt dennoch fraglich, da Gerichtsbarkeit „vom Bund ausgeht“.
Als Grundregel hat der VfGH festgehalten, dass auch Gemeinde- und Landesinstrumente anfechtbar sind, der Modus aber der Auslegung bedarf, wobei im Fall einer nö. Volksbefragung (VfGH 21. 6. 2012, W III-1/11) zwei Stimmbürger ausreichten, um das Ergebnis zu Fall zu bringen. Im (Bundes-)VolksbefrG sind hingegen Unterstützungszahlen genannt.
Wie bekannt wurde, haben die Anfechtungswerber der Bundes-Volksbefragung zur Wehrpflicht (vom Jänner 2013) diese Hürde gemeistert. Alles Weitere entscheidet der VfGH frühestens in seiner nun beginnenden Sommersession.
Während bereits die Vorbereitungen zur Nationalratswahl im Gange sind, gilt es die Neuerungen der Wahl- und Verfassungsnovellen des Vor- und des Frühjahrs zu verdauen, – immerhin gibt es bei der Herbstwahl erstmals drei Vorzugsstimmen, um das „Persönlichkeitswahlrecht“ zu stärken.
Das Ergebnis ist, nachdem selbst auf handtuchgroße Stimmzettel keine Kandidaten für das dritte (bundesweite) Ermittlungsverfahren mehr passen würden, das (gesetzlich in § 106 NRWO als „Information“ geregelte) Vorzugsstimmenheft für alle Wahlbehörden und -sprengel. Bei einer Auflage von über einer Million Stück könnten die Druckkosten für die Trockenlegung überschwemmter Keller und die Reparatur von Hochwasserschäden alternativ besser eingesetzt werden als zum Abdruck weitgehend unbekannter Namen. Demokratie darf auch etwas kosten, aber die Sinnfrage bleibt im Raum stehen.
Die Erläuterungen zum Initiativantrag vom Jänner (IA 2178 A, 24. GP), der die Novelle im Entwurf ins Parlament brachte, sahen zunächst nur die Auslandsösterreicher als informationsbedürftig an.
Die Wahlausschreibung ist Sache der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrats. In der betreffenden Verordnung ist der Wahl- und der Stichtag festzulegen, der nicht vor dem Tag der Wahlausschreibung liegen darf, der aber für Voraussetzungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit und für die Fristen der NRWO bedeutsam ist. Lag der Stichtag nach alter Rechtslage 68 Tage vor dem Wahltag, sind es jetzt schon mehr als 80 Tage. Die Fristen sind es, welche im Verbund mit der ständigen Verkomplizierung des Wahlrechts die Behörden und die wahlwerbenden Gruppen auf Trab halten. Der Verfassungsgerichtshof kennt in Auslegung des Wahlrechts keinen Pardon, das Gesetz, welches ein Wahlverfahren regelt, ist stets „strikte“ einzuhalten, so die ständige Rsp (zuletzt VfGH 1. 3. 2013, W 1-5/12 zur Wahlordnung im Bereich der beruflichen Selbstverwaltung). Zahlreiche Bestimmungen der NRWO enthalten Fristen, fast sechs Wochen vor der Wahl sind z. B. die Landeswahlvorschläge abzuschließen.
Neuerungen kommen auch auf den VfGH als Wahlgericht zu, allerdings erst Anfang 2014. Mit der Einführung der Verwaltungsgerichte der Länder ändern sich zahlreiche Wege und Anfechtungsmöglichkeiten, doch der VfGH bleibt das zentrale Wahlgericht, das auch über die Rechtmäßigkeit der Berufungsbescheide zu Wählerevidenzen und -verzeichnissen entscheidet.
Hinter dieser formal klingenden Zuständigkeit verbirgt sich die einzige Möglichkeit eines Wählers, sein aktives Wahlrecht höchstgerichtlich durchzusetzen.
Unklar bleibt nach wie vor der Rechtsschutz im Bereich der direkten Demokratie. Ab 1. Jänner 2014 ist dazu kein Bundesgesetz mehr erforderlich, was durch den Wegfall des Art 141 Abs 3 B-VG bewirkt wird; Art 141 Abs 1 lit e B-VG nennt nun die Bundesinstrumente der direkten Demokratie ohne Kompetenzregel. Ob die Länder ihre Rechtsschutzlücken überhaupt verfassungskonform schließen können, bleibt dennoch fraglich, da Gerichtsbarkeit „vom Bund ausgeht“.
Als Grundregel hat der VfGH festgehalten, dass auch Gemeinde- und Landesinstrumente anfechtbar sind, der Modus aber der Auslegung bedarf, wobei im Fall einer nö. Volksbefragung (VfGH 21. 6. 2012, W III-1/11) zwei Stimmbürger ausreichten, um das Ergebnis zu Fall zu bringen. Im (Bundes-)VolksbefrG sind hingegen Unterstützungszahlen genannt.
Wie bekannt wurde, haben die Anfechtungswerber der Bundes-Volksbefragung zur Wehrpflicht (vom Jänner 2013) diese Hürde gemeistert. Alles Weitere entscheidet der VfGH frühestens in seiner nun beginnenden Sommersession.
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Gerhard Strejcek
Wie klingen die Anden?
Wiener Zeitung, 21.06.2013
Eine spannende Begegnung von Bandoneón und Cello.
"El Encuentro" bannt ein interkulturelles Treffen von zwei sehr unterschiedlichen Musiker-Persönlichkeiten in einen abwechslungsreichen Einstundenfilm auf DVD. Hauptakteure sind der argentinische Bandoneónist Dino Saluzzi und die deutsche Cellistin Anja Lechner, die miteinander vor allem Tango, Worldmusic und Klassisches musizieren. Im Lauf des Filmes wird deutlich, wie stark sich die europäische E-Musik-Szene von der südamerikanischen, gefühlsbetonten Spontaneität in Tanzlokalen, auf der Straße und am Feld unterscheidet.
Gleichwohl bieten die beiden Repräsentanten zweier Kulturen jeweils Perfektion auf höchster Stufe. Beeindruckend erscheint, wie sich die asketisch-elegant wirkende Anja Lechner der ihr fremden Welt des Tangos annähert - und welche faszinierenden Ausflüge die musikgeschichtlich aus Bayern stammende und in die Anden exportierte Knöpferlharmonika Saluzzis in den Jazz und zu Streicherquartetten von Haydn unternimmt
Dino Saluzzi stammt aus der Arbeiter-Stadt Salta, die auf europäische Gäste dörflich-beschaulich wirkt. Der weise, perfektionistisch-tiefgründige, aber auch humorvolle Virtuose philosophiert auf einem verlassenen Bahnhof seines Geburtsorts über seine Wurzeln im Tango; er zeigt Anja Lechner Fotos einer alten Combo, die schon seinen Vater, einen Zuckerfabrikarbeiter, inspirierte, dann schwenkt die Kamera abrupt ins verregnete Basel.
Dort kommuniziert und musiziert Saluzzi mit dem Bandleader und Pianisten George Gruntz, der Dino nach Berlin und zum Jazz brachte. Gruntz, der einst das Berliner Jazzfestival präsidierte, reiste auf der Suche nach Inspiration nach Südamerika - und fand dort Dino und seinen Bruder Felix, einen hervorragenden Saxophonisten und Klarinettisten. Die wortkarge Kommunikation der Brüder fasziniert: "Was soll ich spielen? -- Eine Landschaft!". Wie aber klingen die Anden, wie die argentinische Seele (alma Argentina)?
Das lässt sich durch einen Griff zu älteren ECM-Produktionen leicht klären. Bereits in den Achtzigerjahren erschienen Saluzzis hörenswerte "Kultrum"-Platten, der Film bietet dazu wichtige Basisinfos. Gleichwohl ist es empfehlenswert, sich auch seine damaligen Aufnahmen anzuhören; auch um zu erkennen, dass Saluzzis Genialität und Empathie schon vor dreißig Jahren in sein Bandoneón einfloss, sein Spektrum sich aber seither global erweiterte.
Ähnlich verhält es sich mit Anja Lechner, die durch Können und Charme die maskuline Welt der Tangocombos zu durchbrechen vermochte. Sie fährt auf "El Encuentro" durch Armenien, neben Argentinien und Deutschland ihre "dritte" Heimat, in der es zur Begegnung mit dem armenischen Duduk-Spieler Levon Eskenian kommt. Gemeinsam zeigen die beiden Kulturwanderer die Verwandtschaft des Duduk (einer meist kultisch eingesetzen, modulierenden Orient-Flöte) mit dem Cello und der menschlichen Stimme.
Der in Eriwan gefeierte, stets liebenswürdige Komponist Tigran Mansurian weist Lechner persönlich in sein Werk ein (ein dynamisches Cello-Konzert) und zeigt ihr seine pittoreske dörfliche Volksschule. Weitere regionale Bezugspunkte der musikalischen Reise auf der 52-Minuten-DVD sind Triest und München, zuletzt folgt eine konzentrierte und wohl einstudierte Aufführung von Saluzzis dynamischen Kompositionen im Muziekgebouw in Amsterdam mit dem Dirigenten Buckley.
www.ecmrecords.com
www.saluzzimusic.com
Dino Saluzzi/Anja Lechner
El Encuentro
A film for bandoneon and violoncello by Norbert Wiedmer and Enrique Ros (ECM)
"El Encuentro" bannt ein interkulturelles Treffen von zwei sehr unterschiedlichen Musiker-Persönlichkeiten in einen abwechslungsreichen Einstundenfilm auf DVD. Hauptakteure sind der argentinische Bandoneónist Dino Saluzzi und die deutsche Cellistin Anja Lechner, die miteinander vor allem Tango, Worldmusic und Klassisches musizieren. Im Lauf des Filmes wird deutlich, wie stark sich die europäische E-Musik-Szene von der südamerikanischen, gefühlsbetonten Spontaneität in Tanzlokalen, auf der Straße und am Feld unterscheidet.
Gleichwohl bieten die beiden Repräsentanten zweier Kulturen jeweils Perfektion auf höchster Stufe. Beeindruckend erscheint, wie sich die asketisch-elegant wirkende Anja Lechner der ihr fremden Welt des Tangos annähert - und welche faszinierenden Ausflüge die musikgeschichtlich aus Bayern stammende und in die Anden exportierte Knöpferlharmonika Saluzzis in den Jazz und zu Streicherquartetten von Haydn unternimmt
Dino Saluzzi stammt aus der Arbeiter-Stadt Salta, die auf europäische Gäste dörflich-beschaulich wirkt. Der weise, perfektionistisch-tiefgründige, aber auch humorvolle Virtuose philosophiert auf einem verlassenen Bahnhof seines Geburtsorts über seine Wurzeln im Tango; er zeigt Anja Lechner Fotos einer alten Combo, die schon seinen Vater, einen Zuckerfabrikarbeiter, inspirierte, dann schwenkt die Kamera abrupt ins verregnete Basel.
Dort kommuniziert und musiziert Saluzzi mit dem Bandleader und Pianisten George Gruntz, der Dino nach Berlin und zum Jazz brachte. Gruntz, der einst das Berliner Jazzfestival präsidierte, reiste auf der Suche nach Inspiration nach Südamerika - und fand dort Dino und seinen Bruder Felix, einen hervorragenden Saxophonisten und Klarinettisten. Die wortkarge Kommunikation der Brüder fasziniert: "Was soll ich spielen? -- Eine Landschaft!". Wie aber klingen die Anden, wie die argentinische Seele (alma Argentina)?
Das lässt sich durch einen Griff zu älteren ECM-Produktionen leicht klären. Bereits in den Achtzigerjahren erschienen Saluzzis hörenswerte "Kultrum"-Platten, der Film bietet dazu wichtige Basisinfos. Gleichwohl ist es empfehlenswert, sich auch seine damaligen Aufnahmen anzuhören; auch um zu erkennen, dass Saluzzis Genialität und Empathie schon vor dreißig Jahren in sein Bandoneón einfloss, sein Spektrum sich aber seither global erweiterte.
Ähnlich verhält es sich mit Anja Lechner, die durch Können und Charme die maskuline Welt der Tangocombos zu durchbrechen vermochte. Sie fährt auf "El Encuentro" durch Armenien, neben Argentinien und Deutschland ihre "dritte" Heimat, in der es zur Begegnung mit dem armenischen Duduk-Spieler Levon Eskenian kommt. Gemeinsam zeigen die beiden Kulturwanderer die Verwandtschaft des Duduk (einer meist kultisch eingesetzen, modulierenden Orient-Flöte) mit dem Cello und der menschlichen Stimme.
Der in Eriwan gefeierte, stets liebenswürdige Komponist Tigran Mansurian weist Lechner persönlich in sein Werk ein (ein dynamisches Cello-Konzert) und zeigt ihr seine pittoreske dörfliche Volksschule. Weitere regionale Bezugspunkte der musikalischen Reise auf der 52-Minuten-DVD sind Triest und München, zuletzt folgt eine konzentrierte und wohl einstudierte Aufführung von Saluzzis dynamischen Kompositionen im Muziekgebouw in Amsterdam mit dem Dirigenten Buckley.
www.ecmrecords.com
www.saluzzimusic.com
Dino Saluzzi/Anja Lechner
El Encuentro
A film for bandoneon and violoncello by Norbert Wiedmer and Enrique Ros (ECM)
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Gerhard Strejcek
Statt ins Kloster an die Universität
Wiener Zeitung, 07.06.2013
Vor 100 Jahren, am 8. Juni 1913, wurde Sibylle Bolla-Kotek geboren, Wiens erste Rechtsprofessorin, die als gelernte Romanistin zu einer Spezialistin für Antikes Recht, aber auch für Numismatik wurde.
Heute finden sich am Wiener Juridicum viele engagierte Forscherinnen und akademische Lehrerinnen, viele davon in leitenden Positionen. Das war nicht immer so. In den ersten vier Jahrzehnten der Zweiten Republik gelang es gerade einmal drei begabten Frauen, eine rechtswissenschaftliche Professur in Wien zu erlangen. Zwei davon (Charlotte Leitmaier, geb. 1910, verst. 1997; Ingeborg Gampl, geb. 1929) forschten im Kirchenrecht, doch die Einzige von ihnen, die schon in den Fünfzigerjahren (1958) ihr Amt als Ordinaria antreten konnte, war eine Romanistin, deren interessante Persönlichkeit und deren vielfältige Leistungen anlässlich der hundertsten Wiederkehr ihres Geburtstages in Erinnerung zu rufen sind: Sibylle Bolla-Kotek, geboren am 8. Juni 1913.
Genau genommen war sie keine geborene Österreicherin, sondern kam als Staatsangehörige des Königreichs Ungarn zur Welt. Zu Zeiten der k.u.k. Monarchie lag ihre Geburtsstadt Preßburg außerhalb von Cisleithanien, heute fungiert sie unter ihrem slawischen Namen Bratislava als Hauptstadt der Slowakischen Republik. Die Bollas dienten wie viele Ungarn seit Generationen in der Armee, die Leidenschaft für Pferde und Bewegung lag ebenso in ihren Genen wie der Forscherdrang.
An Kafkas Uni
Sibylles Vater, der k.u.k. Offizier Gedeon von Bolla, förderte daher auch die Bildung seiner Töchter intensiv und sorgte für qualifizierten Reitunterricht. Zehn Jahre später zog die Familie ins tschechische Teplitz-Schönau, wo die Tochter das von Sudetendeutschen geführte Gymnasium besuchte. Wien und Budapest waren nun etwas ferner gerückt, aber auch die tschechische Hauptstadt bot interessante Ausbildungswege. So studierte Sibylle Bolla ab 1931 an der (deutschen) Ferdinand-Karls-Universität in Prag, wo auch Franz Kafka ein Vierteljahrhundert zuvor seine Doktorwürde empfangen hatte.
Legendär ist Kafkas Ausspruch, dass er als Student des Öffentlichen Rechts sich in Vorbereitung zur Staatsprüfung "wochenlang geistig buchstäblich von Holzmehl" hatte ernähren müssen. Nicht anders erging es Sibylle Bolla, die allerdings bereits nach acht Semestern ihr Studium beendete.
Der Zeitpunkt und Ort für eine Berufslaufbahn als Juristin waren wenig günstig, denn im Süden kämpfte das Regime Kurt Schuschniggs ums Überleben. Im Norden wuchs der Moloch des NS-Staates, der auch die Agitation in Teplitz-Schönau anfachte und Henleins Sudetendeutsche Partei vereinnahmte, in bedrohlicher Weise. Bolla wollte als frisch promovierte Dr. jur. 1935 der beruflich-politischen Enge in der bedrängten tschechischen Republik entkommen. Dafür boten sich zwei Wege an: Wissenschaft oder Rückzug ins geistliche Leben.
Mit dem Ende der Monarchie war nicht gleichzeitig das Ende alter österreichisch-stämmiger ("cisleithanischer") Institutionen in Böhmen gekommen: So bestand etwa die Sozialversicherungsanstalt (Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt), in der CSR mit slawischen Führungskräften weiter. Dasselbe galt für die deutschsprachige Rechts-Fakultät an der Prager Universität, immerhin der ältesten in diesem Sprachraum. Aber die Chancen auf eine Dauerstelle waren für eine ungarischstämmige, "altösterreichische", deutschsprachige Wissenschafterin gering. In dieser wenig aussichtsreichen Lage wandte sich Bolla an das (erst vor kurzem auf Befehl der Diözese abgesiedelte und veräußerte) Nonnen-Kloster Maria Annunziata in Eichgraben im Wienerwald, um dort ein geistliches Leben zu führen.
Doch es kam anders. Egon Weiss, ein Prager Gräzist (Hauptwerk: "Griechisches Privatrecht"), erkannte ihr Talent und übernahm sie ohne Vorurteile als Assistentin. Nachdem die Nationalsozialisten die Tschechische Republik in ein "Reichsprotektorat" umgewandelt und marginalisiert hatten, musste Weiss, wie viele andere jüdische Forscher (darunter auch Hans Kelsen), die dortige Universität verlassen. Um weiter tätig sein zu können, bedurfte die Juristin nun eines Mentors, den sie im Romanisten Leopold Wenger (1874-1953) anlässlich eines Wien-Besuchs 1937 fand; dieser erforschte in München an einem Spezialinstitut antikes Recht und entfachte ihr Interesse an der Papyrusforschung.
Tiermiete, Viehpacht
Auch sein dortiger Nachfolger Mariano San Nicolò (1887-1955) blieb Bolla gegenüber aufgeschlossen. Die habilitierte Forscherin konnte Untersuchungen zu Tiermiete und Viehpacht anstellen, die 1940 im Druck erschienen. Im NS-System erwies sich dieses "unpolitische" historische Feld gewissermaßen als Rettungsanker, da viele Assistenten einrücken mussten und daher ausnahmsweise auch Frauen weiter lehren konnten.
Besonders sympathisch konnte Bolla den Nazis aber nicht gewesen sein; die Einbettung der Familie in aristokratisch-ungarische Kreise weckte den Verdacht des Legitimismus, den Hitler bekanntlich besonders ablehnte. Auch die enge Bekanntschaft ihres Vaters zum Schutzbundgeneral Theodor Körner machte sie den Braunhemden verdächtig, nicht zuletzt auch ihre Zusammenarbeit mit dem nunmehr nach den diskriminierenden Nürnberger Rassengesetzen verfemten und verfolgten Egon Weiss, ihrem vormaligen "Chef" und Habilitationsvater.
Irgendwie dürfte es Bolla geschafft haben, trotz aller Anfeindungen und Bespitzelungen unbehelligt zu bleiben. Obwohl ihre Karriere nicht vom Fleck kam, konnte sie als außerplanmäßige Professorin (1944) immerhin ein Auskommen an der Prager Universität finden und während des Zweiten Weltkriegs lange Zeit beruflich und wissenschaftlich aktiv bleiben. Im letzten Kriegsjahr brach der Studienbetrieb zusammen und sie zog, nunmehr mehrfach gefährdet, via Innsbruck nach Kitzbühel zu ihrer Schwester; auch von einer drohenden Verhaftung durch die Gestapo ist in den Biographien die Rede. Dazu kam eine zunehmend feindselige Haltung der tschechischen Bevölkerung gegenüber allen deutschsprachigen Lehrenden und Prager Bürgern. Und nicht zuletzt stand die Rote Armee bereits im Frühjahr 1945 an der Leitha. Bollas Flucht im März 1945 war daher eine Existenzfrage.
In Wien erwies sich die Bekanntschaft zum nunmehrigen Bürgermeister Theodor Körner als hilfreich: Bolla konnte zunächst im Fachverband der Textilindustrie in Wien Fuß fassen. Außerdem gelang es ihr 1947, ihre Venia docendi (Lehrbefugnis) auf Römisches Recht, Antike Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht zu erweitern. Im Jahr 1949 wurde sie Außerordentliche Professorin, ein Jahr später folgte die Hochzeit mit dem Arzt und Klinikchef Alfred Kotek.
Vor 55 Jahren (1958) wurde sie dann unter dem Bundespräsidenten und Juristenkollegen Adolf Schärf (Körner starb 1957) zur Ordentlichen Professorin für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte ernannt. Neben der Romanistik widmete sie sich dem modernen Zivilrecht und dem Internationalen Privatrecht - der erste österreichische IPR-Grundriss (Internationales Privatrecht) stammt von ihr.
Reitleidenschaft
Praktisch diente Bolla-Kotek mit systematisch bearbeiteten Gesetzestexten der Bundes-Gendarmerie, die zwar namentlich seit rund zehn Jahren verschwunden ist, aber in ihrem Dienst- und Organisationsmuster der heutigen Bundespolizei erhalten blieb. Zudem übte sie eine rechtsprechende Funktion als Beisitzerin am Kartellobergericht aus. Soweit die juristische und rechtshistorische Arbeit, die sie mit Leidenschaft betrieb. Das Sammeln von Münzen aus allen Epochen und Ländern und ihr darauf aufbauendes Interesse an der Numismatik mündeten in eine Donation an die Wiener Universität, die auch durch eine fachwissenschaftliche Arbeit (Szaivert, "Mitteilungen der Numismatik/Münzkunde" 32/2006) dokumentiert ist.
Sportlich war es vor allem die Reitleidenschaft, die Bolla-Kotek mit der 1898 in Genf ermordeten Kaiserin Elisabeth von Österreich teilte. Regelmäßiges Training bestimmte ihre Freizeit, leider löste auch ein Reitunfall ihr Leiden aus, das nach einer Grippe-Erkrankung zum raschen, viel zu frühen Tod (22. Februar 1969) führte. Fünfundfünfzig Jahre sind, gemessen an durchschnittlichen Lebenserwartungen, reichlich wenig, aber Bolla-Kotek füllte sie mit einer geballten Energie und einer großen Ausstrahlung.
Zu diesem Schluss kommt auch die Historikerin Gabriele Floßmann, welche als erste eine Kurzbiographie der Rechtsprofessorin in dem von Heindl und Tichy herausgegebenen Sammelwerk "Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück - Frauen an der Wiener Universität" publiziert hat, das in der Reihe der Mitteilungen des Universitätsarchivs im Jahr 1990 erschien.
Ein Tor als Erinnerung
In den Arkaden oder auf der Ehrentafel der Wiener Universität fehlt ein Andenken, doch gibt es eine Erinnerungsstätte im neunten Bezirk. Nach Sibylle Bolla-Kotek ist heute ein Haupt-Tor zum Universitätscampus im Alten AKH benannt, es symbolisiert architektonisch die Einfallspforte kreativer weiblicher Energie in die Enge eines akademisch-universitären Faches, das vormals stets männliche Domäne war. Und es ist ein Durchgang in den größten Hof einer Anstalt, die schon zu Zeiten Josefs II. die Weite moderner, vorurteilsloser wissenschaftlicher Forschung eindrucksvoll dokumentierte.
Ohne dass dies den Initiatoren wohl bewusst war, befindet sich dieser zentrale Eingang schräg gegenüber der Ecke Alserstraße-Wickenburggasse, wo das ehemalige Wohnhaus Hans Kelsens steht. Heute befindet sich in diesem eher unscheinbaren Gebäude, das seltsamer Weise nur an der Front zur Alserstraße saniert worden ist, eine Pension und eine Gedenktafel für Kelsen. Der bekannteste österreichische Rechtsgelehrte des 20. Jahrhunderts lebte dort bis zu seinem (von missgünstigen Kollegen und Antisemiten in allen Parteien betriebenen) Exodus aus Wien 1930. In seiner eher bescheidenen Behausung entstand die Reine Rechtslehre und im Diskurs mit seinen Schülern (Merkl, Sander, Fröhlich) die Wiener Schule der Rechtswissenschaft. In den Dreißigerjahren kreuzten sich die Wege der beiden Ausnahmetalente an der Prager Universität, wo Hans Kelsen Öffentliches Recht lehrte und Sibylle Bolla bei Egon Weiss die Antike Rechtsgeschichte wissenschaftlich zum Leben erweckte.
Literatur:
Angelika Frühwirth: Sibylle Bolla-Kotek (1913-1969): Papyrusforschung und Pferdepassion; in: Gerhard Strejcek (Hrsg): Gelebtes Recht. Wien/Bern 2012.
Keintzel/Korotin (Hrsg): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben - Werk -- Wirken, Wien 2002.
Heute finden sich am Wiener Juridicum viele engagierte Forscherinnen und akademische Lehrerinnen, viele davon in leitenden Positionen. Das war nicht immer so. In den ersten vier Jahrzehnten der Zweiten Republik gelang es gerade einmal drei begabten Frauen, eine rechtswissenschaftliche Professur in Wien zu erlangen. Zwei davon (Charlotte Leitmaier, geb. 1910, verst. 1997; Ingeborg Gampl, geb. 1929) forschten im Kirchenrecht, doch die Einzige von ihnen, die schon in den Fünfzigerjahren (1958) ihr Amt als Ordinaria antreten konnte, war eine Romanistin, deren interessante Persönlichkeit und deren vielfältige Leistungen anlässlich der hundertsten Wiederkehr ihres Geburtstages in Erinnerung zu rufen sind: Sibylle Bolla-Kotek, geboren am 8. Juni 1913.
Genau genommen war sie keine geborene Österreicherin, sondern kam als Staatsangehörige des Königreichs Ungarn zur Welt. Zu Zeiten der k.u.k. Monarchie lag ihre Geburtsstadt Preßburg außerhalb von Cisleithanien, heute fungiert sie unter ihrem slawischen Namen Bratislava als Hauptstadt der Slowakischen Republik. Die Bollas dienten wie viele Ungarn seit Generationen in der Armee, die Leidenschaft für Pferde und Bewegung lag ebenso in ihren Genen wie der Forscherdrang.
An Kafkas Uni
Sibylles Vater, der k.u.k. Offizier Gedeon von Bolla, förderte daher auch die Bildung seiner Töchter intensiv und sorgte für qualifizierten Reitunterricht. Zehn Jahre später zog die Familie ins tschechische Teplitz-Schönau, wo die Tochter das von Sudetendeutschen geführte Gymnasium besuchte. Wien und Budapest waren nun etwas ferner gerückt, aber auch die tschechische Hauptstadt bot interessante Ausbildungswege. So studierte Sibylle Bolla ab 1931 an der (deutschen) Ferdinand-Karls-Universität in Prag, wo auch Franz Kafka ein Vierteljahrhundert zuvor seine Doktorwürde empfangen hatte.
Legendär ist Kafkas Ausspruch, dass er als Student des Öffentlichen Rechts sich in Vorbereitung zur Staatsprüfung "wochenlang geistig buchstäblich von Holzmehl" hatte ernähren müssen. Nicht anders erging es Sibylle Bolla, die allerdings bereits nach acht Semestern ihr Studium beendete.
Der Zeitpunkt und Ort für eine Berufslaufbahn als Juristin waren wenig günstig, denn im Süden kämpfte das Regime Kurt Schuschniggs ums Überleben. Im Norden wuchs der Moloch des NS-Staates, der auch die Agitation in Teplitz-Schönau anfachte und Henleins Sudetendeutsche Partei vereinnahmte, in bedrohlicher Weise. Bolla wollte als frisch promovierte Dr. jur. 1935 der beruflich-politischen Enge in der bedrängten tschechischen Republik entkommen. Dafür boten sich zwei Wege an: Wissenschaft oder Rückzug ins geistliche Leben.
Mit dem Ende der Monarchie war nicht gleichzeitig das Ende alter österreichisch-stämmiger ("cisleithanischer") Institutionen in Böhmen gekommen: So bestand etwa die Sozialversicherungsanstalt (Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt), in der CSR mit slawischen Führungskräften weiter. Dasselbe galt für die deutschsprachige Rechts-Fakultät an der Prager Universität, immerhin der ältesten in diesem Sprachraum. Aber die Chancen auf eine Dauerstelle waren für eine ungarischstämmige, "altösterreichische", deutschsprachige Wissenschafterin gering. In dieser wenig aussichtsreichen Lage wandte sich Bolla an das (erst vor kurzem auf Befehl der Diözese abgesiedelte und veräußerte) Nonnen-Kloster Maria Annunziata in Eichgraben im Wienerwald, um dort ein geistliches Leben zu führen.
Doch es kam anders. Egon Weiss, ein Prager Gräzist (Hauptwerk: "Griechisches Privatrecht"), erkannte ihr Talent und übernahm sie ohne Vorurteile als Assistentin. Nachdem die Nationalsozialisten die Tschechische Republik in ein "Reichsprotektorat" umgewandelt und marginalisiert hatten, musste Weiss, wie viele andere jüdische Forscher (darunter auch Hans Kelsen), die dortige Universität verlassen. Um weiter tätig sein zu können, bedurfte die Juristin nun eines Mentors, den sie im Romanisten Leopold Wenger (1874-1953) anlässlich eines Wien-Besuchs 1937 fand; dieser erforschte in München an einem Spezialinstitut antikes Recht und entfachte ihr Interesse an der Papyrusforschung.
Tiermiete, Viehpacht
Auch sein dortiger Nachfolger Mariano San Nicolò (1887-1955) blieb Bolla gegenüber aufgeschlossen. Die habilitierte Forscherin konnte Untersuchungen zu Tiermiete und Viehpacht anstellen, die 1940 im Druck erschienen. Im NS-System erwies sich dieses "unpolitische" historische Feld gewissermaßen als Rettungsanker, da viele Assistenten einrücken mussten und daher ausnahmsweise auch Frauen weiter lehren konnten.
Besonders sympathisch konnte Bolla den Nazis aber nicht gewesen sein; die Einbettung der Familie in aristokratisch-ungarische Kreise weckte den Verdacht des Legitimismus, den Hitler bekanntlich besonders ablehnte. Auch die enge Bekanntschaft ihres Vaters zum Schutzbundgeneral Theodor Körner machte sie den Braunhemden verdächtig, nicht zuletzt auch ihre Zusammenarbeit mit dem nunmehr nach den diskriminierenden Nürnberger Rassengesetzen verfemten und verfolgten Egon Weiss, ihrem vormaligen "Chef" und Habilitationsvater.
Irgendwie dürfte es Bolla geschafft haben, trotz aller Anfeindungen und Bespitzelungen unbehelligt zu bleiben. Obwohl ihre Karriere nicht vom Fleck kam, konnte sie als außerplanmäßige Professorin (1944) immerhin ein Auskommen an der Prager Universität finden und während des Zweiten Weltkriegs lange Zeit beruflich und wissenschaftlich aktiv bleiben. Im letzten Kriegsjahr brach der Studienbetrieb zusammen und sie zog, nunmehr mehrfach gefährdet, via Innsbruck nach Kitzbühel zu ihrer Schwester; auch von einer drohenden Verhaftung durch die Gestapo ist in den Biographien die Rede. Dazu kam eine zunehmend feindselige Haltung der tschechischen Bevölkerung gegenüber allen deutschsprachigen Lehrenden und Prager Bürgern. Und nicht zuletzt stand die Rote Armee bereits im Frühjahr 1945 an der Leitha. Bollas Flucht im März 1945 war daher eine Existenzfrage.
In Wien erwies sich die Bekanntschaft zum nunmehrigen Bürgermeister Theodor Körner als hilfreich: Bolla konnte zunächst im Fachverband der Textilindustrie in Wien Fuß fassen. Außerdem gelang es ihr 1947, ihre Venia docendi (Lehrbefugnis) auf Römisches Recht, Antike Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht zu erweitern. Im Jahr 1949 wurde sie Außerordentliche Professorin, ein Jahr später folgte die Hochzeit mit dem Arzt und Klinikchef Alfred Kotek.
Vor 55 Jahren (1958) wurde sie dann unter dem Bundespräsidenten und Juristenkollegen Adolf Schärf (Körner starb 1957) zur Ordentlichen Professorin für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte ernannt. Neben der Romanistik widmete sie sich dem modernen Zivilrecht und dem Internationalen Privatrecht - der erste österreichische IPR-Grundriss (Internationales Privatrecht) stammt von ihr.
Reitleidenschaft
Praktisch diente Bolla-Kotek mit systematisch bearbeiteten Gesetzestexten der Bundes-Gendarmerie, die zwar namentlich seit rund zehn Jahren verschwunden ist, aber in ihrem Dienst- und Organisationsmuster der heutigen Bundespolizei erhalten blieb. Zudem übte sie eine rechtsprechende Funktion als Beisitzerin am Kartellobergericht aus. Soweit die juristische und rechtshistorische Arbeit, die sie mit Leidenschaft betrieb. Das Sammeln von Münzen aus allen Epochen und Ländern und ihr darauf aufbauendes Interesse an der Numismatik mündeten in eine Donation an die Wiener Universität, die auch durch eine fachwissenschaftliche Arbeit (Szaivert, "Mitteilungen der Numismatik/Münzkunde" 32/2006) dokumentiert ist.
Sportlich war es vor allem die Reitleidenschaft, die Bolla-Kotek mit der 1898 in Genf ermordeten Kaiserin Elisabeth von Österreich teilte. Regelmäßiges Training bestimmte ihre Freizeit, leider löste auch ein Reitunfall ihr Leiden aus, das nach einer Grippe-Erkrankung zum raschen, viel zu frühen Tod (22. Februar 1969) führte. Fünfundfünfzig Jahre sind, gemessen an durchschnittlichen Lebenserwartungen, reichlich wenig, aber Bolla-Kotek füllte sie mit einer geballten Energie und einer großen Ausstrahlung.
Zu diesem Schluss kommt auch die Historikerin Gabriele Floßmann, welche als erste eine Kurzbiographie der Rechtsprofessorin in dem von Heindl und Tichy herausgegebenen Sammelwerk "Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück - Frauen an der Wiener Universität" publiziert hat, das in der Reihe der Mitteilungen des Universitätsarchivs im Jahr 1990 erschien.
Ein Tor als Erinnerung
In den Arkaden oder auf der Ehrentafel der Wiener Universität fehlt ein Andenken, doch gibt es eine Erinnerungsstätte im neunten Bezirk. Nach Sibylle Bolla-Kotek ist heute ein Haupt-Tor zum Universitätscampus im Alten AKH benannt, es symbolisiert architektonisch die Einfallspforte kreativer weiblicher Energie in die Enge eines akademisch-universitären Faches, das vormals stets männliche Domäne war. Und es ist ein Durchgang in den größten Hof einer Anstalt, die schon zu Zeiten Josefs II. die Weite moderner, vorurteilsloser wissenschaftlicher Forschung eindrucksvoll dokumentierte.
Ohne dass dies den Initiatoren wohl bewusst war, befindet sich dieser zentrale Eingang schräg gegenüber der Ecke Alserstraße-Wickenburggasse, wo das ehemalige Wohnhaus Hans Kelsens steht. Heute befindet sich in diesem eher unscheinbaren Gebäude, das seltsamer Weise nur an der Front zur Alserstraße saniert worden ist, eine Pension und eine Gedenktafel für Kelsen. Der bekannteste österreichische Rechtsgelehrte des 20. Jahrhunderts lebte dort bis zu seinem (von missgünstigen Kollegen und Antisemiten in allen Parteien betriebenen) Exodus aus Wien 1930. In seiner eher bescheidenen Behausung entstand die Reine Rechtslehre und im Diskurs mit seinen Schülern (Merkl, Sander, Fröhlich) die Wiener Schule der Rechtswissenschaft. In den Dreißigerjahren kreuzten sich die Wege der beiden Ausnahmetalente an der Prager Universität, wo Hans Kelsen Öffentliches Recht lehrte und Sibylle Bolla bei Egon Weiss die Antike Rechtsgeschichte wissenschaftlich zum Leben erweckte.
Literatur:
Angelika Frühwirth: Sibylle Bolla-Kotek (1913-1969): Papyrusforschung und Pferdepassion; in: Gerhard Strejcek (Hrsg): Gelebtes Recht. Wien/Bern 2012.
Keintzel/Korotin (Hrsg): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben - Werk -- Wirken, Wien 2002.
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Gerhard Strejcek
Illusionen eines Imperators
Wiener Zeitung, 27.04.2013
Das desaströse, spätkoloniale Abenteuer von Kaiser Maximilian in Mexiko ist ein politisches Lehrstück, über welches in österreichischen Geschichtsbüchern überraschend wenig Informatives zu finden ist.
Im Wiener Hofmobiliendepot findet derzeit eine sehenswerte Ausstellung über das bewegte Leben des Kaisers Maximilian von Mexiko unter dem Titel "Der Traum vom Herrschen" statt. Der genaue historische Anlass für diese Ausstellung ist allerdings unklar, weil Max von Ende Mai 1864 (Ankunft in Mexiko) bis Mai 1867 (Erschießung am 19. Juni in Querétaro) in Ciudad de Mexico herrschte. Vor hundertfünfzig Jahren befand er sich noch in einer Abwarteposition und harrte in Triest der Ereignisse.
Tragischer Hauptakteur
Im Frühjahr 1863 wendete sich nach massiven Verstärkungen der französischen Expeditionstruppen (von 6000 auf 36.000 Mann) das militärische Blatt zu Gunsten der europäischen Aggressoren; nun hallten in Puebla und Mexiko Stadt jene Kanonen, die laut dem österreichischen Botschafter in Paris, Richard Metternich, notwendig waren, um einen Kaiser ohne Rückhalt im Volk zu installieren. Zeitgleich setzten im Norden die USA nach einigen Rückschlägen zum Sieg gegen die Konföderierten an, der in Gettysburg (Juli 1863) manifest wurde, weshalb sich die geopolitische Lage in Wahrheit deutlich gegen das mexikanische Abenteuer Napoleons III. wandte. Das sahen viele so, nicht aber der tragische Hauptakteur Maximilian und seine belgische Gattin, die erst 23-jährige Erzherzogin Charlotte.
Warum die gut bezahlten Ratgeber von Maxens Bruder, Kaiser Franz Joseph I., und dessen um ihren Schwager besorgter Gattin Sisi nicht gehört wurden, bleibt rätselhaft, denn die politische Analyse war eindeutig. Der Diplomat und Abkömmling des einstigen "Kutschers Europas" und Staatskanzlers Metternich, der in Paris von allen Seiten beste Informationen erhielt und den mexikanischen Schwadroneuren misstraute, prophezeite zutreffend, dass es immer mehr Kanonen bedürfte, um den Kaiser von Napoleons Gnaden längerfristig im Land und an der Macht zu halten.
Somit zeichnete sich jene Entwicklung ab, die der spanische General Prim schon 1861 erkannt hatte: Zu wenige Truppen würden im riesigen Mexiko verschwinden, zu viele aber verhungern. Ein klassisches Nullsummenspiel. Die rational vorgehenden Spanier sahen daher die Wiedererlangung von "Neuspanien" als aussichtslos an; und die weitsichtigen, stets wohl informierten und heimlich mit den USA abgestimmten Briten, welche in Veracruz im Frühjahr 1861 gemeinsam mit dem französischen Korps gelandet waren, um ihre finanziellen Ansprüche durchzusetzen (Juarez hatte ein zweijähriges Zinsmoratorium verkündet), gaben sich ebenso wie die Spanier mit dem Vertrag von Soledad und Orizába zufrieden und hissten schon damals wieder die Segel.
Marionettenkaiser
Nicht so die von napoleonischem Ehrgeiz getriebenen Franzosen, die ernsthaft glaubten, südlich der Vereinigten Staaten Fuß fassen zu können. Diese Strategie wäre nicht einmal im Falle eines Siegs der Konföderierten gut gegangen. Als Vorwand für die spätkolonialistische Intervention bedurften die Franzosen, die vor allem durch Napoleons Halbbruder, den Herzog Moya getrieben waren, eines Marionettenkaisers, der nach und nach Geld zurück nach Europa zu spülen hatte. Für die undankbare Rolle bot sich der zweitgeborene Sohn der Erzherzogin Sophie und des Kaiser-Bruders Franz Carl an: Ferdinand Maximilian.
Im Oktober 1863 trug ihm eine mexikanische Emigrantengruppe, die sich auf eine rund zweihundertköpfige Notabelnversammlung, nicht aber auf ein demokratisches Votum stützte, die Krone an. Heute geht man von einer gut eingefädelten Intrige des französischen Kaisers Napoleon III. aus, dessen Truppen damals nach einigen Rückschlägen bis Mexico City vorgedrungen waren und dort Verbündete suchten, um Max wie geplant zu installieren. Das gelang aber erst im Folgejahr, sodass sich das "runde" Jubiläum der Thronbesteigung bzw. Überfahrt nach Mexiko erst 2014 ergeben wird. Angesichts der tragischen Ereignisse für die österreichischen, belgischen und französischen Beteiligten, aber auch für die unter einem jahrelangen Zermürbungskrieg leidende mexikanische Bevölkerung ist es ohnehin kein Grund zum Feiern.
Erstaunliche Naivität
Dennoch ist diese Episode ein politisches Lehrstück par excellence. Die erstaunliche Naivität der zwei Proponenten Charlotte und Max, die merkwürdige, amikal-selbstsüchtige Rolle der europäischen Herrscher (Leopold I. von Belgien; Queen Victoria, Franz Joseph I.; Napoleon III.) und die Verkennung der amerikanischen Machtverhältnisse (trotz Lincolns Ermordung konsolidierten sich die USA als Regionalmacht, deren militärischer Arm immer weiter nach Süden und Osten reichte) zeigen die internationale Dimension auf.
Oft wird auch übersehen, dass bei aller Einmischung von außen spezifisch mexikanische Themen bis heute relevant sind, wie die oftmalige Überschuldung des Landes, die ungeklärte Position der indigenen Bevölkerung und der damals heftig geführte Konflikt zwischen klerikal-konservativen und liberal-republikanischen Kräften. Wie eine Ironie der Geschichte mutet es auch an, dass die Republik (der Vereinigten Staaten von) Mexiko im Jahr 1938 der einzige Staat war, der beim Völkerbund gegen die NS-Besetzung Österreichs und dessen Untergang als selbstständiger Staat Protest einlegte.
Im Wiener Hofmobiliendepot findet derzeit eine sehenswerte Ausstellung über das bewegte Leben des Kaisers Maximilian von Mexiko unter dem Titel "Der Traum vom Herrschen" statt. Der genaue historische Anlass für diese Ausstellung ist allerdings unklar, weil Max von Ende Mai 1864 (Ankunft in Mexiko) bis Mai 1867 (Erschießung am 19. Juni in Querétaro) in Ciudad de Mexico herrschte. Vor hundertfünfzig Jahren befand er sich noch in einer Abwarteposition und harrte in Triest der Ereignisse.
Tragischer Hauptakteur
Im Frühjahr 1863 wendete sich nach massiven Verstärkungen der französischen Expeditionstruppen (von 6000 auf 36.000 Mann) das militärische Blatt zu Gunsten der europäischen Aggressoren; nun hallten in Puebla und Mexiko Stadt jene Kanonen, die laut dem österreichischen Botschafter in Paris, Richard Metternich, notwendig waren, um einen Kaiser ohne Rückhalt im Volk zu installieren. Zeitgleich setzten im Norden die USA nach einigen Rückschlägen zum Sieg gegen die Konföderierten an, der in Gettysburg (Juli 1863) manifest wurde, weshalb sich die geopolitische Lage in Wahrheit deutlich gegen das mexikanische Abenteuer Napoleons III. wandte. Das sahen viele so, nicht aber der tragische Hauptakteur Maximilian und seine belgische Gattin, die erst 23-jährige Erzherzogin Charlotte.
Warum die gut bezahlten Ratgeber von Maxens Bruder, Kaiser Franz Joseph I., und dessen um ihren Schwager besorgter Gattin Sisi nicht gehört wurden, bleibt rätselhaft, denn die politische Analyse war eindeutig. Der Diplomat und Abkömmling des einstigen "Kutschers Europas" und Staatskanzlers Metternich, der in Paris von allen Seiten beste Informationen erhielt und den mexikanischen Schwadroneuren misstraute, prophezeite zutreffend, dass es immer mehr Kanonen bedürfte, um den Kaiser von Napoleons Gnaden längerfristig im Land und an der Macht zu halten.
Somit zeichnete sich jene Entwicklung ab, die der spanische General Prim schon 1861 erkannt hatte: Zu wenige Truppen würden im riesigen Mexiko verschwinden, zu viele aber verhungern. Ein klassisches Nullsummenspiel. Die rational vorgehenden Spanier sahen daher die Wiedererlangung von "Neuspanien" als aussichtslos an; und die weitsichtigen, stets wohl informierten und heimlich mit den USA abgestimmten Briten, welche in Veracruz im Frühjahr 1861 gemeinsam mit dem französischen Korps gelandet waren, um ihre finanziellen Ansprüche durchzusetzen (Juarez hatte ein zweijähriges Zinsmoratorium verkündet), gaben sich ebenso wie die Spanier mit dem Vertrag von Soledad und Orizába zufrieden und hissten schon damals wieder die Segel.
Marionettenkaiser
Nicht so die von napoleonischem Ehrgeiz getriebenen Franzosen, die ernsthaft glaubten, südlich der Vereinigten Staaten Fuß fassen zu können. Diese Strategie wäre nicht einmal im Falle eines Siegs der Konföderierten gut gegangen. Als Vorwand für die spätkolonialistische Intervention bedurften die Franzosen, die vor allem durch Napoleons Halbbruder, den Herzog Moya getrieben waren, eines Marionettenkaisers, der nach und nach Geld zurück nach Europa zu spülen hatte. Für die undankbare Rolle bot sich der zweitgeborene Sohn der Erzherzogin Sophie und des Kaiser-Bruders Franz Carl an: Ferdinand Maximilian.
Im Oktober 1863 trug ihm eine mexikanische Emigrantengruppe, die sich auf eine rund zweihundertköpfige Notabelnversammlung, nicht aber auf ein demokratisches Votum stützte, die Krone an. Heute geht man von einer gut eingefädelten Intrige des französischen Kaisers Napoleon III. aus, dessen Truppen damals nach einigen Rückschlägen bis Mexico City vorgedrungen waren und dort Verbündete suchten, um Max wie geplant zu installieren. Das gelang aber erst im Folgejahr, sodass sich das "runde" Jubiläum der Thronbesteigung bzw. Überfahrt nach Mexiko erst 2014 ergeben wird. Angesichts der tragischen Ereignisse für die österreichischen, belgischen und französischen Beteiligten, aber auch für die unter einem jahrelangen Zermürbungskrieg leidende mexikanische Bevölkerung ist es ohnehin kein Grund zum Feiern.
Erstaunliche Naivität
Dennoch ist diese Episode ein politisches Lehrstück par excellence. Die erstaunliche Naivität der zwei Proponenten Charlotte und Max, die merkwürdige, amikal-selbstsüchtige Rolle der europäischen Herrscher (Leopold I. von Belgien; Queen Victoria, Franz Joseph I.; Napoleon III.) und die Verkennung der amerikanischen Machtverhältnisse (trotz Lincolns Ermordung konsolidierten sich die USA als Regionalmacht, deren militärischer Arm immer weiter nach Süden und Osten reichte) zeigen die internationale Dimension auf.
Oft wird auch übersehen, dass bei aller Einmischung von außen spezifisch mexikanische Themen bis heute relevant sind, wie die oftmalige Überschuldung des Landes, die ungeklärte Position der indigenen Bevölkerung und der damals heftig geführte Konflikt zwischen klerikal-konservativen und liberal-republikanischen Kräften. Wie eine Ironie der Geschichte mutet es auch an, dass die Republik (der Vereinigten Staaten von) Mexiko im Jahr 1938 der einzige Staat war, der beim Völkerbund gegen die NS-Besetzung Österreichs und dessen Untergang als selbstständiger Staat Protest einlegte.
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Gerhard Strejcek
„Phallus“ auf dem Stimmzettel
Salzburger Nachrichten, 20.03.2013
Ungültigkeit. Welche Probleme die mehrdeutige Kennzeichnung eines Stimmzettels bringen kann, zeigte sich zum Leidwesen des BZÖ bei der Kärntner Landtagswahl an einer Stimme.
Lediglich eine Stimme trennte nach dem Ergebnis der Kärntner Landtagswahl Grüne und BZÖ; jener Stimmzettel, der bereits Berühmtheit erlangt hat, weil der oder die Stimmberechtigte darauf „BZÖ“ angekreuzt, aber beim Team Stronach in der Vorzugsstimmenzeile eine Art Phallussymbol gezeichnet hat, wird die Wahl nicht beeinflussen können.
Daran kann auch eine ziffernmäßige Neuermittlung nichts ändern, es sei denn, es werden im Zuge der vom BZÖ verlangten ziffernmäßigen Überprüfung durch die Wahlbehörde Fehler (an anderer Stelle) aufgedeckt.
Beim VfGH könnte hernach zwar von jeder Wahlpartei auch eine – näher zu substantiierende – Rechtswidrigkeit der Wahlordnung geltend gemacht werden. Aber auch im Höchstgericht wird schon wegen des Wahlgeheimnisses nicht näher nachgeforscht, was ein anonymer Wähler oder eine Wählerin eigentlich bewirken wollte; vermutlich wird daher für immer im Dunklen bleiben, ob mit dem erektiven Symbol etwa eine Vorzugsstimme für einen der Kandidierenden gemeint war.
Aber auch diesfalls wäre der Stimmzettel ungültig ausgefüllt worden. Symbole und Zeichnungen bewirken die Ungültigkeit, wenn entweder die Wahlordnung derartige Symbole ausdrücklich als Ungültigkeitsgrund anführt oder wenn sie nicht bei derselben Partei erfolgen, die eindeutig und alleinig (z. B. durch Ankreuzen, Streichung aller Übrigen) auf dem Stimmzettel markiert wird.Kreuzerl „danebengezittert“ Das Problem der mehrdeutigen Kennzeichnung eines Stimmzettels ist keine Seltenheit. Im Überschwang der Gefühle des Wahlaktes streichen manche Personen unbewusst gleich mehrere Felder an oder schaffen es wegen Fehlsichtigkeit oder Handzittern nicht, das Kreuz im gewünschten Feld zu positionieren. Ist aber der Wählerwille solcherart für die auszählenden Organe (und Wahlbehörden) nicht eindeutig erkennbar, dann ist die Stimme nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs ungültig.
Wahlordnungen, so auch die Kärntner LWO, sind strikt zu interpretieren, eine „Erforschung“ des Wählerwillens wäre daher unzulässig. Nebenbei bemerkt müsste diese Recherche hier auch noch tiefenpsychologisch fundiert sein, daher ist die Linie des Wahlgerichtshofs, einer Wortsinninterpretation der Wahlordnung zu folgen, sicherlich richtig (der VfGH entscheidet letztlich nach Anrufung binnen vier Wochen nach Kundmachung des Endergebnisses als Wahlgericht über alle relevanten staatlichen Wahlen).
Dass eine einzige Stimme über ein Mandat entscheidet, ist statistisch betrachtet zwar eher selten, aber dass Mandate nur durch sehr wenige Stimmen abgesichert sind, ist auch bei der Nationalratswahl nicht auszuschließen.
Alle Vertretungskörper (NR, LT, GR, EP-Abgeordnete) müssen laut Verfassung nach dem Verhältniswahlgrundsatz gewählt werden, die angewendeten wahlmathematischen Verfahren (in Österreich meist nach Hare, d’Hondt oder Hagenbach-Bischoff) bewirken beim Bruchrechnen oft knappe Abstände.
Haarig wird es, wenn Wahlfehler („Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens“) unterlaufen, die ergebnisrelevant sind: So passiert bei der NR-Wahl 1995, als nur ein Dutzend Stimmen das letzte ÖVP-Mandat absicherten. Hier schlug die erkannte Rechtswidrigkeit auf das Ergebnis des VfGH-Verfahrens nach Art 141 B-VG durch, da die aufgezeigten Rechtswidrigkeiten auch von Einfluss auf das Ergebnis sein konnten.
In einem burgenländischen Regionalwahlkreis (Andau) waren bei der NR-Wahl 1995 die falschen Stimmzettel aufgelegt worden, und in Reutte hatte eine Ministerin Tiroler Provenienz, die dort aber nicht im Wählerverzeichnis aufschien (vermutlich, weil sie ihren Hauptwohnsitz nach Wien verlegt hatte) kraft österreichisch-devotem Autoritätsverständnis bzw. in unangebrachter Subordination des Wahlleiters ihre Stimme abgeben dürfen – rechtswidrigerweise, wie sich herausstellte.
Die Wahl wurde von einer wahlwerbenden Partei angefochten und in drei Wahlkreisen auch vom VfGH für nichtig erklärt (VfSlg 14.556/1996). Das Verfahren musste mit einer neuerlichen Stimmabgabe und Auszählung in den betroffenen Wahlkreisen wiederholt werden.Fehlerquote steigt Bei der Wiederholungswahl gewann dann die FPÖ das Mandat. Der zeitliche Abstand zur ersten Wahl stellt übrigens eine eigene demokratiepolitisch zu hinterfragende, aber unvermeidliche Facette dar.
Am Rande bemerkt: Durch die in den Startlöchern stehende Neuregelung der (laut geplanter NRWO-Novelle künftig dreifach möglichen) Vorzugsstimme muss nicht nur der Bundeswahlvorschlag einer wahlwerbenden Partei deutlich früher vorgelegt werden als bisher, es wächst auch das Format der Stimmzettel auf Handtuchgröße und es steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler wie die hier angeführten passieren können.
Eine Übersicht über alle wahlgerichtlichen Erkenntnisse und Beschlüsse des VfGH (so auch das zitierte Erk. VfSlg 14.559/1996, S. 108) findet sich bei Strejcek/Urban, Der Verfassungsgerichtshof als Wahlgericht, Verlag Österreich 2008.
Lediglich eine Stimme trennte nach dem Ergebnis der Kärntner Landtagswahl Grüne und BZÖ; jener Stimmzettel, der bereits Berühmtheit erlangt hat, weil der oder die Stimmberechtigte darauf „BZÖ“ angekreuzt, aber beim Team Stronach in der Vorzugsstimmenzeile eine Art Phallussymbol gezeichnet hat, wird die Wahl nicht beeinflussen können.
Daran kann auch eine ziffernmäßige Neuermittlung nichts ändern, es sei denn, es werden im Zuge der vom BZÖ verlangten ziffernmäßigen Überprüfung durch die Wahlbehörde Fehler (an anderer Stelle) aufgedeckt.
Beim VfGH könnte hernach zwar von jeder Wahlpartei auch eine – näher zu substantiierende – Rechtswidrigkeit der Wahlordnung geltend gemacht werden. Aber auch im Höchstgericht wird schon wegen des Wahlgeheimnisses nicht näher nachgeforscht, was ein anonymer Wähler oder eine Wählerin eigentlich bewirken wollte; vermutlich wird daher für immer im Dunklen bleiben, ob mit dem erektiven Symbol etwa eine Vorzugsstimme für einen der Kandidierenden gemeint war.
Aber auch diesfalls wäre der Stimmzettel ungültig ausgefüllt worden. Symbole und Zeichnungen bewirken die Ungültigkeit, wenn entweder die Wahlordnung derartige Symbole ausdrücklich als Ungültigkeitsgrund anführt oder wenn sie nicht bei derselben Partei erfolgen, die eindeutig und alleinig (z. B. durch Ankreuzen, Streichung aller Übrigen) auf dem Stimmzettel markiert wird.Kreuzerl „danebengezittert“ Das Problem der mehrdeutigen Kennzeichnung eines Stimmzettels ist keine Seltenheit. Im Überschwang der Gefühle des Wahlaktes streichen manche Personen unbewusst gleich mehrere Felder an oder schaffen es wegen Fehlsichtigkeit oder Handzittern nicht, das Kreuz im gewünschten Feld zu positionieren. Ist aber der Wählerwille solcherart für die auszählenden Organe (und Wahlbehörden) nicht eindeutig erkennbar, dann ist die Stimme nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs ungültig.
Wahlordnungen, so auch die Kärntner LWO, sind strikt zu interpretieren, eine „Erforschung“ des Wählerwillens wäre daher unzulässig. Nebenbei bemerkt müsste diese Recherche hier auch noch tiefenpsychologisch fundiert sein, daher ist die Linie des Wahlgerichtshofs, einer Wortsinninterpretation der Wahlordnung zu folgen, sicherlich richtig (der VfGH entscheidet letztlich nach Anrufung binnen vier Wochen nach Kundmachung des Endergebnisses als Wahlgericht über alle relevanten staatlichen Wahlen).
Dass eine einzige Stimme über ein Mandat entscheidet, ist statistisch betrachtet zwar eher selten, aber dass Mandate nur durch sehr wenige Stimmen abgesichert sind, ist auch bei der Nationalratswahl nicht auszuschließen.
Alle Vertretungskörper (NR, LT, GR, EP-Abgeordnete) müssen laut Verfassung nach dem Verhältniswahlgrundsatz gewählt werden, die angewendeten wahlmathematischen Verfahren (in Österreich meist nach Hare, d’Hondt oder Hagenbach-Bischoff) bewirken beim Bruchrechnen oft knappe Abstände.
Haarig wird es, wenn Wahlfehler („Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens“) unterlaufen, die ergebnisrelevant sind: So passiert bei der NR-Wahl 1995, als nur ein Dutzend Stimmen das letzte ÖVP-Mandat absicherten. Hier schlug die erkannte Rechtswidrigkeit auf das Ergebnis des VfGH-Verfahrens nach Art 141 B-VG durch, da die aufgezeigten Rechtswidrigkeiten auch von Einfluss auf das Ergebnis sein konnten.
In einem burgenländischen Regionalwahlkreis (Andau) waren bei der NR-Wahl 1995 die falschen Stimmzettel aufgelegt worden, und in Reutte hatte eine Ministerin Tiroler Provenienz, die dort aber nicht im Wählerverzeichnis aufschien (vermutlich, weil sie ihren Hauptwohnsitz nach Wien verlegt hatte) kraft österreichisch-devotem Autoritätsverständnis bzw. in unangebrachter Subordination des Wahlleiters ihre Stimme abgeben dürfen – rechtswidrigerweise, wie sich herausstellte.
Die Wahl wurde von einer wahlwerbenden Partei angefochten und in drei Wahlkreisen auch vom VfGH für nichtig erklärt (VfSlg 14.556/1996). Das Verfahren musste mit einer neuerlichen Stimmabgabe und Auszählung in den betroffenen Wahlkreisen wiederholt werden.Fehlerquote steigt Bei der Wiederholungswahl gewann dann die FPÖ das Mandat. Der zeitliche Abstand zur ersten Wahl stellt übrigens eine eigene demokratiepolitisch zu hinterfragende, aber unvermeidliche Facette dar.
Am Rande bemerkt: Durch die in den Startlöchern stehende Neuregelung der (laut geplanter NRWO-Novelle künftig dreifach möglichen) Vorzugsstimme muss nicht nur der Bundeswahlvorschlag einer wahlwerbenden Partei deutlich früher vorgelegt werden als bisher, es wächst auch das Format der Stimmzettel auf Handtuchgröße und es steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler wie die hier angeführten passieren können.
Eine Übersicht über alle wahlgerichtlichen Erkenntnisse und Beschlüsse des VfGH (so auch das zitierte Erk. VfSlg 14.559/1996, S. 108) findet sich bei Strejcek/Urban, Der Verfassungsgerichtshof als Wahlgericht, Verlag Österreich 2008.
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Gerhard Strejcek
Lehnstuhl statt Lehrstuhl
Wiener Zeitung, 08.03.2013
In seinem Habitus war Karl Marx, dessen Todestag sich am 14. März zum 130. Mal jährt, ein bürgerlicher Familienmensch. Was bleibt,
165 Jahre nach dem Erscheinen des "Kommunistischen Manifests", von seinen revolutionären Theorien übrig?
Folgt man den Ausführungen seines fanatischen Anhängers und die Marx’schen Lehren unkritisch verklärenden Schülers Wladimir I. Lenin, so verschied der streitbare Theoretiker am 14. März 1883 "friedlich in seinem Lehnstuhl". Dieses heutzutage längst aus dem Gebrauch gekommene, durchaus unrevolutionäre Versatzstück des bourgeoisen Gründerzeit-Mobiliars stand im fünfköpfigen Marx-Haushalt in London.
Der 1818 im rhein-preußischen Trier geborene Karl Marx war akademisch fundierter Publizist, Emigrant und Exilant, da er auf Grund seiner revolutionären Schriften zunächst aus Preußen Richtung Belgien umzog, dann in den 1840er Jahren in Frankreich Zuflucht nahm, wo er auch Friedrich Engels (1844) kennen lernte und von wo er dann 1848 als unerwünschter Ausländer abgeschoben wurde. Rund dreieinhalb Jahrzehnte lebte die Familie Marx in London, Gattin Jenny (geb. von Westphalen) gebar dem kommunistischen Theoretiker, der noch im kantisch-humboldtisch dominierten, gerade erst von Hegel und Feuerbach geistig befruchteten Preußen nacheinander Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie inskribiert hatte, drei Töchter (Eleanor, Jenny und Laura).
Der Verlust seiner um vier Jahre älteren, adeligen Gattin im Jahr 1881 traf den müde gewordenen Analytiker des Kapitals schwer. Der Revolutionär galt als kultivierter Familienmensch und treuer Freund seiner Mitstreiter, vor allem aber Engels’. Global bedeutsame Kampfrufe, welche die "Proletarier aller Länder" vereinigen sollten, entstanden somit im biederen Wohn- und Arbeitszimmer eines durchaus bourgeois lebenden, umfassend gebildeten Gelehrten, der aus rein politischen Gründen den englischen Lehnstuhl dem deutschen Lehrstuhl vorziehen musste.
Aber nicht nur der Lebensstil der Familie Marx war - abgesehen von den drei markanten, fluchtartigen Umzügen quer durch den westlichen Kontinent - bürgerlich. Dasselbe galt auch für das soziale Umfeld, dem der "Materialist" antihegelianischer Prägung entstammte. Marx entspross einer gut situierten, deutsch-jüdischen Familie, die Vorfahren beider Elternteile waren Rabbiner - und dieses Erbe mag sein großes dialektisch-analytisches Talent mitbestimmt haben. Sein Vater Heinrich, ein assimilierter und erfolgreicher Rechtsanwalt, entschied sich schon im Jahr 1820, dem Glauben der Väter abzuschwören, und er ließ sich und die gesamte Familie, somit auch den zweijährigen Karl, nach evangelischem Ritus taufen.
Somit wuchs der begabte Sohn in einem bürgerlichen, rheinisch-deutschen Milieu auf, das vom politischen System her aufgeklärt, aber zackig-preußisch geprägt war, da die Hohenzollern die Rhein-Provinz nach der Neuordnung Mitteleuropas durch den Wiener Kongress in der post-napoleonischen Ära beherrschten.
Nichts deutete zunächst - sieht man von harmloser Feuerbach-Schwärmerei ab - darauf hin, dass im Westen Mitteldeutschlands der Urheber jener Bewegung heranwuchs, die ein Jahrhundert später eine kontinentale Grenzen überschreitende Revolution anzetteln und sodann die globale Herrschaft und Hegemonie über die vereinigten "Proletarier aller Länder" anstreben sollte.
Man würde es auch sonst nicht für möglich halten, dass der Sohn eines rheinischen Rechtsanwalts und sein nur wenig jüngerer Freund, Friedrich Engels, der Sohn eines deutschen Industriellen mit Firmen auf dem Kontinent und auf den britischen Inseln, jene kunstvoll-kompliziert verfassten, mitunter polemisch-literarischen und zum Teil mühsam zu entziffernden Werke schufen, die dem Proletariat nicht nur zur Bewältigung seines Status als benachteiligter Klasse, sondern sogar zur "Diktatur" und zur Überwindung seines "sich selbst bedingenden Gegensatzes", des Privateigentums, verhelfen sollten.
Ein publizistisches Brüderpaar, das verblüffend einfache Thesen, aber schwer auszusprechende Termini schuf, wie die Zweiteilung der Gesellschaft in P roletariat und Bourgeoisie. Als zusätzliche Ironie der Geschichte mag gelten, dass der Marxismus, wie ihn Engels und Lenin, dann auch Bakunin, Trotzki und Mao weiter fortspannen, weder in deutschen noch in englischen, aber auch nicht in den französischen Indus-triestädten politisch zum Durchbruch gelangte, sondern im agrarisch-feudal strukturierten, zaristisch-orthodoxen Russland.
"Lenin-Putsch"
Marx sprach zwar nach den (stets zweifelhaften) Angaben Lenins Russisch, aber seine geistig bestimmenden Sprachen und sein kulturelles Umfeld waren Deutsch, Englisch und Französisch. Ohne dies selbst noch zu erleben, wurde Marx, der die Revolution in Manchester, Toulouse oder Berlin verortet hätte, zum Urheber einer bolschewistisch orientierten Bewegung, die in Kasan, St. Petersburg und Moskau mit verheerender Wirkung auf Kirche und feudal-zaristisches Regime operierte. Deutsche Politikwissenschafter sprechen der 1917er-Revolution sogar den marxistischen Charakter ab, sondern bezeichnen diese schlicht als "Lenin-Putsch".
Heute hätte sich Marx vor Ort überzeugen müssen, dass abgesehen von ein paar Andenken, wie den breiten Uniformkappen der Roten Armee und einigen skurrilen Termini, wieder alles beim Alten ist. Selbst im Osten Deutschlands retteten sich nur Jugendweihe, FKK-Reminiszenz und Trabi-Nostalgie als wahrlich unkommunistische Symbole eines angeblich marxistisch ausgerichteten Systems in die Gegenwart, während die lesenswerten Schriften Lenins, Marx’ und Engels’, die in ehemaligen "volkseigenen Betrieben" und Kombinaten hergestellt wurden, nur mehr in Restexemplaren billig verscherbelt werden.
Folgt man den Ausführungen seines fanatischen Anhängers und die Marx’schen Lehren unkritisch verklärenden Schülers Wladimir I. Lenin, so verschied der streitbare Theoretiker am 14. März 1883 "friedlich in seinem Lehnstuhl". Dieses heutzutage längst aus dem Gebrauch gekommene, durchaus unrevolutionäre Versatzstück des bourgeoisen Gründerzeit-Mobiliars stand im fünfköpfigen Marx-Haushalt in London.
Der 1818 im rhein-preußischen Trier geborene Karl Marx war akademisch fundierter Publizist, Emigrant und Exilant, da er auf Grund seiner revolutionären Schriften zunächst aus Preußen Richtung Belgien umzog, dann in den 1840er Jahren in Frankreich Zuflucht nahm, wo er auch Friedrich Engels (1844) kennen lernte und von wo er dann 1848 als unerwünschter Ausländer abgeschoben wurde. Rund dreieinhalb Jahrzehnte lebte die Familie Marx in London, Gattin Jenny (geb. von Westphalen) gebar dem kommunistischen Theoretiker, der noch im kantisch-humboldtisch dominierten, gerade erst von Hegel und Feuerbach geistig befruchteten Preußen nacheinander Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie inskribiert hatte, drei Töchter (Eleanor, Jenny und Laura).
Der Verlust seiner um vier Jahre älteren, adeligen Gattin im Jahr 1881 traf den müde gewordenen Analytiker des Kapitals schwer. Der Revolutionär galt als kultivierter Familienmensch und treuer Freund seiner Mitstreiter, vor allem aber Engels’. Global bedeutsame Kampfrufe, welche die "Proletarier aller Länder" vereinigen sollten, entstanden somit im biederen Wohn- und Arbeitszimmer eines durchaus bourgeois lebenden, umfassend gebildeten Gelehrten, der aus rein politischen Gründen den englischen Lehnstuhl dem deutschen Lehrstuhl vorziehen musste.
Aber nicht nur der Lebensstil der Familie Marx war - abgesehen von den drei markanten, fluchtartigen Umzügen quer durch den westlichen Kontinent - bürgerlich. Dasselbe galt auch für das soziale Umfeld, dem der "Materialist" antihegelianischer Prägung entstammte. Marx entspross einer gut situierten, deutsch-jüdischen Familie, die Vorfahren beider Elternteile waren Rabbiner - und dieses Erbe mag sein großes dialektisch-analytisches Talent mitbestimmt haben. Sein Vater Heinrich, ein assimilierter und erfolgreicher Rechtsanwalt, entschied sich schon im Jahr 1820, dem Glauben der Väter abzuschwören, und er ließ sich und die gesamte Familie, somit auch den zweijährigen Karl, nach evangelischem Ritus taufen.
Somit wuchs der begabte Sohn in einem bürgerlichen, rheinisch-deutschen Milieu auf, das vom politischen System her aufgeklärt, aber zackig-preußisch geprägt war, da die Hohenzollern die Rhein-Provinz nach der Neuordnung Mitteleuropas durch den Wiener Kongress in der post-napoleonischen Ära beherrschten.
Nichts deutete zunächst - sieht man von harmloser Feuerbach-Schwärmerei ab - darauf hin, dass im Westen Mitteldeutschlands der Urheber jener Bewegung heranwuchs, die ein Jahrhundert später eine kontinentale Grenzen überschreitende Revolution anzetteln und sodann die globale Herrschaft und Hegemonie über die vereinigten "Proletarier aller Länder" anstreben sollte.
Man würde es auch sonst nicht für möglich halten, dass der Sohn eines rheinischen Rechtsanwalts und sein nur wenig jüngerer Freund, Friedrich Engels, der Sohn eines deutschen Industriellen mit Firmen auf dem Kontinent und auf den britischen Inseln, jene kunstvoll-kompliziert verfassten, mitunter polemisch-literarischen und zum Teil mühsam zu entziffernden Werke schufen, die dem Proletariat nicht nur zur Bewältigung seines Status als benachteiligter Klasse, sondern sogar zur "Diktatur" und zur Überwindung seines "sich selbst bedingenden Gegensatzes", des Privateigentums, verhelfen sollten.
Ein publizistisches Brüderpaar, das verblüffend einfache Thesen, aber schwer auszusprechende Termini schuf, wie die Zweiteilung der Gesellschaft in P roletariat und Bourgeoisie. Als zusätzliche Ironie der Geschichte mag gelten, dass der Marxismus, wie ihn Engels und Lenin, dann auch Bakunin, Trotzki und Mao weiter fortspannen, weder in deutschen noch in englischen, aber auch nicht in den französischen Indus-triestädten politisch zum Durchbruch gelangte, sondern im agrarisch-feudal strukturierten, zaristisch-orthodoxen Russland.
"Lenin-Putsch"
Marx sprach zwar nach den (stets zweifelhaften) Angaben Lenins Russisch, aber seine geistig bestimmenden Sprachen und sein kulturelles Umfeld waren Deutsch, Englisch und Französisch. Ohne dies selbst noch zu erleben, wurde Marx, der die Revolution in Manchester, Toulouse oder Berlin verortet hätte, zum Urheber einer bolschewistisch orientierten Bewegung, die in Kasan, St. Petersburg und Moskau mit verheerender Wirkung auf Kirche und feudal-zaristisches Regime operierte. Deutsche Politikwissenschafter sprechen der 1917er-Revolution sogar den marxistischen Charakter ab, sondern bezeichnen diese schlicht als "Lenin-Putsch".
Heute hätte sich Marx vor Ort überzeugen müssen, dass abgesehen von ein paar Andenken, wie den breiten Uniformkappen der Roten Armee und einigen skurrilen Termini, wieder alles beim Alten ist. Selbst im Osten Deutschlands retteten sich nur Jugendweihe, FKK-Reminiszenz und Trabi-Nostalgie als wahrlich unkommunistische Symbole eines angeblich marxistisch ausgerichteten Systems in die Gegenwart, während die lesenswerten Schriften Lenins, Marx’ und Engels’, die in ehemaligen "volkseigenen Betrieben" und Kombinaten hergestellt wurden, nur mehr in Restexemplaren billig verscherbelt werden.
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Gerhard Strejcek
Skitourengehen im rechtsunsicheren Raum
Der Standard, 05.03.2013
Im Gelände gibt es kaum Beschränkungen, auf präparierten Pisten ist die Lage unklar
Die Zahl der Skitourengeher nimmt Jahr für Jahr zu, und dadurch auch die Zahl der Menschen, die sich bergauf oder bergab in Bereichen bewegen, in denen rechtlich viele Fragen offen sind. Dürfen sie auf Forstwegen oder präparierten Pisten aufsteigen und durch den Wald abfahren?
Solange der Aufstieg im offenen Gelände, auf Fußwegen oder auf verschneiten Gemeinde- oder Forststraßen erfolgt, gibt es keine ernsten Rechtsprobleme. Zwar regeln Straßengesetze der Länder auch das Skifahren, doch gibt es kein absolutes Verbot des Skifahrens auf Straßen und Wegen, es sei denn, dies wird klar und deutlich ausgeschildert.
Sicher dürfen sich die Tourengeher auch im Waldbereich wähnen - nicht nur vor Lawinen. Hier gilt die Legalservitut des Forstgesetzes, die es jedem Freizeitsportler ermöglicht, den Wald zu Erholungszwecken zu nutzen. Sperren sind etwa aus jagdrechtlichen Gründen (Landesgesetze!) zulässig, aber auch das darf nur kleinräumig geschehen; zudem müssen die Länder auf die grundsätzliche Wegefreiheit des Bundesrechts Rücksicht nehmen (VfSlg 10.292).
Forstrechtlich sind generelle Sperren vor allem im Aufforstungsgebiet, im Bann- und im Schutzwald zulässig. Dennoch bleibt Tourenfahren und vor allem der Aufstieg mit Skiern im Waldgebiet grundsätzlich erlaubt.
Konflikte mit Liftbetreibern
Prekär wird es auf präparierten Skipisten, die immer öfter von Tourengehern für einen bequemen und sicheren Aufstieg genutzt werden, ohne dass Liftkarten gelöst werden. Hier ist in den letzten Jahren eine Konfliktsituation mit Lift- und Pistenbetreibern entstanden, von denen manche versucht haben, Gebühren von Tourengehern einzuheben. Die Rechtslage ist diffizil, denn keiner der Betroffenen ist meist bücherlicher Eigentümer des benutzten Grundes. Skiabfahrten zählen zu den Dienstbarkeiten, sind daher auch ersitzbar (OGH, JBl 1979, 427; RZ 1997/7), meist aber sind den Liftbetreibern vertraglich die Nutzungsbefugnisse eingeräumt. Die Servitut der Skiabfahrt kann auch der Gemeinde eingeräumt sein; diese ist das Subjekt der Dienstbarkeit, aber das gesamte "Touristenpublikum" soll diese nutzen dürfen (Koziol/Welser, Bürgerliches Recht I, 2000, S. 383), was auch Tourengeher einbezieht.
Nur wenn der Liftbetreiber über Pacht oder Servitut rechtmäßige Besitzer der Skipisten ist, kann er Maßnahmen des Besitzschutzes bis hin zu Klagen ergreifen. Die Bundespolizei steht ihm aber nicht zur Verfügung, da es keine Eingriffsbefugnisse nach dem Sicherheitspolizeigesetz gibt. Die Länder dürfen die Skipolizei nicht regeln oder vollziehen.
Dazu kommen vertragsrechtliche Probleme. Mit den normalen Skifahrern stehen die Liftbetreiber durch den Verkauf der Liftkarten für Aufstiegshilfen in einem Vertragsverhältnis; ihnen wird kraft AGB und speziellen Regeln (z. B. befristete Sperren; Pistenaufsicht) eine eingeschränkte Nutzung des Skiraums gestattet, nicht aber den Tourenfahrern. Können diese sich nun auf eine Wegefreiheit im organisierten und präparierten Skiraum so wie in der freien Natur und auf Forstgebiet berufen? Oder "gehört" die Piste dem Liftbetreiber?
Angesichts fehlender Judikatur sind hier pragmatische Lösungen gefragt. In großen Skigebieten darf der Pistenbetreiber Tourengeher nicht generell ausschließen; aber es sind auch partielle Sperren - etwa aus Sicherheitsgründen auf unübersichtlichen, steilen Abfahrten - und Rahmenverträge mit alpinen Vereinen denkbar.
Die Zahl der Skitourengeher nimmt Jahr für Jahr zu, und dadurch auch die Zahl der Menschen, die sich bergauf oder bergab in Bereichen bewegen, in denen rechtlich viele Fragen offen sind. Dürfen sie auf Forstwegen oder präparierten Pisten aufsteigen und durch den Wald abfahren?
Solange der Aufstieg im offenen Gelände, auf Fußwegen oder auf verschneiten Gemeinde- oder Forststraßen erfolgt, gibt es keine ernsten Rechtsprobleme. Zwar regeln Straßengesetze der Länder auch das Skifahren, doch gibt es kein absolutes Verbot des Skifahrens auf Straßen und Wegen, es sei denn, dies wird klar und deutlich ausgeschildert.
Sicher dürfen sich die Tourengeher auch im Waldbereich wähnen - nicht nur vor Lawinen. Hier gilt die Legalservitut des Forstgesetzes, die es jedem Freizeitsportler ermöglicht, den Wald zu Erholungszwecken zu nutzen. Sperren sind etwa aus jagdrechtlichen Gründen (Landesgesetze!) zulässig, aber auch das darf nur kleinräumig geschehen; zudem müssen die Länder auf die grundsätzliche Wegefreiheit des Bundesrechts Rücksicht nehmen (VfSlg 10.292).
Forstrechtlich sind generelle Sperren vor allem im Aufforstungsgebiet, im Bann- und im Schutzwald zulässig. Dennoch bleibt Tourenfahren und vor allem der Aufstieg mit Skiern im Waldgebiet grundsätzlich erlaubt.
Konflikte mit Liftbetreibern
Prekär wird es auf präparierten Skipisten, die immer öfter von Tourengehern für einen bequemen und sicheren Aufstieg genutzt werden, ohne dass Liftkarten gelöst werden. Hier ist in den letzten Jahren eine Konfliktsituation mit Lift- und Pistenbetreibern entstanden, von denen manche versucht haben, Gebühren von Tourengehern einzuheben. Die Rechtslage ist diffizil, denn keiner der Betroffenen ist meist bücherlicher Eigentümer des benutzten Grundes. Skiabfahrten zählen zu den Dienstbarkeiten, sind daher auch ersitzbar (OGH, JBl 1979, 427; RZ 1997/7), meist aber sind den Liftbetreibern vertraglich die Nutzungsbefugnisse eingeräumt. Die Servitut der Skiabfahrt kann auch der Gemeinde eingeräumt sein; diese ist das Subjekt der Dienstbarkeit, aber das gesamte "Touristenpublikum" soll diese nutzen dürfen (Koziol/Welser, Bürgerliches Recht I, 2000, S. 383), was auch Tourengeher einbezieht.
Nur wenn der Liftbetreiber über Pacht oder Servitut rechtmäßige Besitzer der Skipisten ist, kann er Maßnahmen des Besitzschutzes bis hin zu Klagen ergreifen. Die Bundespolizei steht ihm aber nicht zur Verfügung, da es keine Eingriffsbefugnisse nach dem Sicherheitspolizeigesetz gibt. Die Länder dürfen die Skipolizei nicht regeln oder vollziehen.
Dazu kommen vertragsrechtliche Probleme. Mit den normalen Skifahrern stehen die Liftbetreiber durch den Verkauf der Liftkarten für Aufstiegshilfen in einem Vertragsverhältnis; ihnen wird kraft AGB und speziellen Regeln (z. B. befristete Sperren; Pistenaufsicht) eine eingeschränkte Nutzung des Skiraums gestattet, nicht aber den Tourenfahrern. Können diese sich nun auf eine Wegefreiheit im organisierten und präparierten Skiraum so wie in der freien Natur und auf Forstgebiet berufen? Oder "gehört" die Piste dem Liftbetreiber?
Angesichts fehlender Judikatur sind hier pragmatische Lösungen gefragt. In großen Skigebieten darf der Pistenbetreiber Tourengeher nicht generell ausschließen; aber es sind auch partielle Sperren - etwa aus Sicherheitsgründen auf unübersichtlichen, steilen Abfahrten - und Rahmenverträge mit alpinen Vereinen denkbar.
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Gerhard Strejcek
Entschädigung für "Hurengriff"
Sexuelle Belästigung gab es Delikt schon im Mittelalter
Wiener Zeitung, 24.02.2013
Einblicke in Sammlungen frühmittelalterlicher Volksrechte.
Wer glaubt, dass das durch die "Affäre Brüderle" wieder in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückte Thema der sexuellen Belästigung neu ist, irrt; nur haben sich die Maßstäbe seit der ersten Verrechtlichung vor rund 1000 Jahren maßgeblich geändert. Die Elle ist deutlich feiner geworden, heute geht es um die Pönalisierung von Verhaltensweisen, die etwa der literarische Humorist und Homme à femmes Roda Roda noch um 1910 als "jenes Maß an Belästigung, auf welches eine junge Frau eben Anspruch hat" umschrieb.
Vom selben Autor mit dem bürgerlichen Namen Sandor Friedrich Rosenfeld und der charakteristischen "roten Weste", der in die USA emigrierte und dort einsam verstarb, stammt übrigens auch der Terminus der "standrechtlichen Trauung", der aussagekräftig und möglicherweise selbst für "politisch" sensible Leserinnen und Leser nicht unwitzig ist. Obwohl politisch unkorrekt, muss aber für Rosenfeld alias Roda Roda insofern eine Lanze gebrochen werden, als er gemessen an heutigen "Herrenwitzen" einen viel feinsinnigeren Humor hatte, und gemessen an den Zeitstandards damals sicherlich nicht zu weit in seinen Publikationen ging, wie etwa der Erzählungsband "Ritt auf dem Doppeladler" zeigt.
"Lex Baiuvariorum"
Denn die rechtlichen und ethischen Standards des Zusammenlebens von Mann und Frau sowie von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Kultur und sexueller Ausrichtung haben sich maßgeblich geändert, wie ein rechtshistorischer Rückblick zeigen kann. Aufmerksamen Studierenden entging in der Vorlesung über deutsche Rechtsgeschichte beim legendären Vortragenden und emeritierten Ordinarius für ebendieses Fach, DDr. Rudolf Hoke (von mir im Jahr 1982 im Auditorium Maximum der Universität Wien besucht) nicht, dass etwa die bayerische Kompilation des damaligen, regionalen "Volksrechts" (= Lex Baiuvariorum), als Strafgesetz des frühmittelalterlichen Rechts, bereits eine Entschädigungsleistung für einen unerwünschten sexuellen Übergriff in der Währung der "Solidi" vorsah, von denen ein gewisser Betrag fällig wurde, wenn das passierte, "quod Baiuvarii Horcrift vocant".
Mit dieser abwertend klingenden Bezeichnung des Horcrift ("Hurengriff") sollte nicht etwa das Opfer zur Dirne gestempelt, sondern deutlich gemacht werden, dass es sich um eine intime Berührung einer Frau durch einen (aufdringlichen, dreisten) Mann handelte, die etwa unvermittelt als Überraschungsangriff auf die weibliche Integrität an einem engen Brückenübergang geschehen konnte. Jedenfalls bleibt genau dieses lokale Beispiel des Brückenzugangs in Erinnerung, das die Kommentatoren der Lex B. in genau diesem Kontext nannten. Andere Volksrechte wie etwa das der Langobarden oder der Franken kannten vergleichbare Delikte.
Anders als die späteren "peinlichen" Gerichtsordnungen (etwa die Constitutio Criminalis Carolina des Kaisers Karl V.), sahen die mittelalterlichen Volksrechte für die meisten Delikte keine "spiegelnden Strafen" (wie etwa das Handabhacken für Diebe wie in der Scharia), Ehr- oder Haftstrafen oder dergleichen vor, sondern es wurden Entschädigungsleistungen mit fixen Tarifen festgesetzt, die sogar für Körperverletzungs- und Tötungsdelikte Geltung hatten. Daher war es systemkonform, dass ein Rechtsbrecher, der erwiesenermaßen eine Frau sexuell belästigt hatte, mit einer Geldentschädigung davonkam.
Allein die Tatsache, dass die "Lex Baiuvariorum" ein derartiges Delikt kannte, muss indessen als "modernes Rechtsverständnis" eingestuft werden; der "Horcrift" dürfte aber eher mit sexuellen Übergriffen, wie sie im StGB enthalten sind, korrelieren als mit den heute diskutierten verbalen oder manuellen Übergriffen, die sich nicht auf Geschlechtsorgane beziehen (so etwa das inkriminierte und umstrittene "Po-Grapschen", das nach österreichischer Spruchpraxis nicht gerichtlich strafbar sein dürfte), sodass es sich im bayerischen Volksrecht um die Strafe für "echte" Übergriffe, nicht für Belästigungen handelte; aber immerhin . . .
Britische Skurrilität
Die Unsicherheit im Umgang miteinander und mit dem heiklen Thema reflektiert auch eine andere, nur an der Oberfläche humoristisch gemeinte Darstellung. In den 1960er Jahren publizierte der britische Autor W. Herbert eine Sammlung von "66 Misleading Cases". In der Einleitung erwähnte er solche, die von anderen Medien (etwa in den USA, Frankreich und Italien) für bare Münze genommen wurden; darunter einen Fall, in dem sein "Held" und fiktiver Kläger A. Haddock mit einer Bestrafung wegen sexueller Belästigung konfrontiert wurde.
In der U-Bahn hatten sich drei junge Frauen, die ultrakurze Miniröcke trugen, ausgerechnet auf den drei Sitzplätzen im Abteil rund um ihn platziert, und Haddock wurde nach einer Anzeige vom Strafgericht (bei uns wäre es eine Verwaltungsübertretung) wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt, weil er seine Blicke nicht gezügelt hatte. Grobes Unrecht, wie das zuständige britische Gericht (fiktiv) befand, das die Schuld auf die Damen schob und ihnen fürderhin sogar untersagte, mit Miniröcken dieser Art in einer U-Bahn Platz zu nehmen; vielmehr hätten sie die Fahrt diesfalls stehend zu absolvieren, um keine inadäquaten Einblicke zu bieten.
Wer glaubt, dass das durch die "Affäre Brüderle" wieder in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückte Thema der sexuellen Belästigung neu ist, irrt; nur haben sich die Maßstäbe seit der ersten Verrechtlichung vor rund 1000 Jahren maßgeblich geändert. Die Elle ist deutlich feiner geworden, heute geht es um die Pönalisierung von Verhaltensweisen, die etwa der literarische Humorist und Homme à femmes Roda Roda noch um 1910 als "jenes Maß an Belästigung, auf welches eine junge Frau eben Anspruch hat" umschrieb.
Vom selben Autor mit dem bürgerlichen Namen Sandor Friedrich Rosenfeld und der charakteristischen "roten Weste", der in die USA emigrierte und dort einsam verstarb, stammt übrigens auch der Terminus der "standrechtlichen Trauung", der aussagekräftig und möglicherweise selbst für "politisch" sensible Leserinnen und Leser nicht unwitzig ist. Obwohl politisch unkorrekt, muss aber für Rosenfeld alias Roda Roda insofern eine Lanze gebrochen werden, als er gemessen an heutigen "Herrenwitzen" einen viel feinsinnigeren Humor hatte, und gemessen an den Zeitstandards damals sicherlich nicht zu weit in seinen Publikationen ging, wie etwa der Erzählungsband "Ritt auf dem Doppeladler" zeigt.
"Lex Baiuvariorum"
Denn die rechtlichen und ethischen Standards des Zusammenlebens von Mann und Frau sowie von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Kultur und sexueller Ausrichtung haben sich maßgeblich geändert, wie ein rechtshistorischer Rückblick zeigen kann. Aufmerksamen Studierenden entging in der Vorlesung über deutsche Rechtsgeschichte beim legendären Vortragenden und emeritierten Ordinarius für ebendieses Fach, DDr. Rudolf Hoke (von mir im Jahr 1982 im Auditorium Maximum der Universität Wien besucht) nicht, dass etwa die bayerische Kompilation des damaligen, regionalen "Volksrechts" (= Lex Baiuvariorum), als Strafgesetz des frühmittelalterlichen Rechts, bereits eine Entschädigungsleistung für einen unerwünschten sexuellen Übergriff in der Währung der "Solidi" vorsah, von denen ein gewisser Betrag fällig wurde, wenn das passierte, "quod Baiuvarii Horcrift vocant".
Mit dieser abwertend klingenden Bezeichnung des Horcrift ("Hurengriff") sollte nicht etwa das Opfer zur Dirne gestempelt, sondern deutlich gemacht werden, dass es sich um eine intime Berührung einer Frau durch einen (aufdringlichen, dreisten) Mann handelte, die etwa unvermittelt als Überraschungsangriff auf die weibliche Integrität an einem engen Brückenübergang geschehen konnte. Jedenfalls bleibt genau dieses lokale Beispiel des Brückenzugangs in Erinnerung, das die Kommentatoren der Lex B. in genau diesem Kontext nannten. Andere Volksrechte wie etwa das der Langobarden oder der Franken kannten vergleichbare Delikte.
Anders als die späteren "peinlichen" Gerichtsordnungen (etwa die Constitutio Criminalis Carolina des Kaisers Karl V.), sahen die mittelalterlichen Volksrechte für die meisten Delikte keine "spiegelnden Strafen" (wie etwa das Handabhacken für Diebe wie in der Scharia), Ehr- oder Haftstrafen oder dergleichen vor, sondern es wurden Entschädigungsleistungen mit fixen Tarifen festgesetzt, die sogar für Körperverletzungs- und Tötungsdelikte Geltung hatten. Daher war es systemkonform, dass ein Rechtsbrecher, der erwiesenermaßen eine Frau sexuell belästigt hatte, mit einer Geldentschädigung davonkam.
Allein die Tatsache, dass die "Lex Baiuvariorum" ein derartiges Delikt kannte, muss indessen als "modernes Rechtsverständnis" eingestuft werden; der "Horcrift" dürfte aber eher mit sexuellen Übergriffen, wie sie im StGB enthalten sind, korrelieren als mit den heute diskutierten verbalen oder manuellen Übergriffen, die sich nicht auf Geschlechtsorgane beziehen (so etwa das inkriminierte und umstrittene "Po-Grapschen", das nach österreichischer Spruchpraxis nicht gerichtlich strafbar sein dürfte), sodass es sich im bayerischen Volksrecht um die Strafe für "echte" Übergriffe, nicht für Belästigungen handelte; aber immerhin . . .
Britische Skurrilität
Die Unsicherheit im Umgang miteinander und mit dem heiklen Thema reflektiert auch eine andere, nur an der Oberfläche humoristisch gemeinte Darstellung. In den 1960er Jahren publizierte der britische Autor W. Herbert eine Sammlung von "66 Misleading Cases". In der Einleitung erwähnte er solche, die von anderen Medien (etwa in den USA, Frankreich und Italien) für bare Münze genommen wurden; darunter einen Fall, in dem sein "Held" und fiktiver Kläger A. Haddock mit einer Bestrafung wegen sexueller Belästigung konfrontiert wurde.
In der U-Bahn hatten sich drei junge Frauen, die ultrakurze Miniröcke trugen, ausgerechnet auf den drei Sitzplätzen im Abteil rund um ihn platziert, und Haddock wurde nach einer Anzeige vom Strafgericht (bei uns wäre es eine Verwaltungsübertretung) wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt, weil er seine Blicke nicht gezügelt hatte. Grobes Unrecht, wie das zuständige britische Gericht (fiktiv) befand, das die Schuld auf die Damen schob und ihnen fürderhin sogar untersagte, mit Miniröcken dieser Art in einer U-Bahn Platz zu nehmen; vielmehr hätten sie die Fahrt diesfalls stehend zu absolvieren, um keine inadäquaten Einblicke zu bieten.
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Gerhard Strejcek
Darf man eine Kirche räumen?
Salzburger Nachrichten, 05.02.2013
Menschenrechte. Polizeiaktionen sind laut der Judikatur des Gerichtshofs für Menschenrechte unter besonderen Umständen, nach
genauer Abwägung, auch in Andachtsräumen zulässig.
Seit mehreren Wochen halten Asylbewerber in einem Teil der Votivkirche Versammlungen und einen Hungerstreik ab, ohne aber den Ablauf der religiösen Handlungen (vor allem der Messen) zu beeinträchtigen. Viele der Gläubigen, aber auch NGO und offizielle Vertreter der Kirche bringen den Manifestanten Sympathie entgegen und halten ihre Anliegen für gerechtfertigt.
Nachdem die Wiener Polizei schon im Dezember ein Lager vor der Kirche im Einvernehmen mit der Stadt Wien zwangsweise geräumt hat und die Teilnehmer der Aktion fremdenpolizeilich überwacht, stellt sich die Frage, wo die rechtlichen Grenzen für staatliche Zwangsakte in einem der Religionsausübung gewidmeten und im Eigentum der Kirche stehenden Raum zu ziehen sind.Exemplarischer Fall Cisse Der in Straßburg amtierende Gerichtshof für Menschenrechte hat eine vergleichbare Fallkonstellation bereits ausjudiziert. Im Fall Cisse (9. 4. 2002, RJD 2002-III) hatte der EGMR über eine Beschwerde eines senegalesischen Staatsbürgers zu entscheiden. Dieser war Mitglied einer Gruppe von Flüchtlingen ohne Aufenthaltsgenehmigung, welche von Juni bis August 1996 die Kirche St. Bernard in Paris besetzt hatte.
Ziel der unter dem Namen „Sans papier de St. Bernard“ bekannt gewordenen Gruppe war es, auf die rechtliche Situation von Einwanderern in Frankreich aufmerksam zu machen.
Betroffene Kasinobetreiber stellen diese Rechtsansicht allerdings infrage (Der Standard, 3. 1. 2013) und argumentieren damit, dass das Finanzministerium bei der Ausschreibung der einen vorgesehenen Pokerlizenz säumig ist.
Im Verlauf dieser Aktion traten zehn Personen in Hungerstreik. Am 22. 8. 1996 ordnete der Pariser Polizeipräfekt die Räumung des Geländes an. Die Aktion könne nicht durch die Religionsfreiheit gedeckt werden, außerdem brächten die sanitären Bedingungen ein gesundheitliches Risiko mit sich – so die Begründung.
Am folgenden Tag vollzog die Polizei den Beschluss des Polizeipräfekten. Alle anwesenden Personen wurden polizeilich überprüft. Einige von ihnen wurden inhaftiert und in der Folge abgeschoben. Sechs Jahre sollte es dauern, bis der EGMR ein Urteil traf, da der innerstaatliche Instanzenzug ausgeschöpft werden musste.
Der EGMR stellte fest, dass die polizeiliche Räumung der Kirche einen Eingriff in das durch Art 11 EMRK geschützte Recht auf (friedfertige) Versammlung darstellte. Der Eingriff war aber gesetzlich vorgesehen und verfolgte – so das Straßburger Gericht – ein legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Der Zustand war untragbar Zu prüfen blieb, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Obwohl die Versammlung zwei Monate hindurch friedlich verlaufen war und niemand den regulären Kirchenbetrieb gestört hatte, trat laut Akten ein Zustand ein, in dem sich die Situation der Hungerstreikenden verschlechterte und die sanitären Bedingungen untragbar wurden.
Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung des den Vertragsstaaten in diesem Bereich eingeräumten weiten Ermessensspielraums sah der EGMR den Eingriff in das Versammlungsrecht nicht als unverhältnismäßig an. Das Gericht befand einstimmig, dass keine Verletzung von Art 11 EMRK vorlag.
Gleichwohl ist aus diesem Urteil ableitbar, dass Zwangsakte gegen Versammlungsteilnehmer in einer Kirche nur nach sorgfältiger Abwägung der Schutzgüter gesetzt werden dürfen; zwar gibt es im Ordnungsstaat westlicher Prägung kein „Kirchenasyl“, aber die im Lichte der Versammlungsfreiheit anzuwendende Abwägung gebietet es, nur in Ausnahmefällen eine derartige Manifestation zwangsweise zu beenden.
Seit mehreren Wochen halten Asylbewerber in einem Teil der Votivkirche Versammlungen und einen Hungerstreik ab, ohne aber den Ablauf der religiösen Handlungen (vor allem der Messen) zu beeinträchtigen. Viele der Gläubigen, aber auch NGO und offizielle Vertreter der Kirche bringen den Manifestanten Sympathie entgegen und halten ihre Anliegen für gerechtfertigt.
Nachdem die Wiener Polizei schon im Dezember ein Lager vor der Kirche im Einvernehmen mit der Stadt Wien zwangsweise geräumt hat und die Teilnehmer der Aktion fremdenpolizeilich überwacht, stellt sich die Frage, wo die rechtlichen Grenzen für staatliche Zwangsakte in einem der Religionsausübung gewidmeten und im Eigentum der Kirche stehenden Raum zu ziehen sind.Exemplarischer Fall Cisse Der in Straßburg amtierende Gerichtshof für Menschenrechte hat eine vergleichbare Fallkonstellation bereits ausjudiziert. Im Fall Cisse (9. 4. 2002, RJD 2002-III) hatte der EGMR über eine Beschwerde eines senegalesischen Staatsbürgers zu entscheiden. Dieser war Mitglied einer Gruppe von Flüchtlingen ohne Aufenthaltsgenehmigung, welche von Juni bis August 1996 die Kirche St. Bernard in Paris besetzt hatte.
Ziel der unter dem Namen „Sans papier de St. Bernard“ bekannt gewordenen Gruppe war es, auf die rechtliche Situation von Einwanderern in Frankreich aufmerksam zu machen.
Betroffene Kasinobetreiber stellen diese Rechtsansicht allerdings infrage (Der Standard, 3. 1. 2013) und argumentieren damit, dass das Finanzministerium bei der Ausschreibung der einen vorgesehenen Pokerlizenz säumig ist.
Im Verlauf dieser Aktion traten zehn Personen in Hungerstreik. Am 22. 8. 1996 ordnete der Pariser Polizeipräfekt die Räumung des Geländes an. Die Aktion könne nicht durch die Religionsfreiheit gedeckt werden, außerdem brächten die sanitären Bedingungen ein gesundheitliches Risiko mit sich – so die Begründung.
Am folgenden Tag vollzog die Polizei den Beschluss des Polizeipräfekten. Alle anwesenden Personen wurden polizeilich überprüft. Einige von ihnen wurden inhaftiert und in der Folge abgeschoben. Sechs Jahre sollte es dauern, bis der EGMR ein Urteil traf, da der innerstaatliche Instanzenzug ausgeschöpft werden musste.
Der EGMR stellte fest, dass die polizeiliche Räumung der Kirche einen Eingriff in das durch Art 11 EMRK geschützte Recht auf (friedfertige) Versammlung darstellte. Der Eingriff war aber gesetzlich vorgesehen und verfolgte – so das Straßburger Gericht – ein legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Der Zustand war untragbar Zu prüfen blieb, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Obwohl die Versammlung zwei Monate hindurch friedlich verlaufen war und niemand den regulären Kirchenbetrieb gestört hatte, trat laut Akten ein Zustand ein, in dem sich die Situation der Hungerstreikenden verschlechterte und die sanitären Bedingungen untragbar wurden.
Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung des den Vertragsstaaten in diesem Bereich eingeräumten weiten Ermessensspielraums sah der EGMR den Eingriff in das Versammlungsrecht nicht als unverhältnismäßig an. Das Gericht befand einstimmig, dass keine Verletzung von Art 11 EMRK vorlag.
Gleichwohl ist aus diesem Urteil ableitbar, dass Zwangsakte gegen Versammlungsteilnehmer in einer Kirche nur nach sorgfältiger Abwägung der Schutzgüter gesetzt werden dürfen; zwar gibt es im Ordnungsstaat westlicher Prägung kein „Kirchenasyl“, aber die im Lichte der Versammlungsfreiheit anzuwendende Abwägung gebietet es, nur in Ausnahmefällen eine derartige Manifestation zwangsweise zu beenden.
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Gerhard Strejcek
Kein Mangel an Pokerangeboten
Der Standard, 08.01.2013
Auch ohne neue Lizenzvergabe ist Aus für Kasinos legal
Seit Jahresanfang darf das Pokerspiel in Kartenkasinos nicht mehr angeboten werden. Das ist die Folge eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs, das schon im Juni 2012 (G 51/11) erfolgt und wirksam geworden ist. Der VfGH stellte dabei fest, dass die mit 1. 1. 2013 terminisierte Übergangsfrist in der Glücksspielgesetznovelle 2010 verfassungskonform war, nicht aber die ursprünglich im Gesetz vorgesehene Koppelung der Schließung der Kartenkasinos an die Neuvergabe einer Konzession. Der entsprechende Satzteil wurde daher vom VfGH ersatzlos aufgehoben. Die neue Konzession hat mit den Kartenkasinos, die sich auf die Gewerbeordnung stützten, rechtlich nichts zu tun.
Legal ist das "lebende", d. h. nicht im Internet betriebene Pokerspiel, nur in Spielbanken - so der korrekte Gesetzesbegriff im GSpG 1989. Das ist vor allem eine Frage des Spielerschutzes. Denn in der Gewerbeordnung, auf die sich Kartenkasinos stützten, gibt es keine einzige Spielerschutzbestimmung, es fehlen auch Vorschriften zur Verhinderung von Geldwäsche sowie eine gesetzliche Identitäts-, Alterskontrolle, Ausweispflicht für Spielteilnehmer oder eine adäquate Aufklärung bzw. Befragung von auffälligen Spielern.
Auch im Internet bedarf es für alle Pokerangebote, egal ob virtuell oder live, einer Ausspielungskonzession, über die derzeit nur die Österreichischen Lotterien (win2day.at) verfügt. Das entspricht, wie der Europäische Gerichsthof im Fall Dickinger/Ömer (C 347/09 vom 15. 9. 2011) klargestellt hat, auch dem EU-Recht.
Betroffene Kasinobetreiber stellen diese Rechtsansicht allerdings infrage (Der Standard, 3. 1. 2013) und argumentieren damit, dass das Finanzministerium bei der Ausschreibung der einen vorgesehenen Pokerlizenz säumig ist.
Allerdings gibt es rechtlich keinen Grund zur Eile. Das bestehende legale Angebot ist ausreichend, um das vom Gesetz vorgesehene umfassende Spektrum an sicheren und erlaubten Spielgelegenheiten zu erfüllen. Derzeit bestehen für das legale Poker-Lebendspiel zwölf Spielbanken, künftig wird es nach dem Wortsinn der GSpG-Novelle 2010 fünfzehn Kasinos geben. Sechs der allesamt neuen Konzessionen sind bereits im Vorjahr erteilt worden; neun sind noch ausgeschrieben. Weil das Verfahren EU-weit und diskriminierungsfrei durchgeführt werden muss, nimmt es auch seine Zeit in Anspruch.
Seit Jahresanfang darf das Pokerspiel in Kartenkasinos nicht mehr angeboten werden. Das ist die Folge eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs, das schon im Juni 2012 (G 51/11) erfolgt und wirksam geworden ist. Der VfGH stellte dabei fest, dass die mit 1. 1. 2013 terminisierte Übergangsfrist in der Glücksspielgesetznovelle 2010 verfassungskonform war, nicht aber die ursprünglich im Gesetz vorgesehene Koppelung der Schließung der Kartenkasinos an die Neuvergabe einer Konzession. Der entsprechende Satzteil wurde daher vom VfGH ersatzlos aufgehoben. Die neue Konzession hat mit den Kartenkasinos, die sich auf die Gewerbeordnung stützten, rechtlich nichts zu tun.
Legal ist das "lebende", d. h. nicht im Internet betriebene Pokerspiel, nur in Spielbanken - so der korrekte Gesetzesbegriff im GSpG 1989. Das ist vor allem eine Frage des Spielerschutzes. Denn in der Gewerbeordnung, auf die sich Kartenkasinos stützten, gibt es keine einzige Spielerschutzbestimmung, es fehlen auch Vorschriften zur Verhinderung von Geldwäsche sowie eine gesetzliche Identitäts-, Alterskontrolle, Ausweispflicht für Spielteilnehmer oder eine adäquate Aufklärung bzw. Befragung von auffälligen Spielern.
Auch im Internet bedarf es für alle Pokerangebote, egal ob virtuell oder live, einer Ausspielungskonzession, über die derzeit nur die Österreichischen Lotterien (win2day.at) verfügt. Das entspricht, wie der Europäische Gerichsthof im Fall Dickinger/Ömer (C 347/09 vom 15. 9. 2011) klargestellt hat, auch dem EU-Recht.
Betroffene Kasinobetreiber stellen diese Rechtsansicht allerdings infrage (Der Standard, 3. 1. 2013) und argumentieren damit, dass das Finanzministerium bei der Ausschreibung der einen vorgesehenen Pokerlizenz säumig ist.
Allerdings gibt es rechtlich keinen Grund zur Eile. Das bestehende legale Angebot ist ausreichend, um das vom Gesetz vorgesehene umfassende Spektrum an sicheren und erlaubten Spielgelegenheiten zu erfüllen. Derzeit bestehen für das legale Poker-Lebendspiel zwölf Spielbanken, künftig wird es nach dem Wortsinn der GSpG-Novelle 2010 fünfzehn Kasinos geben. Sechs der allesamt neuen Konzessionen sind bereits im Vorjahr erteilt worden; neun sind noch ausgeschrieben. Weil das Verfahren EU-weit und diskriminierungsfrei durchgeführt werden muss, nimmt es auch seine Zeit in Anspruch.
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Gerhard Strejcek
Dohr, Hubert / Unterkirchner, Edgar: The Gentle Mood
Wiener Zeitung, 07.12.2012
Sphärische Klänge des Duos Dohr/Unterkirchner.
In St. Stefan im Lavanttal lebt der String-Virtuose Hubert Dohr, der zu Hause auch ein kleines Studio betreibt und seinen otologisch angehauchten Namen für sein Label "d’Ohr Records" einsetzt. Als ob das nicht genug der Assonanzen wäre, spielt er neben Ukulele und Gitarre auf der Låtmandola, die fast Lavanttalerisch-Kärntnerisch klingt, wäre da nicht dieses skandinavische "å" mittendrin. Die schwedische Laute verfügt über eine zusätzliche Bass-Saite und zeichnet sich durch ein breites klangliches Spektrum aus, das irgendwo zwischen 12-String-Gitarre und Harmonium angesiedelt ist. Mit heimischer Volksmusik haben Dohrs nordisch oder irisch klingende Kompositionen nur wenig zu tun. Vielmehr verführen sie den Zuhörer in eine Landschaft voller grüner Heiden und Almmatten, Bergseen und Latschenwälder.
Verwobene, flüchtige Klangteppiche und sphärische Klänge, die sein kongenialer Partner Edgar Unterkirchner auf dem Saxophon oder der Klarinette beisteuert, kennzeichnen das eingespielte Duo. Ein Vergleich mit dem norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek ist durchaus angebracht, der ja auf Rosensvolde norwegische Lieder intoniert hat (ECM), allerdings mit vokaler Begleitung und einem schärferen bzw einschneidenderen Sax-Ton.
So wie der Gitarrist Ralph Towner mit dem Oboisten McCandless harmoniert, bietet auch Dohrs und Unterkirchners neueste Produktion pure und polyphone Musik, die sich in den Wintertagen wohlklingend in den Gehörgängen einnistet. Mit moderner 24-bit-Technik bietet das String/Sax-Duo einen glasklaren Sound. Musik vom Feinsten auf internationalem Niveau, die noch dazu zum Nachdenken über vitale Themen einlädt.
In St. Stefan im Lavanttal lebt der String-Virtuose Hubert Dohr, der zu Hause auch ein kleines Studio betreibt und seinen otologisch angehauchten Namen für sein Label "d’Ohr Records" einsetzt. Als ob das nicht genug der Assonanzen wäre, spielt er neben Ukulele und Gitarre auf der Låtmandola, die fast Lavanttalerisch-Kärntnerisch klingt, wäre da nicht dieses skandinavische "å" mittendrin. Die schwedische Laute verfügt über eine zusätzliche Bass-Saite und zeichnet sich durch ein breites klangliches Spektrum aus, das irgendwo zwischen 12-String-Gitarre und Harmonium angesiedelt ist. Mit heimischer Volksmusik haben Dohrs nordisch oder irisch klingende Kompositionen nur wenig zu tun. Vielmehr verführen sie den Zuhörer in eine Landschaft voller grüner Heiden und Almmatten, Bergseen und Latschenwälder.
Verwobene, flüchtige Klangteppiche und sphärische Klänge, die sein kongenialer Partner Edgar Unterkirchner auf dem Saxophon oder der Klarinette beisteuert, kennzeichnen das eingespielte Duo. Ein Vergleich mit dem norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek ist durchaus angebracht, der ja auf Rosensvolde norwegische Lieder intoniert hat (ECM), allerdings mit vokaler Begleitung und einem schärferen bzw einschneidenderen Sax-Ton.
So wie der Gitarrist Ralph Towner mit dem Oboisten McCandless harmoniert, bietet auch Dohrs und Unterkirchners neueste Produktion pure und polyphone Musik, die sich in den Wintertagen wohlklingend in den Gehörgängen einnistet. Mit moderner 24-bit-Technik bietet das String/Sax-Duo einen glasklaren Sound. Musik vom Feinsten auf internationalem Niveau, die noch dazu zum Nachdenken über vitale Themen einlädt.
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Gerhard Strejcek
Schnitzlers ernste Komödie
Wiener Zeitung, 23.11.2012
Vor 100 Jahren wurde der "Professor Bernhardi" uraufgeführt - und zwar in Berlin, weil seine direkte Kritik am Antisemitismus der
Christlichsozialen Partei der Wiener Zensur nicht genehm war.
Am 28. November 1912 fand in Berlin im Kleinen Theater die Premiere von Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" statt. Das Drama kann als Antwort auf den politisch instrumentalisierten Antisemitismus der Luegerzeit verstanden werden.
Der Konflikt zwischen einem Priester, der einer sterbenden jungen Frau die Krankensalbung (das Sakrament hieß damals und bis vor kurzem "Letzte Ölung") erteilen möchte, und dem jüdischen Arzt Professor Bernhardi, welcher die Frau in ihrer Illusion der Besserung erhalten möchte, traf ein innenpolitisches Kernthema der Zeit. Dabei gelang es Schnitzler, die Intrigen und Halbherzigkeiten rund um die von seinem Vater Johannes geleitete "Allgemeine Poliklinik" dramatisch zu verarbeiten. Dieser hatte nach ungerechten Anwürfen 1893 einen frühen Tod gefunden. Während des Ersten Weltkriegs aufgefundene Dokumente schienen dem Autor die im "Bernhardi" thematisierten Eifersüchteleien, Machtkämpfe und politisch motivierten "Wadlbeißereien" schließlich zu belegen.
Wehrte er sich anfänglich gegen die Bezeichnung als Tendenzstück oder Schlüsseldrama, so gab Schnitzler später zu, hierin Erfahrungen des Ärztealltags verarbeitet, reale Ereignisse nur unwesentlich "umgeschrieben" sowie verdichtet und die Charaktere mit seiner kundigen Hand feingezeichnet zu haben. Somit hält uns der "Bernhardi" noch heute den Spiegel einer Zeit vor, deren katastrophale Zuspitzungen in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts immer noch ihre Spuren hinterlassen haben.
Streit um den Namen
Das war damals zwar nicht voraussehbar, aber dennoch malte eine unsichtbare Hand bereits das Menetekel an die Wand, wie sich an Hand von scheinbar unwesentlichen Details und Nebenschauplätzen zeigte. Der Name des unverstandenen Professors war erfunden, bewahrte den Autor aber nicht vor der Intervention einer gewissen Frau Anna Bernhardi: Sie suchte Schnitzler auf, erbrachte mittels Dokumenten vor ihm zunächst eine Art Ariernachweis und forderte dann "unverschämter Weise" die Umbenennung auf "Bernhardy", weil ihre Familie gegen die Verwechselbarkeit mit der jüdischen Hauptfigur rebelliert hatte. Wenigstens die Punze eines fremdländisch klingenden Namens sollte der Autor seinem Stück aufsetzen, was er natürlich verweigerte. War der "Bernhardi" somit punktgenau an der politischen Wirklichkeit orientiert, so holte diese das Drama ihrerseits wieder ein, wie sich auch in den merkwürdigen Kritiken zeigen sollte. Nicht unerwartet kamen die Häme der antisemitischen Presse und die Anwürfe des satirischen "Kikeriki", die Schnitzler empfahlen, entweder selbst als Arzt zu praktizieren oder als Jude zu schweigen. Dass sich aber Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Felix Salten, die alle Züge des Renegaten trugen, kritisch äußerten, und als "wohlmeinende Freunde" Schnitzler von dem heißen Eisen abgeraten hatten, kam überraschend und traf den Autor ebenso wie die hilflosen Distanzierungsversuche liberaler Kritiker. Offenbar befanden sich viele erfolgreiche und assimilierte Wiener Juden bereits in einer weitaus bedrückenderen Lage, als es die heutigen historischen Beschreibungen vermitteln können, ja selbst eine Art Angststarre schien nach dem Aufleben des politischen Stigmas eingetreten zu sein, ehe selbstbewusstere zionistische Kreise (wie etwa die von Kafka unterstützte "Selbstwehr") sowie jüdische Parteien im Landtag und im Abgeordnetenhaus auf den Plan traten.
Schnitzler schwenkte übrigens selbst in seinem Wahlverhalten nach dem Krieg von der zunächst unterstützten "Socialdemokratie" zur jüdisch-nationalen Partei, von der er sich trotz ideologischer Ferne ein entschiedeneres Auftreten gegenüber den antisemitischen Tendenzen versprach. Diese Partei konnte sich in der Ersten Republik nur kurz in der Nationalversammlung und im Nationalrat behaupten.
Doch zurück ins Jahr 1912, als Schnitzler und Hauptmann beide (erst) fünfzig Jahre alt wurden. Der Wiener Bürgermeister und Rechtsanwalt Karl Lueger war schon vor zweieinhalb Jahren verstorben, aber seine hässliche Saat des populistisch verbrämten, "politischen" Antisemitismus war aufgegangen, und so nahm Schnitzler zu Recht die Gelegenheit wahr, die prekäre Lage assimilierter Juden in Wien aufzugreifen.
Dass diese, direkt gegen die Politik der Christlichsozialen bzw. die Anwürfe der "clericalen Partei" gerichtete, künstlerisch gelungene Attacke in der katholischen Doppelmonarchie nicht am Zensor vorbei zu schleusen war, musste Schnitzler von vornherein klar gewesen sein. Er hatte sich daher bereits in den vergangenen zwei Jahren, als er mit der Materie schwanger ging, akribisch vorbereitet und von seinem Anwalt Geiringer sowie einem Ministerialbeamten beraten lassen. Advokat Geiringer hatte ihn über alle Aspekte des Delikts der "Religionsstörung" aufgeklärt, ein Herr Ministerialrat Dlabac( wiederum hatte Schnitzler in die Untiefen parlamentarischer Anfragen im Abgeordnetenhaus des Reichsrates eingeführt. Beide juristisch relevanten Themen kommen im "Bernhardi" vor, wobei der ehemalige Unterstützer Flint schließlich dem Professor mit einer dreifachen Lüge in den Rücken fällt.
Am 28. November 1912 fand in Berlin im Kleinen Theater die Premiere von Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" statt. Das Drama kann als Antwort auf den politisch instrumentalisierten Antisemitismus der Luegerzeit verstanden werden.
Der Konflikt zwischen einem Priester, der einer sterbenden jungen Frau die Krankensalbung (das Sakrament hieß damals und bis vor kurzem "Letzte Ölung") erteilen möchte, und dem jüdischen Arzt Professor Bernhardi, welcher die Frau in ihrer Illusion der Besserung erhalten möchte, traf ein innenpolitisches Kernthema der Zeit. Dabei gelang es Schnitzler, die Intrigen und Halbherzigkeiten rund um die von seinem Vater Johannes geleitete "Allgemeine Poliklinik" dramatisch zu verarbeiten. Dieser hatte nach ungerechten Anwürfen 1893 einen frühen Tod gefunden. Während des Ersten Weltkriegs aufgefundene Dokumente schienen dem Autor die im "Bernhardi" thematisierten Eifersüchteleien, Machtkämpfe und politisch motivierten "Wadlbeißereien" schließlich zu belegen.
Wehrte er sich anfänglich gegen die Bezeichnung als Tendenzstück oder Schlüsseldrama, so gab Schnitzler später zu, hierin Erfahrungen des Ärztealltags verarbeitet, reale Ereignisse nur unwesentlich "umgeschrieben" sowie verdichtet und die Charaktere mit seiner kundigen Hand feingezeichnet zu haben. Somit hält uns der "Bernhardi" noch heute den Spiegel einer Zeit vor, deren katastrophale Zuspitzungen in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts immer noch ihre Spuren hinterlassen haben.
Streit um den Namen
Das war damals zwar nicht voraussehbar, aber dennoch malte eine unsichtbare Hand bereits das Menetekel an die Wand, wie sich an Hand von scheinbar unwesentlichen Details und Nebenschauplätzen zeigte. Der Name des unverstandenen Professors war erfunden, bewahrte den Autor aber nicht vor der Intervention einer gewissen Frau Anna Bernhardi: Sie suchte Schnitzler auf, erbrachte mittels Dokumenten vor ihm zunächst eine Art Ariernachweis und forderte dann "unverschämter Weise" die Umbenennung auf "Bernhardy", weil ihre Familie gegen die Verwechselbarkeit mit der jüdischen Hauptfigur rebelliert hatte. Wenigstens die Punze eines fremdländisch klingenden Namens sollte der Autor seinem Stück aufsetzen, was er natürlich verweigerte. War der "Bernhardi" somit punktgenau an der politischen Wirklichkeit orientiert, so holte diese das Drama ihrerseits wieder ein, wie sich auch in den merkwürdigen Kritiken zeigen sollte. Nicht unerwartet kamen die Häme der antisemitischen Presse und die Anwürfe des satirischen "Kikeriki", die Schnitzler empfahlen, entweder selbst als Arzt zu praktizieren oder als Jude zu schweigen. Dass sich aber Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Felix Salten, die alle Züge des Renegaten trugen, kritisch äußerten, und als "wohlmeinende Freunde" Schnitzler von dem heißen Eisen abgeraten hatten, kam überraschend und traf den Autor ebenso wie die hilflosen Distanzierungsversuche liberaler Kritiker. Offenbar befanden sich viele erfolgreiche und assimilierte Wiener Juden bereits in einer weitaus bedrückenderen Lage, als es die heutigen historischen Beschreibungen vermitteln können, ja selbst eine Art Angststarre schien nach dem Aufleben des politischen Stigmas eingetreten zu sein, ehe selbstbewusstere zionistische Kreise (wie etwa die von Kafka unterstützte "Selbstwehr") sowie jüdische Parteien im Landtag und im Abgeordnetenhaus auf den Plan traten.
Schnitzler schwenkte übrigens selbst in seinem Wahlverhalten nach dem Krieg von der zunächst unterstützten "Socialdemokratie" zur jüdisch-nationalen Partei, von der er sich trotz ideologischer Ferne ein entschiedeneres Auftreten gegenüber den antisemitischen Tendenzen versprach. Diese Partei konnte sich in der Ersten Republik nur kurz in der Nationalversammlung und im Nationalrat behaupten.
Doch zurück ins Jahr 1912, als Schnitzler und Hauptmann beide (erst) fünfzig Jahre alt wurden. Der Wiener Bürgermeister und Rechtsanwalt Karl Lueger war schon vor zweieinhalb Jahren verstorben, aber seine hässliche Saat des populistisch verbrämten, "politischen" Antisemitismus war aufgegangen, und so nahm Schnitzler zu Recht die Gelegenheit wahr, die prekäre Lage assimilierter Juden in Wien aufzugreifen.
Dass diese, direkt gegen die Politik der Christlichsozialen bzw. die Anwürfe der "clericalen Partei" gerichtete, künstlerisch gelungene Attacke in der katholischen Doppelmonarchie nicht am Zensor vorbei zu schleusen war, musste Schnitzler von vornherein klar gewesen sein. Er hatte sich daher bereits in den vergangenen zwei Jahren, als er mit der Materie schwanger ging, akribisch vorbereitet und von seinem Anwalt Geiringer sowie einem Ministerialbeamten beraten lassen. Advokat Geiringer hatte ihn über alle Aspekte des Delikts der "Religionsstörung" aufgeklärt, ein Herr Ministerialrat Dlabac( wiederum hatte Schnitzler in die Untiefen parlamentarischer Anfragen im Abgeordnetenhaus des Reichsrates eingeführt. Beide juristisch relevanten Themen kommen im "Bernhardi" vor, wobei der ehemalige Unterstützer Flint schließlich dem Professor mit einer dreifachen Lüge in den Rücken fällt.
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Gerhard Strejcek
Wahlrecht hinter Gitterstäben?
Salzburger Nachrichten, 6.11.2012
Kein Ausschluss. Bei der Volksbefragung im Jänner und bei der Nationalratswahl 2013 dürften deutlich mehr verurteilte Straftäter
mitwirken können, als es bisher der Fall war.
Werden bei den nächsten demokratischen Veranstaltungen des Bundes (fix ist die Volksbefragung am 20. Jänner 2013, spätestens im Herbst steht die Nationalratswahl an) auch Verbrecher mitwirken, die zu beträchtlichen Haftstrafen verurteilt worden sind?
Obwohl die Nationalratswahlordnung (NRWO) und die Verfassung seit dem Oktober 2011 eine neue Regel des Wahlausschlusses enthält, dürfte deren Wirkung bisher gleich null sein.
Wer beispielsweise als Politiker wegen Korruption, als Beamter wegen Amtsmissbrauchs und/oder Urkundenfälschung oder wer wegen eines Deliktes im Zusammenhang mit Wahlen (z. B. Wahlkartenmanipulation; Wahlfälschung) verurteilt worden ist, sollte nach dem klar erkennbaren Sinngehalt der Norm vom Wahlrecht ausgeschlossen werden; die Gerichte haben aber einen großen Spielraum, da sie eine Beurteilung der Umstände des Einzelfalles vornehmen müssen (so § 22 NRWO).Rigide Linie des VfGH Die Gemeinden wiederum müssen (allenfalls nach Reklamation) all jene Staatsbürger/-innen in die Wählerevidenz und in die -Verzeichnisse aufnehmen, die nach Art 26 Abs 1 und 5 B-VG wahlberechtigt sind. Die Bürgermeister dürfen im übertragenen Wirkungsbereich keine Ermessensentscheidung über ein politisches Grundrecht treffen, welches kraft Gesetz (§ 22 NRWO) von den unabhängigen Gerichten im Rahmen der Strafjustiz abzugrenzen ist.
Der VfGH vertritt in Fällen der Streichung aus dem Wählerverzeichnis bzw. der Nichtaufnahme trotz Antrag eine äußerst rigide Linie gegenüber den Behörden, denen er einen strengen Ermittlungszwang auferlegt. Man muss kein Seher sein, um zu prognostizieren, dass der VfGH keine Einschränkung des Wahlrechts dulden wird, welche die Ermächtigungen von Art 26 Abs 5 B-VG und der §§ 21 f. NRWO überschreitet oder den Legalitätsanforderungen nicht genügt.
Abgesehen von § 129 Abs 2 NRWO (Inkrafttreten des neuen § 22 am 1. 10. 2011) sieht die NRWO aber kein Übergangsrecht vor. Und der durch die B-VG-Novelle 2011 (BGBl I 43) neu gefasste Art 26 Abs 5 B-VG enthält nur die (kryptische) Formulierung:
„Ein Ausschluss vom Wahlrecht oder von der Wählbarkeit kann, auch in jeweils unterschiedlichem Umfang, nur durch Bundesgesetz als Folge rechtskräftiger gerichtlicher Verurteilung vorgesehen werden.“ Das ist (nur) hinsichtlich der Gesetzesbindung eine eindeutige Anordnung. Ansonsten muss man die Judikatur des EGMR kennen, der im Fall Frodl 2010 die alte und praktikable österreichische Regel als zu undifferenziert und sohin im Widerspruch zu Art 3 1. Zusatzprotokoll der EMRK befand. Noch im Jahr 2007 hatte der damals noch in Haft befindliche Beschwerdeführer erfolglos seine Nichteintragung in die Wählerevidenz beim VfGH bekämpft (VfSlg 18.215/2007).
Doch wie schon im Fall Hirst (2005) legte der EGMR fünf Jahre später gegenüber Österreich eine strenge Elle an und brachte den Gesetzgeber in Zugzwang. Das Fazit gibt zu denken Und so gilt derzeit ausschließlich das seit 1. 10. 2011 neue Recht des § 22 NRWO, welches die Gerichte zum Ausschluss ermächtigt. Der alten Regel (mindestens einjährige unbedingte Haftstrafe bewirkte ex lege den Ausschluss) ist durch die spätere und speziellere Norm des § 22 NRWO idF der Nov BGBl I 2011/43 derogiert worden.
Das Fazit aus allen bisherigen Überlegungen lautet, dass derzeit nur jene wenigen Straftäter rechtskonform vom Wahlrecht bei Bundeswahlen und bundesweiten Abstimmungen bzw. Volksbefragungen ausgeschlossen sind, deren Ausschluss im rechtskräftigen Strafurteil nach § 446a StPO tatsächlich ausgesprochen wurde.
Und die noch nicht novellierten Regeln im Landes- und Gemeindewahlrecht widersprechen, wie am Rande zu bemerken ist, allesamt der Bundesverfassung (diese gilt nach Art 95, 117 B-VG neben Landtags- auch für das Wahlrecht zu Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen) und dem Art 3 1. ZPEMRK in seiner Auslegung durch den EGMR (gilt nur für Landtage, da die Konventionsnorm nur Wahlen gesetzgebender Körperschaften mit dem einzigen politischen Grundrecht der EMRK verbindet).
Aber das ist eine andere Geschichte.
Werden bei den nächsten demokratischen Veranstaltungen des Bundes (fix ist die Volksbefragung am 20. Jänner 2013, spätestens im Herbst steht die Nationalratswahl an) auch Verbrecher mitwirken, die zu beträchtlichen Haftstrafen verurteilt worden sind?
Obwohl die Nationalratswahlordnung (NRWO) und die Verfassung seit dem Oktober 2011 eine neue Regel des Wahlausschlusses enthält, dürfte deren Wirkung bisher gleich null sein.
Wer beispielsweise als Politiker wegen Korruption, als Beamter wegen Amtsmissbrauchs und/oder Urkundenfälschung oder wer wegen eines Deliktes im Zusammenhang mit Wahlen (z. B. Wahlkartenmanipulation; Wahlfälschung) verurteilt worden ist, sollte nach dem klar erkennbaren Sinngehalt der Norm vom Wahlrecht ausgeschlossen werden; die Gerichte haben aber einen großen Spielraum, da sie eine Beurteilung der Umstände des Einzelfalles vornehmen müssen (so § 22 NRWO).Rigide Linie des VfGH Die Gemeinden wiederum müssen (allenfalls nach Reklamation) all jene Staatsbürger/-innen in die Wählerevidenz und in die -Verzeichnisse aufnehmen, die nach Art 26 Abs 1 und 5 B-VG wahlberechtigt sind. Die Bürgermeister dürfen im übertragenen Wirkungsbereich keine Ermessensentscheidung über ein politisches Grundrecht treffen, welches kraft Gesetz (§ 22 NRWO) von den unabhängigen Gerichten im Rahmen der Strafjustiz abzugrenzen ist.
Der VfGH vertritt in Fällen der Streichung aus dem Wählerverzeichnis bzw. der Nichtaufnahme trotz Antrag eine äußerst rigide Linie gegenüber den Behörden, denen er einen strengen Ermittlungszwang auferlegt. Man muss kein Seher sein, um zu prognostizieren, dass der VfGH keine Einschränkung des Wahlrechts dulden wird, welche die Ermächtigungen von Art 26 Abs 5 B-VG und der §§ 21 f. NRWO überschreitet oder den Legalitätsanforderungen nicht genügt.
Abgesehen von § 129 Abs 2 NRWO (Inkrafttreten des neuen § 22 am 1. 10. 2011) sieht die NRWO aber kein Übergangsrecht vor. Und der durch die B-VG-Novelle 2011 (BGBl I 43) neu gefasste Art 26 Abs 5 B-VG enthält nur die (kryptische) Formulierung:
„Ein Ausschluss vom Wahlrecht oder von der Wählbarkeit kann, auch in jeweils unterschiedlichem Umfang, nur durch Bundesgesetz als Folge rechtskräftiger gerichtlicher Verurteilung vorgesehen werden.“ Das ist (nur) hinsichtlich der Gesetzesbindung eine eindeutige Anordnung. Ansonsten muss man die Judikatur des EGMR kennen, der im Fall Frodl 2010 die alte und praktikable österreichische Regel als zu undifferenziert und sohin im Widerspruch zu Art 3 1. Zusatzprotokoll der EMRK befand. Noch im Jahr 2007 hatte der damals noch in Haft befindliche Beschwerdeführer erfolglos seine Nichteintragung in die Wählerevidenz beim VfGH bekämpft (VfSlg 18.215/2007).
Doch wie schon im Fall Hirst (2005) legte der EGMR fünf Jahre später gegenüber Österreich eine strenge Elle an und brachte den Gesetzgeber in Zugzwang. Das Fazit gibt zu denken Und so gilt derzeit ausschließlich das seit 1. 10. 2011 neue Recht des § 22 NRWO, welches die Gerichte zum Ausschluss ermächtigt. Der alten Regel (mindestens einjährige unbedingte Haftstrafe bewirkte ex lege den Ausschluss) ist durch die spätere und speziellere Norm des § 22 NRWO idF der Nov BGBl I 2011/43 derogiert worden.
Das Fazit aus allen bisherigen Überlegungen lautet, dass derzeit nur jene wenigen Straftäter rechtskonform vom Wahlrecht bei Bundeswahlen und bundesweiten Abstimmungen bzw. Volksbefragungen ausgeschlossen sind, deren Ausschluss im rechtskräftigen Strafurteil nach § 446a StPO tatsächlich ausgesprochen wurde.
Und die noch nicht novellierten Regeln im Landes- und Gemeindewahlrecht widersprechen, wie am Rande zu bemerken ist, allesamt der Bundesverfassung (diese gilt nach Art 95, 117 B-VG neben Landtags- auch für das Wahlrecht zu Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen) und dem Art 3 1. ZPEMRK in seiner Auslegung durch den EGMR (gilt nur für Landtage, da die Konventionsnorm nur Wahlen gesetzgebender Körperschaften mit dem einzigen politischen Grundrecht der EMRK verbindet).
Aber das ist eine andere Geschichte.
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Gerhard Strejcek
Join the "Austro-Marines"?
Der Standard, 23.10.2012
Warum allem Getrommel für die Umstellung auf ein Berufsheer zum Trotz gegenwärtig der denkbar schlechteste Zeitpunkt für so einen Pardigmenwechsel wäre
Im Vorfeld der direktdemokratischen "Entscheidung" (sie ist rechtlich unverbindlich) über die Wehrpflicht in Österreich entwickelt sich ein bizarres Szenario. Hier der stets zivile Verteidigungsminister, äußerlich alles andere als ein Rambo-Typ, der vielleicht einst den Slogan "Soldaten sind Mörder" im Rahmen der JuSo-Bewegung vertreten und der nun plötzlich seine Vorliebe für martialisch aussehende " Austro-Marines" entdeckt hat (wobei die Waffen wie etwa Bohrmaschinen etc. (siehe Abb.) noch verbesserungswürdig wären, wir wollen ja kein Texas Chainsaw Massacre, sondern schlicht Umfassende Landesverteidung und völkerrechtlich veranlasste Solidaritätseinsätze laut Verfassung), dort der eDas geschah vor neunzig Jahren, am 18. November 1922, in Form eines feierlichen Aktes, der sich auf einen Staatsvertrag stützte. Infolge der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922, die Bundeskanzler Seipel nicht ohne Geschick und Drohungen (mit Anschluss und Souveränitätsverlust entgegen dem Vertrag von St. Germain) herausverhandelt hatte, erhielt Österreich von einigen Völkerbund-Staaten eine Goldkronenanleihe im Nominale von rund 690 Millionen Gold-Kronen. Wie viel Geld Österreich effektiv aus der Anleihe erhielt, ist nicht unstrittig, da kursabhängig, aber um die 650 Millionen Goldkronen dürften durch den lebenswichtigen Kredit effektiv in die Kassen der Republik geflossen sein.her gemütlich wirkende, aber nicht zu unterschätzende General Entacher, der sich mehr und mehr zum unüberwindbaren Brückenkopf der Systemerhaltung aufgebaut hat. Kraft verfassungsgesetzlicher Vorschriften müsste sowohl eine Volksabstimmung (Neufassung einiger Regeln der Bundesverfassung, des Wehrgesetzes oder Wehrpflicht-Beendigungs- bzw Berufsarmeegesetzes) als auch eine allfällige Volksbefragung (unabhängig vom Gesetzesentwurf) vom Bundespräsidenten aufgrund eines Parlamentsbeschlusses anberaumt werden. Stimmberechtigt sind sodann die zum Nationalrat Wahlberechtigten.
Wem die Österreicher/-innen im Ernstfall lieber ihre Verteidigung vertrauen würden, mag von manchen ambivalent beurteilt werden; aber allein die konsequente, mutig-zähe und letztlich effiziente Strategie Entachers, mit der er schon einmal - anlässlich der Aufhebung seiner Suspendierung - seine politischen Gegner in fast demütigender Weise besiegt hat, verdient auch, militärisch betrachtet, Anerkennung. Viele ÖsterreicherInnen fühlen sich bei General Entacher gut aufgehoben und prophezeien ihm in einem fairen Meinungskampf auch den "Sieg" bei der Abstimmung.
Hingegen macht Minister Darabos derzeit eher den Eindruck, im Fall des Falles, vom Regierungsbunker in St. Johann aus agieren zu wollen, als sich selbst zu exponieren. Da schickt er lieber eine publizistische Elitetruppe ins Feld, die dem Generalstab ans Bein pinkelt, weil dort z. B. Männer bei Veranstaltungen servieren (was ja in einem Land, wo das sonst oftmals nur Frauen zugemutet wird, kein Schaden ist).
Die von der Boulevardpresse und einer Obristenkamarilla mit allen Mitteln betriebene Meinungsmache pro Berufsheer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass derzeit der denkbar schlechteste Zeitpunkt für einen kompletten Paradigmenwechsel in der Wehrpolitik vorliegt.
Zum einen hat die Republik, schlicht kein Geld, um mit attraktiven Prämien Berufssoldaten zu ködern. Zum anderen ist die Gefahr, dass sich längerfristig eine rechts-rechts-lastige und womöglich sogar xenophob ausgerichtete Truppe ohne Verankerung in der Bevölkerung bildet, nicht zu unterschätzen. Derzeit stellt das Bundesheer, wenn das auch ein Armutszeugnis für die Integrationspolitik insgesamt sein mag, eine der effizientesten Organisation dar, in die Österreicher mit Migrationshintergrund rechtlich zwingend (!) eingebaut werden und gleich behandelt werden müssen. Ob ihnen allen auch de facto eine faire Behandlung widerfährt, vermag ich nicht zu beurteilen, aber soweit ich informiert bin, entwickeln sich viele der Betroffenen zu einer absolut motivierten Stütze unseres Heeres und wären auch bereit, die unliebsame Verteidigungsaufgabe im Ernstfall zu übernehmen.
Damit nicht genug, müssten auch die Ausfälle der Zivildiener bezahlt und schließlich die Hungerlöhne der zivilen Sanitäter/-innen endlich aufgedoppelt werden. Denn wer sich einmal mit den arbeits- und sozialrechtlichen Aspekten der Blaulichtorganisationen befasst hat, dem eröffnet sich ein Meer des Schreckens, in das die AK offenbar noch nie einen Fuß gesetzt hat.
Stattdessen äußern sich AK-Expertinnen, die vermutlich auch in Jane's Defence publizieren, statt sich um die Anliegen arbeitender Frauen zu kümmern, dazu, dass die Rolle der Frau in der verfassungsrechtlich vorgegebenen "Umfassenden Landesverteidigung" unterbelichtet sei. Da die Frauen im Heer und beim Zivildienst - verfassungsrechtlich betrachtet völlig zu Recht - gleich behandelt werden sollen, wäre es daher eine sinnvolle Option, wenn im Jänner auch über die Ausweitung der Wehrpflicht (mit dem Recht auf Ersatzdienst) auf Frauen abgestimmt wird. Denn das ist eine Option, welche die als gescheitert zu betrachtende, freiwillige Teilnahme von Frauen im Heeresdienst, grundlegend ändern würde.
Natürlich wäre das zunächst mit Kosten verbunden, würde aber das Mobbing, dem bisher die wenigen Zeitsoldatinnen ausgesetzt waren, schlagartig beenden, weil es mehr weibliche Rekrutinnen als Wehrdiener gäbe; auch würde der Bedarf an Ausbildnerinnen und Unteroffizierinnen steigen und den Frauen eine bessere Infrastruktur zur Verfügung stellen (wie zum Beispiel in Israel, welches das effizienteste Heer der Welt auf Basis einer strengen Wehrpflicht hat und dem Minister Darabos ja gerne politische Ratschläge erteilt oder gobal-politische Einschätzungen zukommen lässt).
Ich meine daher, dass es im Jänner drei Optionen geben sollte: Modernisierung des Heeres und Ausweitung der Wehrpflicht auf alle Österreicher/-innen; Beibehaltung des Status quo; Umstellung auf ein reines Berufsheer.
Im Vorfeld der direktdemokratischen "Entscheidung" (sie ist rechtlich unverbindlich) über die Wehrpflicht in Österreich entwickelt sich ein bizarres Szenario. Hier der stets zivile Verteidigungsminister, äußerlich alles andere als ein Rambo-Typ, der vielleicht einst den Slogan "Soldaten sind Mörder" im Rahmen der JuSo-Bewegung vertreten und der nun plötzlich seine Vorliebe für martialisch aussehende " Austro-Marines" entdeckt hat (wobei die Waffen wie etwa Bohrmaschinen etc. (siehe Abb.) noch verbesserungswürdig wären, wir wollen ja kein Texas Chainsaw Massacre, sondern schlicht Umfassende Landesverteidung und völkerrechtlich veranlasste Solidaritätseinsätze laut Verfassung), dort der eDas geschah vor neunzig Jahren, am 18. November 1922, in Form eines feierlichen Aktes, der sich auf einen Staatsvertrag stützte. Infolge der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922, die Bundeskanzler Seipel nicht ohne Geschick und Drohungen (mit Anschluss und Souveränitätsverlust entgegen dem Vertrag von St. Germain) herausverhandelt hatte, erhielt Österreich von einigen Völkerbund-Staaten eine Goldkronenanleihe im Nominale von rund 690 Millionen Gold-Kronen. Wie viel Geld Österreich effektiv aus der Anleihe erhielt, ist nicht unstrittig, da kursabhängig, aber um die 650 Millionen Goldkronen dürften durch den lebenswichtigen Kredit effektiv in die Kassen der Republik geflossen sein.her gemütlich wirkende, aber nicht zu unterschätzende General Entacher, der sich mehr und mehr zum unüberwindbaren Brückenkopf der Systemerhaltung aufgebaut hat. Kraft verfassungsgesetzlicher Vorschriften müsste sowohl eine Volksabstimmung (Neufassung einiger Regeln der Bundesverfassung, des Wehrgesetzes oder Wehrpflicht-Beendigungs- bzw Berufsarmeegesetzes) als auch eine allfällige Volksbefragung (unabhängig vom Gesetzesentwurf) vom Bundespräsidenten aufgrund eines Parlamentsbeschlusses anberaumt werden. Stimmberechtigt sind sodann die zum Nationalrat Wahlberechtigten.
Wem die Österreicher/-innen im Ernstfall lieber ihre Verteidigung vertrauen würden, mag von manchen ambivalent beurteilt werden; aber allein die konsequente, mutig-zähe und letztlich effiziente Strategie Entachers, mit der er schon einmal - anlässlich der Aufhebung seiner Suspendierung - seine politischen Gegner in fast demütigender Weise besiegt hat, verdient auch, militärisch betrachtet, Anerkennung. Viele ÖsterreicherInnen fühlen sich bei General Entacher gut aufgehoben und prophezeien ihm in einem fairen Meinungskampf auch den "Sieg" bei der Abstimmung.
Hingegen macht Minister Darabos derzeit eher den Eindruck, im Fall des Falles, vom Regierungsbunker in St. Johann aus agieren zu wollen, als sich selbst zu exponieren. Da schickt er lieber eine publizistische Elitetruppe ins Feld, die dem Generalstab ans Bein pinkelt, weil dort z. B. Männer bei Veranstaltungen servieren (was ja in einem Land, wo das sonst oftmals nur Frauen zugemutet wird, kein Schaden ist).
Die von der Boulevardpresse und einer Obristenkamarilla mit allen Mitteln betriebene Meinungsmache pro Berufsheer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass derzeit der denkbar schlechteste Zeitpunkt für einen kompletten Paradigmenwechsel in der Wehrpolitik vorliegt.
Zum einen hat die Republik, schlicht kein Geld, um mit attraktiven Prämien Berufssoldaten zu ködern. Zum anderen ist die Gefahr, dass sich längerfristig eine rechts-rechts-lastige und womöglich sogar xenophob ausgerichtete Truppe ohne Verankerung in der Bevölkerung bildet, nicht zu unterschätzen. Derzeit stellt das Bundesheer, wenn das auch ein Armutszeugnis für die Integrationspolitik insgesamt sein mag, eine der effizientesten Organisation dar, in die Österreicher mit Migrationshintergrund rechtlich zwingend (!) eingebaut werden und gleich behandelt werden müssen. Ob ihnen allen auch de facto eine faire Behandlung widerfährt, vermag ich nicht zu beurteilen, aber soweit ich informiert bin, entwickeln sich viele der Betroffenen zu einer absolut motivierten Stütze unseres Heeres und wären auch bereit, die unliebsame Verteidigungsaufgabe im Ernstfall zu übernehmen.
Damit nicht genug, müssten auch die Ausfälle der Zivildiener bezahlt und schließlich die Hungerlöhne der zivilen Sanitäter/-innen endlich aufgedoppelt werden. Denn wer sich einmal mit den arbeits- und sozialrechtlichen Aspekten der Blaulichtorganisationen befasst hat, dem eröffnet sich ein Meer des Schreckens, in das die AK offenbar noch nie einen Fuß gesetzt hat.
Stattdessen äußern sich AK-Expertinnen, die vermutlich auch in Jane's Defence publizieren, statt sich um die Anliegen arbeitender Frauen zu kümmern, dazu, dass die Rolle der Frau in der verfassungsrechtlich vorgegebenen "Umfassenden Landesverteidigung" unterbelichtet sei. Da die Frauen im Heer und beim Zivildienst - verfassungsrechtlich betrachtet völlig zu Recht - gleich behandelt werden sollen, wäre es daher eine sinnvolle Option, wenn im Jänner auch über die Ausweitung der Wehrpflicht (mit dem Recht auf Ersatzdienst) auf Frauen abgestimmt wird. Denn das ist eine Option, welche die als gescheitert zu betrachtende, freiwillige Teilnahme von Frauen im Heeresdienst, grundlegend ändern würde.
Natürlich wäre das zunächst mit Kosten verbunden, würde aber das Mobbing, dem bisher die wenigen Zeitsoldatinnen ausgesetzt waren, schlagartig beenden, weil es mehr weibliche Rekrutinnen als Wehrdiener gäbe; auch würde der Bedarf an Ausbildnerinnen und Unteroffizierinnen steigen und den Frauen eine bessere Infrastruktur zur Verfügung stellen (wie zum Beispiel in Israel, welches das effizienteste Heer der Welt auf Basis einer strengen Wehrpflicht hat und dem Minister Darabos ja gerne politische Ratschläge erteilt oder gobal-politische Einschätzungen zukommen lässt).
Ich meine daher, dass es im Jänner drei Optionen geben sollte: Modernisierung des Heeres und Ausweitung der Wehrpflicht auf alle Österreicher/-innen; Beibehaltung des Status quo; Umstellung auf ein reines Berufsheer.
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Gerhard Strejcek
Rettungsschirm des Jahres 1922
Wiener Zeitung, 13.10.2012
Vor 90 Jahren flossen Österreich aus einer Völkerbund-Anleihe rund 650 Millionen Goldkronen zu. Die folgende Sanierung des Staatshaushaltes brachte aber keine nachhaltige politische Stabilität.
Angesichts der (noch anhaltenden), zumindest relativen Stabilität des Euro und der langen Prosperität der Schilling- und Hartwährungsära zuvor, ist es für viele Mitbürger, die den Zeigefinger heute gerne in den Süden der EU richten, kaum mehr vorstellbar, dass in der Ersten Republik einmal "griechische" Zustände bei uns geherrscht haben. Am Höhepunkt jener Krise, die sich in galoppierender Inflation und einem katastrophalen Verfall der Kronenwährung auswirkte, musste die Republik Österreich sogar auf internationalen Druck hin ihre Notenpressen still legen und versiegeln lassen.
Das geschah vor neunzig Jahren, am 18. November 1922, in Form eines feierlichen Aktes, der sich auf einen Staatsvertrag stützte. Infolge der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922, die Bundeskanzler Seipel nicht ohne Geschick und Drohungen (mit Anschluss und Souveränitätsverlust entgegen dem Vertrag von St. Germain) herausverhandelt hatte, erhielt Österreich von einigen Völkerbund-Staaten eine Goldkronenanleihe im Nominale von rund 690 Millionen Gold-Kronen. Wie viel Geld Österreich effektiv aus der Anleihe erhielt, ist nicht unstrittig, da kursabhängig, aber um die 650 Millionen Goldkronen dürften durch den lebenswichtigen Kredit effektiv in die Kassen der Republik geflossen sein.
Souveränitätsverlust
Der Erfolg dieser Finanzspritze, die als "Völkerbund-Anleihe" in die Geschichte eingegangen ist, wurde von vornherein durch mehrere Tatsachen getrübt, unter denen die politische Uneinigkeit über den neuen Kurs die schmerzhafteste war. Wie im EU-Mitglied Griechenland von heute, wog aber der damalige Eingriff in die nationale Souveränität Österreichs psychologisch betrachtet in breiten Bevölkerungskreisen am schwersten, obwohl die Kuratel, unter die das Land international gestellt wurde, faktisch weitaus harmloser war als es den Anschein hatte.
Alfred Zimmermann, vormaliger Bürgermeister von Rotterdam (NL), wurde zum Kommissär des Völkerbundes ernannt und traf am 18. Dezember in Wien ein, um die Bedingungen der Anleihe zu überwachen. Rasch erwarb sich der "Aufpasser" den Ruf des unbeliebtesten Gastes. Doch noch ehe er den Fuß ins Land setzte, hatten Regierung und Parlament heimlich Gegenmaßnahmen beschlossen, um seine Machtfülle und Effektivität einzuschränken.
Die finanzpolitische Souveränität des Parlaments wurde dem Buchstaben nach durch den Vertrag vom 4. Oktober stark eingeschränkt, die Budgethoheit war dadurch praktisch dahin. Neben einer dramatischen Verkleinerung des Beamtenheeres, das aus der Monarchie in die Republik übernommen worden war, verlangte der Völkerbund sogar die Reduktion der österreichischen Regierungsmitglieder, eine Forderung, die durch Umbildung des Kabinetts Seipel 1 im April 1923 auch tatsächlich erfüllt wurde.
Der vehemente ausländische Druck, eine Reduktion der Beamten umzusetzen und auch de facto den Abbau eines Drittels der aktiven Bediensteten der Gebietskörperschaften zu erreichen, erinnert stark an die griechischen Zustände von heute und an die Reaktion westeuropäischer EU-Mächte darauf. Auch die Reaktion des betroffenen Staates, das "Handling" in Form passiver nationaler Resistenz und vehementer Arbeiteraufstände weckt Erinnerungen an die Erste Republik.
Seipel, damals noch nicht als "Prälat ohne Milde" bekannt, war wild entschlossen, mit Hilfe des großdeutschen Koalitionspartners durchzugreifen. Das war nicht ungefährlich, denn auch in den Reihen der Konservativen werkten viele Staatsdiener, die allerdings zum Teil ungeschoren blieben. Im Gegenteil, eine unvorstellbare Titelsucht ("Titel statt Mittel") rief im "Wasserkopf" Wien Erinnerungen an den feudalen Staat des 18. Jahrhunderts wach.
Dennoch hielt die Regierung zumindest nominell Wort. Immerhin sank die Zahl der aktiven Bundesbeamten (vor allem bei Post und Eisenbahn) drastisch von rund 277.000 im Herbst 1922 auf 192.000 im Jahr 1925. Inwieweit durch Pensionierungen, Funktionsänderungen und andere Tricks die Zahl "geschönt" wurde, bleibe dahingestellt. Außerdem erfolgten diese Maßnahmen um den Preis des sozialen Friedens, was sich in Gründung von Wehrverbänden und dem Aufleben der "Hakenkreuzler" in letztlich verheerender Weise niederschlug.
Obwohl nicht direkt vom Beamtenabbau betroffen, waren es vor allem sich mit den arbeitslosen Eisenbahnern solidarisierende Arbeiter, welche die Maßnahmen der Regierung Seipel bei Demonstrationen geißelten. Die Agitation der Parteiführung unter Bauer und Danneberg tat das Übrige.
Die Wahrheit lag, wie so oft, in der Mitte. Natürlich versuchte die rechte Regierung in auffälliger Weise, ihre eigene Klientel zu schützen. Auffällig ist nämlich, dass keine nachhaltige Sanierung der Wirtschaft gelang, sondern nur ein Sektor, nämlich die Landwirtschaft, sich längerfristig konsolidieren konnte.
Hingegen versagten dringend notwendige Infrastrukturmaßnahmen, wie der Bau von Wasserkraftwerken oder die Modernisierung der Bergbaubetriebe, welche der Arbeiterschaft genutzt hätten. Dies schob man unter anderem der tschechischen Republik in die Schuhe, welche angeblich kein Interesse an der Konsolidierung Österreichs hatte (ein durch Fakten widerlegbares Vorurteil). Insgesamt erschienen die Bemühungen der Kabinette Seipels durchaus als redlich, die teils überzogene Opposition der Linken dagegen auch als Ausdruck ihrer Sorge, die bürgerlichen Kräfte könnten sich durch Sanierungserfolge an der Staatsspitze etablieren.
Destabilisiertes Land
Die Stabilisierung der Währung wurde also um den Preis des politischen Grundkonsenses erkauft, - ein viel zu hoher Preis. Zur innenpolitischen Destabilisierung trug eine weitere Maßnahme bei, die skurillerweise einstimmig erfolgte, obwohl sie verfassungsrechtlich bedenklich und noch dazu geeignet war, der Demokratie allgemein Schaden zuzufügen:
Als Gegenmaßnahme zu Gesichts-, Macht- und Budgetverlust beschloss der Nationalrat im November 1922 die Einrichtung eines "außerordentlichen Kabinettsrates" zur Durchführung der Sanierungsmaßnahmen, der diese Klausel umgehen sollte. Formell und vorgeblich zur Überwachung der von der Völkerbund-Anleihe induzierten Maßnahmen konzipiert, sollte dieses Organ nach wie vor die Weichen in der Budgetpolitik stellen können, ohne dass das Parlament damit befasst wurde. Dass hier der spätere Verfassungsbruch der autoritären Regierung Dollfuß in Grundzügen vorgezeichnet wurde, fiel niemandem auf - die Skepsis gegen das Funktionieren des Parlamentarismus hatte bereits einen ersten Höhepunkt erreicht.
Die schärfste, aber wirkungsvollste Klausel der Verträge beschränkte die Notenpressen hinsichtlich der - die Inflation anheizenden - Geldausgabe, was in der Versiegelung dieser Gelddruck-Apparate gipfelte. Tatsächlich gelang es binnen zwei Jahren, die galoppierende Inflation einzudämmen. Maßgeblich dazu trug Anfang 1923 die Gründung der Österreichischen Notenbank, einer 100%-Tochter der ÖNB, bei.
Am Ende der erfolgreichen Währungs-Reform stand die Einführung der Schillingwährung per 1. Jänner 1925. Die Bevölkerung nahm die neue Währung mit großer Skepsis auf und lehnte die geplante, niederländisch klingende Unter-Einheit (Stüver) ab; sie wurde durch den vertrauten Groschen ersetzt. Assoziationen zum ungeliebten Eurocent und zur aktuellen Schilling-Nostalgie sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einführung des Schilling eine weitere Sanierungsmaßnahme infolge der Genfer Protokolle war.
Wie dramatisch sich der Währungsverfall der Krone gegenüber dem Schweizer Franken entwickelt hatte, zeigt ein Vergleich der Umrechnungskurse von 1919 bis zum Herbst 1922. Wer über Reserven in der schweizerischen Währung verfügte, konnte in Österreich bald auf großem Fuß leben. Für 100 sfr erhielt man am 1.7.1919 nur 567 Kronen. Bereits ein Jahr später (die österreichische Bundesverfassung 1920 wurde gerade im Unterausschuss beraten), belief sich dieser Betrag auf 2702 Kronen - das Fünffache im Vergleich zur Ära von St. Germain. Im Sommer 1921 schlugen 100 sfr schon mit 12.200 Kronen zu Buche, und am Höhepunkt des Verfalls der österreichischen Währung im Sommer 1922 lukrierte der Einwechsler für 100 Franken sagenhafte 360.000 Kronen. Die Währungsspekulation blühte.
Finanzpolitisch weitaus schlimmer einzuschätzen war der sehr niedrige Ausgabekurs der Anleihe von nur 80%. Dieser explodierte sofort nach Begebung und Platzierung der Anleihe - Österreichs wirtschaftliche Zwangslage wurde also von Spekulanten auf dem internationalen Parkett ausgenutzt. Das war damals ein probates Mittel: Alsbald wurde der französische Franc zum Opfer von - auch österreichischen - Spekulanten, die auf dessen Verfall setzten.
Bittere Tilgung
Darüberhinaus war Österreich zu Rückzahlungs-Zinsen von zehn Prozent verpflichtet, die de facto zeitweise sogar höher ausfielen. Schließlich musste die Republik nicht verwendete Gelder nach strikten Vorgaben zu ungünstigen Kursen bei ausländischen Instituten anlegen. Die Klausel sollte Spekulation mit diesen Geldern verhindern, erschwerte aber die Tilgung, da die erzielten Zinssätze nur um die 6% lagen, ein klarer Verlust für die darbende Republik.
Ausgabebanken waren übrigens Morgan (USA), französische, italienische und tschechische Institute. Sie profitierten vice versa auch am meisten von der international garantierten Maßnahme, was Verschwörungstheorien gegen das "internationale Finanzkapital" stützte, welche wiederum der beginnenden nationalsozialistischen Agitation nutzten.
Die Völkerbund-Anleihe und dadurch bedingte Sanierungsphase bewirkten zwar währungspolitische Stabilität, aber dies allein rettete die Erste Republik weder in politischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht: Keine neun Jahre später standen die Banken am Abgrund, die CA musste die Bodencredit auffangen und geriet selbst ins Trudeln. Und ein Jahrzehnt nach den Genfer Protokollen schlitterte die Republik bereits in Bürgerkrieg und Diktatur.
Die Lehren aus dieser Entwicklung: Nur die nachhaltige Sanierung eines Staatshaushaltes kann langfristig stabilisierend wirken; "Finanzspritzen" ohne garantierte Strukturreformen (wie derzeit in Griechenland) stellen eine sehr zweifelhafte, aber letztlich als Beginn eines strengeren Regimes richtige Maßnahme dar. Vor allem aber sind der politische Grundkonsens und das Vertrauen in die Demokratie der wichtigste Grundpfeiler für längerfristige Prosperität und Frieden im Lande.
Angesichts der (noch anhaltenden), zumindest relativen Stabilität des Euro und der langen Prosperität der Schilling- und Hartwährungsära zuvor, ist es für viele Mitbürger, die den Zeigefinger heute gerne in den Süden der EU richten, kaum mehr vorstellbar, dass in der Ersten Republik einmal "griechische" Zustände bei uns geherrscht haben. Am Höhepunkt jener Krise, die sich in galoppierender Inflation und einem katastrophalen Verfall der Kronenwährung auswirkte, musste die Republik Österreich sogar auf internationalen Druck hin ihre Notenpressen still legen und versiegeln lassen.
Das geschah vor neunzig Jahren, am 18. November 1922, in Form eines feierlichen Aktes, der sich auf einen Staatsvertrag stützte. Infolge der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922, die Bundeskanzler Seipel nicht ohne Geschick und Drohungen (mit Anschluss und Souveränitätsverlust entgegen dem Vertrag von St. Germain) herausverhandelt hatte, erhielt Österreich von einigen Völkerbund-Staaten eine Goldkronenanleihe im Nominale von rund 690 Millionen Gold-Kronen. Wie viel Geld Österreich effektiv aus der Anleihe erhielt, ist nicht unstrittig, da kursabhängig, aber um die 650 Millionen Goldkronen dürften durch den lebenswichtigen Kredit effektiv in die Kassen der Republik geflossen sein.
Souveränitätsverlust
Der Erfolg dieser Finanzspritze, die als "Völkerbund-Anleihe" in die Geschichte eingegangen ist, wurde von vornherein durch mehrere Tatsachen getrübt, unter denen die politische Uneinigkeit über den neuen Kurs die schmerzhafteste war. Wie im EU-Mitglied Griechenland von heute, wog aber der damalige Eingriff in die nationale Souveränität Österreichs psychologisch betrachtet in breiten Bevölkerungskreisen am schwersten, obwohl die Kuratel, unter die das Land international gestellt wurde, faktisch weitaus harmloser war als es den Anschein hatte.
Alfred Zimmermann, vormaliger Bürgermeister von Rotterdam (NL), wurde zum Kommissär des Völkerbundes ernannt und traf am 18. Dezember in Wien ein, um die Bedingungen der Anleihe zu überwachen. Rasch erwarb sich der "Aufpasser" den Ruf des unbeliebtesten Gastes. Doch noch ehe er den Fuß ins Land setzte, hatten Regierung und Parlament heimlich Gegenmaßnahmen beschlossen, um seine Machtfülle und Effektivität einzuschränken.
Die finanzpolitische Souveränität des Parlaments wurde dem Buchstaben nach durch den Vertrag vom 4. Oktober stark eingeschränkt, die Budgethoheit war dadurch praktisch dahin. Neben einer dramatischen Verkleinerung des Beamtenheeres, das aus der Monarchie in die Republik übernommen worden war, verlangte der Völkerbund sogar die Reduktion der österreichischen Regierungsmitglieder, eine Forderung, die durch Umbildung des Kabinetts Seipel 1 im April 1923 auch tatsächlich erfüllt wurde.
Der vehemente ausländische Druck, eine Reduktion der Beamten umzusetzen und auch de facto den Abbau eines Drittels der aktiven Bediensteten der Gebietskörperschaften zu erreichen, erinnert stark an die griechischen Zustände von heute und an die Reaktion westeuropäischer EU-Mächte darauf. Auch die Reaktion des betroffenen Staates, das "Handling" in Form passiver nationaler Resistenz und vehementer Arbeiteraufstände weckt Erinnerungen an die Erste Republik.
Seipel, damals noch nicht als "Prälat ohne Milde" bekannt, war wild entschlossen, mit Hilfe des großdeutschen Koalitionspartners durchzugreifen. Das war nicht ungefährlich, denn auch in den Reihen der Konservativen werkten viele Staatsdiener, die allerdings zum Teil ungeschoren blieben. Im Gegenteil, eine unvorstellbare Titelsucht ("Titel statt Mittel") rief im "Wasserkopf" Wien Erinnerungen an den feudalen Staat des 18. Jahrhunderts wach.
Dennoch hielt die Regierung zumindest nominell Wort. Immerhin sank die Zahl der aktiven Bundesbeamten (vor allem bei Post und Eisenbahn) drastisch von rund 277.000 im Herbst 1922 auf 192.000 im Jahr 1925. Inwieweit durch Pensionierungen, Funktionsänderungen und andere Tricks die Zahl "geschönt" wurde, bleibe dahingestellt. Außerdem erfolgten diese Maßnahmen um den Preis des sozialen Friedens, was sich in Gründung von Wehrverbänden und dem Aufleben der "Hakenkreuzler" in letztlich verheerender Weise niederschlug.
Obwohl nicht direkt vom Beamtenabbau betroffen, waren es vor allem sich mit den arbeitslosen Eisenbahnern solidarisierende Arbeiter, welche die Maßnahmen der Regierung Seipel bei Demonstrationen geißelten. Die Agitation der Parteiführung unter Bauer und Danneberg tat das Übrige.
Die Wahrheit lag, wie so oft, in der Mitte. Natürlich versuchte die rechte Regierung in auffälliger Weise, ihre eigene Klientel zu schützen. Auffällig ist nämlich, dass keine nachhaltige Sanierung der Wirtschaft gelang, sondern nur ein Sektor, nämlich die Landwirtschaft, sich längerfristig konsolidieren konnte.
Hingegen versagten dringend notwendige Infrastrukturmaßnahmen, wie der Bau von Wasserkraftwerken oder die Modernisierung der Bergbaubetriebe, welche der Arbeiterschaft genutzt hätten. Dies schob man unter anderem der tschechischen Republik in die Schuhe, welche angeblich kein Interesse an der Konsolidierung Österreichs hatte (ein durch Fakten widerlegbares Vorurteil). Insgesamt erschienen die Bemühungen der Kabinette Seipels durchaus als redlich, die teils überzogene Opposition der Linken dagegen auch als Ausdruck ihrer Sorge, die bürgerlichen Kräfte könnten sich durch Sanierungserfolge an der Staatsspitze etablieren.
Destabilisiertes Land
Die Stabilisierung der Währung wurde also um den Preis des politischen Grundkonsenses erkauft, - ein viel zu hoher Preis. Zur innenpolitischen Destabilisierung trug eine weitere Maßnahme bei, die skurillerweise einstimmig erfolgte, obwohl sie verfassungsrechtlich bedenklich und noch dazu geeignet war, der Demokratie allgemein Schaden zuzufügen:
Als Gegenmaßnahme zu Gesichts-, Macht- und Budgetverlust beschloss der Nationalrat im November 1922 die Einrichtung eines "außerordentlichen Kabinettsrates" zur Durchführung der Sanierungsmaßnahmen, der diese Klausel umgehen sollte. Formell und vorgeblich zur Überwachung der von der Völkerbund-Anleihe induzierten Maßnahmen konzipiert, sollte dieses Organ nach wie vor die Weichen in der Budgetpolitik stellen können, ohne dass das Parlament damit befasst wurde. Dass hier der spätere Verfassungsbruch der autoritären Regierung Dollfuß in Grundzügen vorgezeichnet wurde, fiel niemandem auf - die Skepsis gegen das Funktionieren des Parlamentarismus hatte bereits einen ersten Höhepunkt erreicht.
Die schärfste, aber wirkungsvollste Klausel der Verträge beschränkte die Notenpressen hinsichtlich der - die Inflation anheizenden - Geldausgabe, was in der Versiegelung dieser Gelddruck-Apparate gipfelte. Tatsächlich gelang es binnen zwei Jahren, die galoppierende Inflation einzudämmen. Maßgeblich dazu trug Anfang 1923 die Gründung der Österreichischen Notenbank, einer 100%-Tochter der ÖNB, bei.
Am Ende der erfolgreichen Währungs-Reform stand die Einführung der Schillingwährung per 1. Jänner 1925. Die Bevölkerung nahm die neue Währung mit großer Skepsis auf und lehnte die geplante, niederländisch klingende Unter-Einheit (Stüver) ab; sie wurde durch den vertrauten Groschen ersetzt. Assoziationen zum ungeliebten Eurocent und zur aktuellen Schilling-Nostalgie sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einführung des Schilling eine weitere Sanierungsmaßnahme infolge der Genfer Protokolle war.
Wie dramatisch sich der Währungsverfall der Krone gegenüber dem Schweizer Franken entwickelt hatte, zeigt ein Vergleich der Umrechnungskurse von 1919 bis zum Herbst 1922. Wer über Reserven in der schweizerischen Währung verfügte, konnte in Österreich bald auf großem Fuß leben. Für 100 sfr erhielt man am 1.7.1919 nur 567 Kronen. Bereits ein Jahr später (die österreichische Bundesverfassung 1920 wurde gerade im Unterausschuss beraten), belief sich dieser Betrag auf 2702 Kronen - das Fünffache im Vergleich zur Ära von St. Germain. Im Sommer 1921 schlugen 100 sfr schon mit 12.200 Kronen zu Buche, und am Höhepunkt des Verfalls der österreichischen Währung im Sommer 1922 lukrierte der Einwechsler für 100 Franken sagenhafte 360.000 Kronen. Die Währungsspekulation blühte.
Finanzpolitisch weitaus schlimmer einzuschätzen war der sehr niedrige Ausgabekurs der Anleihe von nur 80%. Dieser explodierte sofort nach Begebung und Platzierung der Anleihe - Österreichs wirtschaftliche Zwangslage wurde also von Spekulanten auf dem internationalen Parkett ausgenutzt. Das war damals ein probates Mittel: Alsbald wurde der französische Franc zum Opfer von - auch österreichischen - Spekulanten, die auf dessen Verfall setzten.
Bittere Tilgung
Darüberhinaus war Österreich zu Rückzahlungs-Zinsen von zehn Prozent verpflichtet, die de facto zeitweise sogar höher ausfielen. Schließlich musste die Republik nicht verwendete Gelder nach strikten Vorgaben zu ungünstigen Kursen bei ausländischen Instituten anlegen. Die Klausel sollte Spekulation mit diesen Geldern verhindern, erschwerte aber die Tilgung, da die erzielten Zinssätze nur um die 6% lagen, ein klarer Verlust für die darbende Republik.
Ausgabebanken waren übrigens Morgan (USA), französische, italienische und tschechische Institute. Sie profitierten vice versa auch am meisten von der international garantierten Maßnahme, was Verschwörungstheorien gegen das "internationale Finanzkapital" stützte, welche wiederum der beginnenden nationalsozialistischen Agitation nutzten.
Die Völkerbund-Anleihe und dadurch bedingte Sanierungsphase bewirkten zwar währungspolitische Stabilität, aber dies allein rettete die Erste Republik weder in politischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht: Keine neun Jahre später standen die Banken am Abgrund, die CA musste die Bodencredit auffangen und geriet selbst ins Trudeln. Und ein Jahrzehnt nach den Genfer Protokollen schlitterte die Republik bereits in Bürgerkrieg und Diktatur.
Die Lehren aus dieser Entwicklung: Nur die nachhaltige Sanierung eines Staatshaushaltes kann langfristig stabilisierend wirken; "Finanzspritzen" ohne garantierte Strukturreformen (wie derzeit in Griechenland) stellen eine sehr zweifelhafte, aber letztlich als Beginn eines strengeren Regimes richtige Maßnahme dar. Vor allem aber sind der politische Grundkonsens und das Vertrauen in die Demokratie der wichtigste Grundpfeiler für längerfristige Prosperität und Frieden im Lande.
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Gerhard Strejcek
Rassistische Missklänge
Wiener Zeitung, 21.09.2012
Vorurteile führen nicht unbedingt zu aggressiven Handlungen- oft kommt es nur zu beiläufigen Bemerkungen oder tendenziösen
Beobachtungen. Harmlos sind allerdings auch diese nicht.
Wenn heute David Alaba oder Rubin Okotie den Fußballrasen betreten, ist ihnen Jubel sicher. Auch diverse Rapper, die liebliche Rihanna oder die elegante Beyoncé Knowles, habe ihre Anhänger in Europa, so auch in Wien, dessen gesetzteres Opernpublikum einst Grace Bumbry oder Jessye Norman zujubelte - allerdings nur auf der Bühne.
Wenn dunkelhäutige Stars auf eigene Faust die österreichischen Gefilde erkunden wollten, etwa im Taxi oder als Lokalgast, wurde es oft gefährlich oder doch wenigstens ungemütlich. Erst vor rund einem Jahr flog eine Operndiva aus einem vor dem "Sacher" wartenden Taxi, dessen Fahrer kein Opernkenner war. Noch nicht vergessen sind auch die Zeiten, in denen eine anlassbezogene "Lex Belafonte" in Österreich eine Verwaltungsstrafdrohung für jene Personen verankern musste, welche Afrikanern und andern Personen den Zutritt zu einem "öffentlichen Ort" aus rassischen Gründen verweigern. Der Musiker hatte in den Siebzigerjahren nach einem Auftritt am Wörthersee ein Nachtlokal besuchen wollen, war aber wegen seiner Hautfarbe abgewiesen worden.
Zweierlei Maß
Das Gesetz gilt (unter dem Juristenkürzel "EGVG" ) nach wie vor bundesweit. Art III Abs 1 Z 3 EGVG sieht vor, dass jemand, der "Personen allein aufgrund ihrer Rasse, ihrer Hautfarbe, ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft, ihres religiösen Bekenntnisses oder einer Behinderung ungerechtfertigt benachteiligt oder sie hindert, Orte zu betreten oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die für den allgemeinen öffentlichen Gebrauch vorgesehen sind", mit Geldstrafe bis zu 1000 Euro zu bestrafen ist.
Doch das Thema Lokalverbot für Afrikaner ist mit dieser Rechtssprechung noch nicht vom Tisch; nur wird es in Discos mit Titeln wie "Hausordnung", "Dresscodes" und anderen Tricks übertüncht, die den Anschein von "Privatheit" erwecken. Wer kein bekannter Künstler oder Sportler, allenfalls Politiker von Weltrang ist, hat es nach wie vor schwer in unseren Breiten, denn abseits der Bühnen und Sportplätze ist man schnell ein "Dealer", wie ein afrikanischstämmiger Sportlehrer der American International School erfahren musste, der von Polizisten aus der Wiener U-Bahn gezerrt wurde, weil er einem Gesuchten angeblich ähnlich sah.
Von Folterungen wie in den Fällen Bakary S. und katastrophalen Fehleinsätzen mit tödlichem Ausgang wie im "Afrikadorf auf der Donauinsel" muss hier gar nicht gesprochen werden, auch nicht von der Tatsache, dass es die Beamtenministerin in einer Presseaussendung vom 18. August 2012 als großen Fortschritt anpries, dass "künftig" jene Beamten, die wegen Vernachlässigung oder Quälens einer ihr anvertrauten Person (etwa eines Schubhäftlings) verurteilt werden, "automatisch" suspendiert werden, ohne dass es eines Disziplinarverfahrens bedarf, in dem dann findige Anwälte alle möglichen "guten Gründe" vorschieben, warum eine "Abreibung" für einen "renitenten" Afrikaner doch eigentlich geboten war.
Wie gesagt, es gilt nach wie vor die einfache Formel: Auf Bühne, Spielfeld und Laufbahn bist du ein Star, in der U-Bahn aber ein Dealer, als "Partei" oder als Häftling ein "Tier" und in einem Lokal eine Bedrohung für die weißen Mädchen, wie viele Afrikaner ihre Erfahrungen in Österreich auf den Punkt bringen.
Dieses Paradoxon wirkt noch stärker, je "ferner" und berühmter der Betroffene ist. Am wenigsten Probleme haben unsere Landsleute mit Afrikanern im Ausland oder deren Nachfahren, die dort, wo sie leben, zu bleiben geruhen. US-Präsident Obama erfreut sich großer Beliebtheit, und da stört es auch niemanden, dass er afrikanische Wurzeln hat, wie auch der Gabuner Taekwondo-Kämpfer mit dem ähnlich klingenden Namen Obame (Silber in London). Bewunderung gilt Nelson Mandela, große Anerkennung spendet man dem UNO-Sonderbeauftragten Kofi Annan.
Die Karrierewege, die afrikanischstämmigen Menschen offen stehen, um hierzulande anerkannt zu werden, sind: Sport, Kunst, Politik. Aber was ist mit dem Rest, der nicht dieser privilegierten Gruppe angehört?
Schwarz-Weiß-Malerei
Gilt bei uns nach wie vor dasselbe, was Muhammad Ali, einst als Cassius Clay geboren und einer der größten Boxer der USA, auf den Punkt gebracht hat: "Weiß ist gut, Schwarz ist schlecht, so einfach ist das. Der US-Präsident residiert im Weißen Haus, Engel sind weiß, kleine unschuldige Kinder werden in weißen Särgen bestattet, die Erstkommunion wird in Weiß gefeiert, Bräute gehen mit weißem Schleier und weißem Kleid in die Ehe. Schwarz dagegen ist die Symbol für die Hölle, das Inferno und die Farbe der Leichenwagen; wer Schwarz trägt, trauert, ein schwarzer Tag bedeutet gehäuftes Unglück, ja bereits wenn dunkle Wolken am Himmel erscheinen, bekreuzigen sich Christen und befürchten ein Unwetter."
Unsere Alltagsdiktion transportiert diesen subkutanen Rassismus, den der schwarze Muslim Ali anprangerte, unauffällig weiter: Geld weiß zu waschen ist zwar ein Delikt, aber wenn es gelingt und das schmutzige "schwarze" Geld unbemerkt von Finanz und Zoll wieder "hochweiß" geworden ist, kann es auch ohne Bedenken zum Ankauf von Hostien oder von Priestergewändern verwendet werden.
Dass Schwarz als Hautfarbe schlecht ist, gehört auch im 21. Jahrhundert noch zu den tief verwurzelten Gemeinplätzen, wenn auch die Auswüchse vor hundert Jahren weitaus extremer waren. Die Reklame benutzte um 1912 gerne rassistische Sujets: Seife, welche sogar Afrikaner weiß waschen könne, galt als Werbeschlager. Die französische Firma "Dirtoff" griff dieses Thema auf einem Plakat auf. Vor einem Waschbecken sieht man einen Afrikaner, offenbar für die Gastronomie oder für das Service in einem edlen Haus angezogen, dessen Hände dank "Dirtoff-Seife" weiß wurden: "Le savon de Dirtoff me blanchit", lautet der Jubelschrei.
Mit derartigen Sujets wurde ein tief verwurzeltes Vorurteil tradiert, dass sogar manche afrikanischstämmigen Menschen selbst internalisierten, um nur die Beispiele von Rihanna und Michael Jackson zu nennen. Dieser ist ein Beispiel dafür, wie der lebenslange Traum, weiß zu sein, mit enormem finanziellen Aufwand verfolgt wurde, aber mit einem Ergebnis, das schockierend und letztlich (zumindest indirekt) letal für den Künstler war.
Neben dem Reinwaschen entdeckte die Marktkommunikation, aber auch die Literatur, den putzigen, drolligen "Mohren". Ob der Begriff an sich bereits rassistisch ist, war erst unlängst Gegenstand eines skurrilen Streits und soll hier dahingestellt bleiben, jedenfalls blieb der "Mohr im Hemd" auf der Speisekarte; auch der Meinl-Mohr ist nach wie vor Markenzeichen eines Kaffees, und in Vorarlberg gibt es nach wie vor das beliebte Mohrenbräu.
Verglichen mit anderen Zitaten aus dem frühen 20. Jahrhundert sind kulinarische Mohren-Sujets heute verhältnismäßig harmlos. Vor allem erwecken sie bei den Betroffenen selbst nur selten Ablehnung oder gar Empörung, wie Reportagen zeigten, in denen Afrikaner eher entspannt im Kaffeehaus einen "Mohren im Hemd" zu ihrem kleinen Schwarzen bestellten. In der Tat ist es weitaus wichtiger, angemessen und vorurteilsfrei behandelt zu werden, als eine politisch korrekte Sprachregelung vorzufinden - und dennoch ist es nach wie vor auch dieser kakophonische Ton, der den Missklang des Rassismus im Alltag erzeugen kann.
Literarischer Rassismus
Das führt zu einem kurzen Griff in den Bücherschrank, wo zwei rassistische Stellen bei Autoren auftauchten, denen man keine derartige Einstellung unterstellen wird wollen. Dennoch sind diese Zitate nicht harmlos, sondern zeigen den unbedachten Umgang mit afrikanischstämmigen Menschen in unserer Literatur.
Wer den aus dem Jahr 1911 stammenden, aber erst fünfzehn Jahre später uraufgeführten "Rosenkavalier" von Richard Strauss nicht nur anhört, sondern auch das Libretto von Hofmannsthal liest, wird schon im frivolen ersten Akt auf einen "kleinen Neger in Gelb" stoßen, der noch dazu mit Schellen behangen, und - als Gipfel der Originalität - ausgerechnet Schokolade auf einem Präsentierbrett serviert, während sich der (weiße) Oktavian und die (weiße) Marschallin noch in ihren Gemächern räkeln.
Hugo von Hofmannsthal war sicher kein Rassist, aber um der Ausschmückung einer dekadenten Szene willen stellte er einen afrikanisch-stämmigen Menschen in einer erniedrigenden und politisch unkorrekten Weise dar.
Nicht anders ist eine Aufzeichnung Arthur Schnitzlers aus dem Entstehungsjahr des "Rosenkavaliers" zu beurteilen, der selbst ein kritischer Leser war und vor allem den Rodauner "Hugo" häufig aus Korn nahm. Auch er war gewiss kein Rassist, sondern im Gegenteil Opfer rassistisch motivierter Anwürfe, die ihn als "jüdischen Pornographen" hinstellten; zeit seiner Laufbahn musste er sich mit antisemitischen Anspielungen auseinandersetzen; er empfand sich nicht zu Unrecht als der am meisten geschmähte Schriftsteller aller Zeiten.
Aber ohne es zu wollen, hatte auch Schnitzler den Zeitgeist in sich aufgesogen, was Afrikaner betraf. Eines Abends ereilte ihn so etwas wie ein rassistischer Traum; er träumte von einem "Nigger" (!), der ihm die Hand schütteln wollte und dann bedauerte, dass es so viele "Schwindler seiner Race" in Wien gebe. Kaum zu glauben, dass der sensible Autor solche Zeilen ohne Schamesröte zu Papier brachte. Aber hier fehlte erziehungs- und sozialisierungsbedingt jegliches Bewusstsein dafür, dass diese Beschreibung ein übles Vorurteil bediente.
"Edelmensch" Karl May
Karl May geriet unlängst angesichts der hundertsten Wiederkehr seines Todestags wieder in die Schlagzeilen und war auch Gegenstand von TV-Diskussionen; erstaunlich positiv fiel das Urteil der Leserinnen und Leser aus, die Mays Abenteuerromane von Jugendtagen an verschlungen hatten. War er aber ein Rassist? Wohl kaum. Aber dennoch wird man gerade seine Schriften nicht als besonders förderlich für ein aufgeklärtes und vorurteilsfreies Verständnis gegenüber Afrikanern ansehen können; Masser Bob, Sam und all die anderen lavieren stets an der Grenze zum Tier, wobei sich der Ich-Erzähler zumeist für eine humane Sicht in die Bresche wirft. Auch Winnetou, das Alter Ego des "Edelmenschen", raucht mit Schwarzen die Friedenspfeife - ein Pluspunkt für May.
Aber dennoch kann von Aufklärung keine Rede sein, wie folgende Episode zeigt: "Masser Bob nicht stinken, er sich haben waschen mit Wasser, Seife und Asche". Was hat sich zugetragen? Bob, der treue Freund und Mitarbeiter eines entführten Westernhelden, hat sich an einem Skunk, also einem Stinktier, die Parfümierung geholt, die ihn zur Unperson in "Unter Geiern" macht. Daher muss er sich außerhalb des Lagers der Weißen und der befreundeten Indianer aufhalten und wird mehrfach zum Spott der West-Männer.
Nochmals, der Rassismus tritt hier sozusagen subkutan auf: Zwar betont der Autor, dass auch Schwarze Menschen seien, aber zugleich misst er ihnen Verhaltensweisen und Vorlieben bei, die sie näher dem Tierreich ansiedeln als der Zivilisation. Da hilft es nicht, dass "Masser Bob" treu und todesmutig ist. Er ist in Mays Darstellung nur ein gutherziger Trottel, der von Old Shatterhand großzügig gelobt wird . . .
Wenn heute David Alaba oder Rubin Okotie den Fußballrasen betreten, ist ihnen Jubel sicher. Auch diverse Rapper, die liebliche Rihanna oder die elegante Beyoncé Knowles, habe ihre Anhänger in Europa, so auch in Wien, dessen gesetzteres Opernpublikum einst Grace Bumbry oder Jessye Norman zujubelte - allerdings nur auf der Bühne.
Wenn dunkelhäutige Stars auf eigene Faust die österreichischen Gefilde erkunden wollten, etwa im Taxi oder als Lokalgast, wurde es oft gefährlich oder doch wenigstens ungemütlich. Erst vor rund einem Jahr flog eine Operndiva aus einem vor dem "Sacher" wartenden Taxi, dessen Fahrer kein Opernkenner war. Noch nicht vergessen sind auch die Zeiten, in denen eine anlassbezogene "Lex Belafonte" in Österreich eine Verwaltungsstrafdrohung für jene Personen verankern musste, welche Afrikanern und andern Personen den Zutritt zu einem "öffentlichen Ort" aus rassischen Gründen verweigern. Der Musiker hatte in den Siebzigerjahren nach einem Auftritt am Wörthersee ein Nachtlokal besuchen wollen, war aber wegen seiner Hautfarbe abgewiesen worden.
Zweierlei Maß
Das Gesetz gilt (unter dem Juristenkürzel "EGVG" ) nach wie vor bundesweit. Art III Abs 1 Z 3 EGVG sieht vor, dass jemand, der "Personen allein aufgrund ihrer Rasse, ihrer Hautfarbe, ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft, ihres religiösen Bekenntnisses oder einer Behinderung ungerechtfertigt benachteiligt oder sie hindert, Orte zu betreten oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die für den allgemeinen öffentlichen Gebrauch vorgesehen sind", mit Geldstrafe bis zu 1000 Euro zu bestrafen ist.
Doch das Thema Lokalverbot für Afrikaner ist mit dieser Rechtssprechung noch nicht vom Tisch; nur wird es in Discos mit Titeln wie "Hausordnung", "Dresscodes" und anderen Tricks übertüncht, die den Anschein von "Privatheit" erwecken. Wer kein bekannter Künstler oder Sportler, allenfalls Politiker von Weltrang ist, hat es nach wie vor schwer in unseren Breiten, denn abseits der Bühnen und Sportplätze ist man schnell ein "Dealer", wie ein afrikanischstämmiger Sportlehrer der American International School erfahren musste, der von Polizisten aus der Wiener U-Bahn gezerrt wurde, weil er einem Gesuchten angeblich ähnlich sah.
Von Folterungen wie in den Fällen Bakary S. und katastrophalen Fehleinsätzen mit tödlichem Ausgang wie im "Afrikadorf auf der Donauinsel" muss hier gar nicht gesprochen werden, auch nicht von der Tatsache, dass es die Beamtenministerin in einer Presseaussendung vom 18. August 2012 als großen Fortschritt anpries, dass "künftig" jene Beamten, die wegen Vernachlässigung oder Quälens einer ihr anvertrauten Person (etwa eines Schubhäftlings) verurteilt werden, "automatisch" suspendiert werden, ohne dass es eines Disziplinarverfahrens bedarf, in dem dann findige Anwälte alle möglichen "guten Gründe" vorschieben, warum eine "Abreibung" für einen "renitenten" Afrikaner doch eigentlich geboten war.
Wie gesagt, es gilt nach wie vor die einfache Formel: Auf Bühne, Spielfeld und Laufbahn bist du ein Star, in der U-Bahn aber ein Dealer, als "Partei" oder als Häftling ein "Tier" und in einem Lokal eine Bedrohung für die weißen Mädchen, wie viele Afrikaner ihre Erfahrungen in Österreich auf den Punkt bringen.
Dieses Paradoxon wirkt noch stärker, je "ferner" und berühmter der Betroffene ist. Am wenigsten Probleme haben unsere Landsleute mit Afrikanern im Ausland oder deren Nachfahren, die dort, wo sie leben, zu bleiben geruhen. US-Präsident Obama erfreut sich großer Beliebtheit, und da stört es auch niemanden, dass er afrikanische Wurzeln hat, wie auch der Gabuner Taekwondo-Kämpfer mit dem ähnlich klingenden Namen Obame (Silber in London). Bewunderung gilt Nelson Mandela, große Anerkennung spendet man dem UNO-Sonderbeauftragten Kofi Annan.
Die Karrierewege, die afrikanischstämmigen Menschen offen stehen, um hierzulande anerkannt zu werden, sind: Sport, Kunst, Politik. Aber was ist mit dem Rest, der nicht dieser privilegierten Gruppe angehört?
Schwarz-Weiß-Malerei
Gilt bei uns nach wie vor dasselbe, was Muhammad Ali, einst als Cassius Clay geboren und einer der größten Boxer der USA, auf den Punkt gebracht hat: "Weiß ist gut, Schwarz ist schlecht, so einfach ist das. Der US-Präsident residiert im Weißen Haus, Engel sind weiß, kleine unschuldige Kinder werden in weißen Särgen bestattet, die Erstkommunion wird in Weiß gefeiert, Bräute gehen mit weißem Schleier und weißem Kleid in die Ehe. Schwarz dagegen ist die Symbol für die Hölle, das Inferno und die Farbe der Leichenwagen; wer Schwarz trägt, trauert, ein schwarzer Tag bedeutet gehäuftes Unglück, ja bereits wenn dunkle Wolken am Himmel erscheinen, bekreuzigen sich Christen und befürchten ein Unwetter."
Unsere Alltagsdiktion transportiert diesen subkutanen Rassismus, den der schwarze Muslim Ali anprangerte, unauffällig weiter: Geld weiß zu waschen ist zwar ein Delikt, aber wenn es gelingt und das schmutzige "schwarze" Geld unbemerkt von Finanz und Zoll wieder "hochweiß" geworden ist, kann es auch ohne Bedenken zum Ankauf von Hostien oder von Priestergewändern verwendet werden.
Dass Schwarz als Hautfarbe schlecht ist, gehört auch im 21. Jahrhundert noch zu den tief verwurzelten Gemeinplätzen, wenn auch die Auswüchse vor hundert Jahren weitaus extremer waren. Die Reklame benutzte um 1912 gerne rassistische Sujets: Seife, welche sogar Afrikaner weiß waschen könne, galt als Werbeschlager. Die französische Firma "Dirtoff" griff dieses Thema auf einem Plakat auf. Vor einem Waschbecken sieht man einen Afrikaner, offenbar für die Gastronomie oder für das Service in einem edlen Haus angezogen, dessen Hände dank "Dirtoff-Seife" weiß wurden: "Le savon de Dirtoff me blanchit", lautet der Jubelschrei.
Mit derartigen Sujets wurde ein tief verwurzeltes Vorurteil tradiert, dass sogar manche afrikanischstämmigen Menschen selbst internalisierten, um nur die Beispiele von Rihanna und Michael Jackson zu nennen. Dieser ist ein Beispiel dafür, wie der lebenslange Traum, weiß zu sein, mit enormem finanziellen Aufwand verfolgt wurde, aber mit einem Ergebnis, das schockierend und letztlich (zumindest indirekt) letal für den Künstler war.
Neben dem Reinwaschen entdeckte die Marktkommunikation, aber auch die Literatur, den putzigen, drolligen "Mohren". Ob der Begriff an sich bereits rassistisch ist, war erst unlängst Gegenstand eines skurrilen Streits und soll hier dahingestellt bleiben, jedenfalls blieb der "Mohr im Hemd" auf der Speisekarte; auch der Meinl-Mohr ist nach wie vor Markenzeichen eines Kaffees, und in Vorarlberg gibt es nach wie vor das beliebte Mohrenbräu.
Verglichen mit anderen Zitaten aus dem frühen 20. Jahrhundert sind kulinarische Mohren-Sujets heute verhältnismäßig harmlos. Vor allem erwecken sie bei den Betroffenen selbst nur selten Ablehnung oder gar Empörung, wie Reportagen zeigten, in denen Afrikaner eher entspannt im Kaffeehaus einen "Mohren im Hemd" zu ihrem kleinen Schwarzen bestellten. In der Tat ist es weitaus wichtiger, angemessen und vorurteilsfrei behandelt zu werden, als eine politisch korrekte Sprachregelung vorzufinden - und dennoch ist es nach wie vor auch dieser kakophonische Ton, der den Missklang des Rassismus im Alltag erzeugen kann.
Literarischer Rassismus
Das führt zu einem kurzen Griff in den Bücherschrank, wo zwei rassistische Stellen bei Autoren auftauchten, denen man keine derartige Einstellung unterstellen wird wollen. Dennoch sind diese Zitate nicht harmlos, sondern zeigen den unbedachten Umgang mit afrikanischstämmigen Menschen in unserer Literatur.
Wer den aus dem Jahr 1911 stammenden, aber erst fünfzehn Jahre später uraufgeführten "Rosenkavalier" von Richard Strauss nicht nur anhört, sondern auch das Libretto von Hofmannsthal liest, wird schon im frivolen ersten Akt auf einen "kleinen Neger in Gelb" stoßen, der noch dazu mit Schellen behangen, und - als Gipfel der Originalität - ausgerechnet Schokolade auf einem Präsentierbrett serviert, während sich der (weiße) Oktavian und die (weiße) Marschallin noch in ihren Gemächern räkeln.
Hugo von Hofmannsthal war sicher kein Rassist, aber um der Ausschmückung einer dekadenten Szene willen stellte er einen afrikanisch-stämmigen Menschen in einer erniedrigenden und politisch unkorrekten Weise dar.
Nicht anders ist eine Aufzeichnung Arthur Schnitzlers aus dem Entstehungsjahr des "Rosenkavaliers" zu beurteilen, der selbst ein kritischer Leser war und vor allem den Rodauner "Hugo" häufig aus Korn nahm. Auch er war gewiss kein Rassist, sondern im Gegenteil Opfer rassistisch motivierter Anwürfe, die ihn als "jüdischen Pornographen" hinstellten; zeit seiner Laufbahn musste er sich mit antisemitischen Anspielungen auseinandersetzen; er empfand sich nicht zu Unrecht als der am meisten geschmähte Schriftsteller aller Zeiten.
Aber ohne es zu wollen, hatte auch Schnitzler den Zeitgeist in sich aufgesogen, was Afrikaner betraf. Eines Abends ereilte ihn so etwas wie ein rassistischer Traum; er träumte von einem "Nigger" (!), der ihm die Hand schütteln wollte und dann bedauerte, dass es so viele "Schwindler seiner Race" in Wien gebe. Kaum zu glauben, dass der sensible Autor solche Zeilen ohne Schamesröte zu Papier brachte. Aber hier fehlte erziehungs- und sozialisierungsbedingt jegliches Bewusstsein dafür, dass diese Beschreibung ein übles Vorurteil bediente.
"Edelmensch" Karl May
Karl May geriet unlängst angesichts der hundertsten Wiederkehr seines Todestags wieder in die Schlagzeilen und war auch Gegenstand von TV-Diskussionen; erstaunlich positiv fiel das Urteil der Leserinnen und Leser aus, die Mays Abenteuerromane von Jugendtagen an verschlungen hatten. War er aber ein Rassist? Wohl kaum. Aber dennoch wird man gerade seine Schriften nicht als besonders förderlich für ein aufgeklärtes und vorurteilsfreies Verständnis gegenüber Afrikanern ansehen können; Masser Bob, Sam und all die anderen lavieren stets an der Grenze zum Tier, wobei sich der Ich-Erzähler zumeist für eine humane Sicht in die Bresche wirft. Auch Winnetou, das Alter Ego des "Edelmenschen", raucht mit Schwarzen die Friedenspfeife - ein Pluspunkt für May.
Aber dennoch kann von Aufklärung keine Rede sein, wie folgende Episode zeigt: "Masser Bob nicht stinken, er sich haben waschen mit Wasser, Seife und Asche". Was hat sich zugetragen? Bob, der treue Freund und Mitarbeiter eines entführten Westernhelden, hat sich an einem Skunk, also einem Stinktier, die Parfümierung geholt, die ihn zur Unperson in "Unter Geiern" macht. Daher muss er sich außerhalb des Lagers der Weißen und der befreundeten Indianer aufhalten und wird mehrfach zum Spott der West-Männer.
Nochmals, der Rassismus tritt hier sozusagen subkutan auf: Zwar betont der Autor, dass auch Schwarze Menschen seien, aber zugleich misst er ihnen Verhaltensweisen und Vorlieben bei, die sie näher dem Tierreich ansiedeln als der Zivilisation. Da hilft es nicht, dass "Masser Bob" treu und todesmutig ist. Er ist in Mays Darstellung nur ein gutherziger Trottel, der von Old Shatterhand großzügig gelobt wird . . .
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Gerhard Strejcek
Oberste Richtlinie ist der Spielerschutz
Salzburger Nachrichten, 12.09.2012
Höchstgerichte. Der EuGH erklärte das österreichische Werbeverbot für ausländische Spielbanken für konform. Es seien nationale Sondervorschriften zulässig.
Mit Urteil vom 12. 7. 2012, C-176/11, hat der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren das österreichische Casino-Werbeverbot für ausländische Anbieter geprüft und für rechtens befunden. Der EuGH hat zu der vom VwGH vorgelegten Frage in der Sache Hit/Hit Larix (das sind slowenische Casinobetreiber) entschieden, dass angesichts der Verschiedenheit der Maßnahmen im Glücksspielsektor in Europa nationale Sondervorschriften zulässig sind, sofern sie dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen und in kohärenter Weise dem Spielerschutz dienen.
Die Judikatur erlaubt daher auch strenge nationale Maßnahmen, die nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßen. Der EuGH hat schon mit Urteil vom 8. 9. 2010 im Fall Marcus Stoß C-316/07 betont, dass gesetzliche, nationale Maßnahmen auch restriktiv sein dürfen, wenn sie dem Gebot einer dem Spielerschutz verpflichteten Glücksspielpolitik folgen.Bewilligung ist erforderlich Der EuGH untersuchte konkret die EU-Konformität der Regelung, wonach eine Bewilligung des BMF zur Legalisierung der Werbung für das ausländische Casino im Inland a) erforderlich und b) nur dann zu erteilen ist, wenn das betreffende Land einen der österreichischen Spielerschutzregelung (§ 25) entsprechenden Schutz gewährleistet. Fehlt diese Bewilligung, ist Werbung für ausländisches Casinos verboten.
Die Beschwerdeführer hatten sich erfolglos um eine Bewilligung bemüht, die mangels adäquaten Spielerschutzes in Slowenien vom BMF nicht erteilt wurde. Ergebnis des EuGH: Eine solche Bedingung ist mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar, solange sie nicht idente Schutzregelungen im Herkunftsstaat der Anbieter verlangt wie in jenem Staat, der diese Regel erlässt. Über die Abweisung des Ansuchens der slowenischen Spielbankbetreiber durch das BMF entscheidet nun der VwGH im fortgesetzten Verfahren. Wichtig erscheint aber, dass die österreichische Rechtslage in diesem Punkt dem europäischen Recht entspricht.
Die Spielbankenkonzessionen wurden vor einiger Zeit allesamt neu ausgeschrieben; die Bundesministerin für Finanzen (BMF) wählte dabei eine besondere Form der Interessentensuche, indem die Konzessionen in ein Stadt- und in ein Land-Paket aufgetrennt bzw. zusammengefasst wurden. Hintergrund dieser Überlegung, die in einen Erlass Eingang fand, war, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen sich im urbanen Raum von jenen auf dem Land unterscheiden. Klares Wort vom VfGH So haben z. B. die Casinos in Velden und in Bad Gastein einen reinen Saisonbetrieb und werden sonst nur selten aufgesucht. Ähnliches gilt im Kleinen Walsertal; hingegen sind die Spielbanken in den Landeshauptstädten und in der Bundeshauptstadt Wien laut BMF wirtschaftlich anders zu beurteilen.
Zur aktuellen Rechtslage im Glücksspielrecht hat der VfGH mit Beschluss vom 11. 6. 2012, V 129-9, in der letzten Session eine wichtige Grundsatzfrage entschieden. Die generellen Vorschriften, die im Zuge der Interessentensuche für Spielbankkonzessionen vom BMF erlassen wurden, bleiben aufrecht.
Mehrere Bewerber hatten mit Individualantrag auf Normenkontrolle (Verordnungsprüfung nach Art 139 B-VG) einen Erlass des BMF beim VfGH angefochten, welcher eine paketweise Interessentensuche bzw „Ausschreibung“ (Stadt/Land) von mehreren Konzessionen im Paket für Casinos (= Spielbanken) vorsieht.
Gegen die Gesetzmäßigkeit dieses Erlasses sind in der Lehre Bedenken (Mayer, ecolex 2012, 174) formuliert worden, doch ist hier laut VfGH Geduld geboten; vor Abschluss des Konzessionsverfahrens kann diese Frage aufgrund der ständigen Judikatur nicht geklärt werden, welche den Individualantrag nur als subsidiären und in seltenen Fällen zulässigen Rechtsbehelf qualifiziert.
Voraussetzung ist ein aktueller Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen, der unmittelbar, d. h. ohne Bescheid oder Urteil wirksam wird. Vielfach sind aber in der Verwaltungsrechtsordnung Bescheide zur Klärung einer Einzelfrage vorgesehen, so auch hier im Zuge der Konzessionserteilung für die diversen „Entertainment“-Betriebe, die sich neu in Österreich auf dem Casinosektor etablieren wollen.
Das Höchstgericht wies die Individualanträge beschlussförmig zurück, weil ein zumutbarer Umweg über die Bewerbung besteht und daher erst bei einer allfälligen Bescheidprüfung nach Konzessionserteilung die Frage der Gesetzmäßigkeit des Erlasses geprüft werden kann. Ein Verfahren in aller Ruhe Damit ist die Vorgangsweise des BMF zwar noch nicht abgesichert, aber es kann das weitere Verfahren in Ruhe beendet werden. Die allfälligen Beschwerden danach werden erst zeigen, ob die Ausschreibung dem GSpG 1989 entsprochen hat. Da es sich aber um kein Verfahren nach dem BVergG, sondern um eine Aufforderung zur Antragstellung nach dem AVG handelt, eröffnet sich eine verfassungskonforme Auslegung, weil die paketweise Bewerbung auch als Einladung bzw. verwaltungsökonomische Zusammenfassung mehrerer Bewilligungsvorgänge angesehen werden kann. Eine Einzelbewilligung wäre dennoch zulässig, auch ein Antrag für ein einzelnes Casino könnte vom BMF bewilligt werden.
Mit Urteil vom 12. 7. 2012, C-176/11, hat der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren das österreichische Casino-Werbeverbot für ausländische Anbieter geprüft und für rechtens befunden. Der EuGH hat zu der vom VwGH vorgelegten Frage in der Sache Hit/Hit Larix (das sind slowenische Casinobetreiber) entschieden, dass angesichts der Verschiedenheit der Maßnahmen im Glücksspielsektor in Europa nationale Sondervorschriften zulässig sind, sofern sie dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen und in kohärenter Weise dem Spielerschutz dienen.
Die Judikatur erlaubt daher auch strenge nationale Maßnahmen, die nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßen. Der EuGH hat schon mit Urteil vom 8. 9. 2010 im Fall Marcus Stoß C-316/07 betont, dass gesetzliche, nationale Maßnahmen auch restriktiv sein dürfen, wenn sie dem Gebot einer dem Spielerschutz verpflichteten Glücksspielpolitik folgen.Bewilligung ist erforderlich Der EuGH untersuchte konkret die EU-Konformität der Regelung, wonach eine Bewilligung des BMF zur Legalisierung der Werbung für das ausländische Casino im Inland a) erforderlich und b) nur dann zu erteilen ist, wenn das betreffende Land einen der österreichischen Spielerschutzregelung (§ 25) entsprechenden Schutz gewährleistet. Fehlt diese Bewilligung, ist Werbung für ausländisches Casinos verboten.
Die Beschwerdeführer hatten sich erfolglos um eine Bewilligung bemüht, die mangels adäquaten Spielerschutzes in Slowenien vom BMF nicht erteilt wurde. Ergebnis des EuGH: Eine solche Bedingung ist mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar, solange sie nicht idente Schutzregelungen im Herkunftsstaat der Anbieter verlangt wie in jenem Staat, der diese Regel erlässt. Über die Abweisung des Ansuchens der slowenischen Spielbankbetreiber durch das BMF entscheidet nun der VwGH im fortgesetzten Verfahren. Wichtig erscheint aber, dass die österreichische Rechtslage in diesem Punkt dem europäischen Recht entspricht.
Die Spielbankenkonzessionen wurden vor einiger Zeit allesamt neu ausgeschrieben; die Bundesministerin für Finanzen (BMF) wählte dabei eine besondere Form der Interessentensuche, indem die Konzessionen in ein Stadt- und in ein Land-Paket aufgetrennt bzw. zusammengefasst wurden. Hintergrund dieser Überlegung, die in einen Erlass Eingang fand, war, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen sich im urbanen Raum von jenen auf dem Land unterscheiden. Klares Wort vom VfGH So haben z. B. die Casinos in Velden und in Bad Gastein einen reinen Saisonbetrieb und werden sonst nur selten aufgesucht. Ähnliches gilt im Kleinen Walsertal; hingegen sind die Spielbanken in den Landeshauptstädten und in der Bundeshauptstadt Wien laut BMF wirtschaftlich anders zu beurteilen.
Zur aktuellen Rechtslage im Glücksspielrecht hat der VfGH mit Beschluss vom 11. 6. 2012, V 129-9, in der letzten Session eine wichtige Grundsatzfrage entschieden. Die generellen Vorschriften, die im Zuge der Interessentensuche für Spielbankkonzessionen vom BMF erlassen wurden, bleiben aufrecht.
Mehrere Bewerber hatten mit Individualantrag auf Normenkontrolle (Verordnungsprüfung nach Art 139 B-VG) einen Erlass des BMF beim VfGH angefochten, welcher eine paketweise Interessentensuche bzw „Ausschreibung“ (Stadt/Land) von mehreren Konzessionen im Paket für Casinos (= Spielbanken) vorsieht.
Gegen die Gesetzmäßigkeit dieses Erlasses sind in der Lehre Bedenken (Mayer, ecolex 2012, 174) formuliert worden, doch ist hier laut VfGH Geduld geboten; vor Abschluss des Konzessionsverfahrens kann diese Frage aufgrund der ständigen Judikatur nicht geklärt werden, welche den Individualantrag nur als subsidiären und in seltenen Fällen zulässigen Rechtsbehelf qualifiziert.
Voraussetzung ist ein aktueller Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen, der unmittelbar, d. h. ohne Bescheid oder Urteil wirksam wird. Vielfach sind aber in der Verwaltungsrechtsordnung Bescheide zur Klärung einer Einzelfrage vorgesehen, so auch hier im Zuge der Konzessionserteilung für die diversen „Entertainment“-Betriebe, die sich neu in Österreich auf dem Casinosektor etablieren wollen.
Das Höchstgericht wies die Individualanträge beschlussförmig zurück, weil ein zumutbarer Umweg über die Bewerbung besteht und daher erst bei einer allfälligen Bescheidprüfung nach Konzessionserteilung die Frage der Gesetzmäßigkeit des Erlasses geprüft werden kann. Ein Verfahren in aller Ruhe Damit ist die Vorgangsweise des BMF zwar noch nicht abgesichert, aber es kann das weitere Verfahren in Ruhe beendet werden. Die allfälligen Beschwerden danach werden erst zeigen, ob die Ausschreibung dem GSpG 1989 entsprochen hat. Da es sich aber um kein Verfahren nach dem BVergG, sondern um eine Aufforderung zur Antragstellung nach dem AVG handelt, eröffnet sich eine verfassungskonforme Auslegung, weil die paketweise Bewerbung auch als Einladung bzw. verwaltungsökonomische Zusammenfassung mehrerer Bewilligungsvorgänge angesehen werden kann. Eine Einzelbewilligung wäre dennoch zulässig, auch ein Antrag für ein einzelnes Casino könnte vom BMF bewilligt werden.
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Gerhard Strejcek
Wehrpflicht hin, Abstimmung her?
Der Standard, 29.08.2012
Über das Absurde an der direkten Demokratie am Beispiel der Debatte um eine Volksbefragung über die Zukunft des Bundesheeres
Über die Misere der direkten Demokratie in Österreich braucht man nicht lange räsonieren. Sie wurde (zunächst ohne das Instrument der Volksbefragung) bewusst als Fehlzünder in die Verfassung implementiert, weil sich die Redaktoren darüber einig waren, dass in erster Linie das Parlament, nicht das Volk Normen setzen sollte. Und das war und ist auch sinnvoll so, wie die erneut aufgeflammte Debatte rund um die Abschaffung der Wehrpflicht zeigt.
Kraft verfassungsgesetzlicher Vorschriften müsste sowohl eine Volksabstimmung (Neufassung einiger Regeln der Bundesverfassung, des Wehrgesetzes oder Wehrpflicht-Beendigungs- bzw Berufsarmeegesetzes) als auch eine allfällige Volksbefragung (unabhängig vom Gesetzesentwurf) vom Bundespräsidenten aufgrund eines Parlamentsbeschlusses anberaumt werden. Stimmberechtigt sind sodann die zum Nationalrat Wahlberechtigten.
Doch wie immer das Verfahren abläuft und welches Instrument das probate sein mag, die demokratiepolitische Grundsatzfrage bleibt gerade in diesem Fall bestehen und offenbart ein gravierendes Dilemma: Wer ist eigentlich von der Abstimmungsfrage rechtlich und faktisch (noch) betroffen und wer stimmt darüber ab?
Hier fallen zwei Gruppen in auffälliger Weise auseinander: Diejenigen, welche von der gegenwärtigen Wehrpflicht in Ausführung des Art. 9a B-VG betroffen sind, können mit dem Kreis von zum Wehr- oder Ersatzdienst (Zivildienst) tauglichen Männern in einem gewissen Alter umschrieben werden. Weniger betroffen sind jene Männer, die ihren Dienst bereits geleistet haben, die hiezu untauglich sind oder die Altersgrenze überschritten haben, bis zu der ein Einberufungsbefehl noch zulässig ist.
Am wenigsten rechtlich oder faktisch betroffen sind (alle) Frauen. Diejenigen, die abstimmen dürften, sind aber alle vom Wahlrecht nicht ausgeschlossenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die spätestens am Abstimmungstag das 16. Lebensjahr erreicht haben.
Antifeministische Sicht?
Man mag die folgende Überlegung als maskuline, antifeministische Sicht brandmarken, aber sie hat, wie die folgenden, rhetorischen Fragen zeigen sollen, gute Gründe für sich; denn was ist im Rahmen dieser Gruppe mit der rechtlichen und faktischen Betroffenheit der Frauen hinsichtlich a) der geltenden und b) einer neuen Regelung? In Österreich gibt es nur ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes, subjektives Recht, nicht aber die Wehrpflicht bzw. die konkrete Pflicht für weibliche Bewerberinnen (zwangsweise) zum Wehr- oder Zivildienst einberufen zu werden. Was aber ist mit dem Gros der Frauen, die mit dem Bundesheer nichts "am Hut haben"? Geht es hier um Mütter oder Lebensgefährtinnen, Schwestern, Gattinnen? Ist es angenehmer, den wehrpflichtigen Sohn zu Hause und "auf der Tasche" zu haben oder beim Heer mit einem gewissen Taggeld und strengerer Ausgehdisziplin zu wissen? Ist es schöner, den Gefährten nur zeitweise in voller Ausgeh-Freiheit zu sehen? Erfüllt es mit mehr Stolz, einen Berufssoldaten in einer Profi-Truppe zum Partner zu haben als einen simplen "Wehrdiener"? Absurde Überlegungen oder? Aber sie zeigen zumindest eines deutlich auf: Die Frage der Wehrpflicht für junge Männer tangiert die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe, nämlich jene der stimmfähigen Frauen, nur äußerst peripher.
Dasselbe gilt aber auch für die männlichen Stimmberechtigten, die entweder wegen Untauglichkeit oder des Privilegs eines "weißen Jahrganges" nicht zum Bundesheer mussten oder den Wehr- oder Zivildienst schon abgeleistet haben; Welche Motive leiten diese Gruppe? Sollen diese " Jungen" nun auch im Stacheldrahtverhau robben oder soll diese elitäre Aufgabe einer angeblich so effizienten Berufsarmee auf Freiwilligenbasis vorbehalten bleiben? Warum soll diese Frage von Männern entschieden werden, die bereits ihre eigenen, oft frustrierenden Erfahrungen mit dem Bundesheer schon gemacht haben?
Die Antwort auf all diese Fragen ist denkbar einfach: Die Materie eignet sich schlichtweg nicht für ein Instrument der direkten Demokratie (vom Volksbegehren, das nicht zur Debatte steht und das von Betroffenen ausgehen könnte, abgesehen).
Daher soll das Parlament in freier Mehrheitsbindung darüber entscheiden, wie es die Verfassung auch vorsieht. Und die solcherart eingesparten Kosten für eine sinnlose Befragung sollten gleich für das Bundesheer und seine wertvollen Angehörigen, gleichgültig in welcher Gestalt, reserviert werden.
Über die Misere der direkten Demokratie in Österreich braucht man nicht lange räsonieren. Sie wurde (zunächst ohne das Instrument der Volksbefragung) bewusst als Fehlzünder in die Verfassung implementiert, weil sich die Redaktoren darüber einig waren, dass in erster Linie das Parlament, nicht das Volk Normen setzen sollte. Und das war und ist auch sinnvoll so, wie die erneut aufgeflammte Debatte rund um die Abschaffung der Wehrpflicht zeigt.
Kraft verfassungsgesetzlicher Vorschriften müsste sowohl eine Volksabstimmung (Neufassung einiger Regeln der Bundesverfassung, des Wehrgesetzes oder Wehrpflicht-Beendigungs- bzw Berufsarmeegesetzes) als auch eine allfällige Volksbefragung (unabhängig vom Gesetzesentwurf) vom Bundespräsidenten aufgrund eines Parlamentsbeschlusses anberaumt werden. Stimmberechtigt sind sodann die zum Nationalrat Wahlberechtigten.
Doch wie immer das Verfahren abläuft und welches Instrument das probate sein mag, die demokratiepolitische Grundsatzfrage bleibt gerade in diesem Fall bestehen und offenbart ein gravierendes Dilemma: Wer ist eigentlich von der Abstimmungsfrage rechtlich und faktisch (noch) betroffen und wer stimmt darüber ab?
Hier fallen zwei Gruppen in auffälliger Weise auseinander: Diejenigen, welche von der gegenwärtigen Wehrpflicht in Ausführung des Art. 9a B-VG betroffen sind, können mit dem Kreis von zum Wehr- oder Ersatzdienst (Zivildienst) tauglichen Männern in einem gewissen Alter umschrieben werden. Weniger betroffen sind jene Männer, die ihren Dienst bereits geleistet haben, die hiezu untauglich sind oder die Altersgrenze überschritten haben, bis zu der ein Einberufungsbefehl noch zulässig ist.
Am wenigsten rechtlich oder faktisch betroffen sind (alle) Frauen. Diejenigen, die abstimmen dürften, sind aber alle vom Wahlrecht nicht ausgeschlossenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die spätestens am Abstimmungstag das 16. Lebensjahr erreicht haben.
Antifeministische Sicht?
Man mag die folgende Überlegung als maskuline, antifeministische Sicht brandmarken, aber sie hat, wie die folgenden, rhetorischen Fragen zeigen sollen, gute Gründe für sich; denn was ist im Rahmen dieser Gruppe mit der rechtlichen und faktischen Betroffenheit der Frauen hinsichtlich a) der geltenden und b) einer neuen Regelung? In Österreich gibt es nur ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes, subjektives Recht, nicht aber die Wehrpflicht bzw. die konkrete Pflicht für weibliche Bewerberinnen (zwangsweise) zum Wehr- oder Zivildienst einberufen zu werden. Was aber ist mit dem Gros der Frauen, die mit dem Bundesheer nichts "am Hut haben"? Geht es hier um Mütter oder Lebensgefährtinnen, Schwestern, Gattinnen? Ist es angenehmer, den wehrpflichtigen Sohn zu Hause und "auf der Tasche" zu haben oder beim Heer mit einem gewissen Taggeld und strengerer Ausgehdisziplin zu wissen? Ist es schöner, den Gefährten nur zeitweise in voller Ausgeh-Freiheit zu sehen? Erfüllt es mit mehr Stolz, einen Berufssoldaten in einer Profi-Truppe zum Partner zu haben als einen simplen "Wehrdiener"? Absurde Überlegungen oder? Aber sie zeigen zumindest eines deutlich auf: Die Frage der Wehrpflicht für junge Männer tangiert die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe, nämlich jene der stimmfähigen Frauen, nur äußerst peripher.
Dasselbe gilt aber auch für die männlichen Stimmberechtigten, die entweder wegen Untauglichkeit oder des Privilegs eines "weißen Jahrganges" nicht zum Bundesheer mussten oder den Wehr- oder Zivildienst schon abgeleistet haben; Welche Motive leiten diese Gruppe? Sollen diese " Jungen" nun auch im Stacheldrahtverhau robben oder soll diese elitäre Aufgabe einer angeblich so effizienten Berufsarmee auf Freiwilligenbasis vorbehalten bleiben? Warum soll diese Frage von Männern entschieden werden, die bereits ihre eigenen, oft frustrierenden Erfahrungen mit dem Bundesheer schon gemacht haben?
Die Antwort auf all diese Fragen ist denkbar einfach: Die Materie eignet sich schlichtweg nicht für ein Instrument der direkten Demokratie (vom Volksbegehren, das nicht zur Debatte steht und das von Betroffenen ausgehen könnte, abgesehen).
Daher soll das Parlament in freier Mehrheitsbindung darüber entscheiden, wie es die Verfassung auch vorsieht. Und die solcherart eingesparten Kosten für eine sinnlose Befragung sollten gleich für das Bundesheer und seine wertvollen Angehörigen, gleichgültig in welcher Gestalt, reserviert werden.
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Gerhard Strejcek
Parkpickerl: Auf die Frage kommt es an
Der Standard, 17.07.2012
Über suggestive Formulierungen kann die Stadt Wien die Volksbefragung nicht gewinnen
Zurzeit tobt eine Art Volksbefragungs-Krieg um die Zukunft der Parkraumbewirtschaftung in Wien. Dieser Konflikt hat mehrere Schauplätze, einen rein politischen Diskurs sowie einen Gutachterstreit, ob die Stadtverfassung überhaupt eine Volksbefragung in einer Angelegenheit zulässt, welche Abgaben berührt. Dabei gibt es eine viel wichtigere Frage, nämlich die nach dem konkreten Inhalt der Volksbefragung. Die Fragestellung, welche die Ausweitung der flächendeckenden Kurzparkzonen als (nicht nur abgabenrelevante) Verkehrsangelegenheit betrifft, sollte indes am besten im Konsens gefunden werden, und sie sollte(n) klar und eindeutig sein.
Bürgermeister und Vizebürgermeisterin haben längst erkannt, dass der Zug Richtung direktdemokratischer Beteiligung bereits abgefahren ist und sich jetzt nur noch die Alternative bietet, entweder das Gesetz des Handelns und damit die Volksbefragung selbst zu bestimmen oder dieses Feld kampflos der Opposition zu überlassen. Wir befinden uns bereits in der Vorbereitungsphase einer wichtigen direktdemokratischen Veranstaltung.
Fragestellung
Daher darf hier gleich an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs erinnert werden, wonach eine Fragestellung bei einer Befragung nicht suggestiv sein darf. In einem Erkenntnis (VfSlg 15.816/2000) hat der VfGH klargestellt, dass "das Substrat dessen, was den Wahlberechtigten zur Entscheidung vorgelegt wird, klar und eindeutig" sein muss. Die unverschämte Grazer Frage nach einer Verlängerung einer Straßenbahnlinie, die angeblich zu einer Verbesserung des öffentlichen Verkehrs nichts beitragen konnte, führte zur Aufhebung der Verordnung, welche die Frage festlegte, und zur Nichtigerklärung des gesamten Verfahrens der Grazer Volksbefragung.
Wenn sich Wien das ersparen will, werden Beisätze wie "Luftverbesserung" , "Linderung der Parkplatznot" und ähnliche Euphemismen dort bleiben müssen, wo sie hingehören: im Inseratenreich der Fantasie. Und da bei einer klaren Frage nach Ausweitung der Zonen die Antwort von rund 150. 000 Stimmberechtigten jetzt schon klar ist, wäre es das Beste, auch verkehrspolitische Alternativen wie die gar nicht so abwegige Einfahrtsmaut für Kfz ohne Wiener Kennzeichen aufs Tapet zu bringen. Denn die Citymaut, die bei der letzten Volksbefragung (übrigens auch ohne Hemmung bezüglich der Abgaben-Nähe) viel zu nebulos erfragt wurde, hätte denselben oder sogar einen stärkeren Lenkungs- und Abgabeneffekt für die Stadt, ohne die Bevölkerung der westlichen Gemeindebezirke zur Kasse bitten zu müssen. Vielleicht würden das die Stimmberechtigten im Herbst des Jahres auch mehrheitlich so sehen, weshalb anzuregen ist, diese Frage präziser (z. B. Maut ab Stadtgrenze für Nichtwiener Fahrzeuge) neuerlich zu stellen.
Zurzeit tobt eine Art Volksbefragungs-Krieg um die Zukunft der Parkraumbewirtschaftung in Wien. Dieser Konflikt hat mehrere Schauplätze, einen rein politischen Diskurs sowie einen Gutachterstreit, ob die Stadtverfassung überhaupt eine Volksbefragung in einer Angelegenheit zulässt, welche Abgaben berührt. Dabei gibt es eine viel wichtigere Frage, nämlich die nach dem konkreten Inhalt der Volksbefragung. Die Fragestellung, welche die Ausweitung der flächendeckenden Kurzparkzonen als (nicht nur abgabenrelevante) Verkehrsangelegenheit betrifft, sollte indes am besten im Konsens gefunden werden, und sie sollte(n) klar und eindeutig sein.
Bürgermeister und Vizebürgermeisterin haben längst erkannt, dass der Zug Richtung direktdemokratischer Beteiligung bereits abgefahren ist und sich jetzt nur noch die Alternative bietet, entweder das Gesetz des Handelns und damit die Volksbefragung selbst zu bestimmen oder dieses Feld kampflos der Opposition zu überlassen. Wir befinden uns bereits in der Vorbereitungsphase einer wichtigen direktdemokratischen Veranstaltung.
Fragestellung
Daher darf hier gleich an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs erinnert werden, wonach eine Fragestellung bei einer Befragung nicht suggestiv sein darf. In einem Erkenntnis (VfSlg 15.816/2000) hat der VfGH klargestellt, dass "das Substrat dessen, was den Wahlberechtigten zur Entscheidung vorgelegt wird, klar und eindeutig" sein muss. Die unverschämte Grazer Frage nach einer Verlängerung einer Straßenbahnlinie, die angeblich zu einer Verbesserung des öffentlichen Verkehrs nichts beitragen konnte, führte zur Aufhebung der Verordnung, welche die Frage festlegte, und zur Nichtigerklärung des gesamten Verfahrens der Grazer Volksbefragung.
Wenn sich Wien das ersparen will, werden Beisätze wie "Luftverbesserung" , "Linderung der Parkplatznot" und ähnliche Euphemismen dort bleiben müssen, wo sie hingehören: im Inseratenreich der Fantasie. Und da bei einer klaren Frage nach Ausweitung der Zonen die Antwort von rund 150. 000 Stimmberechtigten jetzt schon klar ist, wäre es das Beste, auch verkehrspolitische Alternativen wie die gar nicht so abwegige Einfahrtsmaut für Kfz ohne Wiener Kennzeichen aufs Tapet zu bringen. Denn die Citymaut, die bei der letzten Volksbefragung (übrigens auch ohne Hemmung bezüglich der Abgaben-Nähe) viel zu nebulos erfragt wurde, hätte denselben oder sogar einen stärkeren Lenkungs- und Abgabeneffekt für die Stadt, ohne die Bevölkerung der westlichen Gemeindebezirke zur Kasse bitten zu müssen. Vielleicht würden das die Stimmberechtigten im Herbst des Jahres auch mehrheitlich so sehen, weshalb anzuregen ist, diese Frage präziser (z. B. Maut ab Stadtgrenze für Nichtwiener Fahrzeuge) neuerlich zu stellen.
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Gerhard Strejcek,
Bänkelsänger im Biedermeier
Wiener Zeitung, 23.3.2012
Vor dem Hintergrund des (vorgeblichen) wirtschaftlichen Unterganges sowie allerlei sonstigen Endzeitprognosen erstand in den letzten Jahren eine neue, bodenständig-folkige
musikalische Ästhetik, deren Interpreten sich hören lassen können.
Befreit vom Stigma der "volkstümlichen" Musik und mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattet, gibt eine
global boomende Singer-Songwriter-Szene markante Lebenszeichen von sich, während halb Europa und Nordamerika in einer Kakophonie allgemeinen Jammerns und Schlechtredens
unterzugehen scheinen.
Liegt im aufwandmäßig eher bescheidenen Auftreten der Singer/Songwriter eine neue Variante des Biedermeier? Handelt es sich um ein Rückbesinnen auf "gesicherte" Werte?
Oder haben die technisch versierten Bänkelsänger(innen) gar die heimlichen Regeln eines neuen Marktes erkannt?
Neue Bescheidenheit
Gerade in sogenannten schlechten Zeiten tauchen zwischen den Misstönen des Finanzmarktgezeters erstaunliche musikalische Wohlklänge auf. Down- sizing und eine neue Bescheidenheit sind angesagt, Sattelschlepper voller PA-Technik fahren heutzutage nur mehr den Oldstars einer sterbenden "Dinosaurierszene" nach. Ebenso wie plötzlich wieder Strick- und Nähgeschäfte ihre Pforten öffnen, genügt zum Singing/Songwriting fürs Erste eine akustische Gitarre mit Pickup und Mikrophon, um einen Song zu performen. Mit einer Bassistin und einem Perkussionisten ist das kleine Ensemble oft bereits komplett.
Singing/Songwriting hat sich still und unauffällig einen Rang zurückerobert, an welchem die aus dem Boden sprießenden TV-Formate in "Servus", ORF III, Arte und 3-Sat und der Musikjournalismus in Printmedien nicht mehr vorbei können, von millionenfachen Aufrufen auf "youtube" und anderen Internet-Plattformen gar nicht zu reden. Und auch die mittelgroßen Clubs und kleineren Hallen füllen Vertreter dieser Szene mittlerweile immer öfter.
Betrachtet man die in den letzten Jahren etablierte Szene von der ideellen Seite her, dann lässt sich fast nur Positives erkennen. Als Gegenpol zu einer Unkultur der Mega-Events und des längst sinnlos gewordenen Strebens nach dem ultimativen Airplay-Hit ist in den letzten Jahren so etwas wie eine neue Ehrlichkeit in die populäre Tonkunst eingetreten. Bodenständigkeit ohne das stadl-artige Stigma des Volkstümlichen, originelle und folkige Ins-trumentierung, das unverzerrte Hörbarmachen der Stimme ohne Echobombastik und stattdessen akustische Instrumentierung und originelle Riffs zählen zu den Ingredienzien, die sich schon in den Sechzigerjahren bewährt hatten.
Nun könnte man einwenden, das sei somit nichts Neues, sondern nur eine Renaissance bewährter und, so gesehen, "guter alter" Werte. Aber Halt - es ist eben doch mehr als das bloße Blankpolieren alter Messinggriffe, was hier passiert. So nehmen die Interpret(inn)en nicht nur das "Folkbuch" von Peter Bursch oder das Great American Songbook zur Hand und warten mit (alt-)bekannten Standards auf. Nein, hier ist deutlich mehr zu hören, es entsteht musikalisch und textlich Originelles, Anregendes und Beschwingtes, was man angesichts der Begrenztheit von Akkorden, Melodien und den ausgereizt scheinenden Gitarrensounds nach mehreren Jahrzehnten Pop-, Folk- und Blueserfahrung gar nicht mehr erwartet hätte.
Ist es zwar der Traum aller musikalisch aktiven Sechzehnjährigen, als Joan Baez oder Bob Dylan der Postmoderne aufzutreten, so stellt sich doch jedem die Frage: Kann ich mit der Klampfe in der Hand und einem fröhlichen Lied auf den Lippen als Bänkelsänger(in) wirtschaftlich überleben? Ja und nein. Wenn es so etwas wie einen Musikmarkt in Zeiten von Streamingdiensten wie Spotify, jederzeit verfügbaren youtube-Videos und einem raschen Google-Sucherfolg samt passabler Wiedergabequalität überhaupt noch geben sollte, dann scheinen Künstlerinnen wie Amali Ward (AUS), Priska Zemp alias Heidihappy (CH), Trixie Whitley (GB), Anja Plaschg alias Soap & Skin (A) oder die beiden deutschen Singer/Songwriter Tom Lüneburger und Tim Bendzko flagrant gegen die "Gesetze" dieses ökonomischen Regulativs zu verstoßen.
Medium für Reisefaule
Allerdings wird nur derjenige, der die Konsequenz hat, sich durch eine Armada kleiner und mittelgroßer Veranstaltungslocations zu arbeiten, längerfristig auch eine wirtschaftliche Basis vorfinden, die eine Existenz sichert. So konnte etwa Tim Bendzko selbst in Österreich in vollen Hallen auftreten, und Priska Zemp alias Heidihappy tourt im März/April unermüdlich durch alle Kantone der Schweiz. Dazu kommt der ständig aktualisierte Auftritt im Medium für Reisefaule: Heute sind transparente Websites, Videos, Streams, jederzeit aufrufbare Tourpläne, 1A-Fotos und ein Booking-Management unabdingbar geworden - was doch einigermaßen im Widerspruch zur neuen Bescheidenheit zu stehen scheint . . .
Dass Singer/Songwriter scheinbar unbeschwert und unbelastet von Marktzwängen auftreten können, dürfte also ein Märchen oder zumindest eine Fabel sein. Vielmehr ist der Aufwand an Arbeit, die ihnen neben der künstlerischen Substanz abverlangt wird, noch gestiegen. Nehmen wir als Beispiel den 51-jährigen Singer/Songwriter Lloyd Cole. Der gebürtige Schotte mit New Yorker Wohnsitz erscheint mit seinem "Small Ensemble" regelmäßig in Europa, beantwortet auf seinem Blog geduldig alle Fragen - und stellt alle seine Songs, die auf dem Hamburger Tapete-Label erscheinen, als Mono-Streams in voller Länge ins Netz. Vorbildhaft, würde man meinen, zugleich aber ein nicht unerheblicher Aufwand, wenn man das halbe Jahr auf Tour quer durch die Welt ist. Aber will man als Künstler, egal ob Newcomer oder Routinier, bestehen, dann führt kein Weg an eigenständigem Marketing, professioneller Kommunikation und eiserner Disziplin on tour vorbei. Um die eingangs gestellten Fragen auch zu beantworten, wäre dreimal "Ja" anzukreuzen. Singing/Songwriting indiziert heute - anders als 1968 - nicht den Protest und den Anspruch, die Massen zu erreichen, sondern steht für den professionell unterstützten Versuch, eine anspruchsvolle Zielgruppe zu erreichen und möglichst längerfristig zu behalten.
Das ist eher ein Rückzug von der "Aufklärung" ins Alltägliche - und entspricht daher tatsächlich mehr dem Biedermeier, welche Epoche ja auch guten Geschmack und Häuslichkeit bei geringer politischer Aktivität nach außen hin zum Kennzeichen hatte.
Dem entspricht auch die Rückbesinnung auf Werte wie perfektes Performing, Kreativität und Vielseitigkeit, gegenüber Erscheinungen wie Overdubs, Playback-mode, Leibesvisitation und 125-Dezibel-Schalldruck bei Konzerten. Und schließlich eröffnet diese Art der Markterschließung längerfristig auch eine beständige, wenn auch nicht üppig sprudelnde Einnahmequelle. Vielleicht kann so die Macht der Veranstalter, der großen Labels und der Musikindustrie zumindest eingeschränkt werden.
Der Weltuntergang findet also - musikalisch - vorläufig nicht statt . . .
Neue Bescheidenheit
Gerade in sogenannten schlechten Zeiten tauchen zwischen den Misstönen des Finanzmarktgezeters erstaunliche musikalische Wohlklänge auf. Down- sizing und eine neue Bescheidenheit sind angesagt, Sattelschlepper voller PA-Technik fahren heutzutage nur mehr den Oldstars einer sterbenden "Dinosaurierszene" nach. Ebenso wie plötzlich wieder Strick- und Nähgeschäfte ihre Pforten öffnen, genügt zum Singing/Songwriting fürs Erste eine akustische Gitarre mit Pickup und Mikrophon, um einen Song zu performen. Mit einer Bassistin und einem Perkussionisten ist das kleine Ensemble oft bereits komplett.
Singing/Songwriting hat sich still und unauffällig einen Rang zurückerobert, an welchem die aus dem Boden sprießenden TV-Formate in "Servus", ORF III, Arte und 3-Sat und der Musikjournalismus in Printmedien nicht mehr vorbei können, von millionenfachen Aufrufen auf "youtube" und anderen Internet-Plattformen gar nicht zu reden. Und auch die mittelgroßen Clubs und kleineren Hallen füllen Vertreter dieser Szene mittlerweile immer öfter.
Betrachtet man die in den letzten Jahren etablierte Szene von der ideellen Seite her, dann lässt sich fast nur Positives erkennen. Als Gegenpol zu einer Unkultur der Mega-Events und des längst sinnlos gewordenen Strebens nach dem ultimativen Airplay-Hit ist in den letzten Jahren so etwas wie eine neue Ehrlichkeit in die populäre Tonkunst eingetreten. Bodenständigkeit ohne das stadl-artige Stigma des Volkstümlichen, originelle und folkige Ins-trumentierung, das unverzerrte Hörbarmachen der Stimme ohne Echobombastik und stattdessen akustische Instrumentierung und originelle Riffs zählen zu den Ingredienzien, die sich schon in den Sechzigerjahren bewährt hatten.
Nun könnte man einwenden, das sei somit nichts Neues, sondern nur eine Renaissance bewährter und, so gesehen, "guter alter" Werte. Aber Halt - es ist eben doch mehr als das bloße Blankpolieren alter Messinggriffe, was hier passiert. So nehmen die Interpret(inn)en nicht nur das "Folkbuch" von Peter Bursch oder das Great American Songbook zur Hand und warten mit (alt-)bekannten Standards auf. Nein, hier ist deutlich mehr zu hören, es entsteht musikalisch und textlich Originelles, Anregendes und Beschwingtes, was man angesichts der Begrenztheit von Akkorden, Melodien und den ausgereizt scheinenden Gitarrensounds nach mehreren Jahrzehnten Pop-, Folk- und Blueserfahrung gar nicht mehr erwartet hätte.
Ist es zwar der Traum aller musikalisch aktiven Sechzehnjährigen, als Joan Baez oder Bob Dylan der Postmoderne aufzutreten, so stellt sich doch jedem die Frage: Kann ich mit der Klampfe in der Hand und einem fröhlichen Lied auf den Lippen als Bänkelsänger(in) wirtschaftlich überleben? Ja und nein. Wenn es so etwas wie einen Musikmarkt in Zeiten von Streamingdiensten wie Spotify, jederzeit verfügbaren youtube-Videos und einem raschen Google-Sucherfolg samt passabler Wiedergabequalität überhaupt noch geben sollte, dann scheinen Künstlerinnen wie Amali Ward (AUS), Priska Zemp alias Heidihappy (CH), Trixie Whitley (GB), Anja Plaschg alias Soap & Skin (A) oder die beiden deutschen Singer/Songwriter Tom Lüneburger und Tim Bendzko flagrant gegen die "Gesetze" dieses ökonomischen Regulativs zu verstoßen.
Medium für Reisefaule
Allerdings wird nur derjenige, der die Konsequenz hat, sich durch eine Armada kleiner und mittelgroßer Veranstaltungslocations zu arbeiten, längerfristig auch eine wirtschaftliche Basis vorfinden, die eine Existenz sichert. So konnte etwa Tim Bendzko selbst in Österreich in vollen Hallen auftreten, und Priska Zemp alias Heidihappy tourt im März/April unermüdlich durch alle Kantone der Schweiz. Dazu kommt der ständig aktualisierte Auftritt im Medium für Reisefaule: Heute sind transparente Websites, Videos, Streams, jederzeit aufrufbare Tourpläne, 1A-Fotos und ein Booking-Management unabdingbar geworden - was doch einigermaßen im Widerspruch zur neuen Bescheidenheit zu stehen scheint . . .
Dass Singer/Songwriter scheinbar unbeschwert und unbelastet von Marktzwängen auftreten können, dürfte also ein Märchen oder zumindest eine Fabel sein. Vielmehr ist der Aufwand an Arbeit, die ihnen neben der künstlerischen Substanz abverlangt wird, noch gestiegen. Nehmen wir als Beispiel den 51-jährigen Singer/Songwriter Lloyd Cole. Der gebürtige Schotte mit New Yorker Wohnsitz erscheint mit seinem "Small Ensemble" regelmäßig in Europa, beantwortet auf seinem Blog geduldig alle Fragen - und stellt alle seine Songs, die auf dem Hamburger Tapete-Label erscheinen, als Mono-Streams in voller Länge ins Netz. Vorbildhaft, würde man meinen, zugleich aber ein nicht unerheblicher Aufwand, wenn man das halbe Jahr auf Tour quer durch die Welt ist. Aber will man als Künstler, egal ob Newcomer oder Routinier, bestehen, dann führt kein Weg an eigenständigem Marketing, professioneller Kommunikation und eiserner Disziplin on tour vorbei. Um die eingangs gestellten Fragen auch zu beantworten, wäre dreimal "Ja" anzukreuzen. Singing/Songwriting indiziert heute - anders als 1968 - nicht den Protest und den Anspruch, die Massen zu erreichen, sondern steht für den professionell unterstützten Versuch, eine anspruchsvolle Zielgruppe zu erreichen und möglichst längerfristig zu behalten.
Das ist eher ein Rückzug von der "Aufklärung" ins Alltägliche - und entspricht daher tatsächlich mehr dem Biedermeier, welche Epoche ja auch guten Geschmack und Häuslichkeit bei geringer politischer Aktivität nach außen hin zum Kennzeichen hatte.
Dem entspricht auch die Rückbesinnung auf Werte wie perfektes Performing, Kreativität und Vielseitigkeit, gegenüber Erscheinungen wie Overdubs, Playback-mode, Leibesvisitation und 125-Dezibel-Schalldruck bei Konzerten. Und schließlich eröffnet diese Art der Markterschließung längerfristig auch eine beständige, wenn auch nicht üppig sprudelnde Einnahmequelle. Vielleicht kann so die Macht der Veranstalter, der großen Labels und der Musikindustrie zumindest eingeschränkt werden.
Der Weltuntergang findet also - musikalisch - vorläufig nicht statt . . .
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Gerhard Strejcek
Ringkampf und Vatersuche
Wiener Zeitung, 24.02.2012
Der US-amerikanische Autor John Irving, Schöpfer vielschichtiger Romane und Drehbücher, begeht am 2. März seinen 70. Geburtstag.
Bestseller mit Tiefgang
John Irving, zu dessen liebsten Standardmotiven tanzende Bären, Ringkämpfe und Beziehungs-Desaster zählen, wird seinen bevorstehenden siebzigsten Geburtstag irgendwo zwischen Toronto und New Hampshire feiern, sofern es ihn nicht doch wieder nach Europa zieht, wo er vor allem in den Niederlanden, in Griechenland (seinem Trauungs-Land), Schweden und Österreich zahlreiche persönliche und literarische Erinnerungs-Zeichen gesetzt hat. Vor kurzem ist sein jüngster Roman, "Lange Nacht in Twisted River" (2010), in der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe bei Diogenes erschienen, - ein geradezu archetypisches Werk über eine Flucht quer durch Amerika, das die seiner Lesergemeinde wohlbekannten Schauplätze im Nordosten der USA, in Iowa und in Kanada Revue passieren lässt und die komplizierten Vater-Sohn-Beziehungen um eine weitere Facette bereichert.
Nachstehend sei an zwei große Ereignisse aus dem bisherigen Leben des Autors erinnert: an den triumphalen Oscar-Gewinn für das beste Drehbuch anlässlich der Verfilmung des Romans "Gottes Werk und Teufels Beitrag" im Jahr 1999 und an die Buchfassung seiner erfolgreichen Vater-Suche im Jahr 2006. Kaum ein US-amerikanischer Autor erwies sich in den letzten drei Jahrzehnten mit seinen Romanen als so kontinuierlich erfolgreich wie John Irving, und so möchte man meinen, dass es stets ein Leichtes für ihn war, geeignete Regisseure für seine Drehbücher zu finden. Immerhin landete der aus New Hampshire stammende Ringer und in Iowa graduierte akademische Lehrer schon Ende der Siebzigerjahre seine großen Beststeller-Erfolge mit "Garp, wie er die Welt sah" und "Das Hotel New Hampshire".
Eine breitere Leserschaft wandte sich sodann auch den älteren Werken des Verfassers zu, und lernte so den gelungenen, aber zunächst wenig beachteten Einstandsroman "Lasst die Bären los!" aus 1968 kennen, eine noch holprig übersetzte Wiener Geschichte, in der es um die Obsorge für die Tiere im Schönbrunner Zoo im Zweiten Weltkrieg, um allerlei dubiose Gestalten und um alte Motorräder rund um das Palais Auersperg geht. Bereits 1986 versuchten sich die Biografen C. Harter und J. R. Thompson an einer ersten Lebensbilanz. Und Ende der Neunzigerjahre war der damals Fünfzigjährige schon am Bestseller-Olymp als beliebtester Autor mit Tiefgang angelangt - "Witwe für ein Jahr" und "Owen Meany" hatten endgültig seinen Ruhm als Romancier gefestigt.
Dennoch geriet Irving mit seinem Script zu "Gottes Werk und Teufels Beitrag" (Original-Titel "The Cider House Rules") in eine Krise, zumal er längere Zeit keinen geeigneten Regisseur finden konnte. Der erste war überraschend verstorben, die weiteren zwei Kontaktierten planten massive Eingriffe in sein Drehbuch, was der Autor ablehnte. Doch dann lernte er den stillen schwedischen Regie-Meister Lasse Hallström kennen, der mit Filmen wie "Chocolat" bereits cineastische Erfolge gefeiert hatte. Der Skandinavier bezeichnete Irvings Drehbuch schlichtweg als "great" und akzeptierte es ohne größere Striche. Seither zählt er zu den engsten Freunden Irvings, der ihn auch regelmäßig in Schweden besucht. Hallström feiert diesen Juni den 66. Geburtstag, zu dem sich sicher ein prominenter Gratulant aus den USA einstellen wird.
Ein Erfolgsrezept des Films war neben vielen Gemeinsamkeiten und der persönlichen Sympathie der beiden Männer zueinander, dass sie ihre Kompetenzgrenzen klar absteckten. Irving verpflichtete sich ausdrücklich, sich auf die Rolle als Drehbuchautor zu beschränken und nicht selbst Regie führen zu wollen. Wenn er Lust hätte, selbst als Regisseur aufzutreten, dann könne er dies ja in seinen Romanen verwirklichen. So ähnlich steht dies auch im Vorwort zu diesem Drehbuch, das der Zürcher Diogenes-Verlag mit Fotografien vom Set und vom Film im Jahr 2000 versehen und als Taschenbuch publiziert hat.
Es lohnt sich übrigens, neben der Romanfassung auch die Drehbuchfassung zu lesen. Oft sind es nur marginale Details, in denen Irving mit kleinen, sinnvollen Variationen seine literarische Meisterschaft und seine Sensibilität für das Medium Film erkennen lässt.
Der rund 700-seitige Roman ist, dem Film sei Dank, auch in Europa sehr bekannt geworden und gilt als eines der besten Werke Irvings. Es geht darin um einen in Sachen Abtreibung aufgeschlossenen, Äther-süchtigen und humanen Arzt namens Doktor Larch (was, nicht zufällig, auf Deutsch "Lärche" bedeutet; dargestellt wurde der Doktor von Michael Caine), der ein Waisenhaus in Maine (USA) führt.
Spiel mit Vaterfiguren
Doktor Larch bildet einen Jungen namens Homer Wells (dargestellt von Tobey Maguire) zu seinem Assistenten aus, weil dieser aus verschiedenen Gründen keine geeignete Gastfamilie findet. Schlussendlich verlässt Homer aber die Waisenhaus-Klinik und arbeitet fortan, statt als Gynäkologe, als Apfelpflücker auf einer Farm, wo er dank "Candy" (Charlize Theron) erstmals selbst tiefere menschliche Gefühle erlebt - zweifellos eine originelle Geschichte, die dank hervorragender Besetzung und guter Regie ein Erfolg wurde und die Irving auch völlig zu Recht einen "Oscar" für das beste Drehbuch des Jahres 1999 einbrachte. Hingegen blieb es für Lasse Hallström und die prominenten Schauspieler trotz ihrer fulminanten Leistungen bei einer Nominierung. Die Besetzung erwies sich dennoch als Glücksgriff, denn Caine gilt bis heute als herausragender Vertreter von "Britishness", vor dem viele Amerikaner große Achtung haben, und Charlize Theron fiel auch dem Autor durch ihre disziplinierte und gleichzeitig charmante Art auf.
Irvings Themenreichtum und psychologisch fundierte Einfühlungsgabe beeindrucken seine Leserschaft stets aufs Neue. Schon als Jugendlicher führte der Autor aus Exeter/New Hampshire umfangreiche Tagebücher und andere Aufzeichnungen. Sein Stiefvater, ein College-Lehrer, brachte ihn frühzeitig in Berührung mit dem akademischen Leben und dem Studentendasein. Von der Familie gedrängt, in eine Sportmannschaft einzutreten, entschied er sich für das Ringen, nicht zuletzt um auch hier eigene Akzente zu setzen, denn der Ringkampf war in den USA der Fünfziger- und Sechzigerjahre unpopulär.
Kraft durch Wrestling
Irving entwickelte sich zu einem überdurchschnittlichen Ringer, der zahlreiche akademische Meisterschaften gewann, aber auch Niederlagen einfuhr und diese zu verkraften lernte. Ein Wrestler erinnere sich nicht stets an die Siege, wohl aber an alle Kämpfe, die er verloren hat, heißt es etwa in der "Mittelgewichts-Ehe", einem frühen Roman, der Bezüge zu Wien und in "the proletarian town of Wiener Neustadt" im Süden Wiens aufweist.
In der Industriestadt im Wiener Becken befanden sich im Zweiten Weltkrieg Teile der Messerschmitt-Werke, die massiven Bombenangriffen der Alliierten ausgesetzt waren. In seinem Erstlingsroman spann Irving daraus eine interessante Beziehungsgeschichte, in der ein Wrestlig-Trainer eine wichtige Rolle spielt.
Als solcher fungierte Irving auch zeitweise, zunächst für Nachwuchsstudenten, dann für seine Söhne. Eine Abnabelung von seiner Familie und ihrer scheinbaren Idylle erfuhr der Autor nach dem Collegeabschluss. Sein Literaturstudium führte ihn zu Kurt Vonnegut nach Iowa. Trotz guter Integration in das akademische Leben belastete ihn ein Faktum besonders schwer: Seine Mutter hatte ihm nie die Wahrheit über seine wirkliche Herkunft und die Identität des Vaters verraten. Irving entschloss sich daher heimlich, sich auf die Suche nach seinem leiblichen Vater zu begeben - eine lebenslange Aufgabe, die er in seinem Buch "Bis ich Dich finde" (2006) dokumentiert hat.
Dass er der Mutter deren Schweigen verzieh und sie auch in seinen Romanen immer schonend, in originellen, stets aber mutigen Frauen-Figuren zeichnete, ehrt den Autor. Denn sein Ringen um den Vater war keine leichte Aufgabe und belastete seine Psyche schwer. Zunächst versuchte er, der ihm persönlich unbekannten Vaterfigur mittels seiner Fantasie Gestalt zu verleihen und solcherart deren Herkunft und Charakter zu präzisieren.
So entstanden fiktive Figuren wie etwa der gleich nach der Zeugung seines Sohns schwer verwundete und verstorbene Soldat, nämlich der Vater des Romanhelden "Garp" (aus dem Bestseller "The World According To Garp", 1976). Zeitlich fällt die schwere Verwundung von Garps Vater mit Irvings Geburt im März 1942, einem Kriegsjahr, gut zusammen. Kein Wunder, dass auch die Romanfigur Garp selbst Züge des jungen Irving trägt und, wie dieser selbst, in den 1960er Jahren in Wien weilte.
Sicht auf Mitteleuropa
Seit dem großen Erfolg des Romans "Garp und wie er die Welt sah", der Irvings Sichtweise von Mitteleuropa transportiert, kennen viele die ominöse Wiener "Pension Grillparzer", die der Autor als Buch seines Romanhelden ersonnen hatte: Die Pension bewirbt sich um ein "Upgrading" und wird von Hotelexperten durchleuchtet, woraus sich allerlei Verwicklungen und Erkenntnisse ergeben, die besser unter der Decke geblieben wären.
Dieses "Werk im Werk" erschien später als sein eigenes Buch. Die gleichnamige Geschichte betrachtet der Autor als sein liebstes literarisches Kind, obwohl er zu Grillparzer stets auf Distanz geht. Zu Österreich und seiner vielschichtigen Kultur, aber auch zu seiner unbewältigten NS-Vergangenheit hatte Irving nach mehreren Aufenthalten ein spezifisches Verhältnis entwickelt, das er in "Lasst die Bären los!", "Hotel New Hampshire" und in "Die Mittelgewichts-Ehe" weiter ausformte.
Vor fünf Jahren stellte die Wiener Stadtregierung Irvings ersten, schon erwähnten "Bären"-Roman als Gratisbuch in sechsstelliger Auflage für ihre Bürger bereit. Der Autor bedankte sich mit einem Besuch und einer Lesung, die Burgtheater-Schauspieler Peter Matic' aus dem damals neu erschienen Werk Irvings, "Bis ich Dich finde", hielt.
Wer den autobiographischen Hintergrund kennt, wird verstehen, dass nunmehr, in "Lange Nacht in Twisted River", die Vater-Sohn-Beziehung in einer Post-Findungsphase auflebt, und der Sohn den Vater somit auf der Flucht begleiten kann, nachdem dieser die Frau des Dorfpolizisten versehentlich für einen Bären gehalten und erschossen hatte - bekannte Motive aus Irvings Requisitenkammer, die er dank seiner genialen Fantasie stets neu gruppiert und wie Schauspieler auftreten lässt.
So gesehen führt Irving tatsächlich Regie in seinen eigenen Romanen, bei (um nicht zu sagen trotz) höchster literarischer Qualität und Originalität.
Bestseller mit Tiefgang
John Irving, zu dessen liebsten Standardmotiven tanzende Bären, Ringkämpfe und Beziehungs-Desaster zählen, wird seinen bevorstehenden siebzigsten Geburtstag irgendwo zwischen Toronto und New Hampshire feiern, sofern es ihn nicht doch wieder nach Europa zieht, wo er vor allem in den Niederlanden, in Griechenland (seinem Trauungs-Land), Schweden und Österreich zahlreiche persönliche und literarische Erinnerungs-Zeichen gesetzt hat. Vor kurzem ist sein jüngster Roman, "Lange Nacht in Twisted River" (2010), in der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe bei Diogenes erschienen, - ein geradezu archetypisches Werk über eine Flucht quer durch Amerika, das die seiner Lesergemeinde wohlbekannten Schauplätze im Nordosten der USA, in Iowa und in Kanada Revue passieren lässt und die komplizierten Vater-Sohn-Beziehungen um eine weitere Facette bereichert.
Nachstehend sei an zwei große Ereignisse aus dem bisherigen Leben des Autors erinnert: an den triumphalen Oscar-Gewinn für das beste Drehbuch anlässlich der Verfilmung des Romans "Gottes Werk und Teufels Beitrag" im Jahr 1999 und an die Buchfassung seiner erfolgreichen Vater-Suche im Jahr 2006. Kaum ein US-amerikanischer Autor erwies sich in den letzten drei Jahrzehnten mit seinen Romanen als so kontinuierlich erfolgreich wie John Irving, und so möchte man meinen, dass es stets ein Leichtes für ihn war, geeignete Regisseure für seine Drehbücher zu finden. Immerhin landete der aus New Hampshire stammende Ringer und in Iowa graduierte akademische Lehrer schon Ende der Siebzigerjahre seine großen Beststeller-Erfolge mit "Garp, wie er die Welt sah" und "Das Hotel New Hampshire".
Eine breitere Leserschaft wandte sich sodann auch den älteren Werken des Verfassers zu, und lernte so den gelungenen, aber zunächst wenig beachteten Einstandsroman "Lasst die Bären los!" aus 1968 kennen, eine noch holprig übersetzte Wiener Geschichte, in der es um die Obsorge für die Tiere im Schönbrunner Zoo im Zweiten Weltkrieg, um allerlei dubiose Gestalten und um alte Motorräder rund um das Palais Auersperg geht. Bereits 1986 versuchten sich die Biografen C. Harter und J. R. Thompson an einer ersten Lebensbilanz. Und Ende der Neunzigerjahre war der damals Fünfzigjährige schon am Bestseller-Olymp als beliebtester Autor mit Tiefgang angelangt - "Witwe für ein Jahr" und "Owen Meany" hatten endgültig seinen Ruhm als Romancier gefestigt.
Dennoch geriet Irving mit seinem Script zu "Gottes Werk und Teufels Beitrag" (Original-Titel "The Cider House Rules") in eine Krise, zumal er längere Zeit keinen geeigneten Regisseur finden konnte. Der erste war überraschend verstorben, die weiteren zwei Kontaktierten planten massive Eingriffe in sein Drehbuch, was der Autor ablehnte. Doch dann lernte er den stillen schwedischen Regie-Meister Lasse Hallström kennen, der mit Filmen wie "Chocolat" bereits cineastische Erfolge gefeiert hatte. Der Skandinavier bezeichnete Irvings Drehbuch schlichtweg als "great" und akzeptierte es ohne größere Striche. Seither zählt er zu den engsten Freunden Irvings, der ihn auch regelmäßig in Schweden besucht. Hallström feiert diesen Juni den 66. Geburtstag, zu dem sich sicher ein prominenter Gratulant aus den USA einstellen wird.
Ein Erfolgsrezept des Films war neben vielen Gemeinsamkeiten und der persönlichen Sympathie der beiden Männer zueinander, dass sie ihre Kompetenzgrenzen klar absteckten. Irving verpflichtete sich ausdrücklich, sich auf die Rolle als Drehbuchautor zu beschränken und nicht selbst Regie führen zu wollen. Wenn er Lust hätte, selbst als Regisseur aufzutreten, dann könne er dies ja in seinen Romanen verwirklichen. So ähnlich steht dies auch im Vorwort zu diesem Drehbuch, das der Zürcher Diogenes-Verlag mit Fotografien vom Set und vom Film im Jahr 2000 versehen und als Taschenbuch publiziert hat.
Es lohnt sich übrigens, neben der Romanfassung auch die Drehbuchfassung zu lesen. Oft sind es nur marginale Details, in denen Irving mit kleinen, sinnvollen Variationen seine literarische Meisterschaft und seine Sensibilität für das Medium Film erkennen lässt.
Der rund 700-seitige Roman ist, dem Film sei Dank, auch in Europa sehr bekannt geworden und gilt als eines der besten Werke Irvings. Es geht darin um einen in Sachen Abtreibung aufgeschlossenen, Äther-süchtigen und humanen Arzt namens Doktor Larch (was, nicht zufällig, auf Deutsch "Lärche" bedeutet; dargestellt wurde der Doktor von Michael Caine), der ein Waisenhaus in Maine (USA) führt.
Spiel mit Vaterfiguren
Doktor Larch bildet einen Jungen namens Homer Wells (dargestellt von Tobey Maguire) zu seinem Assistenten aus, weil dieser aus verschiedenen Gründen keine geeignete Gastfamilie findet. Schlussendlich verlässt Homer aber die Waisenhaus-Klinik und arbeitet fortan, statt als Gynäkologe, als Apfelpflücker auf einer Farm, wo er dank "Candy" (Charlize Theron) erstmals selbst tiefere menschliche Gefühle erlebt - zweifellos eine originelle Geschichte, die dank hervorragender Besetzung und guter Regie ein Erfolg wurde und die Irving auch völlig zu Recht einen "Oscar" für das beste Drehbuch des Jahres 1999 einbrachte. Hingegen blieb es für Lasse Hallström und die prominenten Schauspieler trotz ihrer fulminanten Leistungen bei einer Nominierung. Die Besetzung erwies sich dennoch als Glücksgriff, denn Caine gilt bis heute als herausragender Vertreter von "Britishness", vor dem viele Amerikaner große Achtung haben, und Charlize Theron fiel auch dem Autor durch ihre disziplinierte und gleichzeitig charmante Art auf.
Irvings Themenreichtum und psychologisch fundierte Einfühlungsgabe beeindrucken seine Leserschaft stets aufs Neue. Schon als Jugendlicher führte der Autor aus Exeter/New Hampshire umfangreiche Tagebücher und andere Aufzeichnungen. Sein Stiefvater, ein College-Lehrer, brachte ihn frühzeitig in Berührung mit dem akademischen Leben und dem Studentendasein. Von der Familie gedrängt, in eine Sportmannschaft einzutreten, entschied er sich für das Ringen, nicht zuletzt um auch hier eigene Akzente zu setzen, denn der Ringkampf war in den USA der Fünfziger- und Sechzigerjahre unpopulär.
Kraft durch Wrestling
Irving entwickelte sich zu einem überdurchschnittlichen Ringer, der zahlreiche akademische Meisterschaften gewann, aber auch Niederlagen einfuhr und diese zu verkraften lernte. Ein Wrestler erinnere sich nicht stets an die Siege, wohl aber an alle Kämpfe, die er verloren hat, heißt es etwa in der "Mittelgewichts-Ehe", einem frühen Roman, der Bezüge zu Wien und in "the proletarian town of Wiener Neustadt" im Süden Wiens aufweist.
In der Industriestadt im Wiener Becken befanden sich im Zweiten Weltkrieg Teile der Messerschmitt-Werke, die massiven Bombenangriffen der Alliierten ausgesetzt waren. In seinem Erstlingsroman spann Irving daraus eine interessante Beziehungsgeschichte, in der ein Wrestlig-Trainer eine wichtige Rolle spielt.
Als solcher fungierte Irving auch zeitweise, zunächst für Nachwuchsstudenten, dann für seine Söhne. Eine Abnabelung von seiner Familie und ihrer scheinbaren Idylle erfuhr der Autor nach dem Collegeabschluss. Sein Literaturstudium führte ihn zu Kurt Vonnegut nach Iowa. Trotz guter Integration in das akademische Leben belastete ihn ein Faktum besonders schwer: Seine Mutter hatte ihm nie die Wahrheit über seine wirkliche Herkunft und die Identität des Vaters verraten. Irving entschloss sich daher heimlich, sich auf die Suche nach seinem leiblichen Vater zu begeben - eine lebenslange Aufgabe, die er in seinem Buch "Bis ich Dich finde" (2006) dokumentiert hat.
Dass er der Mutter deren Schweigen verzieh und sie auch in seinen Romanen immer schonend, in originellen, stets aber mutigen Frauen-Figuren zeichnete, ehrt den Autor. Denn sein Ringen um den Vater war keine leichte Aufgabe und belastete seine Psyche schwer. Zunächst versuchte er, der ihm persönlich unbekannten Vaterfigur mittels seiner Fantasie Gestalt zu verleihen und solcherart deren Herkunft und Charakter zu präzisieren.
So entstanden fiktive Figuren wie etwa der gleich nach der Zeugung seines Sohns schwer verwundete und verstorbene Soldat, nämlich der Vater des Romanhelden "Garp" (aus dem Bestseller "The World According To Garp", 1976). Zeitlich fällt die schwere Verwundung von Garps Vater mit Irvings Geburt im März 1942, einem Kriegsjahr, gut zusammen. Kein Wunder, dass auch die Romanfigur Garp selbst Züge des jungen Irving trägt und, wie dieser selbst, in den 1960er Jahren in Wien weilte.
Sicht auf Mitteleuropa
Seit dem großen Erfolg des Romans "Garp und wie er die Welt sah", der Irvings Sichtweise von Mitteleuropa transportiert, kennen viele die ominöse Wiener "Pension Grillparzer", die der Autor als Buch seines Romanhelden ersonnen hatte: Die Pension bewirbt sich um ein "Upgrading" und wird von Hotelexperten durchleuchtet, woraus sich allerlei Verwicklungen und Erkenntnisse ergeben, die besser unter der Decke geblieben wären.
Dieses "Werk im Werk" erschien später als sein eigenes Buch. Die gleichnamige Geschichte betrachtet der Autor als sein liebstes literarisches Kind, obwohl er zu Grillparzer stets auf Distanz geht. Zu Österreich und seiner vielschichtigen Kultur, aber auch zu seiner unbewältigten NS-Vergangenheit hatte Irving nach mehreren Aufenthalten ein spezifisches Verhältnis entwickelt, das er in "Lasst die Bären los!", "Hotel New Hampshire" und in "Die Mittelgewichts-Ehe" weiter ausformte.
Vor fünf Jahren stellte die Wiener Stadtregierung Irvings ersten, schon erwähnten "Bären"-Roman als Gratisbuch in sechsstelliger Auflage für ihre Bürger bereit. Der Autor bedankte sich mit einem Besuch und einer Lesung, die Burgtheater-Schauspieler Peter Matic' aus dem damals neu erschienen Werk Irvings, "Bis ich Dich finde", hielt.
Wer den autobiographischen Hintergrund kennt, wird verstehen, dass nunmehr, in "Lange Nacht in Twisted River", die Vater-Sohn-Beziehung in einer Post-Findungsphase auflebt, und der Sohn den Vater somit auf der Flucht begleiten kann, nachdem dieser die Frau des Dorfpolizisten versehentlich für einen Bären gehalten und erschossen hatte - bekannte Motive aus Irvings Requisitenkammer, die er dank seiner genialen Fantasie stets neu gruppiert und wie Schauspieler auftreten lässt.
So gesehen führt Irving tatsächlich Regie in seinen eigenen Romanen, bei (um nicht zu sagen trotz) höchster literarischer Qualität und Originalität.
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Gerhard Strejcek,
Was macht einen Hit zum Hit?
Wiener Zeitung, 23.12.2011
Von ". . .Satisfaction" bis zu "Last Christmas": Eine Annäherung an die Hit-Phänomenologie, unter besonderer Berücksichtigung von Weihnachtsliedern.
Welcher ist der größte Hit aller Zeiten? Welche drei Hits fallen uns spontan ein, wenn wir an die verflossene Jugendzeit denken, und was berührt uns an diesen am meisten? Kommen künftig noch neue Hits, oder ist alles schon "wegkomponiert" worden? Und gibt es vielleicht ein alchemistisches Erfolgsrezept aus der Hit-Küche für den Popsong der Zukunft? - Fragen über Fragen, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie entziehen sich einer klaren, eindeutigen Antwort, lassen sich stattdessen nur annäherungsweise beantworten.
Am einfachsten ist die Annäherung an den Hitbegriff in etymologischer Hinsicht. "To hit" bedeutet im gegebenen Zusammenhang weniger das Verb "schlagen" als eher "treffen". Ein "Hit" ist demnach ein kommerzieller Treffer. Seiner lexikalischen Bedeutung nach ist der Begriff eindeutig musikalisch konnotiert, obwohl natürlich auch ein Rasenmäher ein "Verkaufshit" sein kann. Als Hit gilt ein Lied oder allgemeiner ein Musikstück, das besonders oft gehört und auch verkauft wird. So beschreiben es etwa die Lexika der Brockhaus-Familie, die auch die Hitparade als "Vorstellung von Hits in der Reihenfolge ihrer Beliebtheit und/oder ihrer Verkaufszahlen" bezeichnen.
Ein neutraler Begriff
Der Begriff "Hit" wird praktisch überall auf der Welt verstanden - und er ist in qualitativer Hinsicht neutral, bedeutet also keineswegs mangelnde Qualität. "Hit-verdächtig" zu sein heißt weder, dass ein Song Bonbonnières zum Schmelzen bringt, noch dass er sich in zwei öden Akkorden durch einen 4/4-Takt schleppt.
Es gibt auch niveauvolle, sich gut verkaufende Musik, die Hit-Dimensionen erreicht. So gelang es etwa der verstorbenen Amy Winehouse, ohne eine einzige, dezidierte Hit-Single zwei kommerziell sehr erfolgreiche Alben mit durchgängig hörenswerten Songs zu veröffentlichen ("Frank"; "Back To Black"). Die "Hit-Alben" (3,3 Millionen großteils postum verkaufte CDs zwingen zu diesem Ausdruck) enthalten bemerkenswert zeitgeistferne Musik, die auch bei älteren Konsumenten ankommt. Ein Hit kann daher (muss aber nicht) auch in einem künstlerischen "Treffer" liegen.
Wie sehen Musik-Experten den Hit? Eine Sammlung von "Sounds"-Kritiken aus den Jahren 1966 bis 1988, die vor einigen Jahren im Verlag Zweitausendeins erschienen ist, gibt Aufschluss über die konkrete Verwendung des "Hit-Begriffs" im Pop-Sektor. Hier zeigt sich, dass der Ausdruck "Hit" zwar schon in den Sechzigerjahren für erfolgreiche Musik (z,B. "Light My Fire" von den Doors, 1966/67) üblich war, aber von den Kritikern nur sehr sparsam verwendet wurde.
Bei mehrfacher Durchsicht stellt sich heraus, dass der Hit in dem Hamburger Fachblatt zunächst vielfach negativ abgegrenzt wurde. Aber nicht nur: So meinte etwa der Kritiker Rainer Blome, dass die Hitparade von jungen, tanzbegeisterten Menschen beeinflusst würde - und daher nichts Schlechtes daran sei, wenn die Rolling Stones dort vorkämen, zu denen er auch lieber tanzte als zur Musik des (Modern-)Jazzers Charles Lloyd.
Heute bestimmen deutlich ältere Käuferschichten die Hitparaden. Wie Popmusik überhaupt vorwiegend eine Angelegenheit von Dreißig- bis Fünfzigjährigen geworden ist, sowohl was Kritiker als auch Konsumenten betrifft. (Gerald Schmickl hat in seinem Essayband "Lob der Leichtigkeit" heuer nachdrücklich darauf hingewiesen.) Nicht die Taschengeldbezieher, sondern die Financiers der Kids dominieren den Markt. Nur eher selten wachsen große neue Hit-Stars aus Internet-Downloads, selbstgestrickten you-tube-Auftritten oder dem Nachwuchspool der Casting-Shows heran.
Daher schöpfen wir, was Hit-Beispiele betrifft, meistens aus einem älteren Pool. Wenden wir uns daher gleich den alten "Hadern" zu, die alle kennen und immer wieder - wenn auch mit unterschiedlichen emotionalen Reaktionen - hören. Unbestreitbare Longlife-Hit-Qualität weisen natürlich in erster Linie Beatles und Stones-Songs auf.
Erschallt in einem Club etwa das markante Gitarrenthema von "I Can’t Get No Satisfaction", dann geht bis zum heutigen Tag sogleich ein Raunen durch das Publikum, es entsteht eine spontane Bereitschaft "auszuflippen" - und kaum jemand winkt wütend ab, nur weil es sich dabei um die Musik von heute fast Siebzigjährigen handelt. Ähnlich positiv sind die Reaktionen auf ältere Soul-Musik, etwa von Quincy Jones, Donna Summer, Bill Withers oder Earth, Wind&Fire. Hingegen führen Hits von Madonna, den Bee Gees oder Michael Jackson, um nur drei der weltweit erfolgreichsten Kommerzkünstler zu nennen, bis heute zu gespaltenen Reaktionen. Und bei Simply Red oder Kylie Minogue verlassen viele Pop-Fans möglichst rasch den Raum, weil sie sich nicht zu "Kaufhausmusik" bewegen wollen.
Nachhaltige Monotonie
Was sind nun die optimalen Hit-Zutaten neben Beat, Gesang und einem fetzigem Hauptthema? Ein Hit bedarf auch eines markanten Intros, das gegebenenfalls nur aus einem gutturalen Geräusch, wie etwa bei "Le Freak" von Chic, oder in einem gestöhnten Auftakt wie in "Je t’aime . . ." von Birkin/Gainsburgh bestehen kann. Es gibt auch Hits, wie etwa das besagte "Light My Fire" von den Doors, die in ihrer Monotonie gewisse Schwächen aufweisen, aber dank eines markanten Themas (Ray Manzareks Orgelintro) und eines einfühlsamen Gesangs und dessen dramatischer Steigerung (Jim Morrison) dennoch nachhaltig wirken. Der Musiker mit der schlechtesten Hit-Bilanz, gemessen an seiner umfangreichen und qualitativ vielseitigen Diskographie, dürfte wohl Frank Zappa gewesen sein, der es in rund dreißig Jahren nur auf ganze drei Hits brachte ("Bobby Brown", "Dancing Fool" und das in Europa fast unbekannte und selten gespielte "Girl From The Valley").
Dass ein Hit nicht zwingend kraft seiner genuinen musikalischen Gestaltung (Komposition, Harmonien etc) sofort zum Verkaufserfolg führen muss, beweisen nicht zuletzt Coverversionen. Erst Carlos Santanas Band erweckte "Black magic Woman" von Fleetwood Mac zu einem Hit, weil das Original hohl klang und eine eher langweilige Perkussion aufwies. Santana gelang es, Spannung in diesen Song zu bringen, ohne diesem die Lässigkeit und Abgebrühtheit zu nehmen, die er schon in Peter Greens (Original)-Version aufgewiesen hatte.
Schwache Beatles-Cover
An Beatles-Liedern haben sich die meisten Interpreten freilich die Zähne ausgebissen. Es gibt keine "Let it be-Version", die besser wäre als das Original. Songs, die nach der Trennung der Pilzköpfe entstanden sind, wie John Lennons unvergesslicher Hit "Imagine", liegen immerhin in akzeptablen Bearbeitungen vor (etwa von Randy Crawford), ohne freilich das Original in den Schatten stellen zu können, das gerade durch seine grandiose zeitlose Einfachheit besticht.
Eine Besonderheit im Hit-Spektrum stellen Weihnachtslieder dar, da es kaum andere an Feste, Termine oder Jahreszeiten gebundene Songs gibt, sieht man von dem klassischen Summer-West-coast-Sound der Beach Boys sowie expliziten Sommerliedern wie "Summertime" oder "Summer In The City" ab. Weihnachten ist anders: Kaum ein populärer Künstler kann sich der Versuchung und dem Druck der Produzenten entziehen, Weihnachtslieder zu schreiben oder wenigstens zu interpretieren. Alle Jahre wieder erscheinen daher im Dezember dicht gedrängte Kompilationen oder gar Doppel-Alben.
Was macht das Spezifische der Weihnachtshits aus? Die emotionale Komponente beschränkt sich nicht auf positive Eindrücke alleine. Das Spektrum reicht von anregendem Schlitten-Schellenklang, der den Vorweihnachtsstress löst, bis hin zum Reflex, angesichts tausendfacher déjà-vus bzw. déjà-écoutés die Bedienung der Stopptaste zu erflehen. Diesbezügliche Standards können vor allem in Kaufhaus-Atmosphäre zu Würgeattacken führen, aber auch zu Hause bei Jugendlichen zumindest abfällige Grimassen hervorrufen. "Sounds"-Kritiker Rainer Blome schrieb schon im Jahr 1968 anlässlich einer Procol Harum-Kritik treffend von den "alten, bösen Erinnerungen", die wach wurden, wenn er Lieder wie "Jingle Bells" in Versionen der Fünfzigerjahre hören musste. Damals gab es die originelle Yello-Interpreta-tion dieses dem wenig bekannten James Pierpont zugeschriebenen Liedes noch nicht - und vielleicht litt Blome ja auch an einer nachvollziehbaren Bing-Crosby-Allergie.
Jazzige Weihnachten
Deswegen müssen Weihnachtslieder, Traditionals und Standards freilich kein ewiges Tabu sein. Es gibt gute Aufnahmen aus den Siebzigerjahren, und empfehlenswerte jazzige Kompilationen. Mein persönlicher Favorit ist die stimmungsvolle Kooperation der Sängerin und Pianistin Diana Krall mit dem Clayton/Hamilton Jazz Orchestra ("Christmas-Songs", Verve/Universal 2005). Kaum zu glauben, aber "Let It Snow", "The Christmas Song" und sogar "White Christmas" (von Irving Berlin) erwachen in Kralls Arrangements zu neuem Leben, nachdem gerade dieser Song von allen möglichen Interpreten (von Bing Crosby, Frank Sinatra und Louis Armstrong bis zu The Platters) gesungen, um nicht sagen, platt gedrückt wurde.
Was die derzeit dominierenden Pop-Weihnachts-Hits betrifft, scheiden sich die Geister. Persönlich habe ich durchaus noch ausreichend Substanz, um "Last Christmas" von Wham zu hören - gerade heuer, da George Michael nach Absage seiner Tour den Advent bis vor wenigen Tagen im Wiener AKH verbracht hat. Auch "Drivin’ Home For Christmas" von Chris Rea zählt - zumindest für mich - zu den angenehmeren Weihnachtshits.
Dann wird es aber schon eng mit der Playlist für die Tage um den 24. und 25. Dezember, vor allem wenn es um Songs geht, die altersübergreifend spielbar sein sollen. Meines Erachtens kann es besser sein, etwa Abbas stimmungsvolle "goldene Alben" oder die neue schöne Platte der schwedischen Singer-Songwriterin Anna Ternheim ("Night Visitor") oder den stets hörbaren Lloyd Cole ("Broken Record") aufzulegen, statt Weihnachtslieder von Michael Jackson ("Little Christmas Tree"), Stevie Wonder ("Merry Christmas To You"), oder Elton John ("Step Into Christmas") zu spielen, denen allesamt etwas Zwänglerisches anhaftet.
Bevor Weihnachtsstimmung gewaltsam aus allen Rillen und Scheiben gepresst wird, ist es allemal besser, die Musik der Stimmung anzupassen und nicht zu versuchen, durch Ambiente Beschaulichkeit zu erzeugen.
Welcher ist der größte Hit aller Zeiten? Welche drei Hits fallen uns spontan ein, wenn wir an die verflossene Jugendzeit denken, und was berührt uns an diesen am meisten? Kommen künftig noch neue Hits, oder ist alles schon "wegkomponiert" worden? Und gibt es vielleicht ein alchemistisches Erfolgsrezept aus der Hit-Küche für den Popsong der Zukunft? - Fragen über Fragen, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie entziehen sich einer klaren, eindeutigen Antwort, lassen sich stattdessen nur annäherungsweise beantworten.
Am einfachsten ist die Annäherung an den Hitbegriff in etymologischer Hinsicht. "To hit" bedeutet im gegebenen Zusammenhang weniger das Verb "schlagen" als eher "treffen". Ein "Hit" ist demnach ein kommerzieller Treffer. Seiner lexikalischen Bedeutung nach ist der Begriff eindeutig musikalisch konnotiert, obwohl natürlich auch ein Rasenmäher ein "Verkaufshit" sein kann. Als Hit gilt ein Lied oder allgemeiner ein Musikstück, das besonders oft gehört und auch verkauft wird. So beschreiben es etwa die Lexika der Brockhaus-Familie, die auch die Hitparade als "Vorstellung von Hits in der Reihenfolge ihrer Beliebtheit und/oder ihrer Verkaufszahlen" bezeichnen.
Ein neutraler Begriff
Der Begriff "Hit" wird praktisch überall auf der Welt verstanden - und er ist in qualitativer Hinsicht neutral, bedeutet also keineswegs mangelnde Qualität. "Hit-verdächtig" zu sein heißt weder, dass ein Song Bonbonnières zum Schmelzen bringt, noch dass er sich in zwei öden Akkorden durch einen 4/4-Takt schleppt.
Es gibt auch niveauvolle, sich gut verkaufende Musik, die Hit-Dimensionen erreicht. So gelang es etwa der verstorbenen Amy Winehouse, ohne eine einzige, dezidierte Hit-Single zwei kommerziell sehr erfolgreiche Alben mit durchgängig hörenswerten Songs zu veröffentlichen ("Frank"; "Back To Black"). Die "Hit-Alben" (3,3 Millionen großteils postum verkaufte CDs zwingen zu diesem Ausdruck) enthalten bemerkenswert zeitgeistferne Musik, die auch bei älteren Konsumenten ankommt. Ein Hit kann daher (muss aber nicht) auch in einem künstlerischen "Treffer" liegen.
Wie sehen Musik-Experten den Hit? Eine Sammlung von "Sounds"-Kritiken aus den Jahren 1966 bis 1988, die vor einigen Jahren im Verlag Zweitausendeins erschienen ist, gibt Aufschluss über die konkrete Verwendung des "Hit-Begriffs" im Pop-Sektor. Hier zeigt sich, dass der Ausdruck "Hit" zwar schon in den Sechzigerjahren für erfolgreiche Musik (z,B. "Light My Fire" von den Doors, 1966/67) üblich war, aber von den Kritikern nur sehr sparsam verwendet wurde.
Bei mehrfacher Durchsicht stellt sich heraus, dass der Hit in dem Hamburger Fachblatt zunächst vielfach negativ abgegrenzt wurde. Aber nicht nur: So meinte etwa der Kritiker Rainer Blome, dass die Hitparade von jungen, tanzbegeisterten Menschen beeinflusst würde - und daher nichts Schlechtes daran sei, wenn die Rolling Stones dort vorkämen, zu denen er auch lieber tanzte als zur Musik des (Modern-)Jazzers Charles Lloyd.
Heute bestimmen deutlich ältere Käuferschichten die Hitparaden. Wie Popmusik überhaupt vorwiegend eine Angelegenheit von Dreißig- bis Fünfzigjährigen geworden ist, sowohl was Kritiker als auch Konsumenten betrifft. (Gerald Schmickl hat in seinem Essayband "Lob der Leichtigkeit" heuer nachdrücklich darauf hingewiesen.) Nicht die Taschengeldbezieher, sondern die Financiers der Kids dominieren den Markt. Nur eher selten wachsen große neue Hit-Stars aus Internet-Downloads, selbstgestrickten you-tube-Auftritten oder dem Nachwuchspool der Casting-Shows heran.
Daher schöpfen wir, was Hit-Beispiele betrifft, meistens aus einem älteren Pool. Wenden wir uns daher gleich den alten "Hadern" zu, die alle kennen und immer wieder - wenn auch mit unterschiedlichen emotionalen Reaktionen - hören. Unbestreitbare Longlife-Hit-Qualität weisen natürlich in erster Linie Beatles und Stones-Songs auf.
Erschallt in einem Club etwa das markante Gitarrenthema von "I Can’t Get No Satisfaction", dann geht bis zum heutigen Tag sogleich ein Raunen durch das Publikum, es entsteht eine spontane Bereitschaft "auszuflippen" - und kaum jemand winkt wütend ab, nur weil es sich dabei um die Musik von heute fast Siebzigjährigen handelt. Ähnlich positiv sind die Reaktionen auf ältere Soul-Musik, etwa von Quincy Jones, Donna Summer, Bill Withers oder Earth, Wind&Fire. Hingegen führen Hits von Madonna, den Bee Gees oder Michael Jackson, um nur drei der weltweit erfolgreichsten Kommerzkünstler zu nennen, bis heute zu gespaltenen Reaktionen. Und bei Simply Red oder Kylie Minogue verlassen viele Pop-Fans möglichst rasch den Raum, weil sie sich nicht zu "Kaufhausmusik" bewegen wollen.
Nachhaltige Monotonie
Was sind nun die optimalen Hit-Zutaten neben Beat, Gesang und einem fetzigem Hauptthema? Ein Hit bedarf auch eines markanten Intros, das gegebenenfalls nur aus einem gutturalen Geräusch, wie etwa bei "Le Freak" von Chic, oder in einem gestöhnten Auftakt wie in "Je t’aime . . ." von Birkin/Gainsburgh bestehen kann. Es gibt auch Hits, wie etwa das besagte "Light My Fire" von den Doors, die in ihrer Monotonie gewisse Schwächen aufweisen, aber dank eines markanten Themas (Ray Manzareks Orgelintro) und eines einfühlsamen Gesangs und dessen dramatischer Steigerung (Jim Morrison) dennoch nachhaltig wirken. Der Musiker mit der schlechtesten Hit-Bilanz, gemessen an seiner umfangreichen und qualitativ vielseitigen Diskographie, dürfte wohl Frank Zappa gewesen sein, der es in rund dreißig Jahren nur auf ganze drei Hits brachte ("Bobby Brown", "Dancing Fool" und das in Europa fast unbekannte und selten gespielte "Girl From The Valley").
Dass ein Hit nicht zwingend kraft seiner genuinen musikalischen Gestaltung (Komposition, Harmonien etc) sofort zum Verkaufserfolg führen muss, beweisen nicht zuletzt Coverversionen. Erst Carlos Santanas Band erweckte "Black magic Woman" von Fleetwood Mac zu einem Hit, weil das Original hohl klang und eine eher langweilige Perkussion aufwies. Santana gelang es, Spannung in diesen Song zu bringen, ohne diesem die Lässigkeit und Abgebrühtheit zu nehmen, die er schon in Peter Greens (Original)-Version aufgewiesen hatte.
Schwache Beatles-Cover
An Beatles-Liedern haben sich die meisten Interpreten freilich die Zähne ausgebissen. Es gibt keine "Let it be-Version", die besser wäre als das Original. Songs, die nach der Trennung der Pilzköpfe entstanden sind, wie John Lennons unvergesslicher Hit "Imagine", liegen immerhin in akzeptablen Bearbeitungen vor (etwa von Randy Crawford), ohne freilich das Original in den Schatten stellen zu können, das gerade durch seine grandiose zeitlose Einfachheit besticht.
Eine Besonderheit im Hit-Spektrum stellen Weihnachtslieder dar, da es kaum andere an Feste, Termine oder Jahreszeiten gebundene Songs gibt, sieht man von dem klassischen Summer-West-coast-Sound der Beach Boys sowie expliziten Sommerliedern wie "Summertime" oder "Summer In The City" ab. Weihnachten ist anders: Kaum ein populärer Künstler kann sich der Versuchung und dem Druck der Produzenten entziehen, Weihnachtslieder zu schreiben oder wenigstens zu interpretieren. Alle Jahre wieder erscheinen daher im Dezember dicht gedrängte Kompilationen oder gar Doppel-Alben.
Was macht das Spezifische der Weihnachtshits aus? Die emotionale Komponente beschränkt sich nicht auf positive Eindrücke alleine. Das Spektrum reicht von anregendem Schlitten-Schellenklang, der den Vorweihnachtsstress löst, bis hin zum Reflex, angesichts tausendfacher déjà-vus bzw. déjà-écoutés die Bedienung der Stopptaste zu erflehen. Diesbezügliche Standards können vor allem in Kaufhaus-Atmosphäre zu Würgeattacken führen, aber auch zu Hause bei Jugendlichen zumindest abfällige Grimassen hervorrufen. "Sounds"-Kritiker Rainer Blome schrieb schon im Jahr 1968 anlässlich einer Procol Harum-Kritik treffend von den "alten, bösen Erinnerungen", die wach wurden, wenn er Lieder wie "Jingle Bells" in Versionen der Fünfzigerjahre hören musste. Damals gab es die originelle Yello-Interpreta-tion dieses dem wenig bekannten James Pierpont zugeschriebenen Liedes noch nicht - und vielleicht litt Blome ja auch an einer nachvollziehbaren Bing-Crosby-Allergie.
Jazzige Weihnachten
Deswegen müssen Weihnachtslieder, Traditionals und Standards freilich kein ewiges Tabu sein. Es gibt gute Aufnahmen aus den Siebzigerjahren, und empfehlenswerte jazzige Kompilationen. Mein persönlicher Favorit ist die stimmungsvolle Kooperation der Sängerin und Pianistin Diana Krall mit dem Clayton/Hamilton Jazz Orchestra ("Christmas-Songs", Verve/Universal 2005). Kaum zu glauben, aber "Let It Snow", "The Christmas Song" und sogar "White Christmas" (von Irving Berlin) erwachen in Kralls Arrangements zu neuem Leben, nachdem gerade dieser Song von allen möglichen Interpreten (von Bing Crosby, Frank Sinatra und Louis Armstrong bis zu The Platters) gesungen, um nicht sagen, platt gedrückt wurde.
Was die derzeit dominierenden Pop-Weihnachts-Hits betrifft, scheiden sich die Geister. Persönlich habe ich durchaus noch ausreichend Substanz, um "Last Christmas" von Wham zu hören - gerade heuer, da George Michael nach Absage seiner Tour den Advent bis vor wenigen Tagen im Wiener AKH verbracht hat. Auch "Drivin’ Home For Christmas" von Chris Rea zählt - zumindest für mich - zu den angenehmeren Weihnachtshits.
Dann wird es aber schon eng mit der Playlist für die Tage um den 24. und 25. Dezember, vor allem wenn es um Songs geht, die altersübergreifend spielbar sein sollen. Meines Erachtens kann es besser sein, etwa Abbas stimmungsvolle "goldene Alben" oder die neue schöne Platte der schwedischen Singer-Songwriterin Anna Ternheim ("Night Visitor") oder den stets hörbaren Lloyd Cole ("Broken Record") aufzulegen, statt Weihnachtslieder von Michael Jackson ("Little Christmas Tree"), Stevie Wonder ("Merry Christmas To You"), oder Elton John ("Step Into Christmas") zu spielen, denen allesamt etwas Zwänglerisches anhaftet.
Bevor Weihnachtsstimmung gewaltsam aus allen Rillen und Scheiben gepresst wird, ist es allemal besser, die Musik der Stimmung anzupassen und nicht zu versuchen, durch Ambiente Beschaulichkeit zu erzeugen.
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Gerhard Strejcek,
Gewinnauszahlung muss gesichert sein
Salzburger Nachrichten, 15.11.2011
EU-konforme Konzessionserteilung im Glücksspielrecht – Strenge Voraussetzungen gerechtfertigt
Das österreichische Glücksspielgesetz sieht seit den Novellen 2010/11 eine neue, transparente Erteilung der Spielbanken- und der Ausspielungskonzession(en) vor. Nach einem EU-konformen und vom BMF auch de facto fair geführten Verfahren sind Letztere für die Laufzeit ab 2013 auf fünfzehn Jahre neu vergeben worden.
Nachdem nur ein einziger Bewerber – die Österreichischen Lotterien – das Mindestkapitalerfordernis von tatsächlich einbezahlten und hinsichtlich der Mittelherkunft unbedenklichen 109 Mill. Euro erbracht hat, geht die Konzessionserteilung vom Oktober 2011 sowohl aus Sicht des EU-Rechts als auch verfassungsrechtlich in Ordnung.
Spätestens seit dem EuGH-Urteil im Fall Dickinger/Österreich ist klar, dass es national verschieden streng geregelte Anforderungen an den Erwerb einer Konzession (z. B. für das Anbieten von Internetglücksspielen) geben darf und dass es keineswegs ausreicht, sich irgendwo in der EU eine sogenannte Off-Shore-Bewilligung zu besorgen, die nur außerhalb des betreffenden Staates (etwa Malta) gilt. Österreich ist ebenso wie die BRD in diesem Punkt äußerst rigid, vor allem was die ordnungspolitischen Anforderungen betrifft.
Dies ist auch berechtigt. Dass ein Unternehmen, welches Ausspielungen um Vierer-Jackpots auszahlen können muss, eine entsprechend hohe Kapitalabsicherung braucht, um die Spieler zu schützen, liegt auf der Hand. Es gibt im Bereich der Glücksverträge keinen größeren denkbaren Vertrauensverlust als die Minder- oder Nichtauszahlung eines rechtmäßig zustehenden Gewinns.
Daher erübrigen sich Vergleiche mit Unternehmen, die eine niedrigere gesetzliche Schranke in dieser Hinsicht aufweisen, bei denen aber z. B. durch Einlagensicherung und andere Notmaßnahmen die Kunden (wie z. B. im Bank- und Kreditsektor) vom Staat geschützt werden. Der Ausspielungskonzessionär, der z. B. Euromillionen, Lotto 6 aus 45, Zahlenlotto oder Zusatzspiel anbieten darf, muss auch nach der VfGH-Rsp. leistungsfähig sein.
Das bedeutet, dass der Konzessionär stets in der Lage sein muss, sämtliche Gewinne auszubezahlen und zudem auch geringer nachgefragte, aber von Gesetzes wegen anzubietende Spiele weiter führen kann, ohne dabei in finanzielle Engpässe zu gelangen.
Eine mangelnde Kapitaldeckung würde den gesamten Markt im Bereich der Ausspielungen gefährden. Die Kontrolle der Mittelherkunft ist im Glücksspielsektor unverzichtbar. Aus all diesen Gründen wird der EuGH auch die österreichische Rechtslage mit ihren strengen ordnungspolitischen Voraussetzungen und Kontrollmaßnahmen nicht beanstanden, so viel ist sicher.Anforderungen gestaffelt Laut EuGH wäre sogar eine monopolistische Struktur zulässig, sofern diese aus ordnungspolitischen Gründen geschaffen wird. Doch dies ist in Österreich bei einer Gesamtbetrachtung des Markts weder angedacht noch volkswirtschaftlich gegeben.
Eine systematische Analyse zeigt, dass nicht zuletzt durch das den Ländern zufallende Sportwettenwesen und das durch § 5 GSpG nach wie vor an die Länder delegierte „kleine Glücksspiel“ eine Fülle von Anbietern Dienstleistungen im Wege des Glücksvertrags anbieten dürfen.
Die Anforderungen sind grundsätzlich gestaffelt, wobei Nachbesserungen auf landesgesetzlicher Ebene im Gange sind, die auch dort dem Spielsuchtpotenzial besser zu begegnen trachten. Angesichts der noch paketweise laufenden, kompletten Neuausschreibung der Konzessionen für Spielbanken und Pokersalon ist auch im „großen“ Glücksspiel noch ein Verfahren beim BMF im Gange.Das „Glücksspielwesen“ Hier wird es entscheidend sein, welche Bewerber neben den gesetzlichen Voraussetzungen die überzeugendsten und glaubwürdigsten Konzepte für verantwortungsvollen Umgang mit den Spielern (responsible gaming) und für die Bekämpfung von Geldwäschereiversuchen vorlegen. Dies alles hat mit der ursprünglichen, 1867 bis 1990 erkennbaren Monopolstruktur herzlich wenig zu tun.
Aus all diesen Gründen wäre es sinnvoll und der neu geregelten Materie weitaus besser entsprechend, einen modernen Kompetenztatbestand des „Glücksspielwesens“ einzuführen. Die Verfassung selbst, deren Aufgabe unter anderem die Zuteilung der Materien zur Regelung und zur Vollziehung ist, sollte auch zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber selbst die Trennlinie ziehen und dies nicht in Form einer „Kompetenz-Kompetenz“ dem jeweiligen Inhalt des GSpG überlassen.
Das österreichische Glücksspielgesetz sieht seit den Novellen 2010/11 eine neue, transparente Erteilung der Spielbanken- und der Ausspielungskonzession(en) vor. Nach einem EU-konformen und vom BMF auch de facto fair geführten Verfahren sind Letztere für die Laufzeit ab 2013 auf fünfzehn Jahre neu vergeben worden.
Nachdem nur ein einziger Bewerber – die Österreichischen Lotterien – das Mindestkapitalerfordernis von tatsächlich einbezahlten und hinsichtlich der Mittelherkunft unbedenklichen 109 Mill. Euro erbracht hat, geht die Konzessionserteilung vom Oktober 2011 sowohl aus Sicht des EU-Rechts als auch verfassungsrechtlich in Ordnung.
Spätestens seit dem EuGH-Urteil im Fall Dickinger/Österreich ist klar, dass es national verschieden streng geregelte Anforderungen an den Erwerb einer Konzession (z. B. für das Anbieten von Internetglücksspielen) geben darf und dass es keineswegs ausreicht, sich irgendwo in der EU eine sogenannte Off-Shore-Bewilligung zu besorgen, die nur außerhalb des betreffenden Staates (etwa Malta) gilt. Österreich ist ebenso wie die BRD in diesem Punkt äußerst rigid, vor allem was die ordnungspolitischen Anforderungen betrifft.
Dies ist auch berechtigt. Dass ein Unternehmen, welches Ausspielungen um Vierer-Jackpots auszahlen können muss, eine entsprechend hohe Kapitalabsicherung braucht, um die Spieler zu schützen, liegt auf der Hand. Es gibt im Bereich der Glücksverträge keinen größeren denkbaren Vertrauensverlust als die Minder- oder Nichtauszahlung eines rechtmäßig zustehenden Gewinns.
Daher erübrigen sich Vergleiche mit Unternehmen, die eine niedrigere gesetzliche Schranke in dieser Hinsicht aufweisen, bei denen aber z. B. durch Einlagensicherung und andere Notmaßnahmen die Kunden (wie z. B. im Bank- und Kreditsektor) vom Staat geschützt werden. Der Ausspielungskonzessionär, der z. B. Euromillionen, Lotto 6 aus 45, Zahlenlotto oder Zusatzspiel anbieten darf, muss auch nach der VfGH-Rsp. leistungsfähig sein.
Das bedeutet, dass der Konzessionär stets in der Lage sein muss, sämtliche Gewinne auszubezahlen und zudem auch geringer nachgefragte, aber von Gesetzes wegen anzubietende Spiele weiter führen kann, ohne dabei in finanzielle Engpässe zu gelangen.
Eine mangelnde Kapitaldeckung würde den gesamten Markt im Bereich der Ausspielungen gefährden. Die Kontrolle der Mittelherkunft ist im Glücksspielsektor unverzichtbar. Aus all diesen Gründen wird der EuGH auch die österreichische Rechtslage mit ihren strengen ordnungspolitischen Voraussetzungen und Kontrollmaßnahmen nicht beanstanden, so viel ist sicher.Anforderungen gestaffelt Laut EuGH wäre sogar eine monopolistische Struktur zulässig, sofern diese aus ordnungspolitischen Gründen geschaffen wird. Doch dies ist in Österreich bei einer Gesamtbetrachtung des Markts weder angedacht noch volkswirtschaftlich gegeben.
Eine systematische Analyse zeigt, dass nicht zuletzt durch das den Ländern zufallende Sportwettenwesen und das durch § 5 GSpG nach wie vor an die Länder delegierte „kleine Glücksspiel“ eine Fülle von Anbietern Dienstleistungen im Wege des Glücksvertrags anbieten dürfen.
Die Anforderungen sind grundsätzlich gestaffelt, wobei Nachbesserungen auf landesgesetzlicher Ebene im Gange sind, die auch dort dem Spielsuchtpotenzial besser zu begegnen trachten. Angesichts der noch paketweise laufenden, kompletten Neuausschreibung der Konzessionen für Spielbanken und Pokersalon ist auch im „großen“ Glücksspiel noch ein Verfahren beim BMF im Gange.Das „Glücksspielwesen“ Hier wird es entscheidend sein, welche Bewerber neben den gesetzlichen Voraussetzungen die überzeugendsten und glaubwürdigsten Konzepte für verantwortungsvollen Umgang mit den Spielern (responsible gaming) und für die Bekämpfung von Geldwäschereiversuchen vorlegen. Dies alles hat mit der ursprünglichen, 1867 bis 1990 erkennbaren Monopolstruktur herzlich wenig zu tun.
Aus all diesen Gründen wäre es sinnvoll und der neu geregelten Materie weitaus besser entsprechend, einen modernen Kompetenztatbestand des „Glücksspielwesens“ einzuführen. Die Verfassung selbst, deren Aufgabe unter anderem die Zuteilung der Materien zur Regelung und zur Vollziehung ist, sollte auch zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber selbst die Trennlinie ziehen und dies nicht in Form einer „Kompetenz-Kompetenz“ dem jeweiligen Inhalt des GSpG überlassen.
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Gerhard Strejcek,
Außer Spesen nichts gewesen
Salzburger Nachrichten, 8.11.2011
Asylverfahren. Ein eher simpler Anlassfall bescherte einem Afrikaner ein Jahrzehnt an Unsicherheit und der Republik eine gesalzene Rechnung.
Der nigerianische Staatsangehörige Alexander A., geboren 1976, gehört der Volksgruppe der Edo an und flüchtete aus seiner afrikanischen Heimat nach Österreich, wo er sich in Graz niederlassen wollte. Am 6. 4. 2004 stellte er einen Asylantrag.
Begründend führte der damals 28-Jährige an, er sei in einen Konflikt zwischen zwei Volksgruppen geraten und müsse um sein Leben fürchten. Vor sieben Jahren wies das Bundesasylamt – schnell – (13. 9.) den Asylantrag ab, weil die Behörde es als nicht glaubhaft ansah, dass ein Angehöriger einer unbeteiligten Ethnie zwischen die Fronten der genannten Stämme geraten könnte. Der Konflikt sei lokal begrenzt, A. könne dem ausweichen und als Volljähriger in Nigeria den Lebensunterhalt besorgen. Es fehlten auch konkrete Beweise für die Verfolgung und Gefährdung von A. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung sei zulässig, A. wurde bescheidförmig ausgewiesen.
Auf den ersten Blick wirkt diese Entscheidung zwar hart, aber nicht unfundiert.Es passierte lang nichts A. wurde aber nicht abgeschoben, sondern blieb in Graz, und sein Anwalt erhob am 17. 9. 2004 Berufung an die damalige, gerichtsähnliche Überprüfungsbehörde, den Unabhängigen Asylsenat zu Wien. Dort lag der Akt einige Jahre offenbar unbearbeitet im Schrank, zwischenzeitig wurde der Asylgerichtshof geschaffen und in die Bundesverfassung integriert.
Die Berufung wurde vom AsylGH – rechtmäßig – in eine Beschwerde umgedeutet. Man würde jetzt meinen, dass die Sache fair, aber endgültig entschieden worden wäre. Tatsächlich nahm sich eines Tages ein Mitglied des AsylGH des Falls an, und das von einer geradezu unglaublichen Aktenflut gequälte Asylgericht entschied den Fall – und zwar ganz im Sinne der erstinstanzlichen Behörde am 23. 4. 2010 (!).
Auch diesmal blieb A. in Österreich. Er hatte zwischenzeitig eine österreichische Lebensgefährtin kennengelernt und arbeitete als Zeitungsverkäufer, beides Anzeichen einer zwar nicht besonders fortgeschrittenen Integration, aber doch eines begonnenen Einlebens in die neue Heimat. Immerhin waren nun schon sechs Jahre ins Land gezogen, und A. wusste immer noch nicht, ob ihm nun Asyl beschieden werden würde oder nicht. Sein Anwalt erhob im Wege der Verfahrenshilfe, also letztlich auf Kosten des Staates, eine Beschwerde gegen die Entscheidung des AsylGH beim Verfassungsgerichtshof.
Der VfGH prüfte den Fall und kam (28. 2. 2011, U 1286/10-9) rasch zum Schluss, dass der Asylgerichtshof willkürlich entschieden habe. Daher hob der VfGH in kleiner Besetzung (vier Mitglieder und der Vorsitzende bzw. Präsident) den Bescheid des AsylGH auf. Die Begründung der für ein Asylgericht eher hart klingenden Entscheidung ist durchaus überzeugend:
Die österreichische Rechtsordnung enthält nicht nur ein Willkürverbot für Staatsbürger, sondern im Wege des Gebots der Gleichbehandlung von Fremden untereinander (!) auch ein Sachlichkeitsgebot für die Behörden im Umgang mit Fremden. Dagegen aber hatte der AsylGH verstoßen, weil er die Sachlage des Jahres 2004 ungeprüft auf einen Fall anwendete, der mehr als ein halbes Jahrzehnt zurücklag.
An Prozesskosten sprach der VfGH dem Beschwerdeführer die übliche Pauschale von 2400 Euro zu.
Nun ist die Sache neuerlich offen. Um eine fundierte Entscheidung zu finden, wird wohl neben einer Recherche, die sich kaum auf die nigerianische Vertretungsbehörde beschränken wird können, ein ethnologisches Gutachten fällig werden. Wie soll sonst ein in Österreich etabliertes Gericht über die Frage der Plausibilität der Asylgründe des Alexander A. entscheiden können?
Selbst geografisch gebildete Menschen können die Namen der beiden involvierten Volksgruppen (Itsekiri, Ijaw) nicht einmal aussprechen, daher braucht man ein Gutachten, das bekanntlich nicht gratis erstellt wird. Weitere Kosten für den Staat sind also programmiert, es sei denn, man führt eine Art „Prämie“ für die obsiegenden Beschwerdeführer ein, die dann im Land bleiben dürfen, auch wenn letztlich kein Asylgrund vorliegt. Das Fazit ist ernüchternd Fazit dieses – paradigmatischen – Falls: Die derzeitige Handhabung des Asyl- und Fremdenrechts kostet viel und überfordert die Behörden, ja auch Gerichte.
Eine Art Generalamnestie und Legalisierung der Aufenthaltstitel von Menschen wie Alexander A., die sich nichts zuschulden haben kommen lassen, wäre allmählich die weit bessere Lösung, als nach Jahrzehnten zweifelhafte Fälle aufzurollen und aus rechtlichen Gründen immer noch letztlich unerledigt zu belassen. Hinkünftig aber muss es etwas rascher gehen, dass eine fundierte Entscheidung über eine Beschwerde des AsylGH ergeht – auch und insbesondere im Interesse des Betroffenen, letztlich aber auch, um den Steuerzahler zu schonen.
Der nigerianische Staatsangehörige Alexander A., geboren 1976, gehört der Volksgruppe der Edo an und flüchtete aus seiner afrikanischen Heimat nach Österreich, wo er sich in Graz niederlassen wollte. Am 6. 4. 2004 stellte er einen Asylantrag.
Begründend führte der damals 28-Jährige an, er sei in einen Konflikt zwischen zwei Volksgruppen geraten und müsse um sein Leben fürchten. Vor sieben Jahren wies das Bundesasylamt – schnell – (13. 9.) den Asylantrag ab, weil die Behörde es als nicht glaubhaft ansah, dass ein Angehöriger einer unbeteiligten Ethnie zwischen die Fronten der genannten Stämme geraten könnte. Der Konflikt sei lokal begrenzt, A. könne dem ausweichen und als Volljähriger in Nigeria den Lebensunterhalt besorgen. Es fehlten auch konkrete Beweise für die Verfolgung und Gefährdung von A. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung sei zulässig, A. wurde bescheidförmig ausgewiesen.
Auf den ersten Blick wirkt diese Entscheidung zwar hart, aber nicht unfundiert.Es passierte lang nichts A. wurde aber nicht abgeschoben, sondern blieb in Graz, und sein Anwalt erhob am 17. 9. 2004 Berufung an die damalige, gerichtsähnliche Überprüfungsbehörde, den Unabhängigen Asylsenat zu Wien. Dort lag der Akt einige Jahre offenbar unbearbeitet im Schrank, zwischenzeitig wurde der Asylgerichtshof geschaffen und in die Bundesverfassung integriert.
Die Berufung wurde vom AsylGH – rechtmäßig – in eine Beschwerde umgedeutet. Man würde jetzt meinen, dass die Sache fair, aber endgültig entschieden worden wäre. Tatsächlich nahm sich eines Tages ein Mitglied des AsylGH des Falls an, und das von einer geradezu unglaublichen Aktenflut gequälte Asylgericht entschied den Fall – und zwar ganz im Sinne der erstinstanzlichen Behörde am 23. 4. 2010 (!).
Auch diesmal blieb A. in Österreich. Er hatte zwischenzeitig eine österreichische Lebensgefährtin kennengelernt und arbeitete als Zeitungsverkäufer, beides Anzeichen einer zwar nicht besonders fortgeschrittenen Integration, aber doch eines begonnenen Einlebens in die neue Heimat. Immerhin waren nun schon sechs Jahre ins Land gezogen, und A. wusste immer noch nicht, ob ihm nun Asyl beschieden werden würde oder nicht. Sein Anwalt erhob im Wege der Verfahrenshilfe, also letztlich auf Kosten des Staates, eine Beschwerde gegen die Entscheidung des AsylGH beim Verfassungsgerichtshof.
Der VfGH prüfte den Fall und kam (28. 2. 2011, U 1286/10-9) rasch zum Schluss, dass der Asylgerichtshof willkürlich entschieden habe. Daher hob der VfGH in kleiner Besetzung (vier Mitglieder und der Vorsitzende bzw. Präsident) den Bescheid des AsylGH auf. Die Begründung der für ein Asylgericht eher hart klingenden Entscheidung ist durchaus überzeugend:
Die österreichische Rechtsordnung enthält nicht nur ein Willkürverbot für Staatsbürger, sondern im Wege des Gebots der Gleichbehandlung von Fremden untereinander (!) auch ein Sachlichkeitsgebot für die Behörden im Umgang mit Fremden. Dagegen aber hatte der AsylGH verstoßen, weil er die Sachlage des Jahres 2004 ungeprüft auf einen Fall anwendete, der mehr als ein halbes Jahrzehnt zurücklag.
An Prozesskosten sprach der VfGH dem Beschwerdeführer die übliche Pauschale von 2400 Euro zu.
Nun ist die Sache neuerlich offen. Um eine fundierte Entscheidung zu finden, wird wohl neben einer Recherche, die sich kaum auf die nigerianische Vertretungsbehörde beschränken wird können, ein ethnologisches Gutachten fällig werden. Wie soll sonst ein in Österreich etabliertes Gericht über die Frage der Plausibilität der Asylgründe des Alexander A. entscheiden können?
Selbst geografisch gebildete Menschen können die Namen der beiden involvierten Volksgruppen (Itsekiri, Ijaw) nicht einmal aussprechen, daher braucht man ein Gutachten, das bekanntlich nicht gratis erstellt wird. Weitere Kosten für den Staat sind also programmiert, es sei denn, man führt eine Art „Prämie“ für die obsiegenden Beschwerdeführer ein, die dann im Land bleiben dürfen, auch wenn letztlich kein Asylgrund vorliegt. Das Fazit ist ernüchternd Fazit dieses – paradigmatischen – Falls: Die derzeitige Handhabung des Asyl- und Fremdenrechts kostet viel und überfordert die Behörden, ja auch Gerichte.
Eine Art Generalamnestie und Legalisierung der Aufenthaltstitel von Menschen wie Alexander A., die sich nichts zuschulden haben kommen lassen, wäre allmählich die weit bessere Lösung, als nach Jahrzehnten zweifelhafte Fälle aufzurollen und aus rechtlichen Gründen immer noch letztlich unerledigt zu belassen. Hinkünftig aber muss es etwas rascher gehen, dass eine fundierte Entscheidung über eine Beschwerde des AsylGH ergeht – auch und insbesondere im Interesse des Betroffenen, letztlich aber auch, um den Steuerzahler zu schonen.
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Gerhard Strejcek,
Eine „Medienverfassung“ fehlt
Salzburger Nachrichten, 2.11.2011
Freie Meinung: Grundrechtskatalog sollte unterschiedliche Maßstäbe kodifizieren
Nicht nur im journalistischen Alltag zählen Grund- und Menschenrechte der Kommunikations- und Informationsfreiheit zu den wichtigsten Absicherungen und gewährleisten durch das Recht, Informationen aller Art zu geben und zu empfangen (!), erst die Rahmenbedingungen für eine freie, demokratische Gesellschaft.
Mit Recht nennt Walter Berka die Kommunikationsgrundrechte, die „Magna Charta“ geistiger Freiheit (Lehrbuch Grundrechte, 2000, 123). Die in Art. 10 Abs. 2 EMRK verankerten Eingriffstatbestände reduzieren den Freiheitsraum dort (bzw. ermächtigen dort den Gesetzgeber zu Einschränkungen des Menschenrechts), wo in der Demokratie das öffentliche Interesse oder die berechtigten Rechte Dritter berührt bzw. verletzt werden. Würde man eine Umfrage unter Jus-Studierenden starten, wären sie wahrscheinlich mehrheitlich der Meinung, dass die Vorbehalte der EMRK (mehr oder minder einheitlich in den Art. 8–12 EMRK) klar formuliert und auch für „Normalsterbliche“ verständlich seien.
Im Verhältnis zum „alten“ Staatsgrundgesetz, das in Art. 13 die Meinungsfreiheit schützt, ist diese Aussage richtig. Dennoch bleibt ein kryptischer, unsichtbarer, ungeschriebener und nur durch die sehr weit ausgefeilte Judikatur des EGMR in Straßburg ausgefüllter Raum, den eine nationale Grundrechtsreform mit sinnhaften normativen Verbürgungen und Begrenzungen ausfüllen könnte und sollte.
Wer immer ein neues österreichisches Grundgesetz zur Hand nimmt, sollte z. B. erkennen können, dass politische Kritik am stärksten vom Informationsmenschenrecht privilegiert ist, die kommerzielle Werbeaussage hingegen am schwächsten.
Und auch im Rahmen der von Politikern geforderten „dicken“ Haut, welche auch herabwürdigende und kränkende Aussagen aushalten müssen, wäre eine Klarstellung sinnvoll, dass dies eben nur für die im Rampenlicht stehenden „public figures“ gilt, nicht aber z. B. für ihre Angehörigen, wie es der EGMR im Fall Tamner v. Estland ausgeführt hat.
Was nun die Medienfreiheit als eigenen Topos der Grundrechtsdogmatik betrifft, fehlt eine systematische Verankerung der Verfassungsregeln in Österreich, die man als „Medienverfassung“ bezeichnen kann und neben Freiheitsverbürgungen (status negativus) auch den Anspruch auf lebenserhaltende Subventionsregeln (status positivus) umfassen sollte. Die für die konkrete Umsetzung von Massenkommunikation (z. B. Unterhaltungs-TV) und Qualitätsjournalismus (Printmedien, TV-Formate und Reportagen) unerlässlichen Regeln ergeben sich vielmehr erst aus einer Zusammenschau einzelner, aus verschiedenen Zeiten stammender Verfassungsgesetze, die nur wenig besagen, und denen die ORF-Gesetzgebung auffällig überreguliert gegenübersteht.
Aus heutiger Sicht muss auch kritisch angemerkt werden, dass die geradezu einzigartige Lösung des Gesetzgebers, dem ORF den Status einer „öffentlichen Stiftung“ zu geben, die in Österreich keine Rechtstradition hat, für die tatsächliche Unabhängigkeit und die staatstragende Bedeutung der solcherart geadelten Einrichtung nichts beigetragen hat. Die letzten Monate lieferten genug Beweise.
Nicht nur im journalistischen Alltag zählen Grund- und Menschenrechte der Kommunikations- und Informationsfreiheit zu den wichtigsten Absicherungen und gewährleisten durch das Recht, Informationen aller Art zu geben und zu empfangen (!), erst die Rahmenbedingungen für eine freie, demokratische Gesellschaft.
Mit Recht nennt Walter Berka die Kommunikationsgrundrechte, die „Magna Charta“ geistiger Freiheit (Lehrbuch Grundrechte, 2000, 123). Die in Art. 10 Abs. 2 EMRK verankerten Eingriffstatbestände reduzieren den Freiheitsraum dort (bzw. ermächtigen dort den Gesetzgeber zu Einschränkungen des Menschenrechts), wo in der Demokratie das öffentliche Interesse oder die berechtigten Rechte Dritter berührt bzw. verletzt werden. Würde man eine Umfrage unter Jus-Studierenden starten, wären sie wahrscheinlich mehrheitlich der Meinung, dass die Vorbehalte der EMRK (mehr oder minder einheitlich in den Art. 8–12 EMRK) klar formuliert und auch für „Normalsterbliche“ verständlich seien.
Im Verhältnis zum „alten“ Staatsgrundgesetz, das in Art. 13 die Meinungsfreiheit schützt, ist diese Aussage richtig. Dennoch bleibt ein kryptischer, unsichtbarer, ungeschriebener und nur durch die sehr weit ausgefeilte Judikatur des EGMR in Straßburg ausgefüllter Raum, den eine nationale Grundrechtsreform mit sinnhaften normativen Verbürgungen und Begrenzungen ausfüllen könnte und sollte.
Wer immer ein neues österreichisches Grundgesetz zur Hand nimmt, sollte z. B. erkennen können, dass politische Kritik am stärksten vom Informationsmenschenrecht privilegiert ist, die kommerzielle Werbeaussage hingegen am schwächsten.
Und auch im Rahmen der von Politikern geforderten „dicken“ Haut, welche auch herabwürdigende und kränkende Aussagen aushalten müssen, wäre eine Klarstellung sinnvoll, dass dies eben nur für die im Rampenlicht stehenden „public figures“ gilt, nicht aber z. B. für ihre Angehörigen, wie es der EGMR im Fall Tamner v. Estland ausgeführt hat.
Was nun die Medienfreiheit als eigenen Topos der Grundrechtsdogmatik betrifft, fehlt eine systematische Verankerung der Verfassungsregeln in Österreich, die man als „Medienverfassung“ bezeichnen kann und neben Freiheitsverbürgungen (status negativus) auch den Anspruch auf lebenserhaltende Subventionsregeln (status positivus) umfassen sollte. Die für die konkrete Umsetzung von Massenkommunikation (z. B. Unterhaltungs-TV) und Qualitätsjournalismus (Printmedien, TV-Formate und Reportagen) unerlässlichen Regeln ergeben sich vielmehr erst aus einer Zusammenschau einzelner, aus verschiedenen Zeiten stammender Verfassungsgesetze, die nur wenig besagen, und denen die ORF-Gesetzgebung auffällig überreguliert gegenübersteht.
Aus heutiger Sicht muss auch kritisch angemerkt werden, dass die geradezu einzigartige Lösung des Gesetzgebers, dem ORF den Status einer „öffentlichen Stiftung“ zu geben, die in Österreich keine Rechtstradition hat, für die tatsächliche Unabhängigkeit und die staatstragende Bedeutung der solcherart geadelten Einrichtung nichts beigetragen hat. Die letzten Monate lieferten genug Beweise.
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Gerhard Strejcek,
Die Traumtänzer im Robin-Hood-Kostüm
Der Standard, 13.10.2011
"Reichensteuer" und Transaktionssteuer sind fiskalische Dummheiten
Der französische Staatstheoretiker Alexis de Tocqueville machte um 1840 eine interessante Entdeckung in den USA. Als er die dortige Verwaltung analysierte, bemerkte er, dass die demokratische Struktur trotz betont niedriger Beamtengehälter keine nennenswerten gesamtwirtschaftlichen Einsparungen mit sich brachte. Die Folgerungen lagen auf der Hand. Aus dem Faktum, dass die Demokratie sich nur ihren obersten Organen gegenüber sparsam zeige, sei - so Tocqueville - nicht zu schließen, dass die Demokratie in allem sparsamer und damit die Steuerlast geringer sei als bei anderen Formen der Staatsführung.
Der amerikanophile Wissenschafter legte noch eins nach: "Im Gegenteil: Da die Steuerlast hauptsächlich von den Reichen getragen wird, die arme Volksschicht aber meist die Mehrheit, und damit den entscheidenden Faktor in der Demokratie bildet, ist die Demokratie die einzige Staatsform, in der jener, der die Steuer beschließt, der Verpflichtung entgeht, sie zu zahlen."
Heute ist es zwar nicht mehr so, dass die "Reichen" die hauptsächliche Steuerlast tragen, da der weniger wohlhabende, aber zahlenmäßig bedeutsame "Mittelstand" schon seit Jahrzehnten an diese unliebsame Stelle getreten ist. Aber die anderen Aussagen Tocquevilles beanspruchen volle Geltung, vor allem jene, dass die Verwaltung in der Demokratie teuer ist und dass es ein Leichtes ist, einer Gruppe Steuerlasten aufzubürden, der man gar nicht angehört. Und da Österreichs Politiker in aller Regel nicht zu den Reichen zählen (die verzweifelten Versuche dorthin materiell aufzusteigen, münden meist in Korruption und enden schließlich vor dem Strafgericht), sind sie jetzt offenbar auf die geniale Idee verfallen, die "Reichen" zu einem verstärkten "Solidarbeitrag" zur Wirtschaftskrise zu verhalten.
Das Konzept der sogenannten "Reichen" -Steuer geht ebenso wie die Finanztransaktionssteuer (FTS), vulgo "Robin-Hood-Steuer" , von einem fatalen Irrtum aus, nämlich von der Immobilität des Kapitals. Nachdem die mittlerweile bereits auf europäischer Ebene geadelte FTS das Ihre dazu beitragen wird, dass diejenigen, die im großen Stil dem Markt ausweichen können, das auch tun werden und ihre Transaktionen beispielsweise auf den prosperierenden fernöstlichen Finanzplätzen oder anderswo tätigen werden, wird die Reichensteuer genau dasselbe auf einer anderen Ebene bewirken. Wer kann, "senkt" sein hiesiges Einkommen durch Wegzug oder legale Steuervermeidungsmaßnahmen und investiert dort, wo weder FTS noch Steuern vom Ertrag die Einkünfte aus Kapitalvermögen mindern.
Diese Prognose soll auch als Warnung davor dienen, die "Stiftungs-Privilegien" anzutasten. Nur wenige "Reiche" sind insofern greifbar, als sie tatsächlich ein Gehalt hierzulande lukrieren. Mag sein, dass ein Häufchen überbezahlter Generaldirektoren künftig etwas mehr an Einkommen- oder Lohnsteuer zahlen muss, aber dieses Zusatzaufkommen ist so lächerlich gering, dass man darüber gar nicht nachdenken müsste. Auf eine Neidsteuer kann aber aus volkswirtschaftlicher Sicht verzichtet werden, wenn ihr einziger Nutzen darin besteht, es "denen da oben" auch einmal zu zeigen, aber unterm Strich nichts heraus kommt.
Der französische Staatstheoretiker Alexis de Tocqueville machte um 1840 eine interessante Entdeckung in den USA. Als er die dortige Verwaltung analysierte, bemerkte er, dass die demokratische Struktur trotz betont niedriger Beamtengehälter keine nennenswerten gesamtwirtschaftlichen Einsparungen mit sich brachte. Die Folgerungen lagen auf der Hand. Aus dem Faktum, dass die Demokratie sich nur ihren obersten Organen gegenüber sparsam zeige, sei - so Tocqueville - nicht zu schließen, dass die Demokratie in allem sparsamer und damit die Steuerlast geringer sei als bei anderen Formen der Staatsführung.
Der amerikanophile Wissenschafter legte noch eins nach: "Im Gegenteil: Da die Steuerlast hauptsächlich von den Reichen getragen wird, die arme Volksschicht aber meist die Mehrheit, und damit den entscheidenden Faktor in der Demokratie bildet, ist die Demokratie die einzige Staatsform, in der jener, der die Steuer beschließt, der Verpflichtung entgeht, sie zu zahlen."
Heute ist es zwar nicht mehr so, dass die "Reichen" die hauptsächliche Steuerlast tragen, da der weniger wohlhabende, aber zahlenmäßig bedeutsame "Mittelstand" schon seit Jahrzehnten an diese unliebsame Stelle getreten ist. Aber die anderen Aussagen Tocquevilles beanspruchen volle Geltung, vor allem jene, dass die Verwaltung in der Demokratie teuer ist und dass es ein Leichtes ist, einer Gruppe Steuerlasten aufzubürden, der man gar nicht angehört. Und da Österreichs Politiker in aller Regel nicht zu den Reichen zählen (die verzweifelten Versuche dorthin materiell aufzusteigen, münden meist in Korruption und enden schließlich vor dem Strafgericht), sind sie jetzt offenbar auf die geniale Idee verfallen, die "Reichen" zu einem verstärkten "Solidarbeitrag" zur Wirtschaftskrise zu verhalten.
Das Konzept der sogenannten "Reichen" -Steuer geht ebenso wie die Finanztransaktionssteuer (FTS), vulgo "Robin-Hood-Steuer" , von einem fatalen Irrtum aus, nämlich von der Immobilität des Kapitals. Nachdem die mittlerweile bereits auf europäischer Ebene geadelte FTS das Ihre dazu beitragen wird, dass diejenigen, die im großen Stil dem Markt ausweichen können, das auch tun werden und ihre Transaktionen beispielsweise auf den prosperierenden fernöstlichen Finanzplätzen oder anderswo tätigen werden, wird die Reichensteuer genau dasselbe auf einer anderen Ebene bewirken. Wer kann, "senkt" sein hiesiges Einkommen durch Wegzug oder legale Steuervermeidungsmaßnahmen und investiert dort, wo weder FTS noch Steuern vom Ertrag die Einkünfte aus Kapitalvermögen mindern.
Diese Prognose soll auch als Warnung davor dienen, die "Stiftungs-Privilegien" anzutasten. Nur wenige "Reiche" sind insofern greifbar, als sie tatsächlich ein Gehalt hierzulande lukrieren. Mag sein, dass ein Häufchen überbezahlter Generaldirektoren künftig etwas mehr an Einkommen- oder Lohnsteuer zahlen muss, aber dieses Zusatzaufkommen ist so lächerlich gering, dass man darüber gar nicht nachdenken müsste. Auf eine Neidsteuer kann aber aus volkswirtschaftlicher Sicht verzichtet werden, wenn ihr einziger Nutzen darin besteht, es "denen da oben" auch einmal zu zeigen, aber unterm Strich nichts heraus kommt.
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Gerhard Strejcek,
Reformbaustelle: Grundrecht auf Bildung
Salzburger Nachrichten, 04.10.2011
Staatsbürgerquoten, Eingangstests und Knock-out-Prüfungen an den Unis: Eine unzulässige Diskriminierung?
Gerade die zunehmende Verknappung des Hochschulzugangs durch Aufnahmetests und Studieneingangsphasen zeigt die Relevanz einer ausgewogenen Grundrechtsreform. Die österreichische Verfassung schützt die Unis, die freie Forschung und Lehre, sie gewährleistet den (freien) häuslichen Privatunterricht und die Gründung von Privatschulen gegen Nachweis der Qualifikation.
Eltern gewährt sie in Verbindung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 2, 1. Zusatzprotokoll) einen maßgeblichen Einfluss auf die religiöse und der Weltanschauung entsprechende Erziehung der Kinder. Schließlich gewährleistet das hier ebenfalls relevante Grundrecht der Berufswahlfreiheit (Art. 18 StGG) einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Berufen, die einen Qualifikationsnachweis voraussetzen. Nach der VfGH-Rechtsprechung verlangt dieses an sich vorbehaltlos formulierte, aber nach der Judikatur ähnlich wie die Erwerbsfreiheit gesetzlich regulierbare Grundrecht vom Staat daher die Anerkennung gleichwertiger (Aus-)Bildungswege (VfSlg 12.578/1990 und zahlreiche Folgeerkenntnisse). Aber wie sieht es mit dem immer knapper werdenden Gut des freien Bildungszugangs aus?
Der Blick in die EMRK und zur Rechtsprechung hiezu ergibt keine substanziellen Ergebnisse. Keinem Menschen darf der Zugang zu Bildung verwehrt werden, heißt es dort (nicht wörtlich, aber die nicht offizielle deutsche Übersetzung, die anführt, dass „niemandem“ dieses Recht verwehrt werden darf, bedeutet nichts anderes).
Warum hat sich die ansonsten so genau auf den Punkt kommende EMRK dieser schwammigen Formulierung ohne konkrete Ansprüche bedient?
Wer das maßgebliche Lehrbuch des Salzburger Professors und Grundrechtsexperten Walter Berka (Lehrbuch Grundrechte, 2000, Rz 397) konsultiert, erhält Antwort: Das Bildungsgrundrecht sollte keine soziale Komponente enthalten, d. h. keine Verpflichtung zur Schaffung neuer Bildungsinstitutionen. Die „Bereitstellung“ von Bildungseinrichtungen sollten die Grundrechtssubjekte nicht erzwingen können, sondern nur den diskriminierungsfreien Zugang zu bestehenden Einrichtungen. So judizierte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem belgischen Fall (EuGRZ 1975, 298).
Die heutigen, nur einfachgesetzlich verankerten Barrieren nähern sich in bedenklicher Weise dem an, was der EGMR als Diskriminierung im Auge hatte. Aber selbst wenn diese Hürden am Maßstab des Art. 2. ZPEMRK bestehen bleiben, stellt sich die grundrechtspolitische Frage:
Ist es nicht ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat, dass gerade in einem für die weitere Prosperität eines Menschen so wichtigen Bereich wie der Hochschulbildung die EMRK sogar hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus 1948 hinterherhinkt und die genuin österreichischen Grundrechte gar nichts (!) zu sagen haben?
In der feierlichen Erklärung (Art. 16 AE 1948) war immerhin noch die Rede davon, dass nur abhängig von der Qualifikation der Zugang zu der höchsten Bildungsstufe reguliert werden darf. Über kurz oder lang werden sich Straßburg und der VfGH in Wien mit der bisherigen Auslegung der EMRK befassen und klären müssen, ob Staatsbürgerquoten, Eingangstests, -phasen und Knock-out-Prüfungen womöglich unzulässige Diskriminierungen darstellen. Gerichte werden dies beantworten. Aber der Verfassungsgesetzgeber sollte bald aktiv werden und lieber in einer ehrlichen und verständlichen Weise zulässige Schranken des Bildungszugangs ausformulieren.
Gerade die zunehmende Verknappung des Hochschulzugangs durch Aufnahmetests und Studieneingangsphasen zeigt die Relevanz einer ausgewogenen Grundrechtsreform. Die österreichische Verfassung schützt die Unis, die freie Forschung und Lehre, sie gewährleistet den (freien) häuslichen Privatunterricht und die Gründung von Privatschulen gegen Nachweis der Qualifikation.
Eltern gewährt sie in Verbindung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 2, 1. Zusatzprotokoll) einen maßgeblichen Einfluss auf die religiöse und der Weltanschauung entsprechende Erziehung der Kinder. Schließlich gewährleistet das hier ebenfalls relevante Grundrecht der Berufswahlfreiheit (Art. 18 StGG) einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Berufen, die einen Qualifikationsnachweis voraussetzen. Nach der VfGH-Rechtsprechung verlangt dieses an sich vorbehaltlos formulierte, aber nach der Judikatur ähnlich wie die Erwerbsfreiheit gesetzlich regulierbare Grundrecht vom Staat daher die Anerkennung gleichwertiger (Aus-)Bildungswege (VfSlg 12.578/1990 und zahlreiche Folgeerkenntnisse). Aber wie sieht es mit dem immer knapper werdenden Gut des freien Bildungszugangs aus?
Der Blick in die EMRK und zur Rechtsprechung hiezu ergibt keine substanziellen Ergebnisse. Keinem Menschen darf der Zugang zu Bildung verwehrt werden, heißt es dort (nicht wörtlich, aber die nicht offizielle deutsche Übersetzung, die anführt, dass „niemandem“ dieses Recht verwehrt werden darf, bedeutet nichts anderes).
Warum hat sich die ansonsten so genau auf den Punkt kommende EMRK dieser schwammigen Formulierung ohne konkrete Ansprüche bedient?
Wer das maßgebliche Lehrbuch des Salzburger Professors und Grundrechtsexperten Walter Berka (Lehrbuch Grundrechte, 2000, Rz 397) konsultiert, erhält Antwort: Das Bildungsgrundrecht sollte keine soziale Komponente enthalten, d. h. keine Verpflichtung zur Schaffung neuer Bildungsinstitutionen. Die „Bereitstellung“ von Bildungseinrichtungen sollten die Grundrechtssubjekte nicht erzwingen können, sondern nur den diskriminierungsfreien Zugang zu bestehenden Einrichtungen. So judizierte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem belgischen Fall (EuGRZ 1975, 298).
Die heutigen, nur einfachgesetzlich verankerten Barrieren nähern sich in bedenklicher Weise dem an, was der EGMR als Diskriminierung im Auge hatte. Aber selbst wenn diese Hürden am Maßstab des Art. 2. ZPEMRK bestehen bleiben, stellt sich die grundrechtspolitische Frage:
Ist es nicht ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat, dass gerade in einem für die weitere Prosperität eines Menschen so wichtigen Bereich wie der Hochschulbildung die EMRK sogar hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus 1948 hinterherhinkt und die genuin österreichischen Grundrechte gar nichts (!) zu sagen haben?
In der feierlichen Erklärung (Art. 16 AE 1948) war immerhin noch die Rede davon, dass nur abhängig von der Qualifikation der Zugang zu der höchsten Bildungsstufe reguliert werden darf. Über kurz oder lang werden sich Straßburg und der VfGH in Wien mit der bisherigen Auslegung der EMRK befassen und klären müssen, ob Staatsbürgerquoten, Eingangstests, -phasen und Knock-out-Prüfungen womöglich unzulässige Diskriminierungen darstellen. Gerichte werden dies beantworten. Aber der Verfassungsgesetzgeber sollte bald aktiv werden und lieber in einer ehrlichen und verständlichen Weise zulässige Schranken des Bildungszugangs ausformulieren.
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Gerhard Strejcek,
EuGH bestätigt Glücksspielmonopol
Der Standard, 21.09.2011, 31
Maltesische Online-Konzession muss in Österreich nicht anerkannt werden
Der Europäische Gerichtshof hat in der Österreich betreffenden Rechtssache Dickinger/Ömer (Rs C 447/09 vom 15. 9. 2011) klargestellt, dass es im Glücksspielsektor keine zwingende, wechselseitige Anerkennung von Konzessionen geben muss und damit das österreichische Glücksspielmonopol bestätigt. Unterschiedliche Schutzniveaus und technische Voraussetzungen rechtfertigen es demnach, dass ein Staat sich nicht auf die Aufsichtsmaßnahmen eines anderen EU-Mitglieds (hier: Malta) verlässt und eine eigene nationale Konzession bei Spielen und Wetten vorschreibt.
In Österreich dürfen Internet-Glücksspiele nur aufgrund einer einzigen vom Staat vergebenen Ausspielungskonzession (elektronische Lotterie) angeboten werden. Die derzeit neu ausgeschriebene Konzession läuft bis 2012. Diese Einschränkung der EU-Dienstleistungsfreiheit wird mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt: vor allem die Hintanhaltung betrügerischer Aktivitäten und die Eindämmung der Spielsucht, die laut EuGH allerdings nicht durch ausufernde Werbung konterkariert werden darf. Der Abgabenertrag darf nur Nebeneffekt sein, die Regulierungsmaßnahmen müssen in sich stimmig und kohärent sein.
Konkret ging es im EuGH-Urteil um ein bereits 2009 eingeleitetes Strafverfahren gegen die Betreiber eines Servers, die mit einer maltesischen Konzession von einem in Österreich gelegenen Serverstandort aus Online-Kasinospiele angeboten hatten. Das Bezirksgericht Linz wollte vom EuGH wissen, ob die nationale Konzessionspflicht womöglich die Dienstleistungsfreiheit verletzt. Nach der Entscheidung muss das BG Linz in dem vom EuGH vorgegebenen Rahmen das Strafverfahren zu Ende führen.
Der EuGH ließ das Argument der Anbieter nicht gelten, wonach es in Malta eine besonders effiziente Aufsicht und Spielerschutzmaßnahmen bei Internet-Glücksspielen gibt, die Österreich akzeptieren müsste. Nationale Besonderheiten lassen demnach ein unterschiedliches Schutzniveau und verschiedene Aufsichtsmittel zu. Auch Fragen der technischen Kompatibilität können eine eigenständige Vorgangsweise eines Mitgliedstaates begründen.
Neue Konzessionen
Aufgrund der Novelle des Glücksspielgesetzes 2010 ist derzeit die öffentliche Interessentensuche für die (nunmehr 15) Spielbankenkonzessionen im Gang. Das Erteilungsverfahren zu den Ausspielungskonzessionen (darunter die Internet-Bewilligung für elektronische Lotterien; Lotto 6 aus 45 etc.) ist bereits weiter vorangeschritten. Dabei hält sich das Finanzministerium an die gesetzlich festgelegten Grundsätze der Transparenz und Nichtdiskriminierung. So wurde allen Bewerbern um eine Ausspielungs- und Spielbankenkonzession die genaue Gewichtung der Auswahlkriterien (u. a. Qualität der Spielerschutzmaßnahmen) bekanntgegeben; es wurden auch angemessene Bewerbungsfristen ohne Voraussetzung eines Unternehmenssitzes im Inland festgesetzt.
Der Europäische Gerichtshof hat in der Österreich betreffenden Rechtssache Dickinger/Ömer (Rs C 447/09 vom 15. 9. 2011) klargestellt, dass es im Glücksspielsektor keine zwingende, wechselseitige Anerkennung von Konzessionen geben muss und damit das österreichische Glücksspielmonopol bestätigt. Unterschiedliche Schutzniveaus und technische Voraussetzungen rechtfertigen es demnach, dass ein Staat sich nicht auf die Aufsichtsmaßnahmen eines anderen EU-Mitglieds (hier: Malta) verlässt und eine eigene nationale Konzession bei Spielen und Wetten vorschreibt.
In Österreich dürfen Internet-Glücksspiele nur aufgrund einer einzigen vom Staat vergebenen Ausspielungskonzession (elektronische Lotterie) angeboten werden. Die derzeit neu ausgeschriebene Konzession läuft bis 2012. Diese Einschränkung der EU-Dienstleistungsfreiheit wird mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt: vor allem die Hintanhaltung betrügerischer Aktivitäten und die Eindämmung der Spielsucht, die laut EuGH allerdings nicht durch ausufernde Werbung konterkariert werden darf. Der Abgabenertrag darf nur Nebeneffekt sein, die Regulierungsmaßnahmen müssen in sich stimmig und kohärent sein.
Konkret ging es im EuGH-Urteil um ein bereits 2009 eingeleitetes Strafverfahren gegen die Betreiber eines Servers, die mit einer maltesischen Konzession von einem in Österreich gelegenen Serverstandort aus Online-Kasinospiele angeboten hatten. Das Bezirksgericht Linz wollte vom EuGH wissen, ob die nationale Konzessionspflicht womöglich die Dienstleistungsfreiheit verletzt. Nach der Entscheidung muss das BG Linz in dem vom EuGH vorgegebenen Rahmen das Strafverfahren zu Ende führen.
Der EuGH ließ das Argument der Anbieter nicht gelten, wonach es in Malta eine besonders effiziente Aufsicht und Spielerschutzmaßnahmen bei Internet-Glücksspielen gibt, die Österreich akzeptieren müsste. Nationale Besonderheiten lassen demnach ein unterschiedliches Schutzniveau und verschiedene Aufsichtsmittel zu. Auch Fragen der technischen Kompatibilität können eine eigenständige Vorgangsweise eines Mitgliedstaates begründen.
Neue Konzessionen
Aufgrund der Novelle des Glücksspielgesetzes 2010 ist derzeit die öffentliche Interessentensuche für die (nunmehr 15) Spielbankenkonzessionen im Gang. Das Erteilungsverfahren zu den Ausspielungskonzessionen (darunter die Internet-Bewilligung für elektronische Lotterien; Lotto 6 aus 45 etc.) ist bereits weiter vorangeschritten. Dabei hält sich das Finanzministerium an die gesetzlich festgelegten Grundsätze der Transparenz und Nichtdiskriminierung. So wurde allen Bewerbern um eine Ausspielungs- und Spielbankenkonzession die genaue Gewichtung der Auswahlkriterien (u. a. Qualität der Spielerschutzmaßnahmen) bekanntgegeben; es wurden auch angemessene Bewerbungsfristen ohne Voraussetzung eines Unternehmenssitzes im Inland festgesetzt.
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Gerhard Strejcek,
Grundrechte der Wirtschaft
Salzburger Nachrichten, 13.09.2011
Grundrechtsreform ist ein Thema, das in Österreich mit fachlichem Ernst, aber bislang ohne politischen Nachdruck betrieben wurde.
Große Würfe blieben daher aus, sieht man von
schrittweisen Erweiterungen des Grundrechtsschutzes etwa im Bereich der Kunstfreiheit und einer Neufassung des Bundesverfassungsgesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit
Ende der 80er-Jahre ab. Bekanntlich muss einer Verfassungsreform stets ein großer politischer Konsens vorausgehen – und hier lagen die Positionen der großen „Lager“ stets zu
weit auseinander, um einen ähnlichen Kompromiss zu ermöglichen, wie er jetzt in der Ortstafelfrage erreicht wurde, wo im Übrigen auch die beteiligten „Mentoren“ Anerkennung
verdienen.
Ein Weg, den Konsens für ein neues Grundgesetz (bzw. Grundrechte-BVG) schneller zu erreichen, besteht in der schrittweisen Reform des „alten“ Staatsgrundgesetzes aus 1867, das nun schon sehr in die Jahre gekommen ist.
Zwar hat die Europäische Menschenrechtskonvention auch schon über sechs Jahrzehnte auf dem Buckel (sie stammt aus 1950, Österreich trat 1958 bei), doch weist sie durchwegs klare und inhaltlich deutlich abgesteckte Rechte sowie materielle Gesetzesvorbehalte auf, während die Verbürgung und die Eingriffsschranken bei Grundrechten, die nur im StGG 1867 verankert sind, oftmals für Nichtjuristen kaum erkennbar sind.
So ist dies auch der Fall bei Erwerbs- und Berufswahlfreiheit (Art. 6, 18 StGG). Immerhin zählt das Erwerbsfreiheits-Grundrecht zu den am häufigsten beim VfGH eingemahnten Verbürgungen, der auch sehr präzise „Formeln“ dazu entwickelt hat.
Demnach muss ein Gesetz, das die Erwerbsfreiheit beschränkt, im öffentlichen Interesse liegen, zur Zielerreichung erforderlich, dieser adäquat (verhältnismäßig) und auch sonst sachlich gerechtfertigt sein. Im StGG selbst ist aber nur kryptisch davon die Rede, dass jeder Staatsbürger (gemeint: Bürger eines EWR-Staats) unter den „gesetzlichen Bedingungen“ jeden Erwerbszweig frei ausüben darf. Ein aktueller Grundrechtskatalog soll den Stand der Zeit widerspiegeln, ohne die bewährten Verbürgungen fallen zu lassen.
Diese technische Aufgabe kann relativ leicht erfüllt werden, wenn die maßgeblichen Grundsätze, welche die Judikatur seit 1986 entwickelt hat, in das „neue“ Grundrecht einfließen würden. Jeder, der die Verfassung zur Hand nimmt, sollte die Kriterien nachlesen können, die z. B. in dem jetzt anhängigen Fall zu den Sonntagsöffnungszeiten angewendet werden. Dieselbe Vorgangsweise empfiehlt sich zum „vorbehaltlosen“ Berufswahlgrundrecht (Art. 18 StGG), das vor allem die Anerkennung alternativer bzw. individueller Ausbildungswege schützt, ohne dass dies im Text erkennbar wird.
Ein Weg, den Konsens für ein neues Grundgesetz (bzw. Grundrechte-BVG) schneller zu erreichen, besteht in der schrittweisen Reform des „alten“ Staatsgrundgesetzes aus 1867, das nun schon sehr in die Jahre gekommen ist.
Zwar hat die Europäische Menschenrechtskonvention auch schon über sechs Jahrzehnte auf dem Buckel (sie stammt aus 1950, Österreich trat 1958 bei), doch weist sie durchwegs klare und inhaltlich deutlich abgesteckte Rechte sowie materielle Gesetzesvorbehalte auf, während die Verbürgung und die Eingriffsschranken bei Grundrechten, die nur im StGG 1867 verankert sind, oftmals für Nichtjuristen kaum erkennbar sind.
So ist dies auch der Fall bei Erwerbs- und Berufswahlfreiheit (Art. 6, 18 StGG). Immerhin zählt das Erwerbsfreiheits-Grundrecht zu den am häufigsten beim VfGH eingemahnten Verbürgungen, der auch sehr präzise „Formeln“ dazu entwickelt hat.
Demnach muss ein Gesetz, das die Erwerbsfreiheit beschränkt, im öffentlichen Interesse liegen, zur Zielerreichung erforderlich, dieser adäquat (verhältnismäßig) und auch sonst sachlich gerechtfertigt sein. Im StGG selbst ist aber nur kryptisch davon die Rede, dass jeder Staatsbürger (gemeint: Bürger eines EWR-Staats) unter den „gesetzlichen Bedingungen“ jeden Erwerbszweig frei ausüben darf. Ein aktueller Grundrechtskatalog soll den Stand der Zeit widerspiegeln, ohne die bewährten Verbürgungen fallen zu lassen.
Diese technische Aufgabe kann relativ leicht erfüllt werden, wenn die maßgeblichen Grundsätze, welche die Judikatur seit 1986 entwickelt hat, in das „neue“ Grundrecht einfließen würden. Jeder, der die Verfassung zur Hand nimmt, sollte die Kriterien nachlesen können, die z. B. in dem jetzt anhängigen Fall zu den Sonntagsöffnungszeiten angewendet werden. Dieselbe Vorgangsweise empfiehlt sich zum „vorbehaltlosen“ Berufswahlgrundrecht (Art. 18 StGG), das vor allem die Anerkennung alternativer bzw. individueller Ausbildungswege schützt, ohne dass dies im Text erkennbar wird.
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Gerhard Strejcek,
Oh du mein "kaiserliches" Österreich
Salzburger Nachrichten, 26.07.2011
Lex Habsburg. Die Aufhebung der Lex Habsburg zwischen bloßer Kosmetik des Wahlrechts und Habsburgerkult. Die „große Zeit“ der Monarchie ist noch in vielen Köpfen.
Art. 60 Abs. 3 BVG schloss seit Inkrafttreten der Bundesverfassung 1920 (ursprünglich nur in einem anderen Absatz, inhaltlich aber ident) Angehörige regierender Häuser und von Familien, die ehemals regiert haben, vom passiven Wahlrecht (= Wählbarkeit) bei der Bundespräsidentenwahl aus.
Gemeinhin wurde diese Regelung, die mit der letzten BVG-Novelle aus dem Rechtsbestand entfernt wurde, als Lex Habsburg bezeichnet, aber sie betraf in Wahrheit viel mehr Staatsbürger /-innen, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Dagegen regelt das ungleich rigorosere Habsburger-Gesetz, das nach wie vor Teil der Bundesverfassung ist, seit März 1919 staatsrechtliche Aspekte, die sich tatsächlich nur auf das ehemals regierende „Haus“ Habsburg beziehen (Vermögenseinziehung; Landesverweisung). Die im BVG enthaltene Regel über den Wahlrechtsausschluss ist unlängst aufgehoben worden. Ein verfassungspolitischer Fortschritt, aber letztlich nur ein eher kosmetischer, wie zu zeigen ist.Studenten atmen auf Neben den Angehörigen der Familie werden jetzt vor allem Jus-Studierende aufatmen, denn die Frage des Geltungsbereichs dieser Regel galt als knifflig. Abgesehen von dem einigermaßen klaren und abgrenzbaren Begriff des „regierenden Hauses“ (z. B. Windsor, Bernadotte) musste im Einzelfall geprüft werden, ob nicht entfernte familiäre Bande zu einer „ehemals regierenden“ Familie bestünden, nicht nur jener des „Hauses Österreich“, sonder jeder Familie, die ehemals regiert hat.
Familie ist ein zivilrechtlich bestimmter Begriff, zur Familie zählen auch Ehegatten, Schwäger, Adoptivkinder, uneheliche Kinder usw. Und es gab auf dem berühmten Fleckerlteppich des Hl. Römischen Reichs eine Unzahl von Familien, die „ehemals regiert“ haben. Vor familiären Banden dieser unerwünschten Art waren daher auch die Herren Hainisch, Miklas, Renner, Körner, Schärf, Jonas, Kirchschläger, Waldheim, Klestil und Fischer nicht gefeit. Doch wurde das je überprüft?
Es wäre eine reizvolle Aufgabe für Zeithistoriker, in den Archiven nach solchen Unbedenklichkeitsbescheinigungen der vormaligen und des amtierenden Bundespräsidenten zu suchen. Sie werden wahrscheinlich nicht fündig werden. Wie es scheint, wurde die umstrittene Lex Habsburg in 80 Jahren BVG (1920–1934, 1945–2011) kein einziges Mal angewendet, sieht man von der letzten Wahl ab, wo es nahe daran war. In Betracht kam die Anwendung dieser Regel evidenterweise erst vor der letzten Bundespräsidentenwahl, als Ulrich Habsburg begann, Unterstützungsunterschriften zu sammeln und davon bereits eine namhafte Zahl, nicht aber die erforderlichen 6000 Signaturen erhielt.
Angewendet wurde die Regel daher in concreto nicht, aber im Vorfeld der Wahl releviert. Man muss im Irrealis schreiben: Hätte Habsburg das Unterstützungsziel erreicht, wäre seine Wahlbewerbung bzw. Kandidatur mangels Wählbarkeit „als nicht eingebracht“ verstanden worden, was immer das bedeutet.
Rechtlich betrachtet, hätte eine Information an den Betreffenden und ein Nichtaufscheinen auf dem Stimmzettel wahrscheinlich gereicht. Der vielseitige Akademiker Ulrich Habsburg, den „Staatsbürger-“Autor Janko Ferk unlängst sehr treffend biografiert hat, stammt in der Deszendentenlinie von Kaiser Leopold II. ab, der auch Großherzog der Toskana war. Seine Zugehörigkeit zu einer Familie, die ehemals regiert hat, ist daher unbestritten.
Absurderweise galt dies im Ergebnis auch für seine Gattin und auch für seine Schwiegertochter, die bis 2011 auch von der Wählbarkeit zum Bundespräsidenten ausgeschlossen waren. Woher wissen wir aber, dass z. B. der Oberst der k. u. k. Armee, Theodor Körner, oder der aristokratisch auftretende Kurt Waldheim unter den Vorfahren keine Angehörigen einer „ehemals regierenden Familie“ hatten? Die Liebe zum Prunk Gut, dass diese obsolete Regel, die genealogische Studien erforderte, Schnee von gestern ist und die Wahlbehörden nicht mehr quält. Aber was ist mit dem Habsburger-Gesetz und den Vorbehalten, welche die Republik zu allen möglichen Habsburg tangierenden Rechtsnormen abgegeben hat?
Zu den unschönen Aspekten der Verfassung zählt, dass z. B. zur RassDiskr-Konvention (= Konvention gegen jede Form rassischer Diskriminierung und darauf fußendes BVG), zum Eigentumsrecht der EMRK (Art. 1 1. Zusatzprotokoll), zum Verbot der Ausweisung von Staatsbürgern (Art. 3 4. ZPEMRK), zum Staatsvertrag von Wien 1955, zum Beitrittsvertrag zur EU 1994 stets Vorbehalte zwecks Aufrechterhaltung des HabsbG abgegeben wurden.
Und obwohl die Republik als solche stets gefestigt antimonarchisch auftrat, hat man nicht den Eindruck, dass der revolutionäre Bruch von 1918 hundert Jahre danach in der „Verfassungswirklichkeit“ spürbar ist. Politiker residieren mit Vorliebe in den Prunkräumen der Habsburger, der Bundespräsident sitzt im Leopoldinischen Trakt und tritt mit Obersthofmeister, Brokat-Tapetentür und Prunkuhren wie ein Ersatzmonarch auf, aus dem angekündigten Verzicht auf das Jagdschloss Mürzsteg wurde nichts, selbst das ORF-Publikum amüsiert sich über eine – einfach konzipierte, ahistorische – Figur, die eindeutig einen Habsburger-Kaiser darstellt.Neue Sichtweise notwendig Noch unglaublicher ist, dass sogar der völlig verkitschte Sisi-Kult weiter zweifelhafte Filmwerke und ein eigenes Museum in Wien beherrscht. Konnte man die begabte Romy Schneider noch als Nachkriegsablenkung durchgehen lassen, muss man sich 2011 fragen, ob es nicht Zeit für eine differenzierte und historisch „gerechte“ Sichtweise der Habsburger wäre.
Dann würde sich auch neben einigen negativen Aspekten herausstellen, dass die ehemaligen Monarchen in Sachen Minderheitenschutz, religiöser Toleranz, multilingualer Vielvölkerstaat bzw. „Donau-EU“ und Bescheidenheit durchaus mit ihren republikanischen Nachfolgern konkurrieren konnten, allerdings auch mit den Schwächen, die Normalverbraucher ebenfalls aufweisen.
Eines Tages wird man daher um den Ausgleich in Sachen HabsbG oder zumindest um die endgültige rechtliche Lösung der Habsburger-Frage nicht herumkommen.
Art. 60 Abs. 3 BVG schloss seit Inkrafttreten der Bundesverfassung 1920 (ursprünglich nur in einem anderen Absatz, inhaltlich aber ident) Angehörige regierender Häuser und von Familien, die ehemals regiert haben, vom passiven Wahlrecht (= Wählbarkeit) bei der Bundespräsidentenwahl aus.
Gemeinhin wurde diese Regelung, die mit der letzten BVG-Novelle aus dem Rechtsbestand entfernt wurde, als Lex Habsburg bezeichnet, aber sie betraf in Wahrheit viel mehr Staatsbürger /-innen, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Dagegen regelt das ungleich rigorosere Habsburger-Gesetz, das nach wie vor Teil der Bundesverfassung ist, seit März 1919 staatsrechtliche Aspekte, die sich tatsächlich nur auf das ehemals regierende „Haus“ Habsburg beziehen (Vermögenseinziehung; Landesverweisung). Die im BVG enthaltene Regel über den Wahlrechtsausschluss ist unlängst aufgehoben worden. Ein verfassungspolitischer Fortschritt, aber letztlich nur ein eher kosmetischer, wie zu zeigen ist.Studenten atmen auf Neben den Angehörigen der Familie werden jetzt vor allem Jus-Studierende aufatmen, denn die Frage des Geltungsbereichs dieser Regel galt als knifflig. Abgesehen von dem einigermaßen klaren und abgrenzbaren Begriff des „regierenden Hauses“ (z. B. Windsor, Bernadotte) musste im Einzelfall geprüft werden, ob nicht entfernte familiäre Bande zu einer „ehemals regierenden“ Familie bestünden, nicht nur jener des „Hauses Österreich“, sonder jeder Familie, die ehemals regiert hat.
Familie ist ein zivilrechtlich bestimmter Begriff, zur Familie zählen auch Ehegatten, Schwäger, Adoptivkinder, uneheliche Kinder usw. Und es gab auf dem berühmten Fleckerlteppich des Hl. Römischen Reichs eine Unzahl von Familien, die „ehemals regiert“ haben. Vor familiären Banden dieser unerwünschten Art waren daher auch die Herren Hainisch, Miklas, Renner, Körner, Schärf, Jonas, Kirchschläger, Waldheim, Klestil und Fischer nicht gefeit. Doch wurde das je überprüft?
Es wäre eine reizvolle Aufgabe für Zeithistoriker, in den Archiven nach solchen Unbedenklichkeitsbescheinigungen der vormaligen und des amtierenden Bundespräsidenten zu suchen. Sie werden wahrscheinlich nicht fündig werden. Wie es scheint, wurde die umstrittene Lex Habsburg in 80 Jahren BVG (1920–1934, 1945–2011) kein einziges Mal angewendet, sieht man von der letzten Wahl ab, wo es nahe daran war. In Betracht kam die Anwendung dieser Regel evidenterweise erst vor der letzten Bundespräsidentenwahl, als Ulrich Habsburg begann, Unterstützungsunterschriften zu sammeln und davon bereits eine namhafte Zahl, nicht aber die erforderlichen 6000 Signaturen erhielt.
Angewendet wurde die Regel daher in concreto nicht, aber im Vorfeld der Wahl releviert. Man muss im Irrealis schreiben: Hätte Habsburg das Unterstützungsziel erreicht, wäre seine Wahlbewerbung bzw. Kandidatur mangels Wählbarkeit „als nicht eingebracht“ verstanden worden, was immer das bedeutet.
Rechtlich betrachtet, hätte eine Information an den Betreffenden und ein Nichtaufscheinen auf dem Stimmzettel wahrscheinlich gereicht. Der vielseitige Akademiker Ulrich Habsburg, den „Staatsbürger-“Autor Janko Ferk unlängst sehr treffend biografiert hat, stammt in der Deszendentenlinie von Kaiser Leopold II. ab, der auch Großherzog der Toskana war. Seine Zugehörigkeit zu einer Familie, die ehemals regiert hat, ist daher unbestritten.
Absurderweise galt dies im Ergebnis auch für seine Gattin und auch für seine Schwiegertochter, die bis 2011 auch von der Wählbarkeit zum Bundespräsidenten ausgeschlossen waren. Woher wissen wir aber, dass z. B. der Oberst der k. u. k. Armee, Theodor Körner, oder der aristokratisch auftretende Kurt Waldheim unter den Vorfahren keine Angehörigen einer „ehemals regierenden Familie“ hatten? Die Liebe zum Prunk Gut, dass diese obsolete Regel, die genealogische Studien erforderte, Schnee von gestern ist und die Wahlbehörden nicht mehr quält. Aber was ist mit dem Habsburger-Gesetz und den Vorbehalten, welche die Republik zu allen möglichen Habsburg tangierenden Rechtsnormen abgegeben hat?
Zu den unschönen Aspekten der Verfassung zählt, dass z. B. zur RassDiskr-Konvention (= Konvention gegen jede Form rassischer Diskriminierung und darauf fußendes BVG), zum Eigentumsrecht der EMRK (Art. 1 1. Zusatzprotokoll), zum Verbot der Ausweisung von Staatsbürgern (Art. 3 4. ZPEMRK), zum Staatsvertrag von Wien 1955, zum Beitrittsvertrag zur EU 1994 stets Vorbehalte zwecks Aufrechterhaltung des HabsbG abgegeben wurden.
Und obwohl die Republik als solche stets gefestigt antimonarchisch auftrat, hat man nicht den Eindruck, dass der revolutionäre Bruch von 1918 hundert Jahre danach in der „Verfassungswirklichkeit“ spürbar ist. Politiker residieren mit Vorliebe in den Prunkräumen der Habsburger, der Bundespräsident sitzt im Leopoldinischen Trakt und tritt mit Obersthofmeister, Brokat-Tapetentür und Prunkuhren wie ein Ersatzmonarch auf, aus dem angekündigten Verzicht auf das Jagdschloss Mürzsteg wurde nichts, selbst das ORF-Publikum amüsiert sich über eine – einfach konzipierte, ahistorische – Figur, die eindeutig einen Habsburger-Kaiser darstellt.Neue Sichtweise notwendig Noch unglaublicher ist, dass sogar der völlig verkitschte Sisi-Kult weiter zweifelhafte Filmwerke und ein eigenes Museum in Wien beherrscht. Konnte man die begabte Romy Schneider noch als Nachkriegsablenkung durchgehen lassen, muss man sich 2011 fragen, ob es nicht Zeit für eine differenzierte und historisch „gerechte“ Sichtweise der Habsburger wäre.
Dann würde sich auch neben einigen negativen Aspekten herausstellen, dass die ehemaligen Monarchen in Sachen Minderheitenschutz, religiöser Toleranz, multilingualer Vielvölkerstaat bzw. „Donau-EU“ und Bescheidenheit durchaus mit ihren republikanischen Nachfolgern konkurrieren konnten, allerdings auch mit den Schwächen, die Normalverbraucher ebenfalls aufweisen.
Eines Tages wird man daher um den Ausgleich in Sachen HabsbG oder zumindest um die endgültige rechtliche Lösung der Habsburger-Frage nicht herumkommen.
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Gerhard Strejcek,
Die Reform der Briefwahl ist schwierig
Salzburger Nachrichten, 10.05.2011
Wie kaum ein zweites Beispiel zeigt die Briefwahl den schnellen Wandel von verfassungspolitischen Meinungen und Stimmungen an. Vor wenigen Jahren noch eine Forderung an den Gesetzgeber,
ist die bequeme Wahlmodalität nun plötzlich zum Fanal geworden.
In letzter Zeit mehren sich Stimmen, welche Kritik an dieser Form der Stimmabgabe wegen zu leichter
Verfügbarkeit der Wahlkarten und wegen der Manipulationsmöglichkeiten äußern, die binnen offener Frist angeblich eine „strategische“ Stimmabga- be nach Schluss der
Wahllokale und den ersten Hochrechnungen ermöglichen.
Der VfGH hat bereits eine Wahl für nichtig erklärt, bei der (in Lienz) Wahlkarten entgegen der Wahlordnung telefonisch angefordert werden konnten. Die diversen Anlassfälle haben schon zu einzelnen Vorstößen auf Landesebene zur Fristverkürzung im Wahlrecht geführt. Doch sogar die „Verfassungswidrigkeit“ der Briefwahl an sich steht nach wie vor im Raum.
All diese Einzelfragen führen verallgemeinert zu der Gretchenfrage: Ist die Briefwahl an sich verfassungswidrig, weil sie Missbräuche und Unterschleife ermöglicht?
Wenn dem so wäre, dann könnte eine partielle Reform an der verfassungsrechtlichen Fundamentalkritik kaum etwas ändern. Denn wenn die Modalität der Stimmabgabe potenziell den Wahlgrundsätzen widerspricht und an allen Ecken und Enden (Wahlkartenanforderung; Ausfüllung der Stimmzettel; Unsicherheit des Postwegs; Ausdehnung des Wahlzeitraums) Ansätze zur Verletzung des freien, geheimen oder persönlichen Wahlrechts bietet, dann helfen auch kosmetische Korrekturen nicht.
Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit der Briefwahl an sich ist in seiner Pauschalität aber rechtsdogmatisch betrachtet unberechtigt. Zumindest bei der Stimmabgabe im Ausland besteht sogar die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, die Briefwahl vorzusehen, da der VfGH die Aufnahme von Staatsbürgern ohne Wohnsitz im Inland in die Wählerverzeichnisse bzw die -evidenz für zwingend erachtet hat (VfSlg 12.023/1989).
Daher musste vor rund zwei Jahrzehnten bereits die Briefwahl zumindest im Ausland eingeführt werden, weil andere Modalitäten der Stimmabgabe (z. B. in Vertretungsbehörden) nicht nur für die Betroffenen unpraktisch sind – man denke an die Entfernungen in Russland, den USA, China oder Kanada –, sondern auch völkerrechtlich fragwürdig wären.
Nach wie vor empfinden manche Staaten wie z. B. die Schweiz die Tätigkeit von fremden Wahlbehörden auf ihrem Boden als unzulässigen Eingriff in die Souveränität. Daher bleiben nur Fernübermittlungen via Post oder Internet, um dem Gebot zu genügen, dass auch Österreicher ohne Wohnsitz im Inland wahlberechtigt sind und auch – was wieder zum Teil Verfassungspolitik ist – vor Ort ihre Stimme abgeben können. Der Gesetzgeber hat sich seinerzeit in der Wahlreform 1990 der Technik punktueller Verfassungsbestimmungen bedient, die zwar wegen ihrer Unübersichtlichkeit und Anlassbezogenheit kritisiert wird, aber den Vorteil hat, spezielle Regeln gegen den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit abzusichern. Demgegenüber war die Aufhebung der Verfassungsbestimmungen und die Verankerung einer nur unzureichenden „Deckung“ in der Wahlreform 1992/93 viel gefährlicher.
Vor allem galt diese nur für Bundeswahlen. Erst die Wahlreform 2007 brachte eine klare Absicherung der Briefwahl samt Ermächtigung auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Daher mutet es wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass ausgerechnet, nachdem erstmals eine breite Verfassungsgrundlage für die Briefwahl besteht, nun die massiven Vorwürfe kommen, die in die Verfassungssphäre reichen.Standardminderung bei Sicherheit Daher muss einmal klargestellt werden, dass mit dem Begriff der Briefwahl an sich schon eine gewisse Standardminderung bei der Anwendung der Wahlgrundsätze verbunden ist. Denn es ist denkunmöglich, eine Brief- oder Internetwahl so abzusichern, dass sie denselben Sicherheitsstandards genügt wie die Stimmabgabe vor der Wahlbehörde.
Briefwahl und E-Voting im Inland (das Zweitgenannte erst bei Kammer- und ÖH-Wahlen) verkörpern demnach Kompromisse, die rechtspolitisch im Interesse des leichteren Zugangs zu den politischen Grundrechten geschlossen werden.
Die Konsequenzen, die man aus dieser Einsicht zieht, eröffnen ein breites Spektrum an Reformmöglichkeiten, von der (meines Erachtens kontraproduktiven) Abschaffung bis hin zu einzelnen Verbesserungen.
Der VfGH hat bereits eine Wahl für nichtig erklärt, bei der (in Lienz) Wahlkarten entgegen der Wahlordnung telefonisch angefordert werden konnten. Die diversen Anlassfälle haben schon zu einzelnen Vorstößen auf Landesebene zur Fristverkürzung im Wahlrecht geführt. Doch sogar die „Verfassungswidrigkeit“ der Briefwahl an sich steht nach wie vor im Raum.
All diese Einzelfragen führen verallgemeinert zu der Gretchenfrage: Ist die Briefwahl an sich verfassungswidrig, weil sie Missbräuche und Unterschleife ermöglicht?
Wenn dem so wäre, dann könnte eine partielle Reform an der verfassungsrechtlichen Fundamentalkritik kaum etwas ändern. Denn wenn die Modalität der Stimmabgabe potenziell den Wahlgrundsätzen widerspricht und an allen Ecken und Enden (Wahlkartenanforderung; Ausfüllung der Stimmzettel; Unsicherheit des Postwegs; Ausdehnung des Wahlzeitraums) Ansätze zur Verletzung des freien, geheimen oder persönlichen Wahlrechts bietet, dann helfen auch kosmetische Korrekturen nicht.
Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit der Briefwahl an sich ist in seiner Pauschalität aber rechtsdogmatisch betrachtet unberechtigt. Zumindest bei der Stimmabgabe im Ausland besteht sogar die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, die Briefwahl vorzusehen, da der VfGH die Aufnahme von Staatsbürgern ohne Wohnsitz im Inland in die Wählerverzeichnisse bzw die -evidenz für zwingend erachtet hat (VfSlg 12.023/1989).
Daher musste vor rund zwei Jahrzehnten bereits die Briefwahl zumindest im Ausland eingeführt werden, weil andere Modalitäten der Stimmabgabe (z. B. in Vertretungsbehörden) nicht nur für die Betroffenen unpraktisch sind – man denke an die Entfernungen in Russland, den USA, China oder Kanada –, sondern auch völkerrechtlich fragwürdig wären.
Nach wie vor empfinden manche Staaten wie z. B. die Schweiz die Tätigkeit von fremden Wahlbehörden auf ihrem Boden als unzulässigen Eingriff in die Souveränität. Daher bleiben nur Fernübermittlungen via Post oder Internet, um dem Gebot zu genügen, dass auch Österreicher ohne Wohnsitz im Inland wahlberechtigt sind und auch – was wieder zum Teil Verfassungspolitik ist – vor Ort ihre Stimme abgeben können. Der Gesetzgeber hat sich seinerzeit in der Wahlreform 1990 der Technik punktueller Verfassungsbestimmungen bedient, die zwar wegen ihrer Unübersichtlichkeit und Anlassbezogenheit kritisiert wird, aber den Vorteil hat, spezielle Regeln gegen den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit abzusichern. Demgegenüber war die Aufhebung der Verfassungsbestimmungen und die Verankerung einer nur unzureichenden „Deckung“ in der Wahlreform 1992/93 viel gefährlicher.
Vor allem galt diese nur für Bundeswahlen. Erst die Wahlreform 2007 brachte eine klare Absicherung der Briefwahl samt Ermächtigung auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Daher mutet es wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass ausgerechnet, nachdem erstmals eine breite Verfassungsgrundlage für die Briefwahl besteht, nun die massiven Vorwürfe kommen, die in die Verfassungssphäre reichen.Standardminderung bei Sicherheit Daher muss einmal klargestellt werden, dass mit dem Begriff der Briefwahl an sich schon eine gewisse Standardminderung bei der Anwendung der Wahlgrundsätze verbunden ist. Denn es ist denkunmöglich, eine Brief- oder Internetwahl so abzusichern, dass sie denselben Sicherheitsstandards genügt wie die Stimmabgabe vor der Wahlbehörde.
Briefwahl und E-Voting im Inland (das Zweitgenannte erst bei Kammer- und ÖH-Wahlen) verkörpern demnach Kompromisse, die rechtspolitisch im Interesse des leichteren Zugangs zu den politischen Grundrechten geschlossen werden.
Die Konsequenzen, die man aus dieser Einsicht zieht, eröffnen ein breites Spektrum an Reformmöglichkeiten, von der (meines Erachtens kontraproduktiven) Abschaffung bis hin zu einzelnen Verbesserungen.
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Gerhard Strejcek,
Kein Anspruch auf atomfreien Strom in Österreich
Der Standard, 23.03.2011
Verfassungsgesetz untersagt nur AKW-Inbetriebnahme
Seit dem Jahr 1999 ist das Bundesverfassungsgesetz über ein "atomfreies Österreich" (BGBl I 149) in Kraft. Der Titel des Gesetzes ist zweifellos misslungen, weil auch patriotisch-österreichische Moleküle aus Atomen bestehen. Sein Inhalt hat aber im Lichte der Ereignisse in Fukushima an Brisanz gewonnen. Besonders die Regeln über das Verbot der Durchführung und Lagerung spaltbaren Materials, aber auch die weitest mögliche Auslegung des inländischen Parteibegriffs in Verfahren über grenznahe AKWs sind von Bedeutung. Denn dass Erzeugung von Atomstrom in Österreich keine Aussicht auf Genehmigung hat, steht ohnehin außer Streit.
§ 177b StGB, seit 2006 in Kraft, verpönt den Umgang mit Kernmaterial und stellt rechtswidrige Herstellung, Bearbeitung etc. unter Strafdrohung. Auch Importe und Exporte radioaktiven Materials und von "Strahleneinrichtungen" können, sofern gewisse (im Gesetz aufgezählte) Folgen eintreten, den Straftatbestand verwirklichen. Die Strafdrohung beträgt bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe.
Umfassender Strahlenschutz
Umfassende Regelungen betreffen den Strahlenschutz, neben einem Gesetz mit 40 Paragrafen auch eine detaillierte Verordnung (BGBl II 2006/91). Allein diese Regeln und deren Anwendungsbereich (z. B. Anlagen; Röntgenanalysen; Laserprodukte) zeigen, dass Österreich kein strahlenfreies Eiland ist. Außerdem trifft das Gesetz Vorkehrungen für "radiologische Notstandssituationen".
Ein zweiter Blick auf die Rechtslage zeigt zahlreiche Durchlöcherungen des vorgeblich "atomfreien" Staates. Abgesehen von der Mitgliedschaft bei Euratom, die im Zusammenhang mit dem Strahlenschutz sinnvoll ist, betrifft dies vor allem den Import von Atomstrom. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs besteht kein Rechtsanspruch auf die Lieferung "atomfreien" Stroms (VfGH 25. 2. 2002, V 13/02). Dieses Erkenntnis erging nach Inkrafttreten des Atom-BVG und zeigt, dass es nicht gelungen ist, diese Verfassungsnorm auch auf Grundrechtsebene mit Leben zu erfüllen. Jedenfalls hat das Höchstgericht dem Atom-BVG nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung beigemessen, die die Inbetriebnahme von AKWs im Inland, nicht aber die "Stromerzeugung" und indirekte Nutzung der Atomkraft umfasst.
Seit dem Jahr 1999 ist das Bundesverfassungsgesetz über ein "atomfreies Österreich" (BGBl I 149) in Kraft. Der Titel des Gesetzes ist zweifellos misslungen, weil auch patriotisch-österreichische Moleküle aus Atomen bestehen. Sein Inhalt hat aber im Lichte der Ereignisse in Fukushima an Brisanz gewonnen. Besonders die Regeln über das Verbot der Durchführung und Lagerung spaltbaren Materials, aber auch die weitest mögliche Auslegung des inländischen Parteibegriffs in Verfahren über grenznahe AKWs sind von Bedeutung. Denn dass Erzeugung von Atomstrom in Österreich keine Aussicht auf Genehmigung hat, steht ohnehin außer Streit.
§ 177b StGB, seit 2006 in Kraft, verpönt den Umgang mit Kernmaterial und stellt rechtswidrige Herstellung, Bearbeitung etc. unter Strafdrohung. Auch Importe und Exporte radioaktiven Materials und von "Strahleneinrichtungen" können, sofern gewisse (im Gesetz aufgezählte) Folgen eintreten, den Straftatbestand verwirklichen. Die Strafdrohung beträgt bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe.
Umfassender Strahlenschutz
Umfassende Regelungen betreffen den Strahlenschutz, neben einem Gesetz mit 40 Paragrafen auch eine detaillierte Verordnung (BGBl II 2006/91). Allein diese Regeln und deren Anwendungsbereich (z. B. Anlagen; Röntgenanalysen; Laserprodukte) zeigen, dass Österreich kein strahlenfreies Eiland ist. Außerdem trifft das Gesetz Vorkehrungen für "radiologische Notstandssituationen".
Ein zweiter Blick auf die Rechtslage zeigt zahlreiche Durchlöcherungen des vorgeblich "atomfreien" Staates. Abgesehen von der Mitgliedschaft bei Euratom, die im Zusammenhang mit dem Strahlenschutz sinnvoll ist, betrifft dies vor allem den Import von Atomstrom. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs besteht kein Rechtsanspruch auf die Lieferung "atomfreien" Stroms (VfGH 25. 2. 2002, V 13/02). Dieses Erkenntnis erging nach Inkrafttreten des Atom-BVG und zeigt, dass es nicht gelungen ist, diese Verfassungsnorm auch auf Grundrechtsebene mit Leben zu erfüllen. Jedenfalls hat das Höchstgericht dem Atom-BVG nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung beigemessen, die die Inbetriebnahme von AKWs im Inland, nicht aber die "Stromerzeugung" und indirekte Nutzung der Atomkraft umfasst.
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Gerhard Strejcek,
Rechtsschutz im Polizeirecht wieder systemkonform
Salzburger Nachrichten, 25.01.2011
Zu den Grundlagen der Gewaltentrennung nach dem Verständnis der österreichischen Bundesverfassung zählt, dass Justiz und
Verwaltung in allen Instanzen getrennt sein müssen. Beide Gewalten haben ein sehr unterschiedliches Rechtsschutzsystem, was Prüfungsumfang,
Zuständigkeit und Anforderungen an die rechtsförmliche Entscheidung betrifft.
Letztlich münden die Rechtszüge auch bei unterschiedlichen Höchstgerichten, wobei Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof (VfGH und VwGH) nur über die Anfechtung von letztinstanzlichen Verwaltungsakten zu befinden haben. Nach der gefürchteten Kasuistik der Bundesverfassung gilt allerdings auch hier: „Keine Regel ohne Ausnahme.“
So müssen in Sonderfällen (z. B. Schöffen- und Geschworenenbestellung, Justizverwaltung durch Einzelrichter, „sukzessive Zuständigkeiten“) in Teilaspekten Abstriche vom Trennungsgrundsatz gemacht werden. In einer wesentlichen Frage der Strafjustiz hat der VfGH aber nun reinen Tisch gemacht:Mit dem aktuellen Erkenntnis G 259/09 u. a. hat das Höchstgericht eine besonders heikle Zuständigkeitsregel der Strafprozessordnung partiell aufgehoben. Die betroffenen Satzteile bewirkten, dass den ordentlichen (Straf-) Gerichten auch die Entscheidung zugewiesen worden war, über Einsprüche in Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen der Kriminalpolizei zu entscheiden.
Nun zählen aber Maßnahmen der Sicherheitspolizei, welche diese ohne gerichtlichen Auftrag erfüllt, seit jeher zum Verwaltungsrecht. Hingegen sind Akte der Staatsanwaltschaft auch nach dem Art. 90a BVG Gerichtsakte, die auch dort bekämpfbar sind.
Angesichts des Gewaltenteilungsgrundsatzes war die eher kurzlebige Gerichtszuständigkeit daher seit ihrem Anbeginn (Strafprozessreform 2003) problematisch, ja eine Gratwanderung, die nur durch eine Art Fiktion aufrechtzuerhalten war, dass es ohnehin zu einem „Kippen“ in die Justiz im weiteren Verfahren gekommen wäre. Um die Staatsanwälte mit ihrem langen Arm über das Vorverfahren auch in die Verwaltung hineinreichen zu lassen, hätte es einer eigenen Verfassungsregelung bedurft, die nie zustande kam.
Der Vorteil der nun aufgehobenen Neuregelung bestand zwar darin, dass die Staatsanwälte besser in den Gesamtablauf eingebunden waren, weil ihnen im Falle von Einsprüchen gleich die Akten vorzulegen waren, die auch den Parteien des Einspruchsverfahrens nach der Strafprozessordnung offenstanden. Dies aber um den Preis der Verfassungswidrigkeit. Mehr Kooperation nötig Das Problem der insgesamt nicht überprüften Strafprozessreform 2003 lag, was die verfassungsrechtliche Grundlegung betraf, darin, dass diese nur halbherzig durchgeführt wurde, aber in ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung sehr weit ging. Zum Beispiel enthält diese Verfahrensordnung, die ja eindeutig zum Justizbereich ressortiert, eine umfassende Definition der „Kriminalpolizei“. Angesichts des Bestehens eines umfassenden Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) erscheint auch diese Festlegung als überschießend und als „fugitiv“ (das sind Normen, die eigentlich an anderer Stelle enthalten sein sollten als am Auffindungsort).
Im Ergebnis besteht durch die VfGH-Entscheidung kein Rechtsschutzvakuum, weil ohnehin die Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern (UVS) nun in die Bresche springen. Die UVS sind auch seit geraumer Zeit (über zwei Jahrzehnte) zuständig, über sogenannte Maßnahmenbeschwerden gegen Polizeiakte zu entscheiden. Diese Zuständigkeit ist sogar „doppelt genäht“, d. h. sie ergibt sich aus Bundesverfassung, dem Verwaltunsgverfahrensrecht und aus dem Sicherheitspolizeigesetz.
Dass der VfGH daher diesbezüglich eine systemkonforme Entscheidung getroffen hat, steht außer Zweifel. Und es bleibt auch eine klare politische Aufforderung stehen: Innen- und Justizressort sollten einander generell besser abstimmen, was die ineinandergreifenden Verfahrensregeln betrifft, statt einander das Wasser legistisch abzugraben.
Letztlich münden die Rechtszüge auch bei unterschiedlichen Höchstgerichten, wobei Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof (VfGH und VwGH) nur über die Anfechtung von letztinstanzlichen Verwaltungsakten zu befinden haben. Nach der gefürchteten Kasuistik der Bundesverfassung gilt allerdings auch hier: „Keine Regel ohne Ausnahme.“
So müssen in Sonderfällen (z. B. Schöffen- und Geschworenenbestellung, Justizverwaltung durch Einzelrichter, „sukzessive Zuständigkeiten“) in Teilaspekten Abstriche vom Trennungsgrundsatz gemacht werden. In einer wesentlichen Frage der Strafjustiz hat der VfGH aber nun reinen Tisch gemacht:Mit dem aktuellen Erkenntnis G 259/09 u. a. hat das Höchstgericht eine besonders heikle Zuständigkeitsregel der Strafprozessordnung partiell aufgehoben. Die betroffenen Satzteile bewirkten, dass den ordentlichen (Straf-) Gerichten auch die Entscheidung zugewiesen worden war, über Einsprüche in Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen der Kriminalpolizei zu entscheiden.
Nun zählen aber Maßnahmen der Sicherheitspolizei, welche diese ohne gerichtlichen Auftrag erfüllt, seit jeher zum Verwaltungsrecht. Hingegen sind Akte der Staatsanwaltschaft auch nach dem Art. 90a BVG Gerichtsakte, die auch dort bekämpfbar sind.
Angesichts des Gewaltenteilungsgrundsatzes war die eher kurzlebige Gerichtszuständigkeit daher seit ihrem Anbeginn (Strafprozessreform 2003) problematisch, ja eine Gratwanderung, die nur durch eine Art Fiktion aufrechtzuerhalten war, dass es ohnehin zu einem „Kippen“ in die Justiz im weiteren Verfahren gekommen wäre. Um die Staatsanwälte mit ihrem langen Arm über das Vorverfahren auch in die Verwaltung hineinreichen zu lassen, hätte es einer eigenen Verfassungsregelung bedurft, die nie zustande kam.
Der Vorteil der nun aufgehobenen Neuregelung bestand zwar darin, dass die Staatsanwälte besser in den Gesamtablauf eingebunden waren, weil ihnen im Falle von Einsprüchen gleich die Akten vorzulegen waren, die auch den Parteien des Einspruchsverfahrens nach der Strafprozessordnung offenstanden. Dies aber um den Preis der Verfassungswidrigkeit. Mehr Kooperation nötig Das Problem der insgesamt nicht überprüften Strafprozessreform 2003 lag, was die verfassungsrechtliche Grundlegung betraf, darin, dass diese nur halbherzig durchgeführt wurde, aber in ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung sehr weit ging. Zum Beispiel enthält diese Verfahrensordnung, die ja eindeutig zum Justizbereich ressortiert, eine umfassende Definition der „Kriminalpolizei“. Angesichts des Bestehens eines umfassenden Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) erscheint auch diese Festlegung als überschießend und als „fugitiv“ (das sind Normen, die eigentlich an anderer Stelle enthalten sein sollten als am Auffindungsort).
Im Ergebnis besteht durch die VfGH-Entscheidung kein Rechtsschutzvakuum, weil ohnehin die Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern (UVS) nun in die Bresche springen. Die UVS sind auch seit geraumer Zeit (über zwei Jahrzehnte) zuständig, über sogenannte Maßnahmenbeschwerden gegen Polizeiakte zu entscheiden. Diese Zuständigkeit ist sogar „doppelt genäht“, d. h. sie ergibt sich aus Bundesverfassung, dem Verwaltunsgverfahrensrecht und aus dem Sicherheitspolizeigesetz.
Dass der VfGH daher diesbezüglich eine systemkonforme Entscheidung getroffen hat, steht außer Zweifel. Und es bleibt auch eine klare politische Aufforderung stehen: Innen- und Justizressort sollten einander generell besser abstimmen, was die ineinandergreifenden Verfahrensregeln betrifft, statt einander das Wasser legistisch abzugraben.
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Gerhard Strejcek,
Glücksspiel.
Keine Anerkennung von Offshore-Lizenzen
Der Standard, 19.01.2011, 11
EuGH hat klargestellt, dass fragwürdige Genehmigungen aus dem EU-Raum nicht zum Anbieten berechtigen.
In Österreich bestehen bereits seit vielen Jahren Vorschriften über Online-Glücksspiel im Glücksspielgesetz; aus verwaltungsrechtlicher Sicht besteht daher keine Regelungslücke. Geändert haben sich für das neue Jahr nur die Rahmenbedingungen des Konzessionsverfahrens. Lizenzen für elektronische Ausspielungen müssen unter strengen Voraussetzungen (z. B. nur "weißes" Kapital) national erworben werden, sind ab dem Frühjahr 2011 auszuschreiben und mit einer transparenten EU-weiten Interessentensuche zu verbinden. Unbefriedigend ist aber weiterhin, dass die staatliche Konzession durch ein breit gefächertes Angebot von dubiosen Internet-Angeboten entwertet wird.
Höheres Schutzniveau
In manchen EU-Staaten wie Großbritannien und Malta wird für Lizenzen Geld eingehoben, die dann nur im "Ausland" gelten sollen. Diese Praxis hat den Europäischen Gerichtshof dazu gebracht, das gegenseitige Vertrauen in derartige "ausländische Lizenzen" ausdrücklich infrage zu stellen. Laut EuGH berechtigen diese Lizenzen nicht zum Anbieten in einem anderen Mitgliedstaat mit höherem Schutzniveau wie Österreich oder Deutschland.
Im Wettbereich hat der EuGH diese Frage im Vorjahr ausjudiziert. "Offshore-Genehmigungen" aus Malta oder Gibraltar, die nur außerhalb des Hoheitsgebiets gelten und steuergünstig gegen Gebühren ausgestellt werden, sind demnach so gut wie wertlos - so die EuGH-Judikatur zu Markus Stoß ua (C-316/07 uam), Carmen Media Group (Rs C-46/08) und Winner Wetten (C-409/06). Diese Urteile bestätigen den Vorrang ordnungspolitisch begründeter Schutzvorschriften gegenüber einer missbräuchlich vorgegebenen "Grundfreiheit" des Binnenmarkts. Der EuGH sieht keinen Harmonisierungsbedarf, sondern erkennt die kulturelle und soziale Diversität der Mitgliedstaaten an.
Generalanwalt Paolo Mengozzi hat begründet, warum der EuGH keine gegenseitige Anerkennung solcher Glücksspielkonzessionen fordert: Die vorliegenden Rechtssachen "verdeutlichen, dass nationale Praktiken bestehen, die geeignet sind, das gegenseitige Vertrauen (Art 10 EG), auf das eine eventuelle Harmonisierung des Sektors oder zumindest das System der gegenseitigen Anerkennung der Erlaubnisse im Bereich des Glücksspiels gestützt werden müsste, selbst zu zerstören."
Die entsprechende EuGH-Rechtsprechung wurde seit 2009 konsequent verschärft. Schon im Fall "Liga Portuguesa" (8. 9. 2009 C-42/07) hat der EuGH die Bedeutung staatlicher Ordnungspolitik betont und dies in den Urteilen Sporting Exchange und Ladbrokes (3. 6. 2010, C-203/08 und C-258/08) akzentuiert: Glücksspiele und Wettangebote über das Internet bergen wegen des fehlenden unmittelbaren Kontaktes zwischen Anbieter und Verbraucher besondere Betrugsgefahren in sich. Ein Mitgliedstaat ist daher nicht gezwungen, Bewilligungen anderer EU-Staaten in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen.
In Österreich bestehen bereits seit vielen Jahren Vorschriften über Online-Glücksspiel im Glücksspielgesetz; aus verwaltungsrechtlicher Sicht besteht daher keine Regelungslücke. Geändert haben sich für das neue Jahr nur die Rahmenbedingungen des Konzessionsverfahrens. Lizenzen für elektronische Ausspielungen müssen unter strengen Voraussetzungen (z. B. nur "weißes" Kapital) national erworben werden, sind ab dem Frühjahr 2011 auszuschreiben und mit einer transparenten EU-weiten Interessentensuche zu verbinden. Unbefriedigend ist aber weiterhin, dass die staatliche Konzession durch ein breit gefächertes Angebot von dubiosen Internet-Angeboten entwertet wird.
Höheres Schutzniveau
In manchen EU-Staaten wie Großbritannien und Malta wird für Lizenzen Geld eingehoben, die dann nur im "Ausland" gelten sollen. Diese Praxis hat den Europäischen Gerichtshof dazu gebracht, das gegenseitige Vertrauen in derartige "ausländische Lizenzen" ausdrücklich infrage zu stellen. Laut EuGH berechtigen diese Lizenzen nicht zum Anbieten in einem anderen Mitgliedstaat mit höherem Schutzniveau wie Österreich oder Deutschland.
Im Wettbereich hat der EuGH diese Frage im Vorjahr ausjudiziert. "Offshore-Genehmigungen" aus Malta oder Gibraltar, die nur außerhalb des Hoheitsgebiets gelten und steuergünstig gegen Gebühren ausgestellt werden, sind demnach so gut wie wertlos - so die EuGH-Judikatur zu Markus Stoß ua (C-316/07 uam), Carmen Media Group (Rs C-46/08) und Winner Wetten (C-409/06). Diese Urteile bestätigen den Vorrang ordnungspolitisch begründeter Schutzvorschriften gegenüber einer missbräuchlich vorgegebenen "Grundfreiheit" des Binnenmarkts. Der EuGH sieht keinen Harmonisierungsbedarf, sondern erkennt die kulturelle und soziale Diversität der Mitgliedstaaten an.
Generalanwalt Paolo Mengozzi hat begründet, warum der EuGH keine gegenseitige Anerkennung solcher Glücksspielkonzessionen fordert: Die vorliegenden Rechtssachen "verdeutlichen, dass nationale Praktiken bestehen, die geeignet sind, das gegenseitige Vertrauen (Art 10 EG), auf das eine eventuelle Harmonisierung des Sektors oder zumindest das System der gegenseitigen Anerkennung der Erlaubnisse im Bereich des Glücksspiels gestützt werden müsste, selbst zu zerstören."
Die entsprechende EuGH-Rechtsprechung wurde seit 2009 konsequent verschärft. Schon im Fall "Liga Portuguesa" (8. 9. 2009 C-42/07) hat der EuGH die Bedeutung staatlicher Ordnungspolitik betont und dies in den Urteilen Sporting Exchange und Ladbrokes (3. 6. 2010, C-203/08 und C-258/08) akzentuiert: Glücksspiele und Wettangebote über das Internet bergen wegen des fehlenden unmittelbaren Kontaktes zwischen Anbieter und Verbraucher besondere Betrugsgefahren in sich. Ein Mitgliedstaat ist daher nicht gezwungen, Bewilligungen anderer EU-Staaten in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen.
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Gerhard Strejcek,
Glücksspiel ohne Konzession gehört entkriminalisiert
Der Standard, 13.10.2010, 13
Wie vielfach berichtet, hat der Europäische Gerichtshof in einem aktuellen Urteil (Rs C-64/08 Engelmann)
die österreichische Regelung für die Vergabe von Glücksspiellizenzen für EU-rechtswidrig erklärt.
Aber wie geht es nun eigentlich im Fall Ernst Engelmann weiter, dessen Verurteilung wegen Glücksspiels ohne Konzession der Anlassfall
für diese Entscheidung war?
Der deutsche Staatsbürger Ernst Engelmann hatte in Österreich ohne Konzession eine Spielbank betrieben. Da dort auch Glücksspiele
wie "Observationsroulette" sowie "Poker" angeboten wurden, verurteilte das Bezirksgericht Linz ihn wegen Verstoßes gegen § 168 StGB zu einer Geldstrafe.
Das Landesgericht Linz als Berufungsgericht hegte Zweifel an der Vereinbarkeit der Bestimmungen des StGB in Verbindung mit den
österreichischen Vorschriften über Glücksspiele mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Art. 43 EG und 49 EG. Der EuGH folgte
diesen Zweifeln bezüglich des GSpG 1989 und beurteilte den "kategorischen Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern, die ihren Sitz
in einem anderen Mitgliedstaat haben", am Glücksspielmarkt als unverhältnismäßig und demgemäß als unvereinbar mit Art 43 EGV.
Außerdem befand das EU-Gericht, dass zwar keine diskriminierende Ausschreibung, aber eine Konzessionserteilung ohne Ausschreibung
vorlag und dass insgesamt ein Verstoß gegen das Transparenzgebot vorlag.
Ob Engelmann nun zu bestrafen ist oder nicht, muss das LG Linz entscheiden, doch leicht hat es der EuGH dem nationalen Strafgericht nicht gemacht. Denn da sich Engelmann nie um eine Genehmigung bewarb und da § 168 StGB kein Thema beim Verfahren war, besteht bloß bei der Schuldfrage ein bestimmter Spielraum: Wer eine Regel, die er für EU-widrig hält, nicht beachtet und einen scheinbar aussichtslosen Rechtsweg meidet, ist möglicherweise milder (oder gar nicht) zu bestrafen, könnte das Verdikt lauten.
Schuldspruch ist möglich
Aber auch ein Schuldspruch ist nicht auszuschließen, da die EU-Widrigkeit der Konzessionsvergabe nichts an der Konzessionspflicht änderte. § 168 StGB ist schließlich seit den Siebzigerjahren in dieser Fassung im Bundesgesetzblatt nachzulesen. Dieser "Glücksspielparagraf" gilt weiter und ist auch nach wie vor anwendbar - auch auf Ernst Engelmann.
Rechtspolitische Gründe sprechen allerdings dagegen, das Instrument der Justizstrafe hier einzusetzen. Zweckmäßiger wäre es, wenn der Gesetzgeber von sich aus den Paragrafen aufhebt und - wie es nach der Glücksspielnovelle 2010 der Fall ist - konzessionslose Spiele besteuert und unter Verwaltungsstrafsanktion stellt.
Personen, die keine "Verbrecher" sind, sondern schlicht Abenteurer, die ausloten möchten, wie weit man hier gehen kann, sollten nicht vor den Kadi gezerrt werden. Daher sollte dieser Sektor der "konzessionslosen Angebote" entkriminalisiert werden. Hingegen sollte Betrug an Teilnehmern von Glücksspielen nach wie vor strafbar bleiben.
Ob Engelmann nun zu bestrafen ist oder nicht, muss das LG Linz entscheiden, doch leicht hat es der EuGH dem nationalen Strafgericht nicht gemacht. Denn da sich Engelmann nie um eine Genehmigung bewarb und da § 168 StGB kein Thema beim Verfahren war, besteht bloß bei der Schuldfrage ein bestimmter Spielraum: Wer eine Regel, die er für EU-widrig hält, nicht beachtet und einen scheinbar aussichtslosen Rechtsweg meidet, ist möglicherweise milder (oder gar nicht) zu bestrafen, könnte das Verdikt lauten.
Schuldspruch ist möglich
Aber auch ein Schuldspruch ist nicht auszuschließen, da die EU-Widrigkeit der Konzessionsvergabe nichts an der Konzessionspflicht änderte. § 168 StGB ist schließlich seit den Siebzigerjahren in dieser Fassung im Bundesgesetzblatt nachzulesen. Dieser "Glücksspielparagraf" gilt weiter und ist auch nach wie vor anwendbar - auch auf Ernst Engelmann.
Rechtspolitische Gründe sprechen allerdings dagegen, das Instrument der Justizstrafe hier einzusetzen. Zweckmäßiger wäre es, wenn der Gesetzgeber von sich aus den Paragrafen aufhebt und - wie es nach der Glücksspielnovelle 2010 der Fall ist - konzessionslose Spiele besteuert und unter Verwaltungsstrafsanktion stellt.
Personen, die keine "Verbrecher" sind, sondern schlicht Abenteurer, die ausloten möchten, wie weit man hier gehen kann, sollten nicht vor den Kadi gezerrt werden. Daher sollte dieser Sektor der "konzessionslosen Angebote" entkriminalisiert werden. Hingegen sollte Betrug an Teilnehmern von Glücksspielen nach wie vor strafbar bleiben.
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Gerhard Strejcek,
Beatrix Karl und der Preis des Studierens
Der Standard, 08.09.2010, 35
Eine Gegenstimme zur breiten Ablehnungsfront gegen den jüngsten Vorstoß der Wissenschaftsministerin in der Debatte um
die Einführung von Studiengebühren.
Auf legitime bildungspolitische Vorschläge folgen hierzulande keine Debatten, sondern emotionale Rundumschläge. Als Wissenschaftsministerin Karl den Vorschlag einer Lehrveranstaltungsabrechnung aufs Tapet brachte, gingen auf allen Seiten die Wogen hoch. Der Koalitionspartner winkte ab, die Studierenden drohten mit Klagen angesichts der bestehenden Misere und richteten Karl aus, "sie solle endlich für die Unis zu arbeiten beginnen".
Diese Aufforderung war, wie ich meine, ungerecht, denn seit ihrem Amtsantritt ist die Wissenschaftsministerin permanent hochaktiv; das Problem ist nur, dass ihr Vorschlag zur Unzeit kommt und in dieser Form chancenlos erscheint. Als habilitierte Universitätslehrerin kommt Karl aus einem Bereich, in dem Diskussionskultur herrscht. In der Politik gelten aber andere Regeln. Zusätzliche und noch dazu tariflich unbestimmte Belastungen für Studierende - das kommt derzeit bei niemandem gut an.
Hingegen ließe sich Karls Vorschlag zum Nutzen aller sinnvoll modifizieren: Tatsächlich sollte aus Transparenzgründen für jede Lehrveranstaltung ein Abrechnungskonto geführt werden, und zwar nicht nur auf der Seite des Dienstleisters, also (wie es ohnehin passiert) für die Entlohnung, sondern auch für diejenigen, welche diese Dienstleistung in Anspruch nehmen, die Studierenden. Auf diesem Konto sollte nicht nur aufscheinen, welche Vorlesungen besucht und welche Prüfungen abgelegt wurden, sondern auch deren Kosten. Und schlussendlich könnte dann nach dem Muster der Sozialversicherungsträger jährlich oder semesterweise "abgerechnet" werden: Welche Leistungen wurden von wem in Anspruch genommen, und was sind diese Leistungen wert?
Gesicherte Daten fürs Budget
Ein fester, wenn auch fiktiver "Tarif" zum Beispiel für Dissertationsbetreuung oder Prüfungen müsste allerdings gefunden werden, denn dieser kann schwerlich mit der lächerlichen Remunerationshöhe bemessen werden, die derzeit Abrechnungsgrundlage ist. Eine Dissertation "kostet" beispielsweise bei intensiver Betreuung circa das Zehnfache vom Entgelt, das Betreuer und Assistenten derzeit erhalten. Das ist mit ein Grund für die eher magere Betreuungsmmotivation auf vielen Fakultäten.
Wer jetzt schon ausholt, um den diskurstötenden Molotow-Cocktail zu schleudern, möge noch kurz innehalten: Bezahlen, und das ist der diametral entgegen gesetzte Ansatz zu Karls Vorschlag, sollten nicht die Dienstleistungsempfänger, sondern weiterhin der Bund. Cui bono? Ganz einfach: Urplötzlich würde die Ministerin über gesicherte Daten zum Budgetbedarf verfügen und wir, die Lehrenden, hätten den Nachweis, dass unsere Leistung deutlich mehr wert ist, als der Gehaltsanteil (in welcher Bezeichnung auch immer), mit dem sie abgegolten wird, vom sozialen "Wert" ganz zu schweigen, der in Österreich für Unterrichts-Dienstleistungen traditionell am Tiefpunkt bemessen wird.
Während nämlich niemand auch nur im Traum davon ausgehen würde, für Telekomleistungen, Friseur oder Taxi ganz einfach trotz Konsum nichts zu bezahlen, ist Gratisunterricht eine von Kindesbeinen an eingetrichterte Selbstverständlichkeit. Und was nichts kostet, ist eben auch nichts wert. Daher fällt es hierzulande auch manchen selbsternannten Pädagogik-Gurus leicht, die große Mehrheit der engagierten Lehrer/innen auf Grund einer kleinen, möglicher Weise unfähigen oder gering motivierten Minderheit zu diskreditieren.
Eine transparente Erhebung und Auflistung von Abrechnungsdaten birgt noch ein weiteres, auch budgetwirksames Potenzial. Eine rechtzeitige gesetzliche Regelung vorausgesetzt, sind Rückzahlungsmodelle nicht völlig abwegig. Wer in einem akademischen Beruf gut verdient, kann solcherart zum "Gratis-Studium" nachfolgender Generationen beitragen und sein eigenes Studium zu einem Zeitpunkt bezahlen, zu dem es nicht mehr so weh tut wie als Jugendlicher.
Andererseits: Diese Idee der Studien-Gebühren ex post ist nicht neu und sie hat, sachlich betrachtet, auch (zu) viele Schattenseiten. Arbeitslose Akademiker oder Studienabbrecher können nicht veranlagt werden und es darf auch nicht vergessen werden, dass viele Studienabgänger(innen) erst verhältnismäßig spät ins Erwerbsleben eintreten und dann oftmals keine berauschend steile Lebensverdienstkurve erreichen. Und in einem solchen Fall würde die Gebührenkeule wiederum zur Unzeit zuschlagen. Daher müsste ein solches Modell einkommensabhängig als eine Art "Studiensteuer" ex post fungieren, womit einmal mehr Arbeit mit zusätzlichen Abgaben belastet würde. Und nur, damit z.B. die gut verdienende Moderatorin Vera Russwurm ihr Medizinstudium "zurückzahlt" ein ganzes System umzukrempeln, lohnt sich nicht.
Daher: Bis ein nicht nur im Prinzip sondern auch in der konkreten Umsetzung wirklich überzeugendes Modell gefunden wird, sollte Studieren auch für Absolventen "gratis" bleiben, aber es sollten die Kosten aus Transparenzgründen fiktiv "abgerechnet" werden.
Auf legitime bildungspolitische Vorschläge folgen hierzulande keine Debatten, sondern emotionale Rundumschläge. Als Wissenschaftsministerin Karl den Vorschlag einer Lehrveranstaltungsabrechnung aufs Tapet brachte, gingen auf allen Seiten die Wogen hoch. Der Koalitionspartner winkte ab, die Studierenden drohten mit Klagen angesichts der bestehenden Misere und richteten Karl aus, "sie solle endlich für die Unis zu arbeiten beginnen".
Diese Aufforderung war, wie ich meine, ungerecht, denn seit ihrem Amtsantritt ist die Wissenschaftsministerin permanent hochaktiv; das Problem ist nur, dass ihr Vorschlag zur Unzeit kommt und in dieser Form chancenlos erscheint. Als habilitierte Universitätslehrerin kommt Karl aus einem Bereich, in dem Diskussionskultur herrscht. In der Politik gelten aber andere Regeln. Zusätzliche und noch dazu tariflich unbestimmte Belastungen für Studierende - das kommt derzeit bei niemandem gut an.
Hingegen ließe sich Karls Vorschlag zum Nutzen aller sinnvoll modifizieren: Tatsächlich sollte aus Transparenzgründen für jede Lehrveranstaltung ein Abrechnungskonto geführt werden, und zwar nicht nur auf der Seite des Dienstleisters, also (wie es ohnehin passiert) für die Entlohnung, sondern auch für diejenigen, welche diese Dienstleistung in Anspruch nehmen, die Studierenden. Auf diesem Konto sollte nicht nur aufscheinen, welche Vorlesungen besucht und welche Prüfungen abgelegt wurden, sondern auch deren Kosten. Und schlussendlich könnte dann nach dem Muster der Sozialversicherungsträger jährlich oder semesterweise "abgerechnet" werden: Welche Leistungen wurden von wem in Anspruch genommen, und was sind diese Leistungen wert?
Gesicherte Daten fürs Budget
Ein fester, wenn auch fiktiver "Tarif" zum Beispiel für Dissertationsbetreuung oder Prüfungen müsste allerdings gefunden werden, denn dieser kann schwerlich mit der lächerlichen Remunerationshöhe bemessen werden, die derzeit Abrechnungsgrundlage ist. Eine Dissertation "kostet" beispielsweise bei intensiver Betreuung circa das Zehnfache vom Entgelt, das Betreuer und Assistenten derzeit erhalten. Das ist mit ein Grund für die eher magere Betreuungsmmotivation auf vielen Fakultäten.
Wer jetzt schon ausholt, um den diskurstötenden Molotow-Cocktail zu schleudern, möge noch kurz innehalten: Bezahlen, und das ist der diametral entgegen gesetzte Ansatz zu Karls Vorschlag, sollten nicht die Dienstleistungsempfänger, sondern weiterhin der Bund. Cui bono? Ganz einfach: Urplötzlich würde die Ministerin über gesicherte Daten zum Budgetbedarf verfügen und wir, die Lehrenden, hätten den Nachweis, dass unsere Leistung deutlich mehr wert ist, als der Gehaltsanteil (in welcher Bezeichnung auch immer), mit dem sie abgegolten wird, vom sozialen "Wert" ganz zu schweigen, der in Österreich für Unterrichts-Dienstleistungen traditionell am Tiefpunkt bemessen wird.
Während nämlich niemand auch nur im Traum davon ausgehen würde, für Telekomleistungen, Friseur oder Taxi ganz einfach trotz Konsum nichts zu bezahlen, ist Gratisunterricht eine von Kindesbeinen an eingetrichterte Selbstverständlichkeit. Und was nichts kostet, ist eben auch nichts wert. Daher fällt es hierzulande auch manchen selbsternannten Pädagogik-Gurus leicht, die große Mehrheit der engagierten Lehrer/innen auf Grund einer kleinen, möglicher Weise unfähigen oder gering motivierten Minderheit zu diskreditieren.
Eine transparente Erhebung und Auflistung von Abrechnungsdaten birgt noch ein weiteres, auch budgetwirksames Potenzial. Eine rechtzeitige gesetzliche Regelung vorausgesetzt, sind Rückzahlungsmodelle nicht völlig abwegig. Wer in einem akademischen Beruf gut verdient, kann solcherart zum "Gratis-Studium" nachfolgender Generationen beitragen und sein eigenes Studium zu einem Zeitpunkt bezahlen, zu dem es nicht mehr so weh tut wie als Jugendlicher.
Andererseits: Diese Idee der Studien-Gebühren ex post ist nicht neu und sie hat, sachlich betrachtet, auch (zu) viele Schattenseiten. Arbeitslose Akademiker oder Studienabbrecher können nicht veranlagt werden und es darf auch nicht vergessen werden, dass viele Studienabgänger(innen) erst verhältnismäßig spät ins Erwerbsleben eintreten und dann oftmals keine berauschend steile Lebensverdienstkurve erreichen. Und in einem solchen Fall würde die Gebührenkeule wiederum zur Unzeit zuschlagen. Daher müsste ein solches Modell einkommensabhängig als eine Art "Studiensteuer" ex post fungieren, womit einmal mehr Arbeit mit zusätzlichen Abgaben belastet würde. Und nur, damit z.B. die gut verdienende Moderatorin Vera Russwurm ihr Medizinstudium "zurückzahlt" ein ganzes System umzukrempeln, lohnt sich nicht.
Daher: Bis ein nicht nur im Prinzip sondern auch in der konkreten Umsetzung wirklich überzeugendes Modell gefunden wird, sollte Studieren auch für Absolventen "gratis" bleiben, aber es sollten die Kosten aus Transparenzgründen fiktiv "abgerechnet" werden.
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Gerhard Strejcek,
Schuld und Sühne in Duisburg
Der Standard, 14.08.2010
Der Bürgermeister trägt die Verantwortlichung für die Opfer der Loveparade nicht alleine -
Ein freiwilliger Amtsverzicht würde ihm schlechte Karten vor Gericht geben.
Aus der Duisburger Loveparade wurde ein Desaster mit tragischen Folgen. Niemand kann die Jugendlichen wieder lebendig machen, die im Tunnelaufgang eines ehemaligen Güterbahnhofs auf eine qualvolle Art ums Leben gekommen sind. Wer aber jetzt den politisch plump agierenden Oberbürgermeister Sauerland zum Alleinschuldigen stilisiert, verkennt den rechtlichen Hintergrund.
In den Medien wird spekuliert, dass Sauerland nur deshalb nicht zurücktritt, weil er sich im Fall der Abwahl die volle Pension sicherte, die nach einem Rücktritt gekürzt würde. Das mag ein Motiv sein, aber zu bedenken ist auch, dass eine Fülle rechtlicher Auseinandersetzungen der fahrlässigen Vorgangsweise am alten Güterbahnhof folgen wird. Wer hier vorschnell die (politische) Verantwortung übernimmt, steht schnell auch strafrechtlich am Pranger und verschlechtert seine zivilrechtliche Position. Denn nach der Trauer folgt die rechtliche Aufarbeitung: Wer haftet für den veranstaltungsrechtlichen Super-GAU?
Bewilligungen für Großveranstaltungen sind in der BRD wie in Österreich staatliche Hoheitsakte, die nicht auf kommunaler Ebene allein ergehen. Der Genehmigung muss eine politische Entscheidung zugrunde liegen, die der Oberbürgermeister politisch als Außenvertreter der Kommune verantwortet. In den kreisfreien Städten Deutschlands liegt die Beschluss- und Entscheidungsbefugnis beim Stadtrat (Gemeinderat), den der Oberbürgermeister leitet. Duisburg ist kreisfrei und verfügt nebenbei über den größten Binnenhafen der BRD.
Urlaub war ein Fehler
Es ist daher kaum anzunehmen, dass Sauerland ohne Befassung der Gemeindevertretung der grundsätzlichen Genehmigung der Veranstaltung zugestimmt hat. Selbst geprüft hat er die Pläne für das Sicherheits- und Zutrittskonzept nicht, wozu er formal nicht verpflichtet war. Vor der Veranstaltung selbst ging er auf Urlaub. Das wirft ein schlechtes Licht auf den Amtsträger.
Das entbindet aber andere nicht von ihrer Mitverantwortung und gilt im Übrigen auch für die Landesebene, die jetzt so tut, als ob Duisburg exterritoriales Gebiet wäre. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen musste eine Millionenveranstaltung rechtlich und faktisch mittragen, da auch in Deutschland die Länder mittelbar das Bundesrecht vollziehen. Auch in Düsseldorf musste bekannt sein, dass in Duisburg deutlich mehr als doppelt so viel Besucher als Einwohner (!) zu erwarten waren.
Nordrhein-Westfalen selbst hat doppelt so viele Einwohner wie Österreich und verfügt über ein eigenes Innenministerium mit Rechtsabteilung, Polizei- und Katastrophenschutz. Außerdem besteht ein eigener Kommunalverband im Ruhrgebiet, der nicht weniger als elf Städte umfasst und auch für das Freizeitwesen zuständig ist. Es sind daher viele Beamte mit der Veranstaltung befasst worden, nicht nur ein (jetzt) einsamer kommunaler Politiker, der das (erste) Bauernopfer darstellt.
Nach deutschem Recht gilt, dass bei Amtspflichtverletzungen die Verantwortlichkeit den Staat oder die Körperschaft trifft, in deren Dienst der zuständige Bedienstete steht.
Grundfalsche Schätzung
Ähnlich wie in Österreich ist die Amtshaftung. Nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch macht sich ein Beamter schadenersatzpflichtig, wenn er vorsätzlich oder fahrlässig seine Amtspflicht verletzt. Privilegiert sind Richter und Finanzbeamte, die nur dann haften, wenn eine mit Strafe bedrohte Handlung die Ursache für den Schaden ist. Das sogenannte Spruchrichter-Privileg kommt in Duisburg nicht zur Anwendung, weil die Genehmigung ein Administrativakt war. "Amtspflicht" wäre gewesen, die Veranstaltung zu untersagen oder einen Zugang zu gewährleisten, der auch für ein Millionenpublikum Sicherheit garantiert. Immerhin war von Berliner Vorereignissen her bekannt, dass auch mehr als eine Million Jugendlicher zu einer derartigen Veranstaltung kommen kann. Deshalb geht auch die Verantwortung ins Leere, dass man nur mit 400.000 Menschen gerechnet habe (die im Übrigen auch nicht durch einen engen Tunnel hätten geschleust werden dürfen).
Prozesslawine zu erwarten
Staatshaftung kommt nach EU-Recht zum Tragen, aber in Deutschland ist das ein heikles Thema. Schon einmal scheiterte ein Gesetz, das die unmittelbare Haftung für Verletzungen öffentlich-rechtlicher Pflichten gegenüber Dritten durch eine unmittelbare Haftung des Staates ersetzen wollte. Dieses Gesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt. Nach der Wiedervereinigung galt aber in den "neuen" Bundesländern das alte DDR-Staatshaftungsrecht als Landesrecht weiter. Dieses Gesetz sah eine unmittelbare, verschuldensunabhängige Haftung des Staates für schädigende Folgen eines rechtswidrigen hoheitlichen Verhaltens vor, war aber nie in den "alten" Bundesländern wie NRW anwendbar. Es ist daher anzunehmen, dass es nun eine Schlange von Prozessen geben wird. Am Ende wird nicht nur Sauerland als "Täter" dastehen.
Aus der Duisburger Loveparade wurde ein Desaster mit tragischen Folgen. Niemand kann die Jugendlichen wieder lebendig machen, die im Tunnelaufgang eines ehemaligen Güterbahnhofs auf eine qualvolle Art ums Leben gekommen sind. Wer aber jetzt den politisch plump agierenden Oberbürgermeister Sauerland zum Alleinschuldigen stilisiert, verkennt den rechtlichen Hintergrund.
In den Medien wird spekuliert, dass Sauerland nur deshalb nicht zurücktritt, weil er sich im Fall der Abwahl die volle Pension sicherte, die nach einem Rücktritt gekürzt würde. Das mag ein Motiv sein, aber zu bedenken ist auch, dass eine Fülle rechtlicher Auseinandersetzungen der fahrlässigen Vorgangsweise am alten Güterbahnhof folgen wird. Wer hier vorschnell die (politische) Verantwortung übernimmt, steht schnell auch strafrechtlich am Pranger und verschlechtert seine zivilrechtliche Position. Denn nach der Trauer folgt die rechtliche Aufarbeitung: Wer haftet für den veranstaltungsrechtlichen Super-GAU?
Bewilligungen für Großveranstaltungen sind in der BRD wie in Österreich staatliche Hoheitsakte, die nicht auf kommunaler Ebene allein ergehen. Der Genehmigung muss eine politische Entscheidung zugrunde liegen, die der Oberbürgermeister politisch als Außenvertreter der Kommune verantwortet. In den kreisfreien Städten Deutschlands liegt die Beschluss- und Entscheidungsbefugnis beim Stadtrat (Gemeinderat), den der Oberbürgermeister leitet. Duisburg ist kreisfrei und verfügt nebenbei über den größten Binnenhafen der BRD.
Urlaub war ein Fehler
Es ist daher kaum anzunehmen, dass Sauerland ohne Befassung der Gemeindevertretung der grundsätzlichen Genehmigung der Veranstaltung zugestimmt hat. Selbst geprüft hat er die Pläne für das Sicherheits- und Zutrittskonzept nicht, wozu er formal nicht verpflichtet war. Vor der Veranstaltung selbst ging er auf Urlaub. Das wirft ein schlechtes Licht auf den Amtsträger.
Das entbindet aber andere nicht von ihrer Mitverantwortung und gilt im Übrigen auch für die Landesebene, die jetzt so tut, als ob Duisburg exterritoriales Gebiet wäre. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen musste eine Millionenveranstaltung rechtlich und faktisch mittragen, da auch in Deutschland die Länder mittelbar das Bundesrecht vollziehen. Auch in Düsseldorf musste bekannt sein, dass in Duisburg deutlich mehr als doppelt so viel Besucher als Einwohner (!) zu erwarten waren.
Nordrhein-Westfalen selbst hat doppelt so viele Einwohner wie Österreich und verfügt über ein eigenes Innenministerium mit Rechtsabteilung, Polizei- und Katastrophenschutz. Außerdem besteht ein eigener Kommunalverband im Ruhrgebiet, der nicht weniger als elf Städte umfasst und auch für das Freizeitwesen zuständig ist. Es sind daher viele Beamte mit der Veranstaltung befasst worden, nicht nur ein (jetzt) einsamer kommunaler Politiker, der das (erste) Bauernopfer darstellt.
Nach deutschem Recht gilt, dass bei Amtspflichtverletzungen die Verantwortlichkeit den Staat oder die Körperschaft trifft, in deren Dienst der zuständige Bedienstete steht.
Grundfalsche Schätzung
Ähnlich wie in Österreich ist die Amtshaftung. Nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch macht sich ein Beamter schadenersatzpflichtig, wenn er vorsätzlich oder fahrlässig seine Amtspflicht verletzt. Privilegiert sind Richter und Finanzbeamte, die nur dann haften, wenn eine mit Strafe bedrohte Handlung die Ursache für den Schaden ist. Das sogenannte Spruchrichter-Privileg kommt in Duisburg nicht zur Anwendung, weil die Genehmigung ein Administrativakt war. "Amtspflicht" wäre gewesen, die Veranstaltung zu untersagen oder einen Zugang zu gewährleisten, der auch für ein Millionenpublikum Sicherheit garantiert. Immerhin war von Berliner Vorereignissen her bekannt, dass auch mehr als eine Million Jugendlicher zu einer derartigen Veranstaltung kommen kann. Deshalb geht auch die Verantwortung ins Leere, dass man nur mit 400.000 Menschen gerechnet habe (die im Übrigen auch nicht durch einen engen Tunnel hätten geschleust werden dürfen).
Prozesslawine zu erwarten
Staatshaftung kommt nach EU-Recht zum Tragen, aber in Deutschland ist das ein heikles Thema. Schon einmal scheiterte ein Gesetz, das die unmittelbare Haftung für Verletzungen öffentlich-rechtlicher Pflichten gegenüber Dritten durch eine unmittelbare Haftung des Staates ersetzen wollte. Dieses Gesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt. Nach der Wiedervereinigung galt aber in den "neuen" Bundesländern das alte DDR-Staatshaftungsrecht als Landesrecht weiter. Dieses Gesetz sah eine unmittelbare, verschuldensunabhängige Haftung des Staates für schädigende Folgen eines rechtswidrigen hoheitlichen Verhaltens vor, war aber nie in den "alten" Bundesländern wie NRW anwendbar. Es ist daher anzunehmen, dass es nun eine Schlange von Prozessen geben wird. Am Ende wird nicht nur Sauerland als "Täter" dastehen.
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Gerhard Strejcek,
Gemeindeverwaltung - teuer und nutzlos
Der Standard, 16.06.2010
Eine effiziente Verwaltungsreform, die wirklich Einsparungen bringt
muss Kommunen abspecken und Gerichte stärken.
Weder Steuererhöhungen noch Nulllohnrunden können das Budget sanieren, wenn nicht endlich der Moloch "Verwaltung" angegangen wird. Die Politik schleicht seit Jahren um die Verwaltungsreform herum wie ein Tierpfleger, der sich zu seinem wild gewordenen Panter nicht mehr in den Käfig traut und lieber zusieht, wie dieser alles Essbare auffrisst, damit er sich beruhigt.
Dutzende Sonderbehörden mit engen Zuständigkeiten verschlingen Unmengen an Geld für unproduktive Vorgänge. Die von der Regierung mit der B-VG-Novelle 2010 geplante Verfassungsänderung in Richtung Landes-Verwaltungsgerichte ist ein Beitrag, der dem zutreffenden Ansatz folgt, Sonderbehörden möglichst einzusparen. Doch kaum ist der Entwurf publiziert worden, begannen die Mahlräder des Lobbying, schon gestrichene Behörden wieder in das Verwaltungsrecht hereinzureklamieren (z.B. die unzähligen Disziplinarbehörden im Bereich der freien Berufe).
Eine Verwaltungsreform, die wirklich Einsparungen bringt, muss klare Einschnitte machen. Am sinnvollsten wäre die komplette Abschaffung der Gemeindebehörden außerhalb von Großstädten bzw. sogenannten "Statutarstädten" mit eigenem Magistrat. Instanzenzüge innerhalb von Gemeinden sind aus Gründen der mangelnden Unabhängigkeit überholt. Sämtliche strittigen Fälle müssen ohnehin die (Ämter der) Landesregierungen und letztlich der Verwaltungsgerichtshof oder die UVS - künftig die Landes-Verwaltungsgerichte - entscheiden.
Bei einer Abschaffung der Gemeindeverwaltung fiele auch die aufwändige und nicht immer effiziente Gemeindeaufsicht durch Länder und Bezirke weg.
Mehr Aufgaben für die Justiz
Eine Reform sollte auch das Missverhältnis zwischen Justiz und Verwaltung lösen und der Justiz mehr Personal, aber auch mehr Aufgaben zuweisen. Österreich ist ein Verwaltungsstaat, der zu 70 Prozent zivilrechtliche Aspekte "administriert" . Dies ist dort effizient, wo es keinen Rechtsstreit gibt. Bau- und Gewerberecht könnten aber weitgehend dereguliert und den Ziviltechnikern oder den Wirtschaftskammern übertragen werden, wie es etwa in der Wiener Bauordnung schon der Fall ist. Standarderledigungen sind per E-Government rasch zu bewältigen.
Streitfälle wie bei Anlagengenehmigungen sind hingegen fast immer zivilrechtlicher Natur und gehören daher aus der Verwaltung ausgeschieden. Das Recht zu bauen hängt am Eigentum, das Recht, ein Gewerbe auszuüben, am Grundrecht, jeden Erwerbszweig frei auszuüben, und beide sind ihrer Substanz nach "civil rights" , über die letztlich ein Tribunal entscheiden muss. Streitfragen im Baurecht sind zu 80 Prozent durch Nachbarstreit bedingt, der noch näher am Kernbereich des Zivilrechts hängt. Kaum ein Bescheid betrifft hingegen das "öffentliche" Baurecht, denn dieses ist reines Technikrecht, das die beteiligten Experten ohnehin kennen.
Die Verlagerung ins Zivilrecht und zu den Gerichten bringt nicht nur mehr Rechtsstaat, sondern weniger Streit, weil die Hemmschwellen und Gebühren höher sind als im Verwaltungsweg. Im Zivilprozess, der im Übrigen auch kein Allheilmittel ist, liegt wiederum ein enormes Einsparungspotenzial, wenn freiwillige Schiedsgerichte und Mediation mehr zum Einsatz kommen. Das gilt vor allem für den Familienrechtsbereich, neben Mietstreitigkeiten der quälendste Bereich für die Zivilrichter erster Instanz.
Weder Steuererhöhungen noch Nulllohnrunden können das Budget sanieren, wenn nicht endlich der Moloch "Verwaltung" angegangen wird. Die Politik schleicht seit Jahren um die Verwaltungsreform herum wie ein Tierpfleger, der sich zu seinem wild gewordenen Panter nicht mehr in den Käfig traut und lieber zusieht, wie dieser alles Essbare auffrisst, damit er sich beruhigt.
Dutzende Sonderbehörden mit engen Zuständigkeiten verschlingen Unmengen an Geld für unproduktive Vorgänge. Die von der Regierung mit der B-VG-Novelle 2010 geplante Verfassungsänderung in Richtung Landes-Verwaltungsgerichte ist ein Beitrag, der dem zutreffenden Ansatz folgt, Sonderbehörden möglichst einzusparen. Doch kaum ist der Entwurf publiziert worden, begannen die Mahlräder des Lobbying, schon gestrichene Behörden wieder in das Verwaltungsrecht hereinzureklamieren (z.B. die unzähligen Disziplinarbehörden im Bereich der freien Berufe).
Eine Verwaltungsreform, die wirklich Einsparungen bringt, muss klare Einschnitte machen. Am sinnvollsten wäre die komplette Abschaffung der Gemeindebehörden außerhalb von Großstädten bzw. sogenannten "Statutarstädten" mit eigenem Magistrat. Instanzenzüge innerhalb von Gemeinden sind aus Gründen der mangelnden Unabhängigkeit überholt. Sämtliche strittigen Fälle müssen ohnehin die (Ämter der) Landesregierungen und letztlich der Verwaltungsgerichtshof oder die UVS - künftig die Landes-Verwaltungsgerichte - entscheiden.
Bei einer Abschaffung der Gemeindeverwaltung fiele auch die aufwändige und nicht immer effiziente Gemeindeaufsicht durch Länder und Bezirke weg.
Mehr Aufgaben für die Justiz
Eine Reform sollte auch das Missverhältnis zwischen Justiz und Verwaltung lösen und der Justiz mehr Personal, aber auch mehr Aufgaben zuweisen. Österreich ist ein Verwaltungsstaat, der zu 70 Prozent zivilrechtliche Aspekte "administriert" . Dies ist dort effizient, wo es keinen Rechtsstreit gibt. Bau- und Gewerberecht könnten aber weitgehend dereguliert und den Ziviltechnikern oder den Wirtschaftskammern übertragen werden, wie es etwa in der Wiener Bauordnung schon der Fall ist. Standarderledigungen sind per E-Government rasch zu bewältigen.
Streitfälle wie bei Anlagengenehmigungen sind hingegen fast immer zivilrechtlicher Natur und gehören daher aus der Verwaltung ausgeschieden. Das Recht zu bauen hängt am Eigentum, das Recht, ein Gewerbe auszuüben, am Grundrecht, jeden Erwerbszweig frei auszuüben, und beide sind ihrer Substanz nach "civil rights" , über die letztlich ein Tribunal entscheiden muss. Streitfragen im Baurecht sind zu 80 Prozent durch Nachbarstreit bedingt, der noch näher am Kernbereich des Zivilrechts hängt. Kaum ein Bescheid betrifft hingegen das "öffentliche" Baurecht, denn dieses ist reines Technikrecht, das die beteiligten Experten ohnehin kennen.
Die Verlagerung ins Zivilrecht und zu den Gerichten bringt nicht nur mehr Rechtsstaat, sondern weniger Streit, weil die Hemmschwellen und Gebühren höher sind als im Verwaltungsweg. Im Zivilprozess, der im Übrigen auch kein Allheilmittel ist, liegt wiederum ein enormes Einsparungspotenzial, wenn freiwillige Schiedsgerichte und Mediation mehr zum Einsatz kommen. Das gilt vor allem für den Familienrechtsbereich, neben Mietstreitigkeiten der quälendste Bereich für die Zivilrichter erster Instanz.
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Gerhard Strejcek,
Allheilmittel - Finanztransaktionssteuer?
Der Standard, 12.06.2010
Warum sich die angebliche politische Wunderwaffe als Rohrkrepierer erweisen wird.
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht im Zuge der sogenannten "Euro-Krise" über neue Steuern nachgedacht wird.
Die von manchen (AK, Bundeskanzler usw.) propagierte "Transaktionssteuer" hört sich gut an, weil sie scheinbar
die "Reichen" trifft, vor allem die "bösen" Spekulanten; wie naiv diese Sicht ist, wird gleich gezeigt werden,
denn die FinTrSt hat so viele Nachteile, dass diese den Vorschlag letztlich zu einem "Sager" marginalisieren.
Die Gründe liegen auf der Hand. Zum einen sind Finanztransaktions- oder wie es früher hieß, Börsenumsatzsteuern (BUSt) nichts Neues, zum anderen belasten die ohnehin bestehenden Gebühren, Ausgabeaufschläge usw. auch derzeit schon Erwerber von Wertpapieren. Kleinanleger, die eines der Hauptopfer der FinTrSt wären, investieren nicht in Derivate, sondern in Anleihen und Aktien oder gemischte Fonds.
Beim Verkauf derartiger Papiere sind derzeit längerfristig hauptsächlich Verluste zu realisieren. Wer also nicht verkaufen muss, behält seine Papiere. Es findet demnach keine Transaktion statt. Wo keine Transaktion stattfindet, ist für den Staat nichts zu holen; auch eine "Gewinnsteuer" fruchtet dort nicht, wo keine Gewinne realisiert werden. Da aber Wertpapiere schon heute beim Ankauf zusätzliches Geld kosten, ist für Kleinanleger, also eine Gruppe meist gar nicht so reicher Anleger, die die Wirtschaft belebt und sie nicht schädigt, die FinTrSt nur ein weiteres Argument, Wertpapiere eben nicht mehr zu erwerben. Letztlich fördern die Proponenten der FinTrSt also nur eine ohnehin schon drückende Mehrheit von ängstlichen Sparbuchkunden, die Erspartes am liebsten in die Matratze einnähen, statt es auszugeben oder zu investieren.
Eine solche Vorgangsweise tötet aber letztlich die noch gesunden Reste des Finanzmarktes. Das Geld, das die "Kleinen" nicht investieren, fehlt den Unternehmen als Kapital. Für die Banken gibt es zudem keine gesetzliche Restriktionen, wenn sie das vom Staat großzügig abgesicherte Sparbuchgeld dort investieren, wo keine FinTrSt anfällt; daher fördert die FinTrSt womöglich riskante Engagements und den verheerenden "Cayman-Tourismus" der Banken. Die FinTrSt führt daher letztlich nur dazu, Kleinanlegern Wertpapiere komplett madig zu machen und sie zurück in das mittelalterliche Sparbuch zu treiben.
Fassen wir also zusammen: Bemessungs- und Steuergrundlage wäre ein für viele Kleinanleger unattraktives und ohnehin bereits als Abschöpfungsobjekt bestehendes Verfahren. Großanleger können über die Pläne nur milde lächeln. Kapital ist beweglich und das gilt auch für Geld, das in großen heimischen Depots in Form von Wertpapieren liegt. Kleinanleger hingegen sind immobil und hüten sich wegen der hohen Kosten vor einem Depotwechsel. Kleinanleger haben auch keine "Töchter" in Steueroasen. Wer es sich hingegen leisten kann, seine Depots zu verlagern (z. B. nach Liechtenstein), hat auch die Möglichkeit an Börsen auszuweichen, in denen die Transaktion billiger ist als hier. Demnach müsste die FinTrSt auf ein globales Instrument erweitert werden. Die EU würde nicht ausreichen, auch nicht der EWR. Dass aber eine weltweite FinTrSt zustande kommen kann, wird wohl niemand ernsthaft in Betracht ziehen.
Die Gründe liegen auf der Hand. Zum einen sind Finanztransaktions- oder wie es früher hieß, Börsenumsatzsteuern (BUSt) nichts Neues, zum anderen belasten die ohnehin bestehenden Gebühren, Ausgabeaufschläge usw. auch derzeit schon Erwerber von Wertpapieren. Kleinanleger, die eines der Hauptopfer der FinTrSt wären, investieren nicht in Derivate, sondern in Anleihen und Aktien oder gemischte Fonds.
Beim Verkauf derartiger Papiere sind derzeit längerfristig hauptsächlich Verluste zu realisieren. Wer also nicht verkaufen muss, behält seine Papiere. Es findet demnach keine Transaktion statt. Wo keine Transaktion stattfindet, ist für den Staat nichts zu holen; auch eine "Gewinnsteuer" fruchtet dort nicht, wo keine Gewinne realisiert werden. Da aber Wertpapiere schon heute beim Ankauf zusätzliches Geld kosten, ist für Kleinanleger, also eine Gruppe meist gar nicht so reicher Anleger, die die Wirtschaft belebt und sie nicht schädigt, die FinTrSt nur ein weiteres Argument, Wertpapiere eben nicht mehr zu erwerben. Letztlich fördern die Proponenten der FinTrSt also nur eine ohnehin schon drückende Mehrheit von ängstlichen Sparbuchkunden, die Erspartes am liebsten in die Matratze einnähen, statt es auszugeben oder zu investieren.
Eine solche Vorgangsweise tötet aber letztlich die noch gesunden Reste des Finanzmarktes. Das Geld, das die "Kleinen" nicht investieren, fehlt den Unternehmen als Kapital. Für die Banken gibt es zudem keine gesetzliche Restriktionen, wenn sie das vom Staat großzügig abgesicherte Sparbuchgeld dort investieren, wo keine FinTrSt anfällt; daher fördert die FinTrSt womöglich riskante Engagements und den verheerenden "Cayman-Tourismus" der Banken. Die FinTrSt führt daher letztlich nur dazu, Kleinanlegern Wertpapiere komplett madig zu machen und sie zurück in das mittelalterliche Sparbuch zu treiben.
Fassen wir also zusammen: Bemessungs- und Steuergrundlage wäre ein für viele Kleinanleger unattraktives und ohnehin bereits als Abschöpfungsobjekt bestehendes Verfahren. Großanleger können über die Pläne nur milde lächeln. Kapital ist beweglich und das gilt auch für Geld, das in großen heimischen Depots in Form von Wertpapieren liegt. Kleinanleger hingegen sind immobil und hüten sich wegen der hohen Kosten vor einem Depotwechsel. Kleinanleger haben auch keine "Töchter" in Steueroasen. Wer es sich hingegen leisten kann, seine Depots zu verlagern (z. B. nach Liechtenstein), hat auch die Möglichkeit an Börsen auszuweichen, in denen die Transaktion billiger ist als hier. Demnach müsste die FinTrSt auf ein globales Instrument erweitert werden. Die EU würde nicht ausreichen, auch nicht der EWR. Dass aber eine weltweite FinTrSt zustande kommen kann, wird wohl niemand ernsthaft in Betracht ziehen.
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Gerhard Strejcek,
Tauziehen. Rechtsschutz für Stromtarife
Der Standard, 28.04.2010
Das dritte "Energiepaket" der Europäischen Union samt Elektrizitätsbinnenmarkt-RL 2009/72/EG
(kurz E3-RL) muss laut Vorgaben aus Brüssel bis zum 3. März 2011 in allen Mitgliedsstaaten,
also auch in Österreich, umgesetzt werden.
Diese Frist mag noch lang erscheinen,
doch wegen der Kompetenzzersplitterung im Wirtschaftsministerium (BMWFJ) und den Bundesländern
müssen schon bis Ende April die Eckpfeiler einschlagen werden, um ein EU-konformes und rechtsstaatlich
geeignetes Energierecht zu erreichen.
Änderungsbedarf besteht sowohl beim Elektrizitätswirtschafts-und-organisationsgesetz (ElWOG)
als auch in der Bundesverfassung und den Landes-Energierechtsgesetzen.
Verordnungsprüfung
In Rahmen der Novelle wünschen sich die Energieversorger auch einen verbesserten Rechtsschutz bei der Festlegung ihrer Tarife. Für dieses Verlangen gibt es ein starkes rechtliches Argument. Derzeit (§ 25 ElWOG) erfolgt die Tarifierung der sogenannten Systemnutzungstarife nur mittels Verordnung, die zwar beim Verfassungsgerichtshof nach Art 139 B-VG überprüfbar ist, aber Schwierigkeiten beim Rechtszugang und im Verfahren eröffnet. Der Europäische Gerichtshof hat im Telekom-Recht (EuGH C-462/99 Connect Austria) eine Verordnungsprüfung als nicht geeignetes Beschwerdeverfahren eingestuft. Das Gleiche gilt im Energierecht.
Zudem verlangt die E3-RL (Art 37 Abs 16) eine umfassende Begründung der Tarifierungsentscheidungen und eine Verstärkung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden. Sollten in Österreich die Landesverwaltungsgerichte kommen, dürfte die E-Control Kommission aufgelöst werden. Österreich muss laut E3-RL künftig eine einzige derartige Behörde benennen, die Regulator, aber nicht gleichzeitig Strafbehörde sein darf.
Uneinigkeit besteht darin, wie weit die Entflechtung (Unbundling) gehen soll; die Vorstellungen der Regulatoren gehen hier weiter als die der derzeit zuständigen Konzessionsbehörden. Wer hier künftig entscheidet, ist unklar, doch kann man davon ausgehen, dass die Länder keinerlei Kompetenzeinbuße hinnehmen und weiterhin die Konzessionen gestalten wollen; die E3-RL steht dem nicht entgegen.
Nein zu Sozialaufgaben
Sorge besteht auch, dass künftig die Unternehmen verstärkt Sozialaufgaben übertragen bekommen, die der Staat selbst zu administrieren hat; schon jetzt entfällt nahezu ein Drittel der Stromrechnung auf Abgaben aller Art. Eine Spezialabgabe zur Finanzierung der Ökostromtarife mit dem ominösen Namen "Zählpunktpauschale" sieht bereits Ausnahmen vor, die von den Energieversorgern zu administrieren sind.
Was die Stromkunden betrifft, könnte die Novelle übrigens auch dazu genutzt werden, die Geheimsprache des Energierechts, die sich auf den Rechnungen in obskurer Verschlüsselung auffindet, durch einen allgemein verständlichen Schlüssel zu ersetzen.
Verordnungsprüfung
In Rahmen der Novelle wünschen sich die Energieversorger auch einen verbesserten Rechtsschutz bei der Festlegung ihrer Tarife. Für dieses Verlangen gibt es ein starkes rechtliches Argument. Derzeit (§ 25 ElWOG) erfolgt die Tarifierung der sogenannten Systemnutzungstarife nur mittels Verordnung, die zwar beim Verfassungsgerichtshof nach Art 139 B-VG überprüfbar ist, aber Schwierigkeiten beim Rechtszugang und im Verfahren eröffnet. Der Europäische Gerichtshof hat im Telekom-Recht (EuGH C-462/99 Connect Austria) eine Verordnungsprüfung als nicht geeignetes Beschwerdeverfahren eingestuft. Das Gleiche gilt im Energierecht.
Zudem verlangt die E3-RL (Art 37 Abs 16) eine umfassende Begründung der Tarifierungsentscheidungen und eine Verstärkung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden. Sollten in Österreich die Landesverwaltungsgerichte kommen, dürfte die E-Control Kommission aufgelöst werden. Österreich muss laut E3-RL künftig eine einzige derartige Behörde benennen, die Regulator, aber nicht gleichzeitig Strafbehörde sein darf.
Uneinigkeit besteht darin, wie weit die Entflechtung (Unbundling) gehen soll; die Vorstellungen der Regulatoren gehen hier weiter als die der derzeit zuständigen Konzessionsbehörden. Wer hier künftig entscheidet, ist unklar, doch kann man davon ausgehen, dass die Länder keinerlei Kompetenzeinbuße hinnehmen und weiterhin die Konzessionen gestalten wollen; die E3-RL steht dem nicht entgegen.
Nein zu Sozialaufgaben
Sorge besteht auch, dass künftig die Unternehmen verstärkt Sozialaufgaben übertragen bekommen, die der Staat selbst zu administrieren hat; schon jetzt entfällt nahezu ein Drittel der Stromrechnung auf Abgaben aller Art. Eine Spezialabgabe zur Finanzierung der Ökostromtarife mit dem ominösen Namen "Zählpunktpauschale" sieht bereits Ausnahmen vor, die von den Energieversorgern zu administrieren sind.
Was die Stromkunden betrifft, könnte die Novelle übrigens auch dazu genutzt werden, die Geheimsprache des Energierechts, die sich auf den Rechnungen in obskurer Verschlüsselung auffindet, durch einen allgemein verständlichen Schlüssel zu ersetzen.
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Gerhard Strejcek,
Spielbank-Konzessionen nicht in Gefahr
Der Standard, 03.04.2010
Das kommende EuGH-Urteil dürfte von Österreich nur geringe Korrekturen fordern.
Der Schlussantrag von Generalanwalt Jan Mazák im Fall Engelmann hat viel Staub aufgewirbelt, weil
er die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des österreichischen Glücksspielgesetzes vorgeschlagen hat.
Aber selbst wenn die Richter am Europäischen Gerichtshof dem Generalanwalt folgen, was ungewiss ist, wird sich
an der heimischen Rechtslage nichts Maßgebliches ändern.
Mazák hat keine Bedenken gegen Werbung durch die Konzessionäre mit Hinblick auf eine kohärente (das ist: widerspruchsfreie, was die Ziele betrifft) Rechtslage. Er empfiehlt dem EuGH aber in zwei Punkten, einen Widerspruch zum EU-Recht zu erkennen. Zum einen (Pkt 104/1) stünde die Niederlassungsfreiheit "einer Regelung entgegen" , die ausschließlich Aktiengesellschaften (mit Sitz im Inland) für die Bewerbung um eine Spielbank-Konzession zulässt. Zum anderen sei die Transparenz der Vergabe der bestehenden Kasino-Konzessionen ungenügend gewesen. Tatsächlich ist in Österreich nach der auch im Zeitpunkt der Konzessionsvergabe geltenden Rechtslage in § 21 Abs 2 Z 1 GspG 1989 geregelt, dass eine Spielbank-Konzession nur an eine "Aktiengesellschaft mit Sitz im Inland" vergeben werden darf. Hingegen ist für die Ausspielungskonzessionen (Lotto usw.) in § 14 von "Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland" die Rede. In beiden Fällen muss, wie von fachlicher Seite schon seit längerem gefordert, die Sitzpflicht im Inland wegfallen; außerdem könnte es auch in § 21 künftig "Kapitalgesellschaft mit Sitz im EWR" heißen. Die Rechtslage wäre urteilskonform anzupassen.
Schwierige Überwachung
Allerdings gibt es auch gute Argumente dafür, dass ein Konzessionär aus Gründen der Überwachung zumindest nach Erlangen einer Konzession einen Konzernsitz hier gründen muss; denn es ist nicht einfach, eine Gesellschaft in Gibraltar oder Malta von Wien aus zu überwachen. In der derzeitigen Formulierung könnte der EuGH eine Diskriminierung im Zugang zur Konzession erkennen; deshalb sollten Konzessionen künftig EU-weit ausgeschrieben werden.
All das ändert nichts daran, dass die derzeitigen Spielbank-Konzessionen nicht neu aufgerollt werden müssen, bevor sie ablaufen. Und es wird das Landesgericht Linz nicht an der Tatsache vorbeisehen können, dass sich der Berufungswerber Engelmann nie um eine inländische Konzession bemüht hat. Er konnte demnach nicht von einer Regel, die gar nicht auf ihn anwendbar war, diskriminiert werden.
Mazák hat keine Bedenken gegen Werbung durch die Konzessionäre mit Hinblick auf eine kohärente (das ist: widerspruchsfreie, was die Ziele betrifft) Rechtslage. Er empfiehlt dem EuGH aber in zwei Punkten, einen Widerspruch zum EU-Recht zu erkennen. Zum einen (Pkt 104/1) stünde die Niederlassungsfreiheit "einer Regelung entgegen" , die ausschließlich Aktiengesellschaften (mit Sitz im Inland) für die Bewerbung um eine Spielbank-Konzession zulässt. Zum anderen sei die Transparenz der Vergabe der bestehenden Kasino-Konzessionen ungenügend gewesen. Tatsächlich ist in Österreich nach der auch im Zeitpunkt der Konzessionsvergabe geltenden Rechtslage in § 21 Abs 2 Z 1 GspG 1989 geregelt, dass eine Spielbank-Konzession nur an eine "Aktiengesellschaft mit Sitz im Inland" vergeben werden darf. Hingegen ist für die Ausspielungskonzessionen (Lotto usw.) in § 14 von "Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland" die Rede. In beiden Fällen muss, wie von fachlicher Seite schon seit längerem gefordert, die Sitzpflicht im Inland wegfallen; außerdem könnte es auch in § 21 künftig "Kapitalgesellschaft mit Sitz im EWR" heißen. Die Rechtslage wäre urteilskonform anzupassen.
Schwierige Überwachung
Allerdings gibt es auch gute Argumente dafür, dass ein Konzessionär aus Gründen der Überwachung zumindest nach Erlangen einer Konzession einen Konzernsitz hier gründen muss; denn es ist nicht einfach, eine Gesellschaft in Gibraltar oder Malta von Wien aus zu überwachen. In der derzeitigen Formulierung könnte der EuGH eine Diskriminierung im Zugang zur Konzession erkennen; deshalb sollten Konzessionen künftig EU-weit ausgeschrieben werden.
All das ändert nichts daran, dass die derzeitigen Spielbank-Konzessionen nicht neu aufgerollt werden müssen, bevor sie ablaufen. Und es wird das Landesgericht Linz nicht an der Tatsache vorbeisehen können, dass sich der Berufungswerber Engelmann nie um eine inländische Konzession bemüht hat. Er konnte demnach nicht von einer Regel, die gar nicht auf ihn anwendbar war, diskriminiert werden.
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Gerhard Strejcek | Gernot Posch
Beteiligungsregeln im Glücksspielrecht
ÖZW 01 | 2010, 38-39